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DAS VIERTE GEBOT

 

 

Du sollst Vater und Mutter ehren,

auf dass es dir wohl ergehe

und du lange lebest auf Erden!

 

 

 

Es heißt nicht:

 

Du sollst zwei Väter ehren oder

 

Du sollst zwei Mütter ehren oder

 

Du sollst Vater und zwei Mütter ehren oder

 

Du sollst Mutter und zwei Väter ehren . . .

 

Aber, das gibt es heute doch alles, oder?

 

 

Dann ist es schon einfacher für die Kinder,

wenn sie auf einmal nicht zwei Omas und zwei Opas,

sondern drei, vier oder noch mehr Omas und Opas haben.

Auf jeden Fall gibt es so mehr Geschenke und Zuwendungen

im Wettbewerb der vielen Omas und Opas um die erhoffte

Anerkennung der Kinder und Enkelkinder.

 

 

 

Aber die Achtung und gegenseitiger Respekt dürfen darüber nie verloren gehen.

 

 

 

Das Leben im Spiegel

 

Wenn man das Leben im Spiegel betrachtet vor dem man direkt steht, sieht man sich

immer im Vordergrund. Alle anderen wirken klein und distanziert, so nahe sie uns

auch stehen. Wir sehen nur ihr Spiegelbild, also verkehrt – zumindest seitenverkehrt.

 

Nur ein weiterer oder mehrere weitere Spiegel können unsere falsche Sicht, auch auf uns,

ins reale Leben umkehren.

 

Leider wirken mehrere Spiegel meistens wie Zerrbilder aus einem Spiegelkabinett.

 

Also ist es wichtig, dass man direkt hinsieht, ohne Umwege über Spiegel und falsche

Bilder, und die Wirklichkeit annimmt und akzeptiert, so wie sie ist.

 

Trotzdem muss man oft hinter die Schminke sehen können, die vor einem Spiegel

aufgetragen wurde, um ein Gesicht zu zeigen, wie man sich zwar sehen möchte, aber

wie es eigentlich nicht ist.

 

Ob mit oder ohne Spiegel ist der Blickwinkel stets unterschiedlich und individuell,

vielseitig, jedoch selten objektiv.

 

 

Träumt Dario?

 

Schlaftrunken blinzelt Dario in die Abendsonne, die ihm durch das herbstliche Laub der Birke zublinkt, wenn der sanfte Wind die Zweige bewegt. Genauso blitzen in seinem Kopf die Gedanken wieder auf, die ihn seit Tagen, seit Wochen, immer wieder beschäftigen. Wichtige Weichen müssen gestellt werden. Die Vorbereitungen auf das Abitur verlangen seine volle Aufmerksamkeit. Das Abi wird er schon schaffen, da ist er sich sicher. Nicht so sehr bei den Noten in zwei bis drei Fächern. Da ist noch viel zu tun, bis er mit zu den Besten der Klasse gehört.

 Was hatte Opa noch gesagt, womit man sein Leben formt? Zuerst eine gute Ausbildung. Nun, die bekommt er auf seinem Gymnasium. Danach studieren? Aber was? Architekt werden, wie sein Vater es will? Dario schwebt eher so etwas wie Polizeidienst vor. Er schwärmt doch für die GSG 9! Oder zuerst eine Lehre antreten und über den zweiten Bildungsweg gehen? Mal sehen, was sich da anbietet. Auf jeden Fall möchte er zur Bundeswehr! Auch hier kann er neben dem Wehrdienst studieren, wenn er will. Dann die Wahl der Partnerin, sagte Opa. Ist seine Freundin Irene die Frau fürs Leben? Darüber muss er noch nachdenken, wenn die Zeit reif dafür ist. Oder, hatte Opa nicht gesagt: Als Zweites der Beruf! Ja, richtig! Nach der Ausbildung kommt der Job oder die Berufung, die ein guter Beruf sein sollte. Danach dann die Partnerschaft. Und aus Beruf und Partnerschaft ergibt sich meistens die Wahl des Wohnsitzes. Damit bestimmt man auch sein Umfeld, seine Bekanntschaften und Freundschaften.

 Am Wochenende sind wir wieder bei unserem Vater, Udo und ich. Als Architekt hat er sonst wenig Zeit für uns. Doch wenn es sein muss, macht er sich frei, um uns zu helfen. Nur, es ist nicht das normale Familienleben, das wir früher hatten, bevor Mama sich von Papa getrennt hat. Allerdings war die letzte Zeit der Ehe schlimm. Jetzt ist für uns manches besser. Eigentlich geht es Udo und mir gut. Was habe ich alles bei unserem Schulausflug gehört von den Mitschülern. Die Probleme die Ludwig, den alle Lucky nennen, mit seinem Vater hat machen ihn alles andere als glücklich.

 „Dario – träumst du?“ Spricht ihn plötzlich seine Mutter genervt an. „Ich habe schon dreimal nach dir gerufen! Du weißt doch, dass wir zu spät zu deinem Fußballtraining kommen, wenn wir nicht sofort losfahren. Und ich muss Udo noch vom Musikunterricht abholen, ehe ich zur Kirchenchorprobe fahre.“

 „Und wer holt mich ab“, fragt Dario, „wenn unser Training zu Ende ist?“ – „Emmi nimmt dich mit. Ich wechsle mich mit ihr ab, und heute ist sie dran Michael und dich abzuholen.“ – „Hast du schon mit ihr gesprochen? Du weißt doch wie unzuverlässig sie ist. Michael hat heute in der Schule gefehlt. Der kommt sicher nicht zum Fußball“ – „Oh, warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“ – „Dazu war keine Gelegenheit, weil du so spät von der Arbeit gekommen bist.“ – „Wir werden ja sehen, ob Michael kommt. Sonst werde ich eine andere Mitfahrmöglichkeit organisieren. Ich darf nicht im Kirchenchor fehlen. Das verstehst du doch, oder?“ – „Oder ich muss wieder mit der Straßenbahn und dem Bus fahren . . .“

 Dabei geht sie überhaupt nicht zur Chorprobe, denkt Dario. Ich habe doch in der Kirche gehört, dass Mama schon seit Wochen nicht mehr da war. Sie nutzt jede Minute, um zu ihrem neuen Freund zu fahren. Dabei ist sie die Einzige, die mit diesem Typ zurechtkommt, wenn überhaupt! Ich weiß nicht, was sie an dem findet, diesem Blender!

 „Du wirst schon nach Hause kommen, “ bemerkt seine Mutter lapidar, „mit Dreizehn ist man heute schon fast erwachsen.“ – „Ja, zum Nachhausefahren bin ich erwachsen, aber nie, wenn ich mal abends einen Krimi oder ein Fußballspiel sehen will“, murrt Dario. – „Das ist auch was anderes, wenn man am nächsten Tag ins Gymnasium muss!“

 Dario gehen schon wieder die Erinnerungen an Lucky durch den Kopf. Wie hatte er sich noch geoutet? Er berichtete: Ich wusste damals sehr gut was ich alles falsch gemacht habe. Doch was ich an Stelle dessen tun sollte, war mir nicht bekannt. Nur eine Therapie, also professionelle Hilfe, konnte mich auf den richtigen Weg bringen. Ich kam in die Klapse, wie wir es alle nannten. Man muss schon ganz unten gelandet sein, um das zu akzeptieren. Und die nehmen einen richtig ran, das kann man so sagen. Morgens um Sieben hieß es antreten zum Frühsport. Das war der krasse Gegensatz zu dem, was ich früher gemacht habe. Ich denke mir, dass ich früher oder später auf der Straße gelandet wäre. Meine Eltern habe ich beklaut und Sachen verkauft, und ziemlich viel dafür getan, dass ich an Geld kam, um meine Drogen zu kaufen. Wenn ich keine Drogen kriegte, bin ich sehr aggressiv geworden. Auf Fragen gab ich patzige Antworten und war direkt auf Hundertachtzig. In der Station war ich unter lauter Drogenabhängigen. Die Zimmer teilten wir uns zu zweit oder zu dritt. Sogenannte Entgifter und fortgeschrittene Patienten wurden getrennt untergebracht. Zum Programm gehörten die tägliche Zimmerkontrolle und ein Drogen-Screening. Der Schulunterricht wurde ausschließlich auf der Station abgehalten, weil jeder Außenkontakt ein zu großes Risiko für einen Rückfall birgt. Wir mussten den Umgang mit alten Freunden aus der Szene einstellen. Für mich war auch mit der Einweisung in die Psychiatrie die Schamgrenze völlig überschritten. Darum habe ich Therapie gesagt, wenn ich gefragt wurde, und nie Psychiatrie. Das verbinde ich immer mit der Klapsmühle für Leute, die nicht richtig im Kopf sind. Am Anfang hatte ich mir das auch ganz anders vorgestellt als es in Wirklichkeit ist. Nur kranke und gestörte Menschen habe ich in der Psychiatrie erwartet. Aber das ich wirklich nicht so.

 „Wir sind da, Dario! Schläfst du?“ – „Nein, Mama. So wie du fährst . . .“ – „Du weißt doch, dass ich Udo abholen muss. Der wartet bestimmt schon auf mich.“ – Aber zuerst muss du noch klären, wie ich zurückkomme, nach dem Training.“ – Da steht doch Michael schon. Dann ist ja alles klar!“ – „Eigenartig! In der Schule fehlen, aber zum Fußballtraining antreten!“ – „Er wird schon seine Gründe gehabt haben. Die Hauptsache ist, dass du mitfahren kannst!“ – „Für dich ja“ – „Jetzt werde nur nicht noch frech . . .“ – „Ich doch nicht, Mama“ – „Es hörte sich aber so an. Na, dann tschüss mein Großer.“ – „Tschüss Mama. Bleib´ nicht so lange nach der Chorprobe hängen.“ – „Das weiß ich noch nicht. Ihr geht auf jeden Fall gegen Neun ins Bett. Ihr müsst morgen um Sechs aufstehen!“ „Also, tschüss.“ – „Tschüss Mama!“

 „Hallo Michael. Warum warst du nicht in der Schule?“ – „Ich musste zum Doktor, ein fester Termin!“ – Und nicht wegen der Mathearbeit, vor der du Angst hattest?“ – „War es nicht, aber es kam mir schon sehr gelegen zum Arzt zu gehen, statt zur Schule!“ – „Du bist wenigstens ehrlich . . .“

 „Trödelt nicht herum, “ ruft Trainer Walter Schulz, „wir sind sowieso spät dran.“ - Darios Gedanken laufen wieder aus dem Ruder. Wie war das noch alles in Luckys Anstalt? Er sagte: „Einmal in der Woche haben wir ein bestimmtes Fernsehprogramm ausdiskutiert. Der Sinn war, dass wir lernen sollten zu planen und unsere Freizeit sinnvoll zu nutzen. In meiner Drogenzeit hatte ich auch Freunde; Nur, dass wir die Drogen nahmen. Aber es waren schon richtige Freundschaften. In der Therapie lebt man ein halbes Jahr auf engstem Raum zusammen. Da lernt man die anderen richtig kennen. Also, Stärken, Schwächen, eben alles was so vorkommt.“

 „Flanke! Dario“, schreit der Trainer über den Platz. „Hast du nicht gesehen, dass Peter frei vor dem Tor steht! Du warst schon beim Aufwärmtraining daneben! Wenn du weiter so gedankenlos spielst, kann ich dich am Samstag nicht aufstellen gegen die FC-Jugend. – „Tut mir leid, Trainer. Ich dachte der Peter steht im Abseits . . .“ – Stimmt ja! Dann hast du ja doch alles richtig gemacht.“

 Glück gehabt, denkt Dario. Aber sein Geist bleibt bei Lucky, der erklärte: „Ich litt damals an Realitätsverlust und Sprachstörungen. Als zuhause nichts mehr funktionierte, brachten mich meine Eltern in die Therapie. Dieses Gefühl kannten alle, die ich dort darauf angesprochen hatte. Draußen war es für mich Scheiße, andauernd durch die Gegend zu laufen. Ich konnte mich selber nicht mehr leiden. Daran wollte ich was ändern. Von den vielen Drogen, die ich genommen hatte, wurde ich so paranoid, dass ich einfach nicht mehr anders konnte. Ohne die Therapie wäre ich vor die Hunde gegangen. Einfachste Dinge musste ich neu erarbeiten, damit ich mich überhaupt selbst versorgen konnte. Ich hatte verlernt, den Alltag zu bewältigen und Verantwortung zu übernehmen. Die Drogen haben mein Leben bestimmt. Ich hatte Stress in der Schule, und Stress zuhause. Ich habe gedacht, ich knall` mich jetzt zu, dann ist das alles weg. Es war ja später immer noch da, doch das hat in dem Moment für mich keine Rolle gespielt.“

 „Dario! Schieß! T o o r !“ – freut sich der Trainer. „Das hast du mit schlafwandlerischer Sicherheit gemacht. Das macht dir so schnell keiner nach. Du bist am Samstag auf jeden Fall dabei!“ – Wieder nur Glück! Jetzt muss ich mich bis zum Spielende konzentrieren, sonst bin ich gegen die FC-Jugend nicht dabei. Und ich will mich doch bei den FC-Leuten gut präsentieren. Die haben doch immer ihre Späher dabei, wenn ihre Nachwuchself unterwegs ist. So eine Chance hatte Lucky damals nicht . . .

 „Michael, lauf´ und kuck mal wo der Dario bleibt“, sagt Emmi genervt, „wir warten jetzt schon zehn Minuten. Alle anderen sind schon weg. Ich muss nach Hause! Sonst kann Dario sehen wir er zurückkommt. Aber da ist er ja! Dario, wir warten auf dich schon eine halbe Stunde.“ – „Entschuldigung, Emmi, aber ich musste noch auf die Toilette, dringend!“ – „Um Ausreden bist du nie verlegen . . .“

 Auf der Toilette war er wirklich gewesen, und hatte dabei wieder nur an Luckys Story gedacht: Damals habe ich selbst entschieden, ob ich Drogen nehme, wie viel ich nehme und wie lange ich sie nehme. Darum gebe ich auch keinem die Schuld dafür. Ich weiß, dass sich meine Eltern mit der Schuldfrage abquälten. Bei den wöchentlichen Gesprächen in der Therapie waren sie immer dabei, und haben mit Selbstvorwürfen nicht zurückgehalten. Mein Vater erklärte, dass er viel früher hätte aufpassen müssen. Es hätte ein Jahr gedauert, bis er gemerkt hatte, was mit mir los war. Er hätte schon eher handeln müssen. Doch was er tun konnte, weiß er bis heute nicht. Und meine Mutter erklärte, dass ja beide jahrelang tätig waren, aber nie das Richtige gefunden hatten, um mir zu helfen. Doch der Entschluss, mich in die Psychiatrie zu geben, war in Ordnung. Jetzt bin ich aus der Abhängigkeit raus, auch innerlich.

 „Steig´ schon an der Ecke aus“, bestimmt Emmi, „ich habe schon genug Zeit vertrödelt mit dir, sonst muss ich durch die ganze Siedlung kurven, durch dieses Einbahnstraßengewirr.“ – „Ja, ist schon gut so. Und vielen Dank fürs Mitnehmen.“ – Das beruht doch auf Gegenseitigkeit mit deiner Mutter, aber beim nächsten Mal bitte ohne Warterei. Du bist doch kein Träumer, oder?“ – „Ich musste doch nur . . .“

 „Du bist ja schon daheim“, staunt Dario als er seine Mutter antrifft, „ist die Kirchenchorprobe ausgefallen?“ – „Hallo Dario! „Nein, ich weiß nicht, ich musste noch etwas besorgen, und da ist mir eingefallen, dass ich Ellen für heute Abend eingeladen hatte. Sie muss jeden Moment kommen.“ – „Dann müssen wir wieder um Neun ins Bett?“ – „Ja, aber das weißt du doch . . .“

 „Es hat geklingelt! Mach´ schon auf, ich muss mir noch die Hände waschen.“ – „Hallo Ellen!“ – Hallo Dario. Du bist jedes Mal größer, wenn ich dich sehe, schon bald ein richtiger Mann.“ – „Das hat noch Zeit. Zuerst muss ich mein Abi schaffen . . .“

 „Da bist du ja“, begrüßt Eva ihre Freundin, ich hatte fast vergessen, dass wir uns heute hier ausquatschen wollten. Erst als ich die Einkäufe überlegte im Supermarkt, ist es mir wieder heiß eingefallen.“ – „Das kann ich nachvollziehen. Mir geht es genauso. Arbeit, Familie, und, du weißt ja . . .“ – „Darüber reden wir, wenn die Kinder schlafen gehen . . .“

 

Eva und Ellen

 

 

Dario kann wieder einmal nicht einschlafen. Immer noch jagen die Gedanken durch seinen Kopf wie auf einer Achterbahn. Warum hat seine Mutter ausgerechnet diese komische Ellen eingeladen. Sie tut nach außen, als ob in ihrer Ehe alles stimmt. Dabei weiß doch jeder, dass sie und auch ihr Mann fremdgehen. Mehr unfreiwillig als gezielt bekommt Dario alles mit, was die Frauen zu bereden haben.

 „Es wurde höchste Zeit, dass wir unsere Erfahrungen austauschen können“, sagt Eva, „ich hänge doch vollkommen in der Luft mit meiner neuen Beziehung, die fast gar keine ist. Wie war das eigentlich bei dir?“

 „Du weißt ja, dass ich vor zwei Jahren einen anderen Mann kennen gelernt habe. In ihn habe ich mich damals ziemlich schnell sehr verliebt. Früher habe ich nicht gedacht, dass das geht. Ich habe nicht gedacht, dass man zwei Männer lieben kann. Aber die Liebe zu Lenz ist nicht weniger geworden. Es ist einfach die Liebe zu Leonard hinzugekommen.“

 „Bei mir war das ganz anders. Ich bin Silvio bei der Arbeit näher gekommen. Wir waren Kollegen und haben ganz normal im Team mitgewirkt. Es hat nicht einmal sofort bei uns gefunkt. Erst als er einmal bemerkte, >so eine Frau wie dich möchte ich einmal haben<, ist bei mir etwas ausgelöst worden, was alles andere zwangsläufig folgen ließ.“

 „Ich liebe beide Männer, und die Intensität des Gefühls ist gleich. Aber die Art des Gefühls ist unterschiedlich. Die Liebe zu Lenz ist eine warme, vertraute, freundschaftliche Liebe. Wir haben ganz viel zusammen gemeistert in den langen Jahren unserer Ehe. Dahingegen ist die Liebe zu meinem Freund etwas ganz anderes. Das ist mehr dieses bauchkitzelige, aufregende, bei dem ich auch völlig neue Seiten an mir entdecke, von denen ich nicht wusste, dass es diese Ellen auch gibt.“

 „Zuerst fing es mit kleinen Geschenken an, die Silvio mir machte, wenn wir unsere Pause zusammen verbracht haben. Nur Kleinigkeiten, CDs und so. Doch es ist Daniel sofort aufgefallen. Er machte mir selten Geschenke, nur bei Geburtstagen und Weihnachten. Darum fragte er, woher ich diese Sachen herhätte. Ich sagte ihm, dass eine Kollegin günstig an CDs käme, und sie mir ab und zu welche schenken würde, weil ich ihr bei der Arbeit zur Hand ging. Aber das hat er nicht geglaubt. Danach hat er mein Handy ausspioniert, wie auch immer, und hat meine SMS an Silvio gefunden.“

 „Unsere Kinder Georg, Dieter und Karin leben mit Lenz und mir unter einem Dach. Sie wissen, genau wie Lenz von meinem Freund. Und natürlich mein Freund auch von meinem Mann und den Kindern. Wir denken, dass es eine Möglichkeit gibt, damit umzugehen in Offenheit. Und ich bin froh, dass ich beides leben kann. Dass ich meine Familie versorgen kann und mit ihr lebe, und dass ich auch mit Leonard Zeit verbringen kann und ihm meine Liebe gebe.“

 „Das ist ja ideal, und so etwas hätte ich mir auch in meiner Ehe gewünscht. Aber so etwas käme für Daniel nie infrage. Auch Dario und Udo mögen Silvio überhaupt nicht leiden. Sie kommen mit ihm nicht klar. Und Silvio ist an den Jungen nicht interessiert, nur an mir, wenn überhaupt!“

 „Leonard gehört jetzt genauso zu mir wie die anderen auch. Als ich ihn damals kennen gelernt hatte, habe ich es meinem Mann ziemlich schnell gebeichtet. Aber meine Ehe mit Lenz stand für mich nie zur Debatte. Wir sind über fünfundzwanzig Jahre verheiratet. So eine Beziehung löst man nicht so schnell auf, auch wenn manche Wünsche an den Partner auf der Strecke bleiben. Man ist vor allen Dingen Gefährte. Erotik und Sexualität kommen oft etwas zu kurz. Das war auch ein Punkt, den mein Freund bei mir angesprochen hat. Dieses Gefühl, eine begehrenswerte Frau zu sein. Dieses Gefühl, dass es noch mehr gibt. Klar, Erotik und Sexualität spielen eine große Rolle bei uns. Und dann wurde es wieder spannend und aufregend, auch zwischen meinem Mann und mir.“

 „Über Mangel an Sex konnte ich mich bei Daniel eigentlich nie beklagen. Im Gegenteil, vielleicht war ich immer diejenige, die ihn hingehalten hatte. Auch bei Silvio war nicht Erotik ausschlaggebend. Mehr noch die kleinen Aufmerksamkeiten und unbestimmte Gefühle. Daran hat es mir bei Daniel eigentlich immer gefehlt. So etwas hat er wohl nie erfahren, in seiner Jugend. Er wuchs bei seiner Großmutter auf und musste die Liebe seiner hart arbeitenden Mutter mit drei Brüdern teilen. Da standen Leistung und Erfolg immer im Vordergrund.“

 „Plötzlich gab es bei Lenz und mir neue Möglichkeiten. Erotik und Sexualität lebten wieder auf. Ich weiß noch gut, wie mein Freund einmal sagte, ich glaube, ich habe euere Ehe erst wieder richtig in Schwung gebracht. Es war zwar mit einem etwas bitteren Unterton, aber es ist sicher etwas daran.“

 „Im Nachhinein muss ich Daniel echt bewundern. Er hat über zwei Jahre lang versucht, unsere Ehe zu retten. Meinerseits habe ich nichts dazu beigetragen. Unsere Beziehung hatte einen Sprung und ging einfach in Scherben. Das heißt nicht, dass ich meinen Ex-Mann nach wie vor respektiere und als Mensch achte, in aller Freundschaft. Nur, die Liebe ging irgendwann verloren. Ich weiß, dass ich viel selber verschuldet habe, jedoch hat Daniel mir zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es lag bestimmt nicht nur an ihm allein. Aber Arbeit, Erziehung der Jungen und Stress in seiner Familie war einfach zuviel für ihn. Und ich bin nicht die Frau, die einfach alles mit sich geschehen lässt. Da flogen auch Mal die Fetzen, wie man so sagt.“

 „Mein Seitensprung mit Leonard führte dazu, dass ich mit Lenz eine Paar-Therapie machte. Ich hätte meinem Mann zuliebe die Affäre auch beendet, doch das wollte er nicht. Nach vielen Gesprächen haben wir entschieden, die Ehe zu öffnen. Seit einem Jahr hat Lenz auch eine Freundin.“

 „Eine Freundin hat Daniel mittlerweile auch, aber ich denke, er liebt mich noch. Das merke ich an bestimmten Reaktionen, wenn er mich bewusst trotzig behandelt. Und ich muss gestehen, dass ich eifersüchtig bin, wenn ich ihn mit seiner Flamme sehe. Vor allem bei Einladungen von gemeinsamen Freunden. In vielen Dingen fehlt Daniel mir. Bei der Erziehung der Jungen und auch im Haushalt. Wir waren ein gut eingespieltes Team. So eine Lösung wie bei euch hätte ich auch akzeptiert.“

 „Nun, ich treffe Leonard alle drei Wochen. Meistens nur für einen Tag, selten für ein ganzes Wochenende. Ich versuche rücksichtsvoll mit meiner Beziehung zu Lenz umzugehen. Wir können uns nicht öfter sehen. Das geht nur nach Vereinbarung. Und bei diesen Terminen muss ich auch meinen Mann berücksichtigen. Und Lenz hält das genauso, wenn er seine Freundin trifft.“

 „Wenn ich mit Silvio zusammen bin, habe ich immer ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits spielt er mir die große Liebe vor, doch im nächsten Augenblick kann er völlig ausrasten. Ich fürchte, dass er durch seine Kindheit verhaltensgestört ist. Seine Eltern hatten sich früh auseinander gelebt und getrennt. Er hat nie ein intaktes Elternhaus kennen gelernt, und sich weder von seinem Vater oder dem Stiefvater und seiner Mutter richtig verstanden gefühlt. Man weiß bei ihm nie, wo man dran ist. Und so steht auch unsere Beziehung auf tönernen Füßen.“

 „Nun, bei mir ist es schon ein komisches Gefühl, wenn ich zu Leonard fahre. Und so ist es auch für Lenz ein komisches Gefühl, wenn ich fahre oder wenn er zu seiner Freundin fährt. Leonard und ich treffen uns in einem kleinen Hotel, das wir sehr lieb gewonnen haben. Ich habe keine Schuldgefühle, das nicht. Doch ich habe immer wieder Zweifel, ob meine Wünsche, zwei Männer zu haben, nicht zu maßlos sind. Es ist ja schließlich eine ganz besondere Situation, in der ich das Gefühl habe, dass ich mehr habe als mir zusteht, mehr als erlaubt ist. Mein Gewissen sagt, ich kann doch nicht alles haben im Leben, ich muss mich doch bescheiden. Ich kann doch nicht alles, was man braucht um glücklich zu sein, haben.“

 „Ich bin in der Beziehung zu Silvio alles andere als glücklich. Die kurzen Glücksmomente werden durch seine Unberechenbarkeit kaputtgemacht. In der Hauptsache bleibe ich sporadisch mit ihm zusammen, weil ich mir und der Familie gegenüber nicht eingestehen will, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ja, die Trennung von Daniel wäre so oder so früher oder später gekommen, vermute ich. Aber Silvio ist ein Blender, und ich hätte nie auf ihn hereinfallen dürfen. Und jetzt laufe ich ihm auch noch nach wie ein Hündchen. Ich kann mich selbst nicht verstehen. Mein Verstand hat damals im Rausch der Gefühle völlig ausgesetzt. Im Augenblick stürze ich mich in die Arbeit, versuche für die Kinder eine gute Mutter zu sein und für ihre Erziehung und Ausbildung zu sorgen. Das hält mich von allen Gedanken und Bedenken ab, hoffe ich. Doch nachts . . .“

 Jetzt weiß ich auch endlich, warum Mama nachts nicht schlafen kann, denkt Dario. Es sind also nicht der Stress und die Schwierigkeiten mit Udo und mir, die sie hat. In der letzten Zeit haben wir uns ja auch wirklich zusam-mengerauft. Wir spielen miteinander und Zanken uns kaum noch. Wenn unsere Eltern schon nicht mehr zusammen sind, müssen wir wenigstens gut zueinander stehen. Ich glaube, Udo sieht das genauso . . .“

 „Vielen Dank für den netten Abend“, verabschiedet sich Ellen, „ich hoffe, dass ich dir ein paar Anregungen für deine Lebensgestaltung geben konnte. Man kann ja nur aus eigener Erfahrung lernen, aber vielleicht auch ein wenig aus dem, was man von anderen hört.“

 „Doch, ja“, sagt Eva irritiert, „es müssen ja nicht immer die positiven Anschauungen sein, die jeder von sich hat. Man kann ja auch aus den Fehlern lernen, die andere gemacht haben. Dir wünsche ich noch viel Glück in deinen Beziehungen, und das aufrichtig. Vielleicht können wir unsere Erlebnisse später noch einmal austauschen? Alles, alles Gute . . .“

 „Dir ebenfalls, “ erklärt Ellen überschwänglich, in ihrem großen Glücksgefühl, das sie ständig begleitet, „ich bin überzeugt, dass in deiner Beziehung zu Silvio noch alles ins Lot kommt.“

 Das glaube ich kaum, denkt Eva als sie die Tür schließt. Und so ein Leben wie Ellen möchte ich auf keinen Fall führen. Es kommt mir alles so verlogen vor, und vor allem sehr selbstsüchtig!

 

Väter ohne Kinder

 

Noch am Wochenende kann Dario nicht vergessen, was seine Mutter und Ellen beredet haben. Es fällt ihm schwer, sich in die Welt der Erwachsenen hineinzuversetzen. Diese sehen alles aus ihrer persönlichen Sicht, und nie aus der Sicht der Kinder und Heranwachsenden. Durch die Trennung der Eltern hat sich doch für ihn und Udo alles verändert. Manches ist seitdem für sie besser geworden. Der Vater hat sie vorher bei jeder Kleinigkeit hart bestraft und vor allem ihn oft geprügelt. Das fand Dario ungerecht, weil meistens Udo derjenige war, der den Streit provoziert hatte. Und die ewigen Streitereien der Eltern haben auch genervt. Es war kaum auszuhalten. In dieser Hinsicht war es eine Erleichterung für sie, als der Vater ausgezogen ist. Er hat sich eine eigene Wohnung eingerichtet und lebt dort allein. Seine Freundin lebt nicht mit ihm zusammen. Daher ist es an jedem zweiten Wochenende Usus, dass sie mit ihrem Vater viel unternehmen, und bei ihm schlafen können. Aber einschlafen kann Dario auch bei seinem Vater nicht immer. Vor allem, wenn Vater am späten Abend seinen Geschäftspartner und Freund, sowie enge Mitarbeiter einlädt. Alle haben das gleiche Problem. Sie sind von ihren Frauen geschieden, leben getrennt und haben Kinder, die sie nur sporadisch sehen, wenn überhaupt. So erinnert sich Dario an eine lange Diskussion der Männer, die er vor ein paar Wochen mit anhören musste, ob er wollte oder nicht, so laut wie sie nach ein paar Bier geredet haben.

 „Ich bin Vater von drei Töchtern“, sagt Gerhard. „Nach fast zwanzig Jahren Ehe hat mich meine Frau aus dem eigenen Haus vertrieben. Seit zwei Jahren lebe ich nun allein. Und das funktioniert nur, solange ich zahle. Doch ich sehe vom Geld her, dass einfach immer weniger da ist.“

 „Ich habe einen Jungen und ein Mädchen“, berichtet Paul. „Wir waren fünf Jahre miteinander verheiratet. Seit sechs Jahren sind wir jetzt geschieden. Meine Beziehung zu der Ex ist sehr angespannt. Als sie damals erfuhr, dass sie nicht alles bekommt, was sie wollte, und was ihr auch nicht zustand, hat sie den Krieg begonnen, Kinder gegen Geld!“

 „Da kann ich dir beipflichten“, stöhnt Robert. „Mein Scheidungsdrama dauert bereits sieben Jahre an. Seit damals streite ich mit meiner Frau um das Besuchsrecht für meine beiden Jungen, vergebens. Es ist ein Kampf von Mutter und Vater, den die Kinder nicht verstehen, weil eine Seite sagt: Der ist böse! Wir haben in den 1990er Jahren geheiratet. Unsere Ehe funktioniert von Anfang an nicht gut. Bis zur Trennung lebten wir in einem komfortablen Einfamilienhaus. Seit meinem Auszug regelt das Besuchsrecht die Beziehung zu den Kindern. Eines Tages aber war das Haus leer, und meine Frau mit den Kindern einfach verschwunden, ohne eine Nachricht und eine neue Adresse zu hinterlassen. Das war Anfang 2010. Nach einigen Nachforschungen fand ich dann heraus, dass sie mit den Kindern nach Hessen verzogen war. Sie wollte möglichst weit weg von mir, vermute ich. Es vergingen Monate, bis ich die Kinder wieder sah. Auch für die Kinder war es eine sehr lange Zeit. Tom war noch keine zwei Jahre alt, und Michael sechs. Ich gab natürlich nicht auf, und habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um meine Kinder zu sehen. Aber meine Frau stellte sich dagegen. Dabei kämpfe ich nur für etwas ganz Normales, für ein Wochenende einmal im Monat oder alle zwei Wochen, sowie Ferien mit den Kindern. Und für normalen Kontakt, ob es nun per Telefon ist oder per E-Mail. Und dass die Mutter anruft und sagt, es findet dieses oder jenes statt. Ob ich auch dazu käme, und dass man sich treffe. Aber nichts. Es ist absolute Funkstille, keinerlei Kommunikation zwischen ihr und mir. Meine Briefe an die Kinder kommen zerrissen zurück. Ich habe keine Möglichkeit Kontakt zu den Kindern aufzunehmen. Niemand geht ans Telefon, wenn ich bei ihnen anrufe. Daher weiß ich nichts von meinen Kindern. Wie haben sie sich entwickelt? Was treiben sie in der Freizeit? Welches sind ihre Träume? Ich frage mich immer, habe ich mir im Umgang mit den Kindern etwas zuschulden kommen lassen?

 Ich wüsste nicht was! Man hat mich auch psychologisch untersucht, durch eine Psychiaterin – Nichts! X-Stunden war ich dort und habe mich quasi ausgezogen, und musste Auskunft geben über meine Familie, meine Eltern, meine Brüder, meine Beziehung. Man fand nichts, von dem man hätte sagen können, da können wir ihn packen. Und das macht es umso schlimmer, weil man den Sinn nicht einsieht. Seit drei Jahren lebe ich nun mit Ilse zusammen. Ich fühle mich von ihr verstanden. Das war mit meiner Frau nicht so. Jetzt glaube ich zu wissen, warum meine Ehe nicht funktioniert hat. Ich hätte eher mit ihr reden sollen, und ihr sagen, dass wir etwas ändern müssen, auch was die Kindererziehung anbelangte. Wir gingen zu keinen Freunden mehr, luden, wenn überhaupt, nur noch Leute zu uns ein. Alles war nur noch auf die Kinder fokussiert. Ein Leben als Partner auf Paarebene gab es nicht mehr. Ich war ein Teil, und es gab zwei Leben in einem Haus. Die Frau und die beiden Jungen hatten ein Haus und ihren Teil, und ich, mit meinem Job als Architekt, kam manchmal in dieses Haus hinein. Wobei ich nicht mehr wusste, wie ich mich in diesem Haus bewegen sollte. Ich war quasi ein Fremder, in meinem eigenen Haus. So kommt mir das heute vor. Und meine Frau sorgt jetzt dafür, dass ich für meine Kinder ein Fremder bleibe. Ich sehe sie ja nur noch selten. Nur unter großem Druck der Behörden gibt sie die Jungen heraus. Wenn die Besuche endlich zustande kommen, geschieht das nur unter Aufsicht. Eine neutrale Person sorgt dafür, dass die Treffen geregelt ablaufen. Das Jugendamt stellt dann einen Raum zur Verfügung, der sehr nüchtern ist. Darum ist doch meine Angst mehr als berechtigt, dass sich die Kinder von mir entfremden – oder? Die ungewohnte Umgebung und die Aufsichtsperson tragen gewiss nicht dazu bei, dass ich mich den beiden langsam annähern kann. Man kann noch nicht einmal ins Freie gehen oder sonst irgendwas unternehmen. Ich halte es für die Jungen schwierig, und auch für mich, in einem fremden Raum herumzutigern, und anzufangen sich abzutasten. Man sucht verzweifelt den Kontakt, und dann gehen die Kinder wieder weg. Sie waren bei diesen Besuchszeiten auch sehr negativ eingestellt. Es war richtiger Horror. Allein die Fahrt nach Hessen war sehr stressig. Ich habe mir Gedanken gemacht, was sie wohl machen, wie sie reagieren, was sie wohl sagen werden, ob sie böse auf mich sind. Und wie reagiere ich? Mein Scheidungsanwalt steht solchen begleiteten Besuchen sehr skeptisch gegenüber. Er erklärte mir: Das Besuchsrecht in geschützten Räumlichkeiten wird dann angeordnet, wenn sich Schwierigkeiten bei der Ausübung des Besuchsrechts zeigen. Und es wird in der Regel nur für kurze Zeit angeordnet. Dann nämlich, wenn Aussicht besteht, dass ganze wird sich bald wieder normalisieren. Je kürzer die eingeschränkte Besuchsrechtsausübung ist, desto größer ist auch die Aussicht, dass es irgendwann wieder besser funktionieren kann. So sagt er, aber bei mir dauert das eingeschränkte Besuchsrecht schon sieben Jahre. Vorgestern hatte ich einen wichtigen Termin beim Hessischen Jugendamt. 2012 hatte das Jugendgericht entschieden, dass ich meine Kinder bei jedem Besuch sechs Stunden sehen darf, gegen den Willen der Mutter. Doch auch dieses Recht kann ich nicht wahrnehmen, weil in Hessen nur zwei, statt sechs Stunden vorgesehen sind. Und eigentlich werde ich als Vater nicht allein ausgeschlossen, es sind ja auch noch die Großeltern, Tanten, Onkel und Paten, die den Kontakt zu den Kindern völlig verlieren. Meine Frau überbehütet die Kinder, als wären sie ihr Eigentum. Ich landete wieder in einem der üblichen Staus auf der Autobahn. Das sind Strapazen, die bei meinem Hundertprozent-Job noch zusätzlich Nerven kosten. Ich fragte mich, bist du auf die Fragen vorbereit, die sie dir vielleicht stellen werden? Warum ich nicht pünktlich gekommen bin? Ich habe einen Gerichtsentscheid von sechs Stunden und ich habe kommuniziert, dass ich diese sechs Stunden wähle. Das sollen sie endlich organisieren. Sie könnten sagen, dass ich im November nicht gekommen bin, aber ich akzeptiere die zwei Stunden nicht. Also war ich sehr gespannt auf den Termin bei der Vormundschaftsbehörde. Komme ich nun zu meinem Recht?“

 „Ich bin als Versicherungsagent viel unterwegs“, erklärt Paul. „Meistens bin ich nur am Wochenende zuhause bei Klara, mit der ich seit sechs Jahren zusammen bin. Wir haben im vergangenen Jahr geheiratet. Unser Glück wäre perfekt, wenn meine Kinder öfters da wären. Darum rufe ich sie immer wieder an, wenn ich daheim bin und bitte um ihren Rückruf. Früher rief mich Lorenz an – die Nummer war für ihn eingestellt. Doch jetzt bekomme ich seit Monaten keinen Anruf mehr von ihm. Er hat auch angerufen, wenn er mit jemandem zusammen war, mit der Nanni oder so. Jetzt passiert das nicht mehr, und ich weiß nicht warum. Für mich sind Ehe und Familie sehr wichtig. Wir bekamen kurz nacheinander zwei Kinder. Aber ich war nie glücklich in unserer Ehe. Daher habe ich meine Frau verlassen, als ich mich in Klara verliebte. Doch meine Frau tut sich schwer damit. Sie setzt mich daher unter Druck mit dem, was für mich am Wichtigsten ist, den Kindern. Es heißt jetzt, Geld gegen Kinder. Etwas lief in unserer Beziehung schief. Und es ist auseinander gegangen, weil ich gemerkt habe, dass die Nähe nicht mehr da war. Wir lebten schon seit Jahren wie Bruder und Schwester. Das hätte ich nicht länger ertragen können. Am Wochenende bin ich immer hier, und könnte ohne weiteres meinen Lorenz und meine Jutta sehen. Ich würde gern den Tag mit ihnen beginnen, sie mit in die Schule nehmen oder schwimmen gehen. Am Freitagabend spähe ich oft durch die Büsche vor dem Haus meiner Ex nach den Kindern. Ich würde sie gern abholen und mitnehmen. Aber sie will das nicht. Beim Scheidungsurteil ging es auch mehr um die Unterhaltszahlungen an meine Ex-Frau. Es ging alles nur um die Finanzen. In dem Urteil wurde kleinlich aufgezählt, was der Grundbedarf ist. Es ging über größere Beträge, wie die Miete, bis zu kleineren Positionen, wie Mobiltelefon oder Schmuckversicherung pro Monat alles aufgelistet war. Haushälterin, Vermögensertrag, Bedarf, Haushaltshilfe, Kindermädchen, Massagen machen fast dreiviertel des Ganzen aus. Also, Geld, Geld, Geld, Unterhalt etc. Aber wenn es dann darauf ankommt, aufs Besuchsrecht, gibt es dann zweieinhalb Seiten, und man stellt dann auf die Praxis ab. Nach dem Motto: Es ist immer so geschehen, und deshalb machen wir das auch die nächsten tausend Jahre so. Deswegen hoffe ich, dass sich da was ändert. Und dass man einsieht, dass der Vater nicht ein schlafender Typ ist, der einfach nur zahlt, und nicht auch irgendwelche Rechte hat. Vor allem, weil er seine Kinder sehr, sehr liebt. Unsere Scheidung war für mich eine sehr teuere Angelegenheit. Ich musste fast zwei Millionen Euro Abfindung bezahlen. Meine Ex bekommt 9000 Euro im Monat für den Unterhalt. Das ist halt so, wenn der Lebensstandard vor der Trennung sehr hoch war. Und wenn man als Mann in der Lage ist, nach der Trennung aus seinem Einkommen den Lebensstandard für beide zu finanzieren. Das kostet halt sehr viel. Um das Besuchsrecht ist es ganz anders bestellt. Es beginnt am Wochenende und Abweichungen davon gibt es nicht, wenn die Mutter es nicht will. Jeden Freitag fahre ich am Haus der Ex-Familie vorbei. Ich habe das Recht, die Kinder jedes zweite Wochenende zu sehen, theoretisch. Fällt eines aus, etwa, wenn die Kinder krank sind, dann wird es nicht nachgeholt. Manchmal sehe ich meine Kinder wochenlang nicht. Die Autofahrt mit den Kindern mag zwar langweilig erscheinen, aber es gibt ihnen und mir die Gelegenheit etwas zu erzählen, wie es war während der letzten zwei Wochen, was sie gemacht haben, was sie vorhaben und welche Neuigkeiten es in der Schule gibt. Und wen sie besser mögen in der Schule oder wen sie weniger mögen. Am letzen Wochenende wollte ich sie wieder abholen. Wie immer bereitete meine Klara alles für den Besuch vor. Die beiden Kinder sind ihr in den letzten sechs Jahren auch ans Herz gewachsen. Als Mutter einer, nun erwachsenen, Tochter hat sie Erfahrung im Umgang mit Kindern. Doch nach Meinung der Ex-Frau hat Klara die Familie zerstört. So wird es dargestellt und es ist praktisch, wenn man es so auslegen kann. Man muss dann nicht an sich arbeiten, muss nichts hinterfragen. Einen Mann, der zuhause glücklich ist, kann man nie und nimmer irgendwem ausspannen. Werden die Kinder diesmal tatsächlich kommen?“

 Das hörte sich alles genauso egoistisch und selbstbezogen an wie bei Mutter und Ellen, denkt Dario enttäuscht. Obwohl er sich an jeden Satz, fast an jedes Wort erinnert, kann er nicht erkennen, dass es sich auch nur einmal um das Wohl der Kinder handelte. Es geht immer nur um Rechte und Ansprüche, als ob die Kinder ein Teil des Vermögens oder einfach nur Gegenstände wären, über die verhandelt wird. Warum haben sie die Kinder, die sie doch angeblich so sehr lieben, verlassen? Udo und ich lieben unsere Eltern von ganzem Herzen, und sie lieben uns, das wissen wir. Aber das Leben, das ihre Trennung verursacht hat, ist alles andere als ein intaktes Familienleben. Wir wünschen uns nichts mehr, als mit Mama und Papa zusammen zu sein. Dazu wären wir gern bereit, auch unser Verhalten anzupassen, und nicht mehr zu nerven . . .

 „Heute gehe ich nicht mehr ganz so gern zur Arbeit wie früher“, bekennt Gerhard bekümmert. „Als Vater von drei Töchtern wusste ich immer, dass mein Lohn für die Familie reichte. Nach unserer Trennung ist das leider nicht mehr so. Das Geld ist nur das Eine, aber da sind auch der Schmerz und die Wut darüber, dass mich meine Frau nach zwanzig Jahren Ehe verlassen hat. Manchmal möchte ich am liebsten alles stehen und liegen lassen. Gestern war ein Tag, da wäre ich fast nach Australien ausgewandert. Jeder will etwas von Einem, jeder lässt einen warten, keiner macht vorwärts, die Kinder kommen nicht. Ich habe doch immer nur für meine Familie gelebt, und habe sie stets beschützen wollen. Doch meine Frau hatte plötzlich das Bedürfnis auszubrechen, ich überhaupt nicht. Verglichen mit davor, könnte für manchen mein Leben sogar recht gut aussehen. Denn ich muss nicht nach Hause gehen und irgendwelche Arbeiten verrichten. Ich kann nach Hause kommen wann ich will, kann machen was ich will, kann meinen Plunder hinschmeißen, wo ich will. Aber ich merke einfach, dass mir die Familie fehlt. Das ist nicht das Leben, das ich eigentlich wollte. Ich liebte meine Frau zur Zeit der Trennung nach wie vor. Früher freute ich mich darauf, nach Hause zu meiner Familie zu fahren. Jetzt fahre ich in meine Drei-Zimmer-Wohnung, in der ich alleine lebe. Meine Frau wollte mir diese Wohnung einrichten, mit dem Spruch: Ich will, dass Papa es schön hat, und nicht das Gefühl hat, er sei zuhause rausgeworfen worden. Mir fehlt der Alltag mit meinen Töchtern. Ich möchte an ihrem Leben teilhaben und wissen, was sie treiben und was sie bewegt. Doch ich bin weg vom Fenster, ausgerechnet jetzt, da sie etwas größer sind, jetzt, wo man es hätte genießen können. Es ist für mich absurd, denn es ist mein Haus, mein Elternhaus in der meine Familie lebt. Ich bin selber darin aufgewachsen, die Kinder sind hier groß geworden. Das Haus habe ich mit meinen eigenen Händen umgebaut. Nun hat mich meine Frau aus meinem Haus vertrieben. Wenn ich als Mann von einer Frau zur anderen renne, ist das ein guter Grund für eine Frau, um sich scheiden zu lassen. Aber ich sehe nicht ein, worin ich einen Grund geliefert habe für diese Scheidung. Im neuen Ehegesetz wird nicht mehr danach gefragt, wer ist schuld. Wenn ein Partner nicht mehr will, kann er gehen. Will die Mutter nicht mehr, muss aber meistens der Vater gehen. Die Mutter bleibt mit den Kindern in der alten Umgebung. Mich zieht es immer wieder zu meinem Haus, in die Nähe meiner Familie. So gern würde ich, wie früher, auf meinem angestammten Platz sitzen. Eigentlich tut es mir weh, wenn ich da runter sehen muss. Ich sehe sie zusammen an dem Tisch, und kann nicht dabei sein. Ich merke, dass ich als Ehemann gar nicht fehle. Es war eben meine Heimat, wo ich einmal war. Ob das nun das Elternhaus ist oder wo man als Familie gewohnt hat, und auch dass Rundherum, das man geschaffen hat, sein kleines Reich, das man sich aufgebaut hatte. Da man nach einer Trennung der Eltern die Kinder in einer vertrauten Umgebung aufwachsen lassen möchte, und in nahezu allen Fällen die Obhut der Mutter zugesprochen wird, führt das dazu, dass der Richter die Benutzung der Liegenschaft in den meisten Fällen der Mutter und den Kindern zuspricht. Das bedeute für mich, dass ich als Ehemann das Haus verlassen musste. Auch, wenn ich es geerbt hatte und viel Zeit und Arbeit ins Haus investiert hatte.

 Ich würde zu meiner Frau ja gern Distanz gewinnen. Doch ich bleibe lieber in der Nähe meiner Töchter. Joana ist diejenige, die mich vor allem zurückhält. Sie freut sich immer darauf mit mir zusammen zu sein, und mit mir etwas zu unternehmen. Auch Iren unterhält sich gern mit mir. Und Dora ist halt ein Teenager. Ich sage das nicht gern, es klingt irgendwie blöd. Eine Familie mit mittlerem Einkommen kann sich eine Scheidung eigentlich gar nicht leisten. Viele Paare in Trennung geraten daher kurzfristig unter das Existenzminimum. Darum führe ich genau Buch über meine Ausgaben. Es war für mich von Anfang an klar, dass das Geld nicht reichen würde, und zwar in jeder Hinsicht. So, wie meine Frau im Moment denkt, ist das einfach nicht drin. Bei den Finanzen wird vom klassischen Rollenmodell ausgegangen, wonach der Ehemann einer Arbeit nachgeht, und die Frau sich um den Haushalt und die Kinder kümmert. Bei einer Trennung und Scheidung wird das vom Richter auch in diesem Sinne geregelt. Der Vater und Ehemann muss arbeiten gehen und zahlen, während die Mutter die Betreuung der Kinder übernimmt. Oftmals zahlt der Vater dann, und hat daneben, von seiner Warte aus gesehen, keine Rechte mehr. Bei einem Anruf sagen die Großen einmal mehr einen Besuch ab. Aber vielleicht kommt ja noch meine Tochter Joana am Wochenende.“

 „Der Stau hatte sich aufgelöst“, berichtet Robert weiter. „Ich wollte doch nur die sechs Stunden Zeit, um meinen Kindern zu zeigen, dass ich ein ganz normaler Vater bin. Ich weiß, dass die räumliche Distanz zu den Kindern auch rechtliche Konsequenzen hat. Das Gericht ist ja in Nordrhein-Westfalen und die Vormundschaftsbehörde ist in Hessen. Seit sieben Jahren werden Dossiers hin und her geschoben. Mörder würden ihre Kinder öfter sehen. Für Außen-stehende ist es unbegreiflich, warum man mir mein Besuchsrecht so lange verwehrt. Über die Jahre befassten sich eine Unzahl von Behörden, Ärzten, Psychologen und Pädagogen mit dem Fall meiner Familie. Gutachten und Gegengutachten wurden erstellt. Kaum hatte ich ein gültiges Urteil, konterte meine Frau mit einem weiteren ärztlichen Befund. Immer wieder hieß es, die beiden Jungen seien zu instabil, um den Vater mehr als zwei Stunden zu sehen. Andere Gutachten sprachen hingegen für mich. Wenn der Vater nur als Gespenst existierte, wären große Ängste vorprogrammiert. Dann war es soweit, dass mich der Präsident der Vormundschaftsbehörde empfing. Inzwischen traf auch meine Frau ein, die ihren Termin im Anschluss hatte. Wir sind seit sieben Jahren getrennt, aber immer noch nicht geschieden. Mein Gespräch dauerte eine Stunde. Das niederschmetternde Ergebnis war, dass mir das Besuchsrecht entzogen wurde, für ein Jahr. Und nach einem Jahr muss man alles wieder aufbauen, ich habe sie dann zwei Stunden. Das einzige was ich von der Behörde erfahren habe ist die neue Adresse der Kinder. Ich kann jetzt nur auf Geratewohl dort vorbeifahren, und hoffen, dass ich sie per Zufall sehe . . .“

 Dann können wir schon froh sein, Udo und ich, dass unsere Eltern sich weitgehend arrangiert haben, was unsere Erziehung, die Ausbildung und die Besuche bei Papa betrifft. Sie stimmen sich ab und tauschen auch schon mal ein Wochenende, wenn Papa oder Mama verhindert sind. Und in den Urlaub fahren wir mit Papa jedes Jahr, und im Anschluss mit Mama. Darin kommen wir nicht zu kurz. Papa kommt zu den Elternabenden und achtet sehr darauf, dass wir gute Noten erarbeiten. Doch in der täglichen Erziehung fehlt er uns, fürchte ich. An den Wochenenden bei ihm dürfen wir alles machen, was wir möchten. Wir spielen Fußball, gehen ins Freibad, sitzen am Computer und so. Mama ist damit strenger mit uns. Doch auch sie unternimmt sehr viel mit uns. Wir fahren mit dem Rad, reisen und besichtigen vieles. Doch das ersetzt uns nicht die normal intakte Familie . . .

 

Patchwork Familie

 

„Gehst du noch nicht los?“ fragt Eva Dario. „Du bist doch für zehn Uhr eingeladen bei den Schlüters. Da kannst du eine richtige Großfamilie erleben. Und ich muss auch weg, das weißt du doch. Papa holt dich heute Abend ab, wenn er vom Sport mit Udo zurückfährt. Vergiss dein Geschenk für Katrin nicht, es war teuer genug. Bald können wir uns das nicht mehr erlauben, das kannst du mir glauben.“

 „Ich geh´ ja schon“, murrt Dario. „Ich wollte doch nicht da hin, du hast es festgemacht, damit du mich loswardst.“ - „Jetzt werde nicht auch noch frech, Dario. Du weißt doch, dass ich die Fortbildung machen muss, um mehr Geld zu verdienen. Und das geht nur an diesem Wochenende. Mach´ schon voran und trödle nicht so herum. Es ist höchste Zeit. Also, tschüss Dario.“

 „Tschüss Mama, ich habe es ja nicht so gemeint. Es ist mir nur so herausgerutscht.“ - „Ist schon gut. Du bist doch mein Bester. Nochmals tschüss – Tschüss!

 Unterwegs denkt Dario nach, warum Mama ihn in eine richtige Großfamilie, wie sie sagt, schickt. In eine Patsche, wie Katrin ihre Patchwork-Familie immer bezeichnet. Ob Mama wohl mit Silvio endlich Schluss machen will? Wird sie mit Dieter zusammenziehen, der schon lange hinter ihr her ist. Seit seine Frau im Baggersee tödlich verunglückt ist, als der Sand wegrutschte und sie begraben hat, steht er mit drei kleinen Kindern allein da. Man hat seine Frau bis heute nicht gefunden, das schmerzt ihn unendlich. Die Kinder mussten alles mit ansehen, als der Unfall passierte. Sie können es nicht begreifen und verarbeiten. Das weiß Dario von Thomas, der auch in seiner Klasse ist. Thomas ist ein prima Kumpel, aber seit dem Tod seiner Mutter deprimiert. Ihn könnte er sich als zweiten Bruder vorstellen. Und auch mit Dieter käme er wohl gut zurecht. Er war schon immer wie ein Onkel zu ihm und Udo, als die Familien noch oft miteinander verkehrt hatten. Dieter ist als Bauunternehmer eine gute Partie, hat seine Mutter einmal erklärt. Nur, wer will einen Mann mit drei kleinen Kindern, und einer rundum Beschäftigung, meinte sie dann . . .

 „Hallo Dario, da bist du ja schon“, begrüßt ihn Katrin an der Haustüre. „So früh haben wir noch nicht mit dir gerechnet. Du weißt ja, dass ich meinen Geburtstag bereits gestern gefeiert habe. Bei uns sieht es noch schlimm aus, aber mit den vielen Händen, die eine Patchwork-Familie hat, ist das schnell wieder aufgeräumt.“

 „Hallo Katrin, lass´ mich auch mal zu Wort kommen. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, und hier dein Geschenk. Ich hoffe, dass wir deinen Geschmack getroffen haben.“ - „Aber genau! Es ist das T-Shirt, welches ich mir schon lange gewünscht habe. Es war uns nur zu teuer. Woher habt ihr das gewusst?“ - „Da müssen wohl unsere Mütter miteinander gesprochen haben, denke ich.“

 „Vielen, vielen Dank, auch an deine Mutter. Ich ziehe es sofort an, wenn wir aufgeräumt haben. Ich kann es kaum erwarten. Jetzt kannst du erleben, wie eine Großfamilie funktioniert, im Guten und im Schlechten. So was kennst du ja nicht, als verwöhnter Junge, dem die Mutter alles macht.“ - „Wir haben auch unsere Aufgaben, Udo und ich, entrüstet sich Dario. Aber du hast Recht, die meiste Arbeit erledigt Mama für uns. Das geht wohl bei euch nicht, oder?“

 „Nein, auf keinen Fall. Bei uns ist alles fest eingeteilt. Jeder muss bestimmte Sachen täglich machen, und andere Arbeiten werden im wöchentlichen Wechsel organisiert. Sogar die Kleinen wissen, was sie zutun und zulassen haben. Und wir Großen sind uns zwar nicht immer >Grün<, aber wir machen unseren Teil, wenn auch manchmal widerwillig, das gebe ich zu.“

 „Kann ich euch beim Aufräumen helfen? Sonst stehe ich euch nur unnütz im Weg.“ - „Ja, gern. Wir können zusammen den gröbsten Müll raus tragen. Dabei kann man nichts falsch machen. Und geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Dabei können wir uns ja auch weiter unterhalten.“

 „Wie war denn deine Party gestern? Sind alle gekommen, die du eingeladen hast?“ - „Es waren fast alle da, außer Thomas und dir. Die Party war toll. Alle waren traurig, als sie abgeholt worden sind und nach Hause mussten. Es flogen richtig die Fetzen. So was fällt bei uns nicht weiter auf, das sind wir gewohnt. Thomas geht es wohl noch nicht so gut, seit das mit seiner Mutter passiert ist. Ich hätte ihn gern dabei gehabt, aber er muss sich sicher noch mit der neuen Situation zurechtfinden. Das kann ich verstehen. Bei uns war das ja auch schwierig, als aus zwei Familien eine wurde.“

 „Ich musste unterwegs auch an Thomas denken. Ist das nicht eigenartig? Du musst mir alles erzählen, wie das damals bei euch war. Bei uns ist nach der Trennung unserer Eltern auch nicht mehr alles so wie es einmal war. Aber im Großen und Ganzen ist es auch nicht schlecht für Udo und mich. Wir werden mehr verwöhnt als vorher, und haben unseren Papa am Wochenende wenigstens ganz für uns. Das war früher nicht so.“

 „Zuerst mache ich dich mal mit meinen Eltern und Geschwistern bekannt. Meine Mama Tina kennst du ja schon. Eine kleine Überdosis Mamas, Papas, Omas und Opas gehört ja zum Leben in der Patchwork-Familie dazu. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Da ist Lisa, meine leibliche Schwester. Wir sind beide Töchter von Tina. Und das ist Jannik, unser kleiner Bruder. Hier ist Ernst. Er ist der Vater von Kim und von Emma. Freitagabend hat Ernst seine Kim von der Ex-Frau abgeholt. Sie bleibt bis Sonntag bei uns, und freut sich immer über ihre drei neuen Geschwister. Es ist klar, dass Kim da erst mal aufgedreht ist. Seit zwei Jahren wohnt Ernst hier. Eine gewisse Vertrautheit ist schon entstanden. Sie wird jetzt Fünf, und kommt alle vierzehn Tage von Freitag bis Sonntag zu uns. Dann ist hier noch Lutz. Ich hätte ihn fast vergessen, so still wie er immer ist. Er ist der Sohn von Ernst aus einer vorehelichen Beziehung. Die Freundin wollte das Kind nicht. Sie wollte Ernst nicht heiraten. So ist Lutz dann bei der Mutter von Ernst aufgewachsen, mit viel Liebe. Sie war froh, eine neue Aufgabe zu haben, nachdem ihr Mann früh verstorben war. Doch seit Ernst mit Tina zusammenlebt ist er ein Teil unserer Familie. Aber er geht auch noch oft zu seiner Oma, die hier in der Nähe wohnt.

 „Ganz nah´ mit Kim, das ist erst mit der Zeit gekommen, “ sagt Tina als sie die Unterhaltung mitbekommen hatte. „Aber gut verstanden haben wir uns von Anfang an. Jetzt kommt sie auch manchmal und lässt sich von mir trösten, wenn sie sich mal wehgetan hat oder so. Doch das war nicht so, in der ersten Zeit.“

 Der >kleine Bruder< Jannik ist acht Jahre alt. Er erklärt: „Wenn sie kommt, ist schon etwas anderes als sonst immer. Es ist immer etwas Aktion hier, wenn sie da ist, und es ist eben was Besonderes.“

 „Emma ist aufgewacht“, sagt Katrin als sie einen Schrei hört zu Dario. „Ich muss mich jetzt um unser Nesthäkchen kümmern. Dafür bin ich zuständig, aber auch schon mal Ernst, wenn er hier ist. Ach ja, er ist schon bei ihr, mit Kim.“

 „Kim hat die ganze Zeit gewusst, dass Emma bei Tina im Bauch ist“, berichtet Ernst. Und dass es ein kleines Schwesterchen oder Brüderchen wird. Sie hat sich die ganze Zeit gefreut, und seitdem Emma da ist, sind sie ein Herz und eine Seele.“

 „Ich finde es auch nicht so schlimm“, meint Jannik, „wenn Mama jetzt keine Zeit hat, um sich um mich zu kümmern. Es ist mir ziemlich egal.“

 „Eigentlich hatte ich mit dem Thema Baby längst abgeschlossen“, erklärt Tina. „Aber dann kam Ernst in mein Leben, und mit der jungen Liebe auch eine überraschende Sehnsucht. Emma ist ein richtiges Wunschkind. Für mich war das sehr wichtig. Es gehört irgendwie dazu, wenn man einen Partner gefunden hat, von dem man weiß, dass es der Richtige ist. Dann finde ich das einfach gut so, wie es ist . . .“

 „Wir essen abends immer gemeinsam“, plaudert Katrin weiter mit Dario. „Das was wir am Tag erlebt haben, kommt mit auf den Tisch. Als sich Tina und Ernst verliebten, waren Lisa und Jannik neun und fünf Jahre alt, und ich war sieben. Die Bindung zu unserer Mutter war sehr eng und intensiv. Doch über die neue Familienkonstellation wundern wir uns nicht weiter. Wir sehen Ernst eher als Freund, denn als Vater. Und Kim gehört eben dazu. Wenn ich etwas von Kim erzähle, dann sage ich, die Tochter vom Freund meiner Mutter. Dann kommen die meisten gar nicht mit, aber das ist nun mal so.“

 „Heißt es bei euch denn nicht“, fragt Dario, „meine, deine und unsere Kinder?“

 „Manchmal höre ich schon, dass Ernst von >deinen Kindern< spricht, wenn wir etwas kaputt gemacht haben. Aber Mama hat Kim ins Herz geschlossen und behandelt sie genau wie uns. Eigentlich halten wir schon alle fest zusammen. Wir kommen gut miteinander aus, bis auf die üblichen kleinen Streitereien, die es überall schon mal gibt.“

 „Schmerzt es denn nicht, wenn ihr Kim nach dem Wochenende wieder abgeben müsst?“ - „Wenn wir Kim nach Hause bringen, dann fehlt ein Teil der Familie. Das merkt man schon. Ernst ist einwenig traurig, und auch Kim ist traurig, wenn sie im Auto sitzt. Und uns fehlt sie dann auch.“

 „Wie kommst du denn mit den neuen Geschwistern zurecht“, erkundigt sich Dario. Siehst du sie als Geschwister oder mehr als Freunde?“

 „Das kommt ganz darauf an“, meint Katrin. Ich habe ganz bewusst erlebt, dass da plötzlich eine zweite kleine Schwester war, die Kim. Ich habe zuerst gedacht, dass ich jetzt total vernachlässigt werde. Als sie älter wurde, haben wir total viel Spaß mit ihr gehabt. Und Emma ist unser Sonnenschein, und hält uns ganz schön auf Trab. In mancher Hinsicht ist sie wie mein Kind, das ich betreue und versorge. Es ist eine hohe Verantwortung für mich, aber es macht mir mehr Spaß als mit Barbie-Puppen zu spielen.“

 „Und Ernst und Tina übertragen euch so einfach die Pflichten, die sie eigentlich haben?“

 „Es ist manchmal schwierig“, erläutert Tina, sich immer wieder bewusst mit der Situation in der Patchwork-Familie auseinander zu setzen. Ich will nicht in das Schema abrutschen, das ist mein Sohn oder deine Tochter. Man muss Entscheidungen so akzeptieren, als wären es unsere gemeinsamen Kinder. Beim Schimpfen muss man darauf achten, dass man nicht ungerecht ist. Das ist schon ein Gewissenkonflikt in einigen Fällen. Aber wir sind uns alle einig, dass jeder gewisse Pflichten und Aufgaben erfüllen muss. Wir achten darauf, niemanden zu überfordern. Das funktioniert reibungslos und ohne großes Murren.“

 „Siehst du Ernst als deinen Stiefvater an?“ - „Das Wort Stiefvater mag ich nicht, es hat für mich eine negative Bedeutung. Ich sehe ihn mehr als Freund und zweiten Vater. Genauso spricht Kim unsere Mutter mit Mama an. Sie ist ihre zweite Mutter.“

 „Und auf dieser Basis klappt das sicher gut“, meint Dario. - „Ja“, sagt Katrin, „ unsere >Patsche< funktioniert so gut, weil es eben das meine, deine und unserer nicht gibt. Wir sind eine Familie, und so treten wir auf, egal welche anderen Kinder dabei sind. Es ist schon gut, eine große Familie zu haben. Da gibt es immer Aktion und man lernt das Zusammenleben hautnah. Der Nachteil ist natürlich, dass man alles teilen muss. Und manchmal bekommt der Eine dies und das, und man selber nichts. Aber das ist schon OK.“

 „Wie vertragt ihr euch denn untereinander?“, fragt Dario neugierig. Er denkt an die Erfahrungen, die er mit seinem Bruder durchgemacht hat, bis sie sich zusammengerauft haben.

 „Harmonisch geht es nicht immer zu. Aber ich glaube trotzdem, dass wir weitgehend alles gut über die Bühne bringen. Doch um diese Harmonie zu erreichen, musste altes erst weggeräumt und Platz für ein neues Leben geschaffen werden. Dazu mussten wir alle unser Scherflein beitragen. Jannik und Lutz haben sich schnell miteinander angefreundet. Sie sind heute ganz selbstverständlich zwei zusammengewürfelte Brüder, die sich manchmal streiten, und vor allem, gut miteinander spielen können. Er hatte keine Lust mit mir zusammen mit Barbie-Puppen zu spielen. Er spielt lieber mit Autos, genau wie Lutz. Das ist für ihn halt besser. Und Lutz findet es schön, dass er jetzt Geschwister hat. Für ihn war es alleine langweilig, hat er einmal gesagt. Auch wenn er jetzt nicht mehr so verwöhnt wird wie bei seiner Oma. Er hat sie ja immer noch und kann zu ihr gehen, wann er will.“

 „Dann ist er doch noch ein Einzelkind, das nur mit anderen zusammen wohnt“, meint Dario. „Spielt ihr denn nicht alle miteinander?“ - „Aber sicher. Wenn alle zusammen sind, geht es hier richtig rund. Es ist sehr schade, dass du gestern nicht dabei warst, auf meiner Geburtstags-Party. Bei uns steht gemeinsames Spielen hoch im Kurs. Da denkt keiner darüber nach, ob der eine nun Halbschwester oder Stiefbruder ist. Wir betrachten uns als Geschwister. Doch Jannik tut sich manchmal schwer damit. Er sieht nur Lisa und mich als Schwestern, und sicher auch Emma. Lutz und Kim sind mehr nur Freunde für ihn - >nur?< Es sind Freunde für ihn.

 „Und was macht ihr mit der im Haushalt anfallenden Arbeit?“ fragt Dario neugierig. Auch Udo und er müssen zuhause mit anpacken. Allein schafft die Mama das ja nicht, zusätzlich zu ihrer Halbtags-Arbeit.

 „Unser Leben besteht natürlich nicht nur aus Spiel. Doch, wie gesagt, bei so vielen Händen können auch Berge von Arbeit abgetragen werden. Das hast du ja eben gesehen. Und dass alle mithelfen, funktioniert bei uns recht gut. Wie ist das eigentlich bei euch in der Kleinfamilie?“ - „Wenn Mama noch auf der Arbeit ist, räumen Udo und ich die Wohnung auf. Wir spülen nach dem Essen alles weg, machen die Betten – auch Mamas Bett. Und wir helfen Mama beim Putzen und Staubsaugen. Aber mit Kochen und der Wäsche, mit dem Garten und Fensterputzen hat Mama noch genug zu tun. Spielen kann ich meistens mit Udo, und dabei vertragen wir uns mittlerweile sehr gut. Nur wenn unsere Freunde dabei sind, kommt es schon Mal zu Meinungsverschiedenheiten oder Eifersüchteleien. Dann geht es drunter und drüber wie bei einer Großfamilie.“

 „Das sagst aber nur du!“ Katrin ist enttäuscht. „Ich dachte, dass du etwas mehr Leben in deinem Umfeld genießen würdest. Gefällt es dir denn nicht bei uns?“ - „Es ist für mich zumindest gewöhnungsbedürftig“, schwächt Dario ab, „vielleicht muss ich erst einmal Abstand gewinnen und darüber nachdenken, bevor ich mir ein Urteil bilden kann. Alles hat ja seine Vor- und Nachteile. Ihr seid ja auch nicht ständig zusammen. Lutz geht oft zu seiner Oma, und Lisa zu ihrer Mutter. Wie ist das denn mit Jannik, Lisa und dir? Fahrt ihr denn nicht auch Mal zu eurem leiblichen Vater?“

 „Leider nicht“, bedauert Katrin. „Unser Vater ist nach Australien ausgewandert mit seiner neuen Familie. Daraus ergibt sich ganz von allein, dass wir ihn nicht regelmäßig besuchen können. Aber alle drei Jahre macht er Urlaub in Italien. Dann sind wir für eine Woche mit ihm zusammen. Ich muss zugeben, dass er sich mir immer mehr entfremdet hat. Ernst ist jetzt mein Vater, der mit mir zusammenlebt und mir zur Seite steht, wenn ich Probleme habe. Er steht mir näher als mein so genannter Erzeuger.“

 „Das ist bei Udo und mir genau umgekehrt. Wir lieben unseren Vater und sind froh, wenn wir jedes zweite Wochenende bei ihm sind, und auch im Urlaub zusammen verreisen. Mit Silvio werden wir wohl nie klarkommen, auch wenn er bei uns einziehen würde. Aber wir wollen natürlich auch nicht unsere Mutter verlieren. Wir haben eine sehr enge Beziehung zu ihr. Sie versorgt uns optimal und ist stets für uns da. Aber, wie gesagt, für eine normal intakte Familie würden wir auf vieles verzichten und manches in Kauf nehmen. Das kannst du mir glauben. Vielleicht sogar das Leben in einer Patchwork-Familie? Jedenfalls bin ich dir dankbar für die Eindrücke, die ich heute bei euch bekommen habe, so hautnah. Wir sehen uns ja morgen in der Schule, und vielen Dank für alles. Tschüss Katrin . . .“

 „Tschüss Dario, bis morgen, mach´ es gut . . .“

 

Die Opfer

 

Auf dem Heimweg trifft Dario unterwegs seinen Schulfreund Tom: „Hallo Tom, wie geht’s? Ich war heute bei Katrin in der Patchwork-Familie. Du warst ja gestern auch auf ihrer Party, habe ich gehört.“ - „Hallo Dario. Ja, es war toll auf der Geburtstagsfeier bei Katrin. Es ging alles drunter und drüber. Für mich als Einzelkind war das ein ganz neues Erlebnis. Ich weiß nicht, ob ich immer so leben möchte.“

 „Ich schon, wenn ich mich erst einmal daran gewöhnt hätte. Das wäre mir schon lieber als mit diesem Silvio, glaube ich. Unsere Mutter könnte so eine Beziehung eingehen, aber sie kommt von Silvio nicht los. Wie kommst du eigentlich mit deinem neuen Vater aus?“

 „Komm, wir gehen ja den gleichen Weg. Da kann ich dir mein Herz ausschütten. Ich habe kaum jemanden, der sich für mich interessiert. Für meinen Vater habe ich keine Gefühle mehr, seit er uns verlassen hat. Ich lese dir Mal den Brief vor, den ich gestern an das Amtsgericht geschrieben habe. >Betreff: Antrag Übergabe des Sorgerechts für mich. Sehr geehrter Herr Maier, hiermit beantrage ich, Tom Meister, geboren am 14.2.1992, dass das Sorgerecht für mich alleinig auf meine Mutter Sylvia Meister übergeben wird, weil Erwin Meister sich nicht um mich gekümmert hat, seit Monaten keinen Kontakt zu mir sucht. Ich möchte auch keine Umgangsregelung mehr. Ich möchte nur noch meine Sachen, Bücher, CDs, Geld, Spiele, Spielkonsole usw. wiederhaben. Mit freundlichen Grüßen Tom Meister.< Ja, so sieht es in mir aus.“

 „Ist das schon lange so, mit deinem Vater?“ - „Meine Eltern haben sich vor fünf Jahren getrennt. Seit der Scheidung habe ich meinen Vater nur ganz selten gesehen, und seit einigen Monaten gar nicht mehr. Jetzt sind mir juristische Begriffe, wie Umgang, so vertraut wie das Einmaleins. Wenn es halt geregelt ist, also, meinetwegen jeden Montag um 15.00 Uhr bis 18.00 Uhr oder so, klar geregelt wer sich wann und wo trifft. Früher war ich von Donnerstagnachmittag nach der Schule bis Montagfrüh hin zur Schule jede zweite Woche bei meinem Vater. Das hat vielleicht ein halbes Jahr lang geklappt, dann wurde es immer seltener, dass er mich abgeholt hat.“

 „Wie würdest du es denn regeln, wenn du könntest?“ - „Wenn ich noch hingehen wollte, auch so. Nur, dass meine Sachen alle mit rüberkommen, so wie ich es will. Es war kein Zustand mehr. Manchmal war mein Vater abends weg, ohne zu sagen, wo er hingeht und wo ich ihn erreichen kann. Er sagte nur, wenn ich bei ihm sein wollte, soll ich mitkommen. Er ist aber immer nur in Bars gegangen, wo man geraucht hat. Und ich habe ja eine Rauchallergie, da ging das ja nicht. Die Bemühungen meiner Mutter, den Umgang mit meinem Vater schriftlich zu fixieren blieben erfolglos. Als ich bei ihm vor der Tür stand, war er nicht da, obwohl das Wochenende mit ihm abgesprochen war. Da musste ich zurück zu meiner Mutter. Ihr kam das auch ungelegen, weil sie zur Weiterbildung wollte. Und sie hatte Probleme, mich zu versorgen als ich sie bei der Arbeit anrief, um zu sagen, dass ich jetzt doch wieder zuhause war. Sie hatte aber vorsorglich schon das Abendbrot für mich hingestellt, weil es nicht zum ersten Mal passiert ist.“

 „Das war sicher schlimm für dich“, sagt Dario mitfühlend. „Wir haben immer noch beide Eltern, wenn auch nicht gleichzeitig. Und alles ist abgesprochen zwischen Mama und Papa. Das ist viel besser als eine starre Regelung von Besuchsrechten und -Zeiten.“

 „Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Mir sind Weinen und Lachen vergangen. Es fiel mir schwer mich zu konzentrieren. In der Schule bekam ich Probleme, und ich litt unter Prüfungsangst. Mein Vater fehlte mir sehr. Ich wollte so gern mit ihm Schwimmen gehen und auf der Wiese toben, Ballspiele machen, mit dem Fahrrad fahren und Urlaube verbringen. Meine Mutter hat fünf Jahre lang versucht, mit Hilfe von Jugendamt und Familiengericht, eine verbindliche Umgangsregelung zwischen meinem Vater und mir zustande zu bringen. Es war ohne jeden Erfolg. Bei Gericht gab es stockende Prozesse, und mein Vater weigerte sich etwas zu unterschreiben.“

 „Lebt deine Mutter immer noch allein mit dir?“ - „Nein, seit drei Jahren hat meine Mutter einen Lebensgefährten. Ingo ist mein Freund, aber nicht mein Ersatz-Vater. Er kann bei mir nicht die Vaterrolle übernehmen, weil er weiß, dass ich ja meinen Vater habe. Das ändert sich so schnell auch nicht, obwohl ich auf Erwin absolut sauer bin. Den letzten Urlaub mit meinem Vater im vergangenen Jahr verbrachte ich mehr allein als zu zweit. Meine Spielsachen und die Katze durfte ich nicht mit in die Wochenenden nehmen. Darum habe ich beschlossen, zu handeln. Seit ich jetzt vierzehn Jahre alt, und damit strafmündig sowie geschäftsfähig bin, schreibe ich meine Anträge an das Gericht selbst. Der erste Brief lautete: An das Amtsgericht . . . Betreff: Antrag auf Umgangsregelung. Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beantrage ich, Tom Meister, geboren am 14.2.1992, folgende Umgangsregelung. 1. Alle zwei Wochen von Donnerstagnachmittag bis Montagfrüh bei meinem Vater. 2. Die Hälfte der Ferien bei meinem Vater und Mutter. 3. Meine persönlichen Sachen, wie Spielzeug, Anziehsachen, Katze möchte ich mitnehmen. Mit freundlichen Grüßen Tom Meister. Aber dieser und auch die weiteren Briefe blieben unbeantwortet. Schließlich wurde im Auftrag des Gerichts eine Verfahrenspflegerin bestellt, die sich ein Bild von meiner familiären Situation machen sollte. Sie hat mich ein einziges Mal besucht. Das Protokoll entsprach kaum der Wahrheit, weil über die Hälfte falsch dargestellt worden ist. Sie hat geschrieben, dass ich in der eheähnlichen Gemeinschaft zwischen meiner Mutter und Ingo schlecht leben würde, und dass ich keine Beziehung zu meiner Mama hätte. Mama meint, dass sie kein Jugendamt und notfalls auch kein Familiengericht mehr einbeziehen würde. Die tun ja so, als ob ich hochgradig gefährdet wäre bei ihr und Ingo. Es hieß auch noch, derzeit ist Tom noch sehr von negativen Gefühlen seiner Mutter beeinflusst. Das stimmt überhaupt nicht. Ich weiß ja selbst am besten, dass ich mich nicht beeinflussen lasse. Ich habe keine Ahnung wie die Verfahrenspflegerin auf so etwas kommt. Mit einem weiteren Brief versuchte ich eine Klärung herbeizuführen: An das Amtgericht . . . Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beantrage ich, Tom Meister, geboren am 14.2.1992, dass das von der Verfahren-Pflegerin verfasste Protokoll nicht weiter berücksichtigt wird. Dieses Protokoll entspricht nicht der Wahrheit, und meinen Wünschen. Auch dieser Brief blieb ohne Antwort, bis heute. Dann habe ich einen Brief an meinen Vater geschrieben: Sehr geehrter Erwin, ich wollte ihnen nur sagen, dass ich nur noch einmal zu ihnen will, um meine Sachen zu holen. Sie haben sich kaum um mich gekümmert, deshalb mein Entschluss. Früher wollte ich ein geregeltes Wochenende. Das wollten sie nicht. Jetzt habe ich mich entschlossen, nur noch einmal zu kommen, um meine Sachen zu holen. Tom Meister.“

 „Was hat dein Vater geantwortet?“ – „Bisher überhaupt nicht, leider. Mach´ es gut, ich gehe jetzt nach Hause.“ – „Mach´ du es gut, Tom, es wird schon werden, “ meint Dario. Aber wie er es sagt, klingt es nicht sehr hoffnungsvoll.

 „Hallo Dario, wie war es bei Katrin?“ begrüßt Eva ihn überschwänglich. „Hast du einen schönen Tag verbracht?“ - „Tag Mama, bist du schon da?“ Dario steht immer noch unter dem Eindruck dessen, was er heute alles erlebt und erfahren hat. „Es war sehr interessant, aber etwas viel auf einmal. Das muss ich erst mal verarbeiten, denke ich. Aber eine Patchwork-Familie ist gar nicht so schlecht, wenn die richtigen Menschen sich zusammenfinden.“ - „Könntest du dir vorstellen, auch so zu leben?“ fragt Eva nachdenklich. Sie hatte mit Silvio Streit, wie so oft, aber sie ist ihm einfach ausgeliefert und fragt sich nur wieso.

 „Mit Thomas, Anna und Lena kämen Udo und ich schon zurecht, wenn du Dieter heiraten würdest. Dann wären wir alle eine große Familie und gut versorgt.“ - „Ich weiß nicht, ob das gut geht“, zweifelt Eva. „Ich müsste dann meinen Job aufgeben, an dem ich sehr hänge, und Silvio auch. Er ist meine große Liebe. Und Dieter kann ich eben nur gut leiden, er ist ein Freund, mehr nicht. Aber man soll wohl nie >nie< sagen.“

 „Ich habe unterwegs mit Tom Meister gesprochen. Er ist in einer schlimmen Lage. Dagegen haben wir es viel besser, Udo und ich zumindest. Wir sehen Papa ja regelmäßig, und er sieht seinen seit einem Jahr schon nicht mehr. Er ist zwar zäh, aber es kränkt ihn sehr, dass sein Vater sich nicht um ihn kümmert.“

 „Da kann ich dir noch manches Beispiel aus unserem nächsten Umfeld nennen. Komm´ rein, wir trinken einen Tee zusammen und unterhalten uns noch was. Man kann ja auch aus den Fehlern und Erfahrungen anderer lernen. Euer Vater und ich wollen alles richtig machen, was euch und eure Erziehung angeht. Ich kann verstehen, dass Udo und dir das Zusammenleben in der Familie fehlt. Schade, dass ihr nicht mit Silvio klarkommt, und er nicht mit euch.“

 „Wie ist das denn in den Familien eurer Selbsthilfegruppe?“ fragt Dario als sie beim Tee auf der Terrasse sitzen. „Kommen die Kinder alle regelmäßig zu ihren Vätern und zu ihrem Recht?“ - „Die meisten haben nur unregelmäßig Kontakt zu ihren Vätern, weil diese nicht mehr in der näheren Umgebung wohnen. Viele sind weggezogen nach der Trennung von ihrer Frau oder Lebensgefährtin. Wenn sie ihren Vater sehen wollen, müssen sie auf Reisen gehen. Du kennst ja Dennis. Sein Vater wohnt jetzt in Berlin, wo er ihn einmal im Monat besuchen darf. Inge hat einen neuen Lebensgefährten, und mit dem inzwischen auch ein Kind. Seine Mutter muss er jetzt teilen, mit ihrem neuen Partner, dessen Sohn und der neuen kleinen Schwester. Mama ist sein Alltag. Daher freut er sich immer sehr auf seinen Papa.

 „Er ist doch erst sechs Jahre alt“, sagt Dario, „kann er denn ganz allein nach Berlin fliegen?“ - „Ja, das geht eigentlich problemlos. Wenn Dennis zu seinem Vater reist, darf er immer etwas früher aus der Schule. Denn die Fahrt zum Flughafen dauert eine Stunde. Ich habe Inge schon mal gefahren, als ihr Wagen in der Werkstatt war. Unterwegs bekommt Dennis von Inge letzte Ermahnungen und Aufträge: Und denk´ dran, dass du die Schach-aufgaben noch machen musst, mit dem Papa zusammen. Dennis ist Viel-Flieger - Vierzig Flüge in den letzten eineinhalb Jahren. Für ihn ist das alles Routine. Eine Karte, die ihn als unbegleitetes Kind ausweist, trägt er von nun an, bis zur Übergabe an seinen Vater in Berlin, um den Hals. Dennis fliegt wie andere Leute Straßenbahn fahren. Er ist keine Ausnahme. Zigtausende Flüge für unbegleitete Kinder werden Jahr für Jahr bei den Fluggesellschaften gebucht.“

 "Aber er ist doch ganz auf sich gestellt, oder?“ fragt Dario verständnislos. - „Nein, das ist er nicht. Immer darf Dennis als erster an Bord, sich ein Stofftier oder Malbuch aussuchen, und das Spielzeug später mit nach Hause nehmen. Doch das meiste davon hat er schon. Als er über Berlin einschwebt, kennt der das Saftangebot und das Meilen-Programm der Fluggesellschaft auswendig. Sein Vater hat ihm erzählt, dass er bald einen Freiflug bekommt. Die Stewardess begleitet ihn bis zur Übergabe, kontrolliert den Ausweis des Vaters und passt auf, dass Dennis nicht verloren geht. Das kostet 40 Euro pro Flug.“

 „Und wie geht es dann weiter? Was passiert dann bei seinem Vater?“ - „Unterwegs stehen Vater und Sohn im Stau. Der Papa fragt: Du hast mir doch erzählt, dass ihr Buchstaben lernt, was habt ihr denn diese Woche gemacht? Wir lernen das >U<. Immer noch, lernt ihr denn in der ganzen Woche nur einen Buchstaben? Ja. -  Habt ihr denn auch Zahlen gemacht? -  Wir haben diese Woche die >Acht< gelernt, und dann lernen wir wohl die >Neun<. Prima. Es ist schon fast Abend als sie endlich zuhause ankommen.“

 „Woher weißt du das denn?“ – „Von Inge. Ich war bei ihr als Dennis angerufen hat.“ - „Anderthalb Tage haben sie nun Zeit, vier Wochen Trennung aufzuholen. Dennis kennt sich gut in Vaters Wohnung aus. Er ist dort aufgewachsen. Seine Spielsachen haben ihren festen Platz im Wohnzimmer. Sofort beginnen Vater und Sohn mit dem Aufbau der Ritterburg. Das hat mir Rolf gesagt, als ich mit ihm über den Besuch am Telefon geredet habe. Ich war neugierig, wie das bei Dennis und ihm so abgelaufen ist.“

 „Haben sie den die ganze Zeit über gespielt?“ - „Du weißt ja, dass er im Schachklub seiner Schule ist. Inge hatte ihn ja noch auf dem Weg zum Flughafen an die Hausaufgabe erinnert, die er jetzt mit seinem Vater bespricht. Was würde denn passieren, wenn der >Weiße< jetzt den Springer wegnimmt? Dann schlägt ihn doch die Dame.“

 „Dennis ist schon gut, für sein Alter. Kommt er denn mit der Trennung klar?“ - „Nicht wirklich. Er träumt vom Zusammenleben, so wie früher. Wenn sie sich wieder vertragen, und alle wieder zusammen wohnen, so wie früher, meint er. Es ist aber doch nicht schön, erklärt Papa, wenn man sich dauernd streitet, oder? Ja, deswegen habt ihr euch getrennt. Du bist ja jetzt in der Schule auch nicht mehr mit den Kindern aus dem Hort zusammen. Es passiert so viel mit den Kindern in diesem Alter, bedauert Dennis Vater. Ich habe nur einmal im Monat die Möglichkeit daran teilzuhaben. Das ist eine schlimme Sache. Wir haben zwar versucht, da das Beste draus zu machen, auch Urlaube und andere Sachen, aber es ist trotzdem zu wenig.“

 „Was unternimmt Rolf denn sonst noch mit ihm?“ - „Wenn Dennis kommt, denkt der Papa sich immer ein besonderes Programm aus. Heute ist ein Ausflug in den Zoo fällig. Dennis soll spüren, dass sein Vater an diesen Wochenenden nur für ihn da ist. Als freier Journalist schreibt er für viele Zeitschriften. Ist Dennis da, vermeidet er alle Telefonate und Papierkram, und versenkt sich stattdessen mit Inbrunst in die Fressgewohnheiten von Flamingos.“

 „Das ist aber schön. Wir müssten auch noch Mal in den Zoo gehen, wenn du Zeit hast.“

 „Wieder zu Hause, steht Plätzchenbacken auf dem Programm. Käme er zu Dennis gereist, wäre nur ein Treffen im Hotel, ein künstlicher Alltag möglich. Das will der Vater nicht. Donnerstag hat er für den Besuch Zutaten und Lebensmittel eingekauft. Dennis ist glücklich. Papa muss er mit niemandem teilen. Doch, trotz Plätzchenbacken ist die Familie für Dennis ein Thema ohne Variation. Papa – Mama schreibt er mit dem Teig.“

 „Wie kommt denn Rolf damit zurecht?“ - „Er will an diesem Wochenende jede Frage beantworten, geduldig spielen und ein Papa zum Anfassen sein. Er möchte Dennis ein trautes Heim vermitteln, weil es für ihn schwer ist, dass der Papa für ihn nicht jederzeit greifbar ist. Rolf legt Wert auf eine gute Beziehung mit Dennis, damit es keine Entfremdung gibt. Wir wollen nicht sagen, wir wiegen das gegeneinander auf. Es gibt jetzt eine neue, und eine alte Familie. Und die eine ist besser als die andere. Es ist ja sehr wichtig, dass ich ein Teil seines Lebens bleiben kann, der nicht aus schönem Wollen besteht, sondern der ein Stück seines Alltags ist. Nur, aus großer Distanz ist das enorm schwierig zu machen. Im Schulalltag bin ich nun mal nicht da. Das war zwar früher auch schon, aber wir telefonieren relativ häufig. Eine gewisse Nähe ist also da. Es passieren natürlich Dinge, die man in einem Telefonat überhaupt nicht besprechen kann. Da fehlt eben die Nähe, und die muss man wieder finden. Es ist ganz klar, dass die Vatergestalt an sich nicht so präsent ist. Das weiß ich genau, aber was soll ich da machen? Mit meiner Tätigkeit hier, und der sowieso schon knappen Zeit, die ich habe, geht das nicht. Am schönsten wäre ja, wenn er immer kommen könnte. Leider geht das ja nicht, bedauerte er die momentane Situation.“

 „Wird sich denn an dem jetzigen Zustand etwas ändern?“ - „Das glaube ich nicht. Die Umstände sprechen dagegen, auch wenn Dennis alles wieder wie früher haben möchte. Bevor er wieder zur Mutter reist, spielt er am liebsten das, was er am besten kennt: Flughafen. Er zeigt dem Papa den Tower, und wo man reingeht, wo der Checkin ist, und wo man noch essen gehen kann. Dann macht er sich reisefertig. Er findet es doof, dass er bald in den richtigen Flughafen muss. Lieber würde er noch länger mit dem Papa spielen. Dennis ist traurig, als er am Airport Abschied nehmen muss, und sein Vater ist es nicht weniger. Die Stewardess weiß, wie sie unbegleitete Kinder tröstet. Bei Dennis bewundert sie die selbstgebackenen Kekse. Doch Dennis lässt sich nicht ablenken. Er weiß genau was er will: Ich will nicht immer zu Papa reisen, ich will bei beiden leben. Sie sollen sich nicht mehr streiten und wieder zusammen ziehen.“

 „Es gibt noch mehr Kinder aus unserer Schule, die zu ihren Vätern reisen müssen, um sie wenigstens manchmal zu sehen“, erinnert Dario seine Mutter. „Wen kennst du noch?“ - „Auch Lilly darf früher aus der Schule gehen. Wenn die Reise zu ihrem Vater bevorsteht, ist sie im Unterricht manchmal abwesend, hat die Lehrerin mir gegenüber bemerkt. Sie muss mit ihren Gefühlen klarkommen, und soll trotzdem gut Noten schreiben. Das ist für Lilly nicht leicht. Auf alles muss sie sich einstellen. Bei der Mutter hier, muss sie im Alltag mit jeder Situation zurechtkommen. Und wenn sie früher geht, muss sie ausgefallenen Stunden nacharbeiten. Das erfordert viel Kraft, um die Haus- aufgaben und Arbeiten, die geschrieben werden, nachzuholen.“

 „Kann sie sich denn nicht mit jemandem aussprechen?“ - „Aber ja doch. Ihre beste Freundin sitzt neben ihr. Lilly vertraut ihr alles an, auch ihren Kummer. Wenn sie zu ihrem Papa fährt, ist sie manchmal sehr traurig, hat Susi mir gesagt.“ - „Das habe ich auch schon beobachtet, in der Pause auf dem Schulhof. Warum muss sie denn früher aus der Schule?“

 „Ihre Mutter hat es immer eilig, wenn sie Lilly von der Schule abholt und zum Bahnhof bringt. Sie müssen den Zug erreichen, in dem die Neunjährige betreut und begleitet wird. Lilly fährt eine Stunde bis Koblenz und danach noch zwei Stunden nach Trier zum Vater. Sie wird von der Bahnhofsmission begleitet, die jedes Wochenende allein reisende Kinder betreut. Die Bahn verlangt für die Organisation der Kinderbetreuung zusätzlich zur Fahrkarte 25 Euro pro Strecke. Aber die Frauen der Mission arbeiten ehrenamtlich.“

 „Woher weißt du das alles?“ erkundigt sich Dario. - „Die Frau, die Lilly regelmäßig betreut ist bei uns im Kirchenchor. Sie hat mir alles berichtet, was Lilly auf der Fahrt sagte. Sie hat als Begleiterin sogar noch Bastelzeug dabei, um die Fahrt kurzweiliger zu gestalten. Lilly erzählte ihr: Als meine Eltern sich getrennt haben, da war ich noch ziemlich jung, da war ich erst drei Jahre alt. Und da habe ich das auch noch nicht so richtig verstanden, warum sich Mama und Papa irgendwie sich haben scheiden lassen. Da wusste ich das ja noch nicht mal was scheiden ist. Jetzt verstehe ich das ja. Nun, meine Eltern haben sich halt scheiden lassen, weil sie sich nicht mehr lieb hatten. Ich sehe ja den Papa nur alle vier Wochen, und dann freue ich mich auch auf das Wochenende. Aber wenn ich von meiner Mama weg muss, bin ich auch so ein bisschen traurig. In der Familie gibt es jetzt die Anke, Papa seine Frau, die Lore, von der Frau die Tochter, Hansi, mein Halbbruder von Papa und Lore.“

 „Jetzt würde ich gern erfahren, wie es weiterging“, fragt Dario neugierig. - „Das weiß ich alles von Werner, ihrem Vater. Wir sind doch noch mit ihm befreundet, und telefonieren oft miteinander. – Inzwischen ist Lilly in Trier angekommen. Der neue kleine Bruder Hansi freut sich über den Besuch der großen Schwester. Auch der Vater hat Lilly seit vier Wochen nicht gesehen. Wie in jeder Pendlerfamilie werden Schulfragen abgehakt. Zu Hause wartet Lore, die Tochter von Papas neuer Frau Anke. Hallo, ich freue mich. Hallo, ich auch. Und wie war die Fahrt? Waren wieder die gleichen Kinder im Zug wie sonst? Nur ein Junge, sonst alles fremde. Schwestern sind Lore und Lilly eigentlich nicht, aber sie verstehen sich sehr gut.“

 „Was macht denn Werner besonderes, wenn sie zu Besuch kommt?“ - „Nun, Lilly reitet ja für ihr Leben gern. An den gemeinsamen Wochenenden nimmt sich ihr Vater zwei Stunden Zeit, um nur mit ihr loszuziehen. Lilly ist selig, und ihr Papa ein bisschen hin und her gerissen. Den Vorwurf macht ihm seine jetzige Frau, dass er Lilly bevorzugt, gegenüber den anderen Kindern. Aber er versucht bei den Besuchen, Lilly etwas zurück zu geben von dem, was er aufgrund der Trennung nicht mit ihr unternehmen kann. Das ist immer wieder ein Drahtseilakt, aber er versucht, das Beste daraus zu machen. Schwer wird es dann, wenn sie wieder geht, und man an die früheren Zeiten zurückdenkt. Er erklärte mir gegenüber: Entscheidend ist natürlich, man muss schließlich auch an sich selbst denken. Ich habe Geschwister, bei denen die Kinder schon groß sind. Mit Achtzehn gehen sie ihren eigenen Weg. Dadurch war auch meine Überlegung, bleibe ich an meinem damaligen Wohnort, und opfere für die Kinder meine mobile Zukunft oder gehe ich einen anderen Weg, und denke mehr an mich in dieser Situation. Und weil es in zehn Jahren so weit ist, dass sie ihren eigenen Weg gehen werden, ich aber finanziell auf der Strecke geblieben wäre, habe ich mich so entschieden. Als Familienvater muss man halt Geld verdienen, und das war für mich ausschlaggebend. Dann sagte er traurig: Nach dem Frühstück fängt Lilly an zu packen, und ist fertig mit der Welt. Bei ihr fließen hemmungslos die Tränen. Beim Mittagessen mit dem kleinen Bruder und ihrem Papa hat sie sich wieder beruhigt. Doch auch den Vater schmerzt die Trennung von Lilly. Er wäre gern öfters in ihrer Nähe, aber wegen seiner Arbeitsstelle und der neuen Familie geht das leider nicht. Er hofft, dass sich Lilly wegen der vielen Abschiede nicht zu sehr grämt, und von ihm enttäuscht ist. Sie ist ja seine erste Tochter, die er sehr lieb hat. Auf dem Weg zum Bahnhof hat Lilly sich vorgenommen, tapfer zu sein. Bei der Bahnhofsmission gibt es wieder die gleiche Prozedur. Jedes Kind wird angemeldet und aufgeschrieben wer es bringt, wer es abholen darf und worauf der Betreuer achten muss. Lilly schluckt eine Träne hinunter. Der freundliche Betreuer kennt das schon. Als erfahrener Großvater weiß er, wie man sie wieder beruhigt. Sonntagabend sind seine Fähigkeiten ganz besonders gefragt. Als die Fahrdienstleiterin kommt ist alles im Lot. Lilly freut sich jetzt auf ihre Mama, obwohl sie weiß, dass sie ihren Vater erst in drei Wochen wieder sieht. Um 21.00 Uhr wird sie am Bahnhof übergeben. Jetzt werden die Ausweise kontrolliert und Quittungen unterschrieben. Dieser Abschied fällt Lilly leicht: Tschüss, bis zum nächsten Mal und vielen Dank für alles . . .“

 „Gibt es überhaupt noch Familien, bei denen alles in Ordnung ist?“ fragt Dario zweifelnd. Moritz und sein Bruder Sam müssen doch auch immer Strapazen auf sich nehmen, wenn sie ihren Vater sehen wollen. Jedenfalls hört es sich so an, wenn Moritz in unserer Sportgruppe davon erzählt.“

 „Doch, es gibt schon noch intakte Familie, jedenfalls nach dem Äußerlichen gesehen. Leider wird inzwischen jede zweite Beziehung getrennt oder Ehe geschieden. Das ist schon so. Über Moritz und Sam würde ich gern etwas mehr erfahren. Ich habe ja auch schon einiges mitbekommen, was da so passiert.“ - „Ja, freitags fahren Sam und Moritz nach Ulm zu ihrem Vater. Ihre Mutter hat mit ihrem Ex-Mann telefoniert und durchgegeben wann die Söhne ankommen. Und wenn sie im Zug sitzen, gibt sie noch die Wagennummer an, damit er auf dem Bahnhof direkt richtig steht, um sie in Empfang zu nehmen. Sam nimmt das Foto seiner Mutter immer mit. Er signalisiert so seinem Vater Protest, denn der hat eine neue Freundin. Nach langen Auseinandersetzungen zog der Vater aus. Sams lange Mähne ist der Gegenentwurf zum Bürstenschnitt des fünf Jahre älteren Bruders. Früher war Sam oft traurig, und er ist immer noch betrübt darüber, dass sich sein Papa von der Mama getrennt, und seine Familie sitzen gelassen hat.“

 „Davon habe ich schon gehört, von Bernies Mutter“, erinnert sich Eva. „Die Jungen haben sich schwer getan mit der Trennung ihrer Eltern. Nachdem der Vater weggezogen war, stürzten sich Sam und Moritz in die Musik. Sie haben festgestellt, dass es hilft, Schmerz und Wut mit dem Schlagzeug zu betäuben. Inzwischen hat Sam sein Herz an Bernie gehängt. Vor der Abreise ruft er sie immer an: Hallo Bernie, ich fahre am Morgen wieder zu meinem Papa. Ja, mach´ es gut, und mach´ dir ein schönes Wochenende. Bernie ist immer gut informiert. Und er weiß, wenn Sam herumsäuselt, hockt er am Wochenende allein im Terrarium.“

 „Weißt du, Moritz malte sich seine Zukunft immer mit Familie aus. Seit der Vater weg ist, hat er Zweifel. Seiner Meinung nach, muss man es sich zweimal überlegen, ob man eine Familie gründet und Kinder bekommt, und ist dann zwanzig Jahre später einfach weg.“ - „Das muss man sich tatsächlich heute gründlich überlegen, ob und welche Bindung man eingeht“, bedauert Eva. „Darum leben ja so viele junge Menschen lange allein, ehe sie ein Verhältnis aufbauen. Und aus gescheiterten Beziehungen gehen nur selten bessere hervor.“

 „Sam und Moritz haben es nicht leicht“, meint Dario. Sie haben eine lange Fahrt vor sich, und sind fast sieben Stunden unterwegs. Darum kommt der Vater auch manchmal zu ihnen.“ - „Aber dann flüchtet ihre Mutter zu einer Freundin“, hat sie mir geklagt. „Und auch der Vater fühlt sich nicht mehr heimisch. Also, fahren die Kinder lieber nach Ulm. Wer keinen großen Bruder hat, wird auch auf dieser Strecke von der Bahnhofsmission betreut. Tausende Kinder reisen so jedes Jahr kreuz und quer durchs Land.“

 „Ehe sie in Ulm eintreffen, hat Moritz versucht Sam zu beruhigen. Der macht sich Gedanken über die neue Freundin des Vaters. Er kann ruhig mit ihr zusammenziehen, erklärt Sam. Aber er soll sie dann nicht heiraten, und Kinder kriegen. So was finde ich schlimm, weil er schon eine Familie und auch Kinder hat. Das ist für mich einfach nur dumm, wenn man noch mal so was macht.“

 „Hat Moritz dir auch erzählt, wie das bei seinem Vater abläuft, wenn sie ihn besuchten?“ - „Sicher. Harry, ihr Vater wartet auf dem Bahnhof auf seine Söhne. Er hat Kuchen und Teilchen gekauft, und zwischendurch wird geschmust. Papa, die Teilchen sind so lecker, freut sich Sam. Das freut mich aber. Willst du noch eins?“ Das ist das übliche Ritual. „Vorher hatte Harry sich überlegt, was er seinen Söhnen am Wochenende bieten kann. Ich habe da einen Plan mitgebracht, da müssen wir Mal reingucken, was wir morgen unternehmen. Viel Zeit haben wir ja nicht. Heute Abend machen wir es uns erst mal gemütlich, würde ich sagen. Jetzt sagen wir Mama noch schnell Bescheid, dass ihr gut angekommen seid. Sam ruft an: Ich wollte nur sagen, dass wir gut angekommen sind. Und ich habe dich ganz toll lieb. Ja, Tschüss!“

 „Siehst du, das ist doch alles sehr harmonisch, trotz der Trennung“, bemerkt Eva, aber eher etwas hilflos. - „Das ist auch nur oberflächlich so“, erwidert Dario. „Bereits am Morgen gibt es Ärger. Moritz will shoppen, Sam will Spielen und der Vater will keinen Streit. Schließlich hat er die Jungen nur einmal im Monat. Er will seinen Söhnen etwas Besonderes bieten: Eine Ausstellung in der Kunsthalle. Begeistert sind seine Jungs von dieser Idee nicht. Doch ablehnen wollen sie auch nicht. Sie haben sich ja so selten.“

 „Das stimmt“, bestätigt Eva Darios Bericht. „Vor zwei Jahren hat Harry seine Familie wegen einer anderen Frau verlassen. Erst kam er am Wochenende immer nach Hause, jedoch meisten pendeln die Söhne.“ - „ Moritz hat mir erzählt, dass Sam den Alltag mit seinem Papa vermisst, kabbeln und toben, gemeinsam kochen und klönen. Bei den Besuchen wird das nachgeholt. Dazu hat Harry Rezepte ausgewählt. Seine Jungs kochen mit. Sie sollen spüren, dass er sich besondere Mühe gibt, wenn sie kommen. Heute gibt es Ente a Lorange.“

 „Harry liebt seine Söhne“, sagt Eva überzeugt. „Er ist für die Kinder immer erreichbar und hilft, wo er kann. Aber, dass er auch sein persönliches Glück sucht, ist für ihn klar. Und er gesteht es den Söhnen genauso zu. Er sieht ein, dass sein persönliches Glück dazu führen könnte, dass Sam und Moritz kein persönliches, verlässliches Familienleben kennen lernen. Partner, die Verlässlichkeit, die Familie kann er ihnen nicht geben. Er steht dazu, dass er sich von seiner Frau getrennt hat. Es ist für ihn ein Stück weit sein Leben. Er wollte neu durchstarten. Aber er möchte nicht, dass seine Söhne dadurch labil werden oder einen psychologischen Schaden davontragen. Nichts wird so stark angenommen wie das, was Vater und Mutter vorgeben. Und darum möchte er für sie ein Vorbild sein. Hier fliegen keine Fetzen mehr, weil sich jeder um den anderen bemüht. Während andere Väter raubeiniger mit den Söhnen umgehen, ist hier der Ton höflich. Alle wollen, dass das Wochenende gelingt.“

 „Entfremdet er sie mit den Verwöhn-Wochenenden nicht seiner Mutter?“ fragt Dario. - „Das glaube ich nicht. Mit Ente und Kroketten kann die Mutter nicht mithalten. Bei ihr gibt es auch schon mal Eintopf, “ erklärt Eva. Dafür fehlt dem Vater in Trier der Alltag. Harry ist traurig darüber, dass er an dem Leben seiner Söhne nicht so teilhaben kann wie er es gern möchte. Ihm fehlt das Miterleben, wie sie sich verändern, wie sie wachsen und wie sie Probleme bewältigen. Und er leidet, genau wie die Kinder, an der Trennung.“ - „Ich weiß, ich weiß. Darum kramt Sam im Album gern in Erinnerungen, als alles noch in Ordnung, und sie alle eine Familie waren. Mit dem jetzigen Zustand kommt er nicht klar. Freitag treffen sie spät ein, und am Sonntag geht es nach dem Frühstück schon wieder los. Die Drei haben eigentlich nur einen Tag, und nutzen jede Minute. Für die Reise gibt der Vater ihnen Brote mit und Plätzchen. Sie haben sich damit abgefunden, dass Mama und Papa nicht mehr zusammen leben wollen. Aber, dass der Vater so weit weg wohnt ist für die beiden ein Problem. Viel besser wäre es, wenn der Vater wieder näher hin zu ihrem Wohnort umziehen würde. Das wäre auch dem Vater lieber, aber es ist für ihn schwierig einen Job in seinem Beruf in ihrer Region zu finden. Auch für ihn ist das Wochenende zu kurz, und der Abschied entsprechend lang. Viel zu schnell kommt der Abschied: Tschüss Papa, wir rufen dich an . . . Unterwegs in der Bahn machen sie Musik auf Moritz Gitarre. So bewältigen oder verdrängen sie ihren Trennungsschmerz. Am Heimat-Bahnhof wartet die Mutter auf sie, und lässt ihnen Zeit, ihre Gedanken auf sie und das gemeinsame Zuhause zu richten.“

 „Genau das hat mir ihre Mutter gesagt, und auch Harry, mit dem ich telefoniert habe, “ sagt Eva bedauernd, als sie Dario in den Arm nimmt. „So eine Trennung könnte ich niemals ertragen. Ich bin froh, dass ihr immer in der Nähe seid, auch dann, wenn ihr die Wochenenden bei eurem Vater verbringt.“

 Dario schweigt, und ist in seinen Gedanken schon wieder unterwegs. Er weiß ja, dass Udo lieber mit ihm, dem Vater und der Mutter zusammen in einer Familie leben würde. Alles hängt davon ab, wie sich die Mutter entscheidet. Falls Silvio in ihre Wohnung einzieht, gibt es ein Chaos. Aber ob Udo mit Dieter und seinen Kindern klarkäme, ist auch ungewiss. Ich muss ihn einfach einmal danach fragen, sinniert er weiter.

 

Außenseiter

 

 „Heute Abend bin ich in der Selbsthilfe“, sagt Eva lustlos. „Pass´ gut auf Udo auf, und macht keinen Unsinn, wenn ich fort bin. – „Aber Mama . . .“ – Bis 9.00 Uhr könnt ihr noch etwas Fernsehen, und danach aber sofort ins Bett. Ihr müsst morgen früh raus, um Sechs. Udo muss ja eine Deutscharbeit schreiben. Du kannst ja auch noch mal mit ihm üben . . .“

 „Gehst du auch wirklich zur Selbsthilfe?“ fragt Dario zweifelnd. „Oder bist du wieder nur bei Silvio?“ - „Nein, in der Selbsthilfe bin ich. Du weißt doch, dass ich Silvio heute zum Bahnhof gebracht habe. Der ist geschäftlich unterwegs bis nächste Woche, mal wieder. Lust für die Selbsthilfe habe ich ja nicht. Aber man erfährt doch einiges, was uns in unserer Situation helfen kann. Gerhard, der Leiter hat uns beim letzten Mal klargemacht, dass wir uns eigentlich gar nicht so schlecht stehen, trotz der Trennung. Wir kommen ja alle finanziell ziemlich gut über die Runden, und krasse Fälle gibt es bei uns kaum. Er hat uns von einer Familie erzählt, bei der es schlimm zugeht.“

 „Von den Schmittens vielleicht?“ erkundigt sich Dario interessiert. „Willi Schmitten ist ja in unserer Klasse, zumindest ab und zu. Ich fürchte, dass er sitzen bleibt, bei den schlechten Noten die er hat. Der Lehrer hat ihm jetzt Nachhilfe organisiert, um zu retten, was noch zu retten ist. Willi ist eigentlich ein netter Kerl, aber echt milieugeschädigt. Hab´ ich recht, sind es die Schmittens?“ - „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen“, antwortet Eva erstaunt. „Es sind Schmittens, die er meinte, aber er hat natürlich keine Namen genannt. Wir wissen doch alle, dass Gerhard ihr Betreuer ist, und dass sie von Hartz IV leben, vier Kinder haben, mit denen sie in einer Hippy-Familie leben. Axel ist seit sieben Jahren arbeitslos. Er trägt eine auffällige Punkfrisur und kleidet sich entsprechend. Seine Frau Inga galt früher als schwererziehbare Jugendliche. Sie schafft es einfach nicht, die Wohnung aufzuräumen. Darum steht die sechsköpfige Großfamilie unter staatlicher Aufsicht. Für die Kinder droht die Heimunterbringung, weil vermutet wird, dass sie in der Familie nicht normal aufwachsen können. Gerhard versucht, Ordnung in das Familienleben zu bringen, so gut es geht.“

 „Hat denn Axel nicht wieder Arbeit?“, vermutet Dario. „Willi hat doch gesagt, dass sein Vater jetzt bei der Müllabfuhr ist . . .“ - „Ja, das stimmt. Er ist arbeitet seit zwei Monaten als ganz normaler Müllmann. Das Aufstehen in der Frühe fällt ihm recht schwer. Daran muss er sich erst wieder gewöhnen. Seine Schicht beginnt um 6.00 Uhr. Als Gerhard die Familie zum ersten Mal besuchte, war für Inga und Axel an Arbeiten nicht zu denken. Die Schmittens leben mit ihren vier Kindern in einer Dachgeschoss-Wohnung und werden vom Sozialamt finanziell unterstützt. Axel ist 33 Jahre alt, und von Beruf Banker. Durch das von ihm gewählte äußere Bild, seine Frisur und die Kleidung, passt er nicht in die Erwartungshaltung, die man von einem Bankangestellten hat. Das weiß er selbst. Aber er will nicht angezogen sein wie alle anderen. Er möchte nach seinem Inneren bewertet werden und nicht nach dem Äußerlichen.“

 „Damit wird er aber nicht weit kommen“, meint Dario, „dass weiß ja jedes Kind. Das ist ja schon in der Schule schlecht, wenn man nicht die richtigen Klamotten trägt.“ - „Man wird immer zuerst nach dem Erscheinungsbild beurteilt.“ stimmt Eva zu. „Danach kommt erst die Persönlichkeit, die man darstellt. Nur wenige Ausnahme-Menschen können auf Äußerlichkeiten verzichten, aber meistens erst in den mittleren Jahren oder im Alter. Bei Einstein oder Picasso hat niemand beanstandet, wie sie gekleidet oder frisiert waren. Ob sie als Bankangestellte akzeptiert worden wären, das bezweifle ich allerdings.“

 „Wie kommen die Schmittens denn eigentlich finanziell klar?“ - „Gerhard meint, dass es ihnen, auf den ersten Eindruck hin, an nichts fehlen würde. Dennoch klagte Axel bei ihm über Hartz IV. Er meinte, dass alles gekürzt wird, und sie nicht genug zum Leben hätten. Das stimmt nicht ganz. Die Schmittens bekommen die Miete, Heizkosten, Hartz IV und das Kindergeld. Ihr Leben spielt sich weitgehend in ihrer Vier-Zimmer-Wohnung ab. Inga und Axel können sich ein selbstverantwortliches Leben kaum vorstellen. Wenn es Probleme gibt, fordern sie Hilfe vom Amt an. Inga hat beim Jugendamt erfahren, dass sie mit sechs Personen eine Fünf-Zimmer-Wohnung brauchten. Die Eltern schlafen in einer Art Wohn-/Schlafzimmer, zwei Kinder haben ein gemeinsames Zimmer, Willi und die Älteste haben jeweils ein eigenes Zimmer. Mit der größeren Wohnung wird es im Moment noch nichts. Aber das Amt hat für Axel einen Ein-Euro-Job gefunden. Er soll als Hausmeister-Gehilfe in einem Klinikum wieder an eine geregelte Arbeit herangeführt werden. Das ist ein erster Schritt. Das jahrelange Nichtstun hat Spuren hinterlassen. Axel weiß, dass es ihm an Antrieb und Selbstbewusstsein fehlt. Nun muss er von Montag bis Freitag um 7.30 Uhr im dem Klinikum seinen Job antreten. Sein Chef, der Hausmeister Walter Schatt, war früher selbst arbeitslos. Er führt Axel wieder an ein geregeltes Leben heran, und erklärt ihm die Arbeitsabläufe. Als erstes lesen sie die Verbrauchswerte der Heizkörper ab. Danach kontrollieren sie die Lampen in den einzelnen Häusern. Das hat Axel zwar schon mal gemacht, aber er muss noch lernen, was im Klinikum erforderlich ist. Mit dem Ein-Euro-Job kann sich Axel zu Hartz IV noch ein Taschengeld dazu verdienen, monatlich 160 Euro. Axel gefällt die Arbeit, und er kommt mit Walter Schatt klar. Sie verstehen sich gut, was bei Axel nicht bei jedem so ist. Die Tätigkeit macht ihm Spaß, und er ist an einer Verlängerung seines Jobs sehr interessiert. Die Sachbearbeiterin der Agentur für Arbeit ist bemüht, ihn weiter im Klinikum unterzubringen, weil es ja nicht einfach ist, für ihn, bei seinem Aussehen, eine Arbeitsstelle zu finden.“

 „Was macht denn Inga, wenn sie mit den Kindern allein ist? fragt Dario. „Kommt sie denn ohne Axel klar, so ganz allein?“ - „Inga kümmert sich um den vierjährigen Robby. Sie und die Kinder werden vom Jugendamt beobachtet, hat Gerhard gesagt. Man hat erklärt, dass ihr die Kinder weggenommen werden, falls sie den Haushalt nicht in Ordnung hält. Eigentlich werden Willi, Robby und ihre Geschwister genug gefördert. Gerhard kommt jede Woche, um Inga bei der Erziehung zu unterstützen. Doch das staatliche Angebot stößt bei Inga nicht auf Begeisterung. Sie ist extra mit Achtzehn bei den Eltern ausgezogen, weil sie nicht ständig kontrolliert werden wollte. Sie lässt Gerhard nicht immer herein, wenn er mit den Kindern spielen oder arbeiten will. Dazu hat sie ein Recht, denn die Hilfsmaßnahme ist freiwillig.“

 „Dann ist es ja gut, dass Axel jetzt einen Job hat, in dem er sich wohlfühlt.“ - „Aber ja. Er ist lernfähig, und hat kürzlich, als Walter wegen Krankheit fehlte, ganz allein und ohne Probleme den Chef vertreten. Das hat Axel stark motiviert, und er möchte wieder eine feste Arbeitsstelle haben.“

 „Kann er das denn bei seinem Äußeren erwarten?“ zweifelt Dario nachdenklich. - „Du wirst es nicht glauben. Axel hat sich für Bewerbungsfotos extra seine bunten Haare abrasiert. Dazu hatte ihm der Fotograf geraten, weil es für eine Bewerbung sonst keine Chance gibt. Ein fester Job und selbstverdientes Einkommen sind für Axel fast undenkbar. Seit sieben Jahren ist er mit Inga verheiratet, und ebenso lange ohne Arbeitsstelle. Die Zeit vertreibt sich das Paar mit den Kindern und den Mäusen. Soziales Leben in Gemeinschaft mit Freunden gibt es fast nicht mehr. Wenn es für die beiden größeren Kinder, Willi und Robby nicht Schule und Kindergarten gäbe, kämen sie fast gar nicht aus der Dachwohnung heraus. Inga liebt es zuhause zu sein, die Füße hochzulegen und Fernsehen zu kucken oder zum Kühlschrank zu gehen. Sie kann den ganzen Tag über den Mäusen beim Laufen zusehen. Für sie ist es eigentlich wunderbar in der warmen Wohnung.“

 „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen“, meint Dario, „bei all dem, was wir dauernd unternehmen.“ - „Vielleicht machen wir manchmal zuviel, aber das ist für uns völlig normal. Doch für die Schmittens ist es eine totale Ausnahme, wenn sie zu Axels Oma reisen. Vor vier Jahren haben sie die Oma zum letzten Mal besucht, angeblich, weil die Fahrt zu teuer ist. Axel schämt sich etwas dafür als sie bei der Oma eintreffen. Zum ersten Mal sieht sie die jüngsten Urenkel. Und dann hört die Oma besorgt, von den Problemen mit dem Jugendamt. Inga erklärt nach- drücklich: Ich lasse mir die Kinder nicht wegnehmen. Warum will man sie dir denn wegnehmen? Weil sie manchmal nicht zur Schule und in den Kindergarten gehen, wenn ich krank bin. Und wie reagiert das Jugendamt dann? Ja, sie müssten auch, wenn sie krank wären, ihre Kinder in die Schule oder den Kindergarten bringen. Das ist nicht richtig, sagt die Oma. Wenn Kinder krank sind, dürfen sie nicht in die Schule oder den Kindergarten gehen. Sie lässt sich keinen Bären aufbinden. Du musst mir irgendwas verheimlichen. Und als die 70-jährige erfährt, dass Axel immer noch ohne feste Arbeit ist, nimmt sie sich ihren Enkel zur Brust: Bub´, wie meinst du, dass du das besser verdienen würdest? Nur, wenn du es dir selber verdienst. Axel, es wär´ weggeschmissen, glaube mir. Wir sind keine reiche Familie, aber keiner ist so arm dran wie du. Du musst doch wissen, was du willst. Was willst du in deinem Leben erreichen? Du musst doch mal vorankommen. Nicht das Jugendamt, sondern du machst dich selber herunter. Glaub´ mir, kein Mensch will dich unterdrücken oder irgendwas. Aber du selber bist es. Sie weiß wovon sie spricht. Mit ihrem verstorbenen Mann hat sie zwölf Kinder großgezogen. Enkel Axel ist ihr Sorgenkind. Sie hat ihn als Kind fast jeden Tag gesehen. Er wuchs in der näheren Umgebung auf, und war öfter bei der Oma zu Besuch. Damals schien Axel mit seinen zwei Geschwistern und den Eltern ein harmonisches Familienleben zu führen. Bis alles in Axels Alter von fünfzehn Jahren eine tragische Wende nahm. Der jüngere Bruder hatte ihn angezeigt wegen Drogenmissbrauchs. Und seit dieser Zeit hatte er ständig Streit mit seinen Eltern. Bei Nacht und Nebel zog er fort. Niemand wusste wo er war. Als Mitglied von Jugendbanden war er in Schlägereien verwickelt. Man lebte, nach seiner Meinung, im Ghetto, genannt Klein-Chikago. Heute gibt es das nicht mehr, weil drei Gebiete zusammengewachsen sind, die sich früher bekriegt haben. Dennoch hat sich in seiner früheren Heimat wenig verändert. Vielleicht lebt ja noch der eine oder andere hier, den er von damals kennt. Und so steht plötzlich die Mutter eines Schulfreundes vor ihm, als er eine kleine Runde spazieren geht: Axel, was machst du denn hier? Ich, ich habe vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Deine Mutter? Die habe ich nie mehr gesehen. Na ja, so ändert sich das alles. Aber es ist ja schön, dass du mit Familie zur Oma gekommen bist. Hast du Arbeit? Ich suche noch. Ja, es ist auch schwer, bei all den Arbeitslosen. Wir sind froh, dass unser Sohn eine Stelle hat. Er arbeitet auch nicht in seinem Beruf. Zurzeit ist er beim Sicherheitsdienst. Aber er ist zufrieden. Alles Gute, bleib´ gesund, und alles Gute deiner Familie. Schöne Grüße an Eddy. Danke sehr. Auch bei der Oma heißt es Abschiednehmen: Tschüss, meine Lieben, alles Gute, geht mit Gottes Segen auf allen euren Wegen. Tschüss Oma, und vielen Dank für alles.“

 „Was macht der Axel denn in seiner Freizeit? fragt Dario. - „Früher, als Jugendlicher ist Axel bei den Neo-Nazis gewesen. Doch das hat sich geändert. Heute ist er bei der BASE, bei der LINKEN politisch aktiv. Er verteilt Flugblätter und macht Werbung auf der Straße. Unerschrocken und ohne jede Vorbildung stürzt Axel sich in die Über- zeugungsarbeit mit Passanten.“

 „Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, wundert sich Dario. „Und was macht Inga?“ - „Inga hat zuhause alle Hände voll zu tun. Wieder steht ein Besuch des Familienhüters an. Was der in der Familie tun soll, darüber ist sie ganz anderer Meinung als Gerhard. Er sollte ihr ja eigentlich im Haushalt helfen. Aber das macht er ja nicht. Er setzt sich erst mal faul hin, tut mich von der Seite aus testen, und er erzählt mir, was ich alles richtig machen könnte, wie ich meine Kinder erziehen könnte, und auch das finanzielle. Obwohl ich im schon öfters gesagt habe, dass er das finanzielle dabei belassen könnte, denn das machen wir selber. Da brauchen wir ihn nicht dafür. Das habe ich auch dem Jugendamt gesagt. Der Einsatz des Familien-Helfers kostet das Jugendamt 1500 Euro. Er ist bereits seit zwei Jahren als Betreuer bei den Schmittens, und kommt jede zweite Woche. Auf das, was er sagt hört Inga nicht. Es ist ja meine Familie, und ich bin mit meinem Mann, aber nicht mit ihm verheiratet.“

 „Brauchen sie denn kein Geld, wenn Inga das finanzielle alles selber regeln kann?“ - „Die Familie lebt jahrelang von staatlicher Hilfe. Was es heißt, ihr Leben ohne Hilfe selbst in die Hand zu nehmen, wissen sie nicht, weil sie es einfach nicht gelernt haben. Axel fühlt sich schäbig dabei, von anderen Leuten Geld zu nehmen. Er möchte lieber arbeiten und sein eigenes Geld verdienen. Doch wenn am Monatsende das Geld knapp wird, besucht die Familie gern Ingas Eltern. Hier ist immer etwas übrig. In der elterlichen Wohnung hat Inga mit ihren Geschwistern gelebt. Ihre Mutter arbeitet als Packerin in einem Arzneimittelbetrieb. Die 48-jährige stolze Oma hatte es nicht leicht gehabt mit ihrer Tochter Inga. Sie musst ab und zu mit ihr hart zu Gericht gehen, hat sie aber nie geschlagen, wenn sie nicht gehört hat. Inga hat oft nicht gehört und musste daher Erziehungshilfe erhalten. Im Heim fand sie es nicht so gut, und war immer froh, wenn sie wieder bei den Eltern war. Sie hat sich in dem Heim öfters mit jemandem angelegt. Und wenn die Eltern sie nach dem Wochenende wieder ins Heim gebracht haben, hat sie geheult. Die Mutter hatte auch mit den beiden anderen Kindern Schwierigkeiten. Weil ihr erster Mann Alkoholiker war, hat das Jugendamt die Familie betreut. Die Kinderzeit bei der Mutter war also genauso wie heute bei der Tochter. Die Oma kann nicht verstehen, was das Jugendamt an ihrer Tochter auszusetzen hat. Nach ihrer Meinung sind die Kinder weder vernachlässigt oder misshandelt worden. Aber sie weiß, dass ihre Tochter nicht viel mit Ordnung im Sinn hat. Sie ist ja noch jung und kann noch lernen, wie man Ordnung hält.“

 „Dabei muss man ihr aber doch helfen“, meint Dario. „Kann Gerhard denn nichts für sie tun?“ - „Das hat er schon. Seit September hat jetzt auch Inga durch das Amt Arbeit vermittelt bekommen. Ihre Kinder bringt sie jetzt jeden Morgen um 7.00 Uhr in den Kindergarten. Das ist ein völlig neues Gefühl für die junge Frau. Und am Anfang war es ganz schön schwer und ungewohnt. Daran, dass sie jeden Morgen um 6.00 Uhr aufsteht, die Kinder wegbringt und dann zur Arbeit geht, musste sie sich erst mal gewöhnen. Aber es geht jetzt. Sie ist froh, dass sie jetzt arbeiten kann, und endlich aus der Wohnung rauskommt. Auch Axel steht im Klinikum jeden Morgen pünktlich auf der Matte, um seinen Job zu machen.“

 „Gibt es eigentlich auch Familien, bei denen alles stimmt?“ fragt Dario zweifelnd. - „In jeder Familie gibt es ab und zu Schwierigkeiten. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht und wie man sie bewältigt. Ich glaube nicht, dass es Familien gibt, die von allem, was es im Leben so gibt verschont bleiben. Krankheiten, Behinderungen, Unfälle, Arbeitslosigkeit, Altersdemenz, Verluste von Angehörigen durch Todesfälle, ungewollte Schwangerschaft, und was es sonst noch alles gibt, können jeden treffen. Dagegen ist der beste Wille und auch aller Reichtum nicht gefeit.“

 „Mama, machen wir wieder eine Halloween-Party? Meine Klassenkameraden haben sich schon bei mir gemeldet. Sie fanden es toll bei uns, im letzten Jahr. Bitte, Mama, sag´ ja!“ - „Eigentlich habe ich keine Zeit, “ zögert Eva, „aber ich will ja die guten Kontakte, die Udo und du in der Schule und im Sportverein habt, erhalten. Dadurch habe ich auch viele Freunde kennen gelernt, die jetzt zu mir stehen, nach der Trennung von eurem Vater. Also gut, du kannst deine, und Udo seine Klasse einladen. Aber ihr müsst mir helfen, alles vorzubereiten und auch hinterher.“

 „Danke Mama. Wir helfen dir, das verspreche ich, auch für Udo. Und einige aus der Klasse werden mit uns alles aufräumen. Das haben sie schon gesagt.“ - „Gesagt wird viel. Nur, später hat jeder eine Ausrede parat, wenn er mithelfen soll. Doch daran soll es nicht scheitern, denke ich. Wir haben ja schon viele Partys veranstaltet, und nicht nur Halloween-Partys. Aber im nächsten Jahr können das auch mal andere machen, nicht immer ich.“ - „Dabei machst du das doch immer sehr gern“, meint Dario. „Du hilfst doch auch noch, wenn andere eine Party vorbereiten.“ - „Du hast mich ja schon überzeugt“, gibt Eva zu. „Aber sagt allen, die von euch eingeladen werden: Es gibt keinen Alkohol und keine . . .“ - „Du meinst Drogen?“ unterbricht Dario sie. Mama, so was machen wir doch nicht. Das weißt du doch, oder?“ - „Man kann nie wissen, was der eine oder andere anstellt“, vermutet Eva zweifelnd. Sie denkt an ihre eigene Jugend, und daran, wie man ihr KO-Tropfen in einen Drink gemischt hatte. Nur der Aufmerksamkeit ihres Vaters hat sie zu verdanken, dass man sie nicht vernaschte, wie das damals genannt wurde. Jedenfalls will ich keinen Alkohol, keine Zigaretten, keine Gewalt oder so.“

 „Dürfen wir denn gar nichts unternehmen?“ fragt Dario enttäuscht. - „Ihr könnt euch richtig austoben, tanzen, Spiele machen und auch Musik in voller Lautstärke, und Lärm gibt es ja sowieso. Aber nur die Eingeladenen dürfen kommen, keine Fremde. Ich will nicht die ganze Schule oder die komplette Siedlung bewirten. Das wäre zu viel verlangt!“

 

Die Großfamilie

 

 

„Wie war es in den Herbstferien?“ fragt Eva, als sie Udo und Dario mit dem Auto auf dem Land abholt. Die Jungen waren bei Verwandten eingeladen, die in einer großen Familie leben. „Doch zuerst einmal ein freundliches >Hallo< an alle.“ Fast die ganze Familie hat sich zur Verabschiedung der Gäste eingefunden. Es herrschte ein allgemeines Chaos und Stimmengewirr.

 „Hallo Mama, “ rufen Dario und Udo ganz laut, um sich Gehör zu verschaffen. „Es war ganz toll, “ sagt Dario noch. „Wir haben dir jede Menge zu berichten. Hier ist alles wunderbar, weil einer dem anderen hilft und alle zueinander stehen.“

 „Nun übertreib´ mal nicht, “ wirft die Großtante ein, die hier das Sagen hat. „Aber es freut uns, wenn ihr diesen Eindruck gewonnen habt. Ihr seid eben Großstadtkinder. Da kommt einem das Landleben immer besser vor, denke ich.“ - „Nein, nein, Tante Louise, “ entgegnet Dario. „Es war wirklich schön bei euch. Wir haben uns sehr wohl gefühlt, und wir danken dir und der ganzen Familie herzlich für alles.“

 „Verratet nicht zu viel“, droht die Tante mit dem Zeigefinger, „ihr habt uns doch wohl hier nicht ausspioniert?“ - „Wir können nur Gutes berichten“, sagt Dario mit dem Brustton der Überzeugung. „Das ist richtig“, pflichtet ihm Udo bei. „Können wir im nächsten Jahr wiederkommen?“ - „Sicher könnt ihr das. Wir haben euch echt ins Herz geschlossen. Ihr seid immer willkommen bei uns.“

 „Jetzt aber rein ins Auto, und dann nichts wie los, “ kommandiert Eva ihre Söhne in gewohnter Weise, „sie hat es wieder einmal eilig. „Wir müssen uns beeilen, weil wir sonst noch in den Feierabendverkehr geraten. Dann stehen wir stundenlang im Stau, und ich muss heute Abend noch zur Chorprobe. So, jetzt noch einen Handkuss an alle, die euch so gut versorgt haben. Von mir auch noch tausendmal Dank für alles. Vielleicht besucht ihr uns Mal, wenn ihr in unserer Nähe seid, aber bitte nicht alle auf einmal. Mit so vielen Personen käme ich direkt ins schleudern. Darauf sind wir ja nicht eingestellt, wie ihr wisst. Also, Tschüss . . .“

 „Tschüss, uns nochmals vielen, vielen Dank, “ rufen Dario und Udo wie einstudiert. „Bis nächstes Jahr, wenn wir dürfen. Es hat uns gut getan, und wir haben bei euch gelernt, wie man harmonisch miteinander umgeht.“ – „Tschüss – Tschüss – Tschüss . . .“ Alle winken ihnen nach, bis das Auto nicht mehr zu sehen ist. Und Udo, wie auch Dario winken schwungvoll zurück.

 „Wisst ihr denn jetzt alle Namen?“ fragt Eva unterwegs im Auto. „Und wer, wer ist, und wie sie untereinander verwandt sind?“ - „Es hat zwar ein paar Tage gedauert“, berichtet Dario, „aber dann haben wir alle gekannt. Und wenn ich einen Namen nicht direkt parat hatte, hat Udo mir geholfen.“ – „Genau wie es Dario gemacht hat, wenn ich jemand nicht direkt einordnen konnte,“ fügt Udo hinzu.“ - „Dann erzählt mal“, fordert Eva die beiden auf, „ich bin echt neugierig, zu hören, wie es bei den Lammerts zugeht. Vielleicht haben sie sich aber auch wegen euch zurückgenommen, oder?“ - „Das glaube ich nicht“, vermutet Udo. „Es ging alles so natürlich vonstatten. Da hat uns niemand etwas vorgemacht. Die sind immer so.“ – „Sie haben ja auch hier und da Probleme, “ unterstreicht Dario die Worte seines Bruders. „Aber sie lösen alle Angelegenheiten gemeinsam. Das ist ihre große Stärke, und keiner ist auf sich allein gestellt!“

 „Wer ist dann der Älteste?“ erkundigt sich Eva, „und wer der Jüngste, und wer hat das Sagen?“ - „Ur-Ur-Oma Ottilie ist schon 91 Jahre alt, aber immer noch so rüstig, dass sie mit der Familie zum Sonntagsausflug aufbrechen kann.“ sagt Udo bewundernd. Die Lammerts sind Traditions-Menschen. Ihre Spedition ist ein Familienbetrieb, den die Vorfahren mit Pferd und Wagen im 18. Jahrhundert gegründet hatten. Die Chefin der Familie ist Louise, die Ur-Oma. Kinder, Enkel und Urenkel gehen mit auf die Reise im eigenen Bus. Für den Zusammenhalt der Großfamilie ist der Bus sehr wichtig. Schon auf der Fahrt ist man beieinander, kann klönen und miteinander singen. Bei einem Auto-Korso kommt so etwas nicht auf. Jeder fährt im Grunde allein. Abgesehen von der Unfall-Gefahr, ist es leicht möglich, dass ein Fahrzeug den Weg verfehlt, und die anderen warten müssen. Darum hat Großvater Josef einen Bus angeschafft, den er selbst fährt. Im Bus hat Josef das Sagen, in der Familie geht alles nach der Nase von Louise. Wenn nicht, gibt es auch Ärger vom >Feldwebel<, wie sie auch schon mal von der Familie genannt wird.“

 „Interessant“, meint Eva, „das habe ich bisher nicht gehört. Wie viele sind denn immer im Bus unterwegs?“ - „Bei einer normalen Fahrt oder Familienfeier sind sie vierzig Personen“, sagt Dario nachdenklich, „bei einem größeren Fest kommen aber über achtzig zusammen. Das haben wir selbst erlebt. Es gibt also immer viele Ansprechpartner, und auch mehr Möglichkeiten eine Unterstützung zu erhalten, wenn es erforderlich ist. In einer Klein-Familie geht das nicht so einfach, jemandem unter die Arme zu greifen, hat Elisabeth uns erzählt.“ – „Und Josef ist stolz darauf, dass in der Familie jeder auf jeden eingeht, egal wie er sich momentan fühlt“, meint Udo, der sich oft mit ihm unterhalten hat. Josef hat schon mitgekriegt, dass Udo und Dario die ständige Anwesenheit ihres Vaters fehlt. Er hat sich liebevoll um sie gekümmert und damit gezeigt, dass es in der Großfamilie viele Vertrauenspersonen gibt, an die man sich wenden kann.

 „Ihr wisst doch, dass ihr immer zu mir oder zu eurem Vater kommen könnt, wenn ihr irgendwelche Probleme habt, “ sagt Eva irritiert. „Eine Generationenfamilie wie aus früheren Zeiten können wir euch allerdings nicht bieten. So was gibt es heute nur noch sehr selten.“

 „Mama, man muss das einmal selbst miterlebt haben“, Dario ist begeistert. „Die Älteren kümmern sich um die Jüngeren, und die Jüngeren kümmern sich um die Älteren. Allerdings hat Tante Louise die meiste Arbeit mit der Familie. Nachdem die Kleinkinder schlafen gehen, versorgt sie ihre Mutter. Bei der Pflege helfen Kinder und Enkel mit, und vor allem der Ur-Opa. Wenn er es nicht allen recht macht, erinnert er sich an das, was sein Vater ihm einmal gesagt hat: Frauen sind wie Ziegen. Die meckern, fressen, wenn sie wollen und kacken, wenn sie wollen. Das hat er uns mehrmals erzählt.“

 „Also gibt es schon mal Stunk“, stellt Eva erleichtert fest. „Es ist also nicht nur eitel Sonnenschein?“ fragt sie scheinheilig. - „Als Mira mit Sechzehn schwanger wurde“, berichtet Dario, „hat das die ganze Familie in Aufregung versetzt, vor allem ihre Mutter, die Elisabeth. Davon wurde immer wieder geredet. Mira war in der neunten Klasse, und sie hatte Angst davor, es den anderen zu sagen. Ihre Mutter hat zuerst mal geheult und gefragt: Was ist los, was ist los? Du bist schwanger? Ja, Elisabeth hat ihr alle negativen Folgen erläutert, in den schlimmsten und grausamsten Farben. Aber das hat nichts bewirkt. Mira will das Kind haben, und Elisabeth will nicht ihre Tochter verlieren. Sie selbst hätte sich zwar anders entschieden, aber sie hat Mira gesagt, dass sie zu ihr steht, und die Sache mit ihr zusammen durchstehen will. Die ganze Familie hat Elfi großgezogen. Sie ist der Liebling von Ur-Opa Josef. Oma Elisabeth hat sich in der Firma den Urlaub von drei Jahren geben lassen.“

 „Was hat denn Tante Louise gesagt, als sie erfuhr, dass Mira ein Kind erwartete?“ fragt Eva. - „Auch die Ur-Oma Louise hat die Entscheidung für das Kind akzeptiert. Ganz und gar nicht konservativ eingestellt, hat sie Mira den Rücken gestärkt. Sie sagte: OK, du bist schwanger, du willst zur Schule gehen, ich bin zu Hause, du kannst mir Elfi bringen. Das ist doch kein Problem. Aber Louise war es schon mulmig, wie sie erklärte. Sie wusste ja nicht genau, was auf sie zukam, und ob sie das alles schaffen würden, weil sie die Ur-Ur-Oma schon im Hause hatten. Als sie nach der Messe dem Pastor von den neuen Ereignissen erzählt hatte, dass Mira schwanger wäre, sagte der: Das ist ja wunderbar, dann werden sie ja Ur-Oma. Als Louise meinte, das sagen sie so leicht, Mira ist aber erst Sechzehn, erklärte er: Und? Bessere das, als wenn sie drogenabhängig wäre. Wenn sie das so sehen, antwortete Louise, ich sehe das zwar nicht ganz so, aber es ist mir auch so lieber. Und heiraten muss sie nicht, soll der Pastor den Großeltern auch noch gesagt haben.“

 „Und sie haben es dann ja auch gemeinsam gut hingekriegt“, bemerkt Eva anerkennend. - „Ja, Mira hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Sie arbeitet jetzt in einem Kindergarten. Den Traum einer eigenständigen Existenz hätte sie ohne ihre Großfamilie nie erreicht. Da ist sich Mira sicher. Sie hätte ihre Ausbildung nicht geschafft, es würde ihr wahrscheinlich auch finanziell nicht so gut gehen. Und auch emotional ginge es ihr vermutlich nicht so gut. Sie fühlt sich persönlich gestärkt, weil sie bei Problemen immer mit jemandem reden kann. Das kann man ihrer Meinung nach nicht mit Freunden besprechen, dazu braucht man eben eine Familie.“

 „Der Zusammenhalt ist in der Familie vorbildlich“, sagt Eva. „Das war schon immer so.“ - „Drei Frauen haben sogar ein gemeinsames Hobby. Oma Elisabeth, 44, trainiert Handball mit ihren Töchtern Mira, 21 und Barbara 26, sowie ihrer Enkelin Elfi. Als junge Oma teilt sie nicht nur die Arbeit, sondern auch den Spaß. Sie fühlt sich nicht so alt wie sie es den Jahren nach ist, sondern zwanzig Jahre jünger. Mira fühlt sich gut dabei, mit ihrer Schwester und der Mutter in einer Mannschaft zu spielen, weil es das ihrer Meinung nach sonst so nie gegeben hat. Die Frauen sind in der kleinen Gemeinde überall bekannt. Hier haben sie ihre Schulfreunde, den Sportverein und ihre Familie.“

 „Gehen sie sich denn nicht manchmal gegenseitig auf die Nerven“, fragt Eva „bei so viel Nähe und Gemeinsamkeit?“ - „Sie leben ja nicht alle in einem Haus“, erläutert Dario. Die Töchter wohnen in sicherem Abstand von 220 bis 380 Meter Luftlinie entfernt vom Familien-Oberhaupt Ur-Oma Louise. Fast jeden Mittag treffen sich die Kinder und Enkel zum gemeinsamen Essen. Louise ist stolz darauf, dass die Kinder in ihrer Nähe wohnen wollten. Trotzdem haben sie sich vom Rockzipfel der Mutter und Oma gelöst. Da sie aber immer wiederkommen, zeigt das, dass sie sich bei Louise wohlfühlen. Trotz aller Fürsorge schätzen die Kinder ihre Unabhängigkeit. Man wohnt zwar in einer Gemeinde, aber jeder hat sein eigenes Nest, in das er sich zurückziehen kann.“

 „Und wie sieht Opa Josef das Zusammenleben in der Großfamilie“, erkundigt sich Eva, „wäre er nicht lieber manchmal allein, in seinem Alter?“ - „Er hat mir gesagt“, wirft Udo ein, „alle unter einem Dach, ginge nicht, weil sie alle ihre Freiräume brauchten. Deswegen besucht er die Töchter so gut wie nie in ihren Wohnungen. Er sieht sie ja fast täglich, und möchte nicht unnötig stören.“

 „Aber Louise wäre doch sicher lieber, wenn alle in einem Haus leben würden, oder?“ fragt Eva neugierig. - „Das nicht, “ meint Udo, „aber sie ist schon sehr bestimmend und hat für die Familie feste Regeln aufgestellt: Alles, was sich bei ihr im Haus abspielt, muss jeder so machen, wie sie es will. Sie lässt den Familien ihre Eigenständigkeiten in ihren Wohnungen. Aber bei ihr im Haus müssen sich alle nach Louise richten. Also, alle unter einem Dach, das will sie auch nicht.“

 „Was macht denn Elisabeth, wenn sie nicht bei ihrer Mutter ist, wo sie sich doch am liebsten aufhält?“ hinterfragt Eva. - „Sie geht mit ihrer Tochter und Enkelin in die eigene Wohnung, wo sie mit drei Generationen zusammenlebt. Auch sie braucht einen gewissen Abstand, hat sie gesagt. Ihre Mutter und die Oma wären von ihrer Grunderziehung her ganz anders erzogen worden. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren wurden nach ihrer Meinung die Kinder viel härter und strenger erzogen als in ihrer Generation sowie die der ihrer Kinder und Enkelkinder. Auch Elisabeths Töchter würden ihre Kinder locker erziehen, damit sie ihre Meinung frei vertreten könnten. Doch ihre eigene Großmutter hätte sie vermutlich fast erschlagen, wenn sie Widerworte gegeben hätte. Damals hat man so etwas gar nicht gewagt, das gab es einfach nicht. Heute findet Elisabeth es nicht schlimm, wenn die Enkeltochter Elfi zu ihr sagt >du bist blöde<, falls sie etwas verkehrt gemacht hat. Es ist ja richtig, dass es in Elfis Augen verkehrt ist. Sie darf Elisabeth zwar nicht beschimpfen, aber sie darf öffentlich ihre Meinung sagen.

 "Dürfen wir das eigentlich auch?“ fragt Udo. - „Selbstverständlich dürft ihr eure Meinung immer sagen, von Klein an, “ verteidigt sich Eva. „Allerdings >blöde< oder so möchte ich nicht von euch hören. Aus dem Alter seid ihr ja wohl raus. Aber eure Meinung ist mir schon sehr wichtig, die braucht ihr nicht zurückzuhalten.“ - „Gut, dass wir das wissen“, freut sich Udo, „dann wäre es ja gut, wenn du mit Silvio jetzt Schluss machst. Wir kommen mit ihm nicht klar, und er auch nicht mit uns. Der Typ kann keine Kinder leiden, und uns erst recht nicht.“ – „Stimmt“, sagt Dario. „Der ist verhaltensgestört, irgendwie. Er ist für eine Beziehung, eine Bindung oder Familie nicht geeignet, und ganz auf sich fixiert.“

 „Wer sagt euch denn so was?“ fragt Eva entrüstet. „Ihr müsst schon mir überlassen, mit wem ich mich einlasse. In ein paar Jahren geht ihr euren eigenen Weg. Dann stehe ich völlig allein da. Habt ihr daran auch schon mal gedacht? Alles kann man nicht so einfach sagen, wie es einem gerade in den Sinn kommt. Ich hätte meinen Eltern niemals solche Vorwürfe gemacht!“ - „Oma und Opa sind ja auch immer noch zusammen, seit über fünfrzig Jahren“, erinnert Dario seine Mutter. Bei ihnen gab es noch nie Eheprobleme. Aber du siehst ja, was dabei herauskommt, wenn wir unsere Meinung einmal frei und offen aussprechen. Wir würden lieber in einer intakten Familie leben. Das weißt du doch. Am liebsten natürlich mit Papa zusammen oder wenigstens mit Dieter und seinen Kindern.“ - „Ihr wisst doch, dass ich auch ein Familienmensch bin. Aber es geht nun einmal nicht. Von Papa bin ich geschieden, er hat eine Freundin und Dieter ist nur ein guter Freund von mir, aber kein Partner, mit dem ich zusammen leben möchte. Ihr habt eben bei mir einen wunden Punkt getroffen, das könnt ihr mir glauben. Wir müssen uns noch einmal in einer ruhigen Minute ausführlich beraten. Hier auf der Fahrt ist mir das zu hektisch, und wir sind ja jetzt bald daheim. Also, ich bin euch nicht böse. Es ist nur zu kompliziert, um auf einer Autofahrt zu einer Entscheidung zu kommen. Ich gebe ja zu, dass Silvio nicht einfach ist, auch für mich. Manchmal weiß ich selbst nicht, wo ich bei ihm dran bin, das könnt ihr glauben!“

 „Wir möchten aber wissen, wie es weitergeht“, sagt Dario hartnäckig. „Es nervt einen sehr, wenn man keine Vorstellung von der Zukunft hat. Die anderen in meiner Klasse wissen genau, was sie erwarten können, wenn sie sich Mühe geben. Bei uns ist das völlig ungewiss.“ - „Ich tue doch wirklich alles für euch“, entrüstet sich Eva. „Ihr seid undankbar und mischt euch in meine ureigensten Angelegenheiten ein . . .“

 „Das sind aber doch auch unsere Angelegenheiten, oder?“ hakt Dario nach. - „Jetzt ist es aber genug“, regt sich Eva auf. „Aussteigen, meine Herren! Für heute habe ich echt die Nase voll. Erst der Stress in der Firma, und danach die lange Fahrt, und dann noch solche Vorwürfe! Macht nur ja alles fertig, was ihr morgen in der Schule benötigt. Ich will nicht, dass morgen früh wieder die Sucherei losgeht. Legt euch auch eure Kleidung parat und dann unter die Dusche und sofort ins Bett. Es ist schon spät genug geworden, bei dem Verkehr . . .“

 Das wird wieder eine schlaflose Nacht, denkt Dario als er mit Udo die Schultaschen vorbereitet. Zum Teil muss er ja im Stillen seiner Mama Recht geben. Für sie ist es tatsächlich nicht einfach. Nur, sie vergisst, dass sie diese Situation ja selbst herbeigeführt hat. Oder liegt es wirklich an der >Chemie der Liebe<, wie ihr Bio-Lehrer es einmal bezeichnet hat?

 „Tante Louise hat uns in den Ferientagen gut versorgt“, reißt Udo ihn aus seinen Gedanken. Sie backt leidenschaftlich gern, ist eine prima Köchin, und macht alles am liebsten in großen Mengen.“ - „Und sie versorgt auch noch ihre eigene Mutter Ottilie, die mit 91 Jahren in der Familie lebt“, fügt Dario hinzu. Das gehört zur Familientradition der Lammerts. Für einander sorgen, bis zum Schluss. Niemand aus der Familie muss ins Altersheim.

 

Wenn Kinder Kinder kriegen

 

„Wie war es in den Ferien?“ fragt Lucky als er Dario auf dem Schulweg trifft. „Ich war mit meinen Eltern und der Schwester auf Teneriffa. Es war toll, im Herbst noch ins Meer zu gehen und von morgens bis abends in der Sonne zu liegen. Aber irgendwie auch alles so eintönig, so als wenn man zur Schule geht. Ein Tag war wie der andere.“ - „Das war bei uns völlig anders“, meint Dario, „wir waren in einer Großfamilie, bei einer Tante auf dem Land. Da war jede Menge los und wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, Udo und ich. Soviel Familie auf einmal haben wir ja noch nie erlebt. Wir wurden prima versorgt von der Tante Louise. Bei ihr dreht sich alles ums Essen und die Familie. Sie kümmert sich um alles, auch als ihre Enkelin mit Sechzehn ein Kind bekommen hatte.“

 „So einen Fall haben wir auch in unserer Familie“, erinnert sich Lucky, „da kann ich dir eine Menge von erzählen, wenn wir mal mehr Zeit dazu haben.“ - „Das würde mich schon interessieren, “ sagt Dario, „aber pass´ auf, dass nicht mit Sammy was schief geht. Ihr schlaft doch zusammen, oder?“ - „Woher weiß du das denn?“ staunt Lucky. „Ich will wissen, wer das behauptet hat. Derjenige kann sich auf etwas gefasst machen.“ - „Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern“, versucht Dario das Thema herunter zu spielen. „Ich weiß gar nicht mehr, wer es angedeutet hat. Aber das machen doch fast alle in unserem Alter.“

 „Dann pass´ du aber auch auf, “ beruhigt sich Lucky langsam. „Mit einem Kind in so jungen Jahren ist deine ganze Zukunft ruiniert, das kannst du mir glauben. Ich jedenfalls könnte mir ein Leben als Vater nicht vorstellen. Du weißt ja, dass ich schon genug Unsinn angestellt habe. Nach Schulschluss haben wir vielleicht noch Zeit, um über die Erfahrungen meiner Tante zu reden.“ - „Das machen wir“, erklärt Dario mit Nachdruck. Jetzt müssen wir uns erst wieder an die Schule gewöhnen . . .“

 Lucky kann sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. War er vielleicht doch zu unvorsichtig, wenn er mit Sammy ungeschützt verkehrt hatte. Hat Sammy wirklich die Pille genommen, wie sie es immer behauptet. – „Ludwig“, ruft der Lehrer, „die Ferien sind vorüber. Du musst schon am Unterricht teilnehmen. Wir sind nicht hier, um die Zeit abzusitzen und zu träumen.“ – „Ich passe schon auf“, antwortet Lucky schwach, „mir war es nur etwas übel. Ich muss noch die Klimaumstellung verkraften.“ – „In deinem Alter?“ zweifelt der Lehrer berechtigt.

 Dario war froh, dass sie schon nach der dritten Stunde schulfrei hatten. Die Turnstunde fällt aus, weil der Sportlehrer sich das Bein gebrochen hat. Jetzt hat er Zeit, mit Lucky über seine Erlebnisse in der Großfamilie und über Luckys Verwandtschaft zu reden. – „Da bist du ja endlich, Lucky. Warum hat der Lehrer dich noch zur Brust genommen?“ - „Er hat das mit der Übelkeit nicht geglaubt, und hatte den Verdacht, dass ich wieder Alkohol oder Drogen genommen hätte. Aber ich konnte ihn beruhigen. So etwas mache ich nie mehr, das kannst du mir glauben. Und der Harras hat es mir auch geglaubt.“

 „Das ist gut“, sagt Dario, „vor allem, weil es stimmt. Aber irgendwas hat dich doch beschäftigt. Du warst völlig abwesend, als Harras dich aufgeweckt hat. War es wegen unseres Gesprächs?“ - „Sicher! Ich hatte auf einmal Angst, Sammy hätte mich hereingelegt. Ich kann ja nicht wissen, ob sie ihre Pille nimmt oder nicht. Beim nächsten Mal werde ich vorsichtiger sein. Dasselbe wie meiner Kusine soll mir nicht passieren, dafür bin ich noch zu jung.“ -„Und wie war das bei ihr?“ hakt Dario nach. „Wir haben ja jetzt viel Zeit, wo die Turnstunde ausgefallen ist. Bei uns ist jetzt sowieso noch keiner zuhause.“ - „Bei uns wahrscheinlich auch nicht, “ vermutet Lucky. „Komm, wir setzen uns in den Park, da kommt am Vormittag keiner vorbei, und wir haben unsere Ruhe. Dann quatscht uns nicht dauernd einer an. Also, das Leben meiner Tante Elly hatte sich völlig verändert, erklärte sie damals, als sie von der Alleinerziehenden Mutter zur Alleinerziehenden Oma aufgestiegen war. Sie fühlt sich nicht als Oma, sondern immer noch als Mama. Ihr Enkelkind Mireille sagt zur ihr auch nur Mama, nicht Elly oder Oma, sie sagt einfach Mama.“

 „Hat sich deine Kusine denn gar nicht um ihr Kind gekümmert?“ entrüstet sich Dario. - „Doch schon.“ Aber lass es mich von Anfang an erzählen: Vor einem Jahr hätte sich meine Tante Elly nicht träumen lassen, dass sie jetzt mit einem Enkelkind gesegnet wäre. Sie war damals 39 und genoss ihr Leben, als sie mit ihrer 13-jährigen Tochter Andrea zum Frauenarzt ging. Der Arzt kam aus dem Untersuchungszimmer mit einem Ultraschall-Foto in der Hand und sagte: Ich gratuliere ihnen, sie werden Großmutter und ihre Andrea ist in der sechsten Woche. Das musste sie zuerst einmal verarbeiten. Das Mutter-Kind-Verhältnis war durcheinander geraten. Auch Andrea hat sich in Sachen hineingesteigert, die sich nachher als nicht so schlimm erwiesen haben. Sie hat total überreagiert und sinnlos herum-geschrieen. Ihre Schwangerschaft war schwierig, weil ihr die Pubertät und die Hormonumstellung zu schaffen machten. Tante Elly war oft der Ohnmacht nahe. Sie dachte, wann hört dieser ganze Wahnsinn endlich wieder auf. Für Andrea war es schlimm. Sie ist ja erst Fünfzehn, und braucht allein für sich eine Stunde im Bad. In dieser Zeit hat sich Tante Elly bereits selber gewaschen, angezogen, geschminkt, die Kleine gewaschen und angezogen.“

 „Das hört sich aber nicht an, als ob Andrea alles für ihr Kind macht“, wirft Dario ein. - „Du musst bedenken: Schule, Hausaufgaben, Freunde. Als Teenager-Mama muss Andrea lernen, sich ihre Zeit einzuteilen, damit sie sich auch um ihre Mireille kümmern kann. Dabei nimmt ihr Tante Elly doch vieles ab: Sie hat schon manchmal sehr viel Arbeit, und kommt sich vor wie drei Personen in einer Person. Einmal die Angestellte, dann die Oma, dann die Mama. Haushalt, Einkäufe, Wäsche, alles hängt an ihr dran. Andreas Schwangerschaft hat ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Tante Elly musste eine größere Wohnung suchen, und auch berufliche Veränderungen hinnehmen. Weil sie nicht mehr Vollzeit arbeiten konnte, ist sie in eine andere Abteilung als Schreibkraft versetzt worden. Dort kann sie zwar ruhiger arbeiten, aber es ist für sie ein Karriereknick. Sie betrachtet es als ein persönliches Opfer. Und sie hofft, dass man das in ein paar Jahren wieder ändern kann. Bis dahin ist sie auf die Hilfe einer Tages-Mutter angewiesen. Die kümmert sich um das Baby, wenn Tante Elly arbeitet und Andrea in der Schule ist.“ - „Also“, nickt Dario, „bleibt alles an der Großmutter hängen, wenn Schulmädchen Kinder bekommen. Aber ihren Spaß wollen alle haben, ohne an die Folgen zu denken. Ich befürchte, dass sich nur wenige Gedanken darüber machen, so wie wir. Und bis zu den Herbstferien ist es mir genauso gegangen.“

 „Aber Andrea nimmt doch Mireille ab und zu mit, wenn sie sich mit ihren Freundinnen trifft. Dann darf sie dabei sein, solange sie nicht stört. Sonst wird sie sofort zur Oma abgeschoben. Tante Elly will ihrer Tochter die Freuden eines Teenager-Lebens nicht nehmen. Trotzdem muss sie Andrea immer wieder an ihre Verantwortung erinnern. Einmal war sie bis nach Mitternacht unterwegs. Dann hat sie erst angerufen, dass sie den Schlüssel vergessen hätte, und dass sie gegen Eins klingeln würde. Als Elly ihr erklärt, dass sie mit dem Anruf um 12.00 und Klingeln gegen 1.00 Uhr nicht einverstanden ist, hat Andrea gesagt, dass sie bei einer Freundin schläft. Den Schlüssel hat sie nicht gefunden, wie sooft. Erst gegen halb Neun am nächsten Morgen kam sie endlich nach Hause. Elly muss also ihre Tochter dazu erziehen, dass diese ihre Tochter erziehen kann. Sie sagt Andrea oft, dass sie jetzt aufstehen muss, um sich um ihr Kind zu kümmern. Auch, wenn sie müde ist oder keine Lust hat, muss sie das einfach machen. Natürlich ist Elly für ihre Tochter >der Buhmann<, der ihr immer Vorwürfe macht und mit ihr schimpft. Aber man muss ihr immer wieder sagen, was sie tun muss. Von ihr selber kommt viel zu wenig. Scheinbar fehlt ihr der Antrieb, die Lust oder Energie.“

 „Deine Tante Elly hat es wirklich nicht leicht mit Andrea und der kleinen Mireille“, bedauert Dario die Situation. „Kommt es vielleicht noch schlimmer für sie?“ - „Wie man es nimmt. Tante Elly muss Mireille oft beruhigen, wenn sie weint oder Lärm macht. Andrea braucht Ruhe, weil sie sich auf ihren Hauptschulabschluss vorbereiten und daher konzentriert lernen muss. Gute Noten sind für sie wichtig, denn sie will sich bald bei einem Steuerberater vorstellen. Sie ist ja nicht das Kind, hat Tante Elly gesagt, das man unbedingt erziehen muss oder dem man noch vieles beibringen muss. Und daher ist Tante Elly auch Andrea gegenüber wesentlich gelassener geworden. Früher hat sie es als einen Skandal angesehen, wenn Andreas Zimmer nicht aufgeräumt war, und dann mit Andrea geschimpft.“

 „Weiß deine Tante Elly überhaupt, wer der Vater von Mireille ist?“ hinterfragt Dario, dem auffiel, dass von einem Vater nie die Rede war. - „Nein, das weiß sie nicht. Andrea gibt den Namen nicht preis. Als ich bei der Tante war, kam Günther, der neue Freund von Andrea vorbei. Das macht er jeden Tag nach Schulschluss. Weil er im selben Haus wohnt, können sie die Mittagszeit zusammen verbringen, bevor Andrea in die Abendschule geht. Sie sind seit einem halben Jahr zusammen. Günther, sechzehn Jahre alt sagte: Es ist schon eine Veränderung. Aber anstatt mich zu stören, ist es eher eine interessante Herausforderung, etwas anderes als der ganz normale Alltag. Mir war es vorher relativ langweilig, und jetzt gibt es immer etwas Neues für mich. Und Andrea meinte dazu: Ich denke schon, dass ein Kind ziemlichen Halt gibt. Vorher habe ich immer gedacht, was bringt es meinem Leben überhaupt? Und mit dem Kind habe ich mehr Verantwortung zu übernehmen. In der Klasse, sagte Günther, zeigt er Fotos von Andrea und von Mireille herum. Es macht ihn stolz, dass er schon eine kleine Tochter hat. Darum sagt er den Mitschülern, dass es seine Tochter ist. Die fragen dann schon, ob es seine leibliche ist? Aber er sagt ihnen, dass es nicht seine leibliche Tochter ist, dass er jedoch trotzdem stolz auf sie sei. Andrea erklärte: Der leibliche Vater weiß nichts davon, dass er eine Tochter hat. Und sie wäre auch ganz froh darum, dass er es nicht weiß. In der damaligen Zeit hätte sie oft >Mist gebaut< und wäre ziemlich auf der schiefen Bahn gewesen. Darauf wäre sie nicht unbedingt stolz. Und es wäre für sie ein Ausrutscher gewesen.“ - „Fast genau wie bei Lammerts, “ meint Dario, „nur, dass Mira ansonsten ein braves Mädchen war. Die hat keine Drogen genommen oder so . . .“

 Als Lucky die Story von Darios Tante Louise erfuhr, sagte er im vollen Brustton der Überzeugung: „Der Pastor deiner Tante hat vollkommen Recht. Es ist tatsächlich viel besser, ein gesundes Kind zu bekommen als Drogen, Alkohol, Schnaps und Zigaretten zu konsumieren. Das habe ich ja wirklich am eigenen Leibe erfahren. Aber ich werde in Zukunft viel vorsichtiger sein, wenn ich mit Sammy zusammen bin. Das kannst du mir glauben.“

 „Wie war das denn mit den Drogen?“ fragt Dario neugierig. „Ich wollte immer schon mal wissen, wie das so ist.“ - „Hast du denn auch schon einmal Drogen genommen?“ Lucky ist auf einmal hellhörig geworden. Sollte der brave Dario doch nicht so unantastbar sauber sein? - „Nein, noch nie, aber ich war schon ein paar Mal drauf und dran. Einmal durfte ich bei meinem Vater Sylvester ein Glas Bier trinken. Doch das hat mir nicht einmal geschmeckt, so bitter wie es war. Aber ich würde gern von dir erfahren, wie man sich fühlt, wenn man Drogen nimmt.“

 „Darüber kann ich dir vieles berichten“, erklärt Lucky, „außer meinen Erfahrungen, habe ich ja auch noch die von den anderen Abhängigen im Heim mitgekriegt. Wenn du das alles hörst, kommst du nie wieder auf den Gedanken Drogen zu nehmen. Du musst nur immer wachsam sein, dass dir niemand heimlich etwas in ein Getränk rührt. Es gibt Leute, die davon profitieren, dass jemand abhängig ist. Und die helfen gern nach, wenn einer nicht freiwillig probiert. Es ist kaum zu glauben, aber fast jeder ist neugierig darauf, zu erfahren wie es sich anfühlt, wenn man gehascht hat.“

 „Hat das was mit KO-Tropfen zutun, die heimlich in ein Glas gekippt werden?“ meint Dario. - „Nein, das ist doch was ganz anderes. Die nimmt man doch, um ein Mädchen willenlos zu machen, “ entgegnet Lucky entrüstet. „Das ist eine ganz gemeine, kriminelle Sache. Die Frauen werden hilflos, und sie wissen hinterher nicht einmal, was so ein Kerl mit ihnen angestellt hat. Aus Scham gehen sie oft nicht einmal gegen den Täter vor, auch wenn sie ihn kennen. Oder sie melden sich zuspät bei der Polizei und dem Gesundheitsamt. Dann sind die Spuren des Mittels nicht mehr nachweisbar. Nach zwölf Stunden hat der Körper das Gift abgebaut. Es ist eine absolute Schweinerei, so etwas zu machen.“

 „Würdest du so etwas denn niemals tun?“ fragt Dario. „Hast du noch nie mit dem Gedanken gespielt?“ - „Nein, noch nie, erklärt Lucky. „Das hätte ich noch nicht einmal versucht, als ich noch Drogen genommen habe. Soweit war mein Verstand immer noch intakt. Aber es gibt Abhängige, die KO-Tropfen unterschieben, weil sie ein Opfer aus- rauben wollen. Denen geht es meistens nur um Geld, an das sie für die Beschaffung von Hasch irgendwie gelangen müssen. Ich hatte ja die Möglichkeit, Geld meiner Eltern oder Wertsachen zu kriegen, um an den Stoff zu kommen. Es ist schon schlimm und traurig, wenn ich das im Nachhinein betrachte . . .“

 

Sucht/Abhängigkeit

 

„Wenn es dich erleichtert“, fordert Dario Lucky auf, „dann rede dir mal alles von der Seele. Welche Drogen hast du genommen, und wie wirkten sie auf dein Gehirn, auf deinen Verstand, auf deinen Geist und deine Gefühle?“ - „Darüber möchte ich jetzt noch nichts sagen. Ich muss zuerst noch mehr Abstand gewinnen. Vielleicht später einmal, wenn ich es besser verarbeitet habe. Das musst du doch verstehen. Ich will dir gern etwas vermitteln, von dem, was wir in der Entziehung aus Filmen und Berichten über Zigaretten und Alkohol gelernt haben. Du wirst es nicht glauben, aber an den Folgen von Zigaretten- und Alkohol-Konsum sterben mehr Menschen als an Drogen. Es gibt über eine Milliarde Raucher weltweit, und etwa zwei Milliarden Gelegenheitstrinker. In den meisten Ländern ist Alkohol frei verkäuflich. Und Jugendliche haben es leicht, sich alkoholische Getränke zu beschaffen. Das Einstiegsalter liegt heute bereits bei elf bis zwölf Jahren. Dabei wird in unserer Gesellschaft der Konsum von Alkohol von vielen bagatellisiert. Der Aperitif zum guten Essen, das Bier zum Durstlöschen, der Wein zum Cholesterinsenken, alles wird gern zum Vorwand genommen, um ein Glas oder mehrere zu trinken.“

 „Das kenne ich“, bestätigt Dario Luckys Worte. „Aber Papa und Mama achten schon darauf, dass Udo und ich keinen Alkohol konsumieren. Das mit dem einen Glas Bier vom Papa an Sylvester war sicher mehr zur Abschreckung gedacht. Und das ist ihm bei mir ja auch gelungen. Es schmeckte scheußlich!“

 „Alkohol und Drogen werden selten in einem Atemzug genannt“, erklärt Lucky. Jedoch wird die Suchtberatung zu achtzig Prozent von Menschen mit Alkoholproblemen aufgesucht. Fast jeder ist entrüstet, wenn man beim Alkohol von einer Droge spricht. Alkoholabhängige, Weinbauern, Schnapsbrenner und sogar einige Wissenschaftler behaupten, Alkohol sei keine Droge!“

 „Alkohol, eine Droge? Das habe ich auch noch nicht gehört, “ zweifelt Dario, es ist doch nur Stimulans, oder?“ - „Nein, das ist es nicht!“ Lucky ist entrüstet. „Wenn in Drogen alle Substanzen definiert sind, die eine Abhängigkeit erzeugen, dann ist Alkohol sehr wohl eine Droge. Bei den suchtbedingten Todesfällen liegt Alkohol weit vorne. Das Leid der betroffenen Familien wird kaum wahrgenommen. Die Aufklärungskampagnen konzentrieren sich hartnäckig auf die Gefahren von Alkohol am Steuer. Die anderen Begleiterscheinungen, wie häusliche Gewalt und Depressionen bleiben außen vor. Im öffentlichen Gesundheitswesen ist Alkoholismus lediglich sporadisch ein Thema. Dabei sind über 76 Millionen Menschen weltweit davon betroffen. Und, wie alle Drogen, greift Alkohol grundlegend in unser Gehirn ein.“

 „Weiß man denn, was Alkohol bewirkt?“ Ist es schlimmer als bei anderen Drogen oder Rauchen?“ Dario will jetzt wissen, worauf er sich einlässt, wenn er Alkohol trinkt. - „Die Wirkung von Alkohol ist so komplex, “ erläutert Lucky, „dass einige Forscher ihn als die >schmutzige Droge< bezeichnen. Die Analyse von Alkohol wird dadurch erschwert, dass er sich rasend schnell im gesamten Körper ausbreitet.“ - „Also, nicht nur im Gehirn?“ fragt Dario irritiert. - „Nein, Alkohol ist ein winzig kleines Molekül, das sich durch eine besondere Eigenschaft auszeichnet. Es durchdringt die Zellmembranen und verteilt sich problemlos im Gehirn, in der Plazenta, ja, in den Nervenzellen selbst. Alkohol entfaltet seine Wirkung an vielen verschiedenen Rezeptoren, und sogar im Zellkern. Das macht die Sache umso komplizierter, weil es einen Rezeptor zu untersuchen gilt, der sowohl für die neurologischen, als auch für die psychologischen Folgen des Alkoholkonsums verantwortlich ist.“

 „Das ist ja hoch wissenschaftlich“, staunt Dario. „Woher weißt du das alles so genau?“- „Aus der Entziehung, das habe ich dir doch schon gesagt. Man hat uns mit dem Lehrstoff gefüttert, bis er uns aus den Ohren heraushing. So was vergisst du nie wieder. Wir wurden richtig geschockt und abgeschreckt; Das kannst du mir glauben. Die meisten Drogen wirken ausschließlich auf einen einzigen spezifischen Rezeptor. Der Hauptbestandteil von Alkohol, Ethanol greift hingegen nahezu den gesamten Organismus an. So beeinflusst Ethanol die Regulationssysteme der Transmitter Acetylcholin, Dopamin, Glutamat, und vor allem von GABA. Im nüchternen Gehirn wirkt GABA hemmend auf die Aktivität der Neuronen. Ethanol verstärkt diesen hemmenden Effekt, indem es an die GABA Rezeptoren anbindet. Das Gehirn funktioniert langsamer. Daher kommt die entspannende Wirkung von Alkohol. Aber eben auch die Müdigkeit, und die verzögerten Reflexe, auf die gut ein Drittel aller tödlichen Verkehrunfälle zurückzuführen sind.“

 „Dann müsste man doch generell verbieten, dass sich jemand nach Alkoholkonsum ans Steuer setzt“, wirft Dario ein. Es kann doch nicht gestattet werden, wenn man gewisse Promillegrenzen einhält, oder?“ - „Das sehe ich auch so“, sagt Lucky, „entweder trinken oder fahren, beides geht meiner Meinung nach nicht. Und eines steht fest: Der wiederholte Konsum von Alkohol wirkt suchterzeugend. Denn unser Organismus gehorcht einer sehr einfachen Philosophie, der Homöostase. Das ist ein kompliziert klingender Begriff, der aber einen simplen Sachverhalt beschreibt, das Gleichgewicht der Körperfunktionen. Es gibt nichts Konservativeres als das Gehirn und die Organe. Sobald in den fein abgestimmten Mechanismus eingegriffen wird, versucht unser Gehirn systematisch, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Was unternimmt der Organismus gegen den Hemmer, wenn Alkohol GABA stimuliert? Der Organismus desensibilisiert also die GABA-Rezeptoren. Die Zahl der GABA-Rezeptoren wird reduziert, und damit auch die Möglichkeit, hemmend einzugreifen. Durch diese ständige Anpassung wird der Alkoholismus in den Nervenzellen verankert. Das Gehirn ist gezwungen, ein neues Gleichgewicht zu finden. Dies ist so empfindlich, dass es zusammenbricht, sobald der Alkoholiker mit dem Trinken aufhört. Ein Phänomen, das sich in Entzugserscheinungen äußert. Morgens treten typische Symptome auf: Nervosität, zitternde Hände und Füße sowie Verwirrung, Angst, Benommenheit und Schweißausbrüche. Werden diese Symptome nicht behandelt, im Normalfall macht dies der Alkoholiker, indem er erneut Alkohol zu sich nimmt, wachsen sie sich im Laufe des Tages, manchmal schon am späten Vormittag, zu handfesten Entzugserscheinungen aus. Der Alkoholkranke zittert am ganzen Leib. Auf psychischer Ebene weicht der Dämmerzustand einer echten Verwirrung mit deliriösen Elementen, gekoppelt an eine Wahrnehmungsstörung. Sie bewirkt, dass der Süchtige in seinem Gesichtsfeld Objekte wahrnimmt, aus denen er ein Bild konstruiert, das nicht immer der Wirklichkeit entspricht.“

 „Das macht einem ja echt Angst“, Dario ist tief im Innersten erschüttert. „So etwas habe ich zwar schon in Filmen gesehen oder aus Büchern erfahren, aber so eindringlich ist mir das noch nie geschildert worden. Es ist doch wohl nicht übertrieben?“

 „Sprecht ihr über mich?“ Plötzlich steht Brigitte Horming, ihre Mitschülerin vor ihnen. Sie hatten im Eifer ihres Gesprächs gar nicht mitbekommen, dass sie sich ihnen genähert hat. - „Wir unterhalten uns über Alkoholsucht“, Lucky fühlt sich erwischt und unsicher. „Dario wollte eigentlich etwas über Drogensucht wissen, über Hasch und so.“

 „Das habe ich gehört, als ich bei euch gestanden habe, ohne dass ihr es bemerkt habt“, erklärt Brigitte. „Aber ihr wisst doch sicher, dass meine Mutter Alkoholikerin ist, oder?“ - „Komm setz dich doch zu uns, “ fordert Dario Brigitte auf, „wenn du möchtest, kannst du uns etwas von deinen Problemen berichten. Vielleicht tut es dir gut, deine Seele zu erleichtern. Wir sind sehr interessiert, etwas aus erster Hand zu erfahren wie es ist, wenn man mit jemand zusammenlebt, der alkoholabhängig ist. Was hast du denn gemacht, als deine Mutter getrunken hat?“

 „Das kann ich euch sagen“, willigt Brigitte ein, „Wenn meine Mama geschlafen hat, bin ich in die Küche gegangen und habe in den Schränken nach Flaschen gesucht. Die Flaschen, die ich fand, habe ich ausgekippt und mit Wasser gefüllt oder nur weggeworfen. Meine Mutter hat mich nie darauf angesprochen, aber sie hat sich immer wieder neue Verstecke ausgedacht. Zwischen der Wäsche, in großen Blumenvasen oder im Schirmständer, überall habe ich Alkohol gefunden.“

 „Hat es dich denn nicht auch aus der Bahn geworfen?“ fragt Lucky. „Unter solchen Umständen kann man doch kein normales Leben führen, denke ich.“ - „Aber Lucky“, resigniert Brigitte, „du weißt doch, dass ich, genau wie du, vor fünf Jahren im Heim untergebracht wurde. Und daran war ausschließlich die Alkoholsucht meiner Mutter schuld. Mir hat eine feste Hand gefehlt, die mich durch alle Lebenslagen geführt hätte. Mama ist ja allein erziehend, wie du weißt. Aber ich habe mich vernünftig verhalten, weil ich unbedingt wieder zurück wollte. Widerstrebend habe ich auch akzeptiert, wieder regelmäßig in den Unterricht zu gehen. Meine Mutter hat einen Therapieplatz in einer Tagesstätte. Aber wenn sie getrunken hat, geht sie da nicht hin. Sie war gerade erst zur Entgiftung im Krankenhaus, und ist schon wieder rückfällig geworden. Dabei sagt sie auch noch, dass ich Schuld daran hätte, weil ich am Samstagabend nicht nach Hause gekommen bin. In Wirklichkeit hat Mama schon am Freitag Alkohol zu sich genommen. Ich finde es schlimm, dass sie behauptet, ich sei der Grund, was soll es denn sonst sein? Und wenn meine Mutter Alkohol getrunken hat, sucht sie auch ziemlich schnell Streit. Sie kommt dann zu mir ins Zimmer und meckert gleich an irgendwelchen Sachen rum, was sie sonst gar nicht machen würde. Dann merke ich sofort, aha, sie sucht Streit, also hat sie wieder getrunken. Also, da kommt der Alkohol immer wieder ins Spiel. Ich sage dann: Ich habe keinen Bock mit dir zu reden, wenn du getrunken hast. Werde erst mal wieder nüchtern, dann können wir uns vernünftig unterhalten. Früher hätte ich mich das gar nicht getraut, aber es ist ja die Wahrheit.“

 „Hilfst du deiner Mutter denn nicht, zumindest bei der Hausarbeit?“ fragt Dario, der ja seine Aufgaben und die seines Bruders kennt. - „Ich mache alles, was ich kann“, verteidigt sich Brigitte gekränkt. In den letzten Jahren hat meine Mutter so viel getrunken, dass ich ihre Aufgaben übernehmen musste. Für mich ist es ganz normal, die Wohnung zu putzen und zu kochen. Im Heim hat man uns auch beigebracht, Ordnung zu halten. Du wirst es nicht glauben, aber es macht mit sogar Spaß.“

 „Nervt dich das denn nicht?“ fragt Dario. Du musst doch auch noch deine Hausaufgaben machen, und mit Freunden zusammen etwas unternehmen, oder?“ - „Etwas schon, wenn meine Freundinnen ausgehen, und ich muss dann saubermachen und mich um Mama kümmern“, bedauert Brigitte ihre Pflichten. „Es ist schwierig, den anderen gegenüber die Alkoholabhängigkeit meiner Mutter zu vertuschen. Ich sage immer, dass sie sehr krank ist. Und das ist sie im Grunde ja auch. Sonst geht es mir ja eigentlich noch gut. Andere Kinder müssen zuhause andauernd mit dem Gedanken leben, wenn mein Vater wieder nach Hause kommt, gibt es wieder eine Tracht Prügel oder so.“

 „Wie lange trinkt deine Mutter denn schon?“ fragt Lucky, und wodurch ist sie süchtig geworden?“ - „Meine Mutter hat in der Jugend bereits Alkohol zu sich genommen“, erzählt Brigitte bereitwillig. Als Tochter eines Alkoholikers fand sie das als normal. Sie hat in einer Konditorei gelernt und gearbeitet, in der im Kollegenkreis oft gefeiert worden ist. Mittlerweile hat sie schon viele Langzeit-Therapien hinter sich, alle ohne Erfolg. Die kurzzeitigen Entgiftungen gehören schon zur Routine. Meine Mutter meint, dass sie wegen ihrer Psyche in einer geschlossenen Anstalt war, und dass dies nichts mit ihrer Alkoholabhängigkeit zutun gehabt hätte. Sie hatte völlig durchgedreht, und musste ruhig gestellt werden. In der Trunkenheit hat sie sich selbst am Arm verletzt. Jetzt muss Mama wieder ins Krankenhaus, obwohl sie ja für mich da sein wollte. Ihre Entschuldigung ist immer, dass ich mein Leben nicht allein meistern könnte. Und wieder einmal siegt der Alkohol. Selbst, wenn sie es schafft, ihre Sucht zu überwinden, darf sie danach keinen einzigen Tropfen mehr trinken. – So, ich muss mich beeilen, meine Mutter wartet sicher schon auf mich. Tschüss ihr beiden.“ – „Tschüss Brigitte, mach´ es gut.“ – „Ihr aber auch!“

 „Bevor Brigitte kam, “ erinnert Dario, „hatte ich dich gefragt, ob es nicht übertrieben ist, was man so in Filmen und Büchern über Alkoholiker erfährt?“ „Im Gegenteil“, sagt Lucky, „es ist schlimmer als du denkst. Ein Alkoholiker im Delirium tremens hält einen Schuh für eine Ratte, bis nach und nach immer mehr Ratten in seinem Blickfeld wimmeln, und er Panik bekommt. So, oder so ähnlich läuft das ab. Das Gehirn läuft sozusagen heiß, ein Phänomen, das Krämpfe zufolge haben kann. Es führt in sechs Prozent der Fälle zum Tode durch Übererregung und Austrocknung der Hirnrinde.“ - „Weiß man den inzwischen, wie Sucht entsteht?“ fragt Dario nach. - „Man sagt, über einen noch wenig erforschten Mechanismus löst Alkohol die Freisetzung von Dopamin im Nukleus akkumvens aus. Das ist eine winzige Hirnregion, in der unser Glücksempfinden gesteuert wird. Dieser Prozess wird bei allen Drogen beobachtet. Ihm kommt eine Schlüsselfunktion bei der Entstehung von Sucht zu.“

 „Welche Schäden richtet der Alkohol im Gehirn an?“ erkundigt sich Dario nachdrücklich, „kann man das vorhersagen?“ - „Neuerdings kann man das, “ setzt Lucky seinen Bericht fort, „mit modernen medizinischen Hilfstechniken können Wissenschaftler die Schäden bestimmen, die Alkohol im Gehirn anrichtet. Die Studien über Patienten mit regelmäßigem Alkoholkonsum wurden vor ca. fünfzehn Jahren begonnen. Zunächst wollte man wissen, wie hoch der Energieverbrauch in den verschiedenen Hirnregionen dieser Patienten, gegenüber dem von Nichttrinkern war. Man stellte bei den Testpersonen einen erheblich verminderten Glukose Metabolismus fest. Und Glukose ist der einzige Energielieferant des Gehirns, und zwar in allen vorderen Hirnbereichen. Außerdem fand man heraus, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Energieverbrauch in den vorderen Hirnbereichen und den Test- leistungen der Patienten gab. Je geringer die energetische Aktivität, desto schlechter schnitten die Personen bei Tests in Sachen Informationsselektion, Kurzzeitgedächtnis, Verhaltenskontrolle und Bewegungsausführung ab. In den folgenden Jahren untersuchte man, ob neben diesen funktionalen Veränderungen, auch Veränderungen in der Struktur des Gehirns vorlagen. Die Magnetresonanz, oder Kernspintomographie lieferte ausgezeichnete Bilder von der Form und der Anatomie des menschlichen Gehirns, von der grauen und der weißen Substanz.“

 „Sind das die kleinen grauen Zellen, “ meint Dario, von denen man immer spricht?“ - „Genau“, fährt Lucky fort, „sie tragen ihren Namen nicht von ungefähr. Es handelt sich um eine kompakte Ansammlung von Nervenzellen. Die weißen Substanzen sind die markhaltigen Nervenfasern des Gehirns und des Rückenmarks. Über sie gelangen die Informationen in unser Gehirn. Bei den nächsten Studien nahm man denselben Patiententyp. Das waren Leute, die in einem Suchtzentrum behandelt wurden. Diese Personen konsumierten alle regelmäßig Alkohol, und hielten sich dort zum Entzug auf, zeigten aber keinerlei schwere körperliche Symptome. Die Kernspintomographie und andere Messungen mit Hilfe von Spezialsoftware zur Quantifizierung der grauen und weißen Substanz, wiesen auf einen deutlichen Schwund der grauen Substanz in den vorderen Hirnbereichen hin, im mittleren Frontalbereich also. Das ist zwischen den beiden Großhirnhälften. Die wirklich neue Erkenntnis der letzten Jahre ist, dass, wie moderne Bildanalysetechniken zeigen, auch ein maßvoller Alkoholkonsum Veränderungen, nicht nur in der Funktionsweise, sondern auch in der Struktur, und bis in die kleinsten Verzweigungen des Gehirns hervorrufen. Alkohol, in großen Mengen genossen, ruft eine Rückbildung des Gehirns hervor. Diese schwerwiegende Veränderung kann man bei starken Trinkern schon mit bloßem Auge beobachten. Niemand weiß, ob diese Veränderungen umkehrbar sind. Man kann nur hoffen, dass sich das Gehirn, nach dem Ausstieg aus der Sucht, wieder regeneriert. Die Ergebnisse der Forschung sind erschreckend. Sie beweisen, dass Alkohol noch toxischer ist, als bisher angenommen.“

 „Kennt man denn die Gründe für die unterschiedliche Disposition zur Alkoholsucht?“ fragt Dario interessiert. - „Die ersten Antworten darauf fanden die Experten in der Genetik.“ berichtet Lucky. Die Gründe für eine Alkoholsucht sind vielfältig: Das sind Faktoren wie Familie, kultureller Hintergrund, Bildung, Temperament, Psyche und genetische Anlagen etc. Zusammen bilden diese Faktoren ein komplexes, schwer verständliches Ganzes. Alle Menschen sind gleich. Ihre Gene sind es allerdings nicht. Um die sechs Prozent sind für den Abbau von Alkohol genetisch schlecht gerüstet. Das ist aber eher ein Vor- als ein Nachteil. Das Ethanol, ein Metabolit, sammelt sich rasch im Blut an, und ruft unangenehme Reaktionen im Körper hervor. Der Betroffene läuft rot an oder er wird leichenblass. Er leidet unter Übelkeit, und manchmal an Erbrechen. Der kleinste Tropfen Alkohol wirkt verheerend. Wenn in Europa ca. 6 Prozent diese genetische Disposition aufweisen, sind es in Korea und Japan mehr als 40 Prozent. Die Tatsache, dass es dort eine so hohe Unverträglichkeit von Alkohol gibt, verringert natürlich das Risiko der Alkoholabhängigkeit. Somit bewahrt das Gen, das für diese Unverträglichkeit verantwortlich ist, den Träger davor, Alkoholiker zu werden. Umgekehrt wird das Suchtrisiko derjenigen unter uns, die Alkohol gut vertragen, leicht unterschätzt.“

 „Und wie will man dem begegnen?“ Dario weiß ja, dass immer jüngere Kinder Alkohol trinken, sich sinnlos besaufen und abhängig werden. - „Du wirst dich wundern.“ meint Lucky. „Der allgemeine Trend geht zu einer Reduzierung des Alkoholkonsums. Jugendliche allerdings, vor allem junge Frauen, trinken immer öfter und immer früher. Viele bereits in einem Alter, in dem das Suchtrisiko besonders hoch ist. Wenn sich jemand nach vier bis fünf Gläsern Bier noch gut unter Kontrolle hat, wenn er keine motorischen Aussetzer zeigt, wenn jemand nicht so besoffen wirkt, wie andere, die genau soviel getrunken haben, kann er stolz von sich behaupten, dass er einiges verträgt. Dabei gehört gerade er zur Risikogruppe. Die genetischen Faktoren sind überwiegend verantwortlich für die Alkoholsucht. Doch Genetiker bezweifeln, dass es >das Alkohol-Gen< gibt. Mittlerweile wurden bereits mehrere Gene als Schuldige identifiziert. Darunter jenes, das für die Produktion der G2-Rezeptoren zuständig ist, die zu den Dopamin-Rezeptoren zählen. Jeder Mensch trägt dieses Gen auf seinen Chromosomen. Allerdings kann es in unterschiedlichen Ausprägungen auftreten, den so genannten Allele. Bei der Mehrheit der Alkoholiker ist dieses Allel einwenig länger als normal. Diese Besonderheit wirkt sich offenbar störend auf die Produktion der G2-Rezeptoren aus. Auch bei Kokain- und Heroinsüchtigen tritt diese Anomalie auf. Doch es gehören auf jeden Fall auch andere Einflüsse hinzu, dass man Alkoholabhängig wird. Aber eine Suchtneigung muss nicht zwangsläufig zur Sucht führen. Tabak und Alkohol sind die meist konsumierten und die gesundheitsschädlichsten Drogen der Welt. Die Gefahren, die von ihnen ausgehen, wurden lange Zeit kollektiv verharmlost. Heute hat man sie als das erkannt, was sie sind: Echte Drogen!“

 „Du sagst Alkohol und Tabak?“ fragt Dario nachdrücklich. „Ist denn Tabak genauso schlimm wie Alkohol?“ - „Ja, das ist so. Im Entzug hat man uns erklärt, dass der Mensch seit jeher alle erdenklichen Drogen konsumiert, sei es als Heil- oder als Genussmittel. Ob Alkohol, Kokain oder Morphium, jede Droge entfaltet ihre Wirkung im Gehirn. Und Tabak gehört ebenfalls dazu. In der Karibik und in Mittelarmerika wurde Tabak schon seit langer Zeit zu medizinischen und rituellen Zwecken genutzt. Bereits im 15. Jahrhundert entdeckten die Konquistadoren diese Pflanze für sich. Der Franzose Jean Nico führte das Wunderkraut in Europa ein. Von dort aus setzte das Genussmittel seinen Siegeszug fort. Und schon bald wurde Tabak rund um den Globus geraucht, geschnupft oder gekaut.“

 „Das ist ja wieder höchst wissenschaftlich“, meint Dario. Erfahre ich denn nicht auch etwas über die Wirkung und Auswirkung des Genuss´ von Zigaretten und so?“ - „Interessiert dich denn nicht, wie das alles entstanden ist?“ fragt Lucky. „Mich hat das alles gefesselt, als man es uns in der Anstalt veranschaulicht hat. Ich wusste damals nicht, dass es über eine Milliarde Raucher gibt, weltweit. Die Zahl ist siebenmal so groß wie die von Konsumenten illegaler Drogen.“ - „Doch, das interessiert mich schon“, sagt Dario. „Es ist mir nur so vorgekommen und herausgerutscht. Wie wirkt sich denn Rauchen auf den Menschen aus?“

 „Der Rauch einer Zigarette steigert die Konzentrationsfähigkeit, macht wach und schärft das Gedächtnis“, weiß Lucky aus seinem Entzug zu berichten. - „Aber das ist doch sehr gut“, meint Dario. „Das ist doch genau das, was uns manchmal in der Schule fehlt, um bei dem Stress mitzuhalten.“

 „Das sieht auf den ersten Blick so aus“, erklärt Lucky. „Mehr als das hat unser Bewusstsein jedoch davon nicht zu erwarten. Die euphorisierende Wirkung von Tabak ist also weitaus schwächer als die von Morphin oder Psycho-stimulantia. Doch das macht scheinbar gerade den Reiz aus, Tabak zu konsumieren. Tabak ist eine Droge, die man jeden Tag genießen kann, ohne dass dadurch das Wohlbefinden oder die normale soziale Aktivität des Rauchers beeinträchtigt wird.“

 „Welche Stoffe im Tabak rufen denn diese Wirkung hervor?“ wirft Dario ein. - „Lange Zeit ging man davon aus, die Tabaksucht sei auf eine stimulierende Substanz namens Nikotin zurückzuführen. Doch hierbei stießen die Wissenschaftler auf einen Widerspruch. Sämtliche Drogen, die beim Menschen suchterzeugend wirken, wie die Amphetamine, Heroin, Morphin oder Kokain zeigen die gleiche Wirkung auch bei Tieren. Lediglich das Nikotin bildet da eine Ausnahme. Verabreicht man Tieren Nikotin, ist das Interesse gleich Null.“

 „Warum macht man das denn überhaupt?“ staunt Dario. - „Ohne Ratten und Mäuse wäre die Wirkung von Drogen bis heute weitgehend unerforscht, hat man uns gesagt. Viele ihrer Gene sind mit denen des Menschen identisch. Und Drogen rufen bei ihnen die gleichen, verheerenden Reaktionen hervor. Die Menschheit hat also diesen kleinen Tieren viel zu verdanken. Es ist zwar grausam, aber Ratten kann man Drogen verabreichen, ihre Gene verändern oder sie sezieren. Das ist der traurige, jedoch notwendige Alltag in den Labors. Dort werden unter Drogen gesetzte oder genmanipulierte Ratten mit normalen Artgenossen verglichen. Bei Nikotin funktioniert das nicht so, weil Nikotin eine untypische Droge ist. Es hat ein enorm großes Suchtpotential, besitzt aber keine starken Psychotropen-Eigenschaften. Im Gegensatz zu Alkohol, Kokain oder Heroin, wirkt Nikotin nicht Bewusstseinsverändernd. Ich habe ja schon gesagt, die Tatsache, dass man raucht erhöht die Konzentrationsfähigkeit, das Denkvermögen und den Grad der Aufmerksamkeit. Das sind ja die anregenden Eigenschaften des Tabaks. Aber daneben gibt es auch die beruhigenden Eigenschaften, in dem Sinne, dass das Rauchen, als subjektive Erfahrung des Rauchers, den Stress reduziert. Darum rauchen viele Leute gerade in Stresssituationen. Das sind die beiden Aspekte der Wirkung von Nikotin, die sich gegenseitig nicht ausschließen. So etwas gilt auch für viele andere Substanzen, die von Menschen verkonsumiert werden. Du weißt ja von vorhin, dass Alkohol eine stimulierende und auch eine beruhigende Wirkung haben kann.“

 „Komm, hör´ auf mit Alkohol“, Dario ist noch immer geschockt von dem, was Brigitte und Lucky berichtet haben. „Aber das mit den Zigaretten finde ich bisher doch eher als harmlos, oder nicht?“ - „Du wirst dich noch wundern“, meint Lucky. „Um zu wirken, okkupiert das Nikotin, ebenso wie die anderen Drogen, das Kommunikationssystem innerhalb des Gehirns. Wusstest du das schon, dass unser Gehirn hauptsächlich damit beschäftigt ist, mit sich selbst zu kommunizieren?“ - „Nein, davon habe ich noch nie etwas gehört“, sagt Dario. „Wie geht das denn?“

 „Damit das funktionieren kann, befinden sich hundert Milliarden Nervenzellen in einem permanenten Dialog, bei dem sie chemische Botenstoffe aussenden, die Neurotransmitter. Diese Boten regulieren u.a. unser Schmerz- und Glücksempfinden, Motivation und Erinnerung. Das ist ein hochkomplexes Gleichgewicht, von dem alle Funktionen unseres Körpers abhängen. In dem engen Spalt zwischen zwei Nervenzellen kommen unsere Boten zum Einsatz. An den Synapsen binden sich die Neurotransmitter an ihre entsprechenden Rezeptoren, um Informationen von einer Nervenzelle an die andere weiter zu geben. Nikotin beeinflusst vor allem das Gedächtnis und das Konzen-trationsvermögen, indem es genau in das System eingreift, das für diese Gehirnfunktionen verantwortlich ist. Die Rede ist von Acetylcholinsystem, dessen Rezeptoren auch als Nikotin-Rezeptoren bezeichnet werden. Doch Nikotin wirkt weitaus stärker als Acetylcholin. Es löst die Freisetzung eines weiteren Neurotransmitters aus, des Dopamins. Eine erhöhte Ausschüttung dieses Botenstoffs erzeugt den typischen Drogenkick.

 „Dann geht es also doch nur um Nikotin?“ fragt Dario irritiert. - „Nein, nicht nur“, erklärt Lucky. „Seit einigen Jahren weiß man, dass Nikotin nicht der alleinige Schuldige ist. Die Suchtforscher haben einige Helfer und Helfershelfer ermittelt. Im Labor will man beweisen, dass im Tabak noch andere Substanzen vorhanden sind, die die sucht-erzeugende Wirkung von Nikotin unterstützen. Substanzen, so wird vermutet, die unmittelbar auf das Glückshormon Dopamin wirken. Sobald dieses seine Arbeit getan hat, wird es wieder in die Nervenzelle aufgenommen. Gleichzeitig kommt ein Enzym zum Einsatz, dessen Aufgabe es ist, das Dopamin abzubauen, die Monoaminooxydase oder MAO. Beim Rauchen einer Zigarette gelangt nun ein Stoff in unseren Organismus, der das MAO-Enzym daran hindert, Dopamin abzubauen. Dieser Stoff hemmt die Monoaminooxydase. Die Folge ist, dass das Dopamin seine Rezeptoren länger als sonst stimuliert, und so das Glückgefühl verstärkt. Dieser Mechanismus wirkt antidepressiv. Im Tabakrauch existieren nachweislich bis zu 4000 chemische Verbindungen. Einige davon beeinflussen das Suchtpotential, andere, ca. 60, sind toxisch und krebserregend.“

 „Dann ist ja Rauchen doch alles andere als harmlos“, denkt Dario laut nach. - „Genau“, stimmt Lucky zu. „Rauchen tötet, und wir kennen die Gründe dafür. Krebs, Herz- und Gefäßerkrankungen entstehen durch starken Tabakgenuss. Heute sterben jährlich fast fünf Millionen Raucher weltweit an den Folgen ihrer Sucht. Obwohl das bekannt und bewusst ist, produziert die Tabakindustrie jedes Jahr 5 ½ Billiarden Zigaretten. Durch Schockkampagnen, Rauchverbote und Preiserhöhungen wurde der Tabakkonsum in den westlichen Ländern reduziert. Doch die großen Tabak-Konzerne brauchen sich keine Sorgen zu machen. In den armen Ländern ist jeder zweite Einwohner ein guter Kunde, obwohl man vermutet, dass Nikotin noch größere Schäden anrichtet, als bislang angenommen wurde.“

 „Dann sollte man doch schleunigst dafür sorgen, dass die Leute das Rauchen sein lassen.“ Dario ist entsetzt. „Was passiert denn eigentlich, wenn man plötzlich nicht mehr raucht?“ - „Wenn jemand mit dem Rauchen aufhört, sind die deutlichsten Entzugserscheinungen Gedächtnisstörungen, gravierende kognitive Störungen“, erklärt Lucky.

 „Wie kann es dazu eigentlich kommen?“ fragt Dario weiter nach. - „Man hat uns erklärt“, berichtet Lucky, „dass es zwei Hirnregionen gibt, in denen besonders viele Neuronen nachwachsen. Eine davon ist der Hippocampus, der für die Gedächtnis-Konsolidierung von entscheidender Bedeutung ist. Von Wissenschaftlern wurde untersucht, welche Auswirkungen Nikotin auf die neuen, unreifen Neuronen hat, auf Baby-Neuronen, die an bestimmten kognitiven Prozessen im Gehirn beteiligt sind. Man stellte fest, das Nikotin weitreichende und negative Auswirkungen auf diese Nervenzellen hat. Die neuronale Produktion geht um die Hälfte zurück. Nikotin tötet also die regenerierten Nervenzellen ab, und reduziert die Produktion von Neuronen in dieser Hirnregion um etwa fünfzig Prozent. Es steht nicht fest, ob diese Schäden je wieder gut zu machen sind. Nikotin beeinflusst also in erster Linie unser Gedächtnis.“

 „Ist das in etwa so wie bei Demenz oder Alzheimer?“ vermutet Dario. - „Nicht genauso, aber ähnlich“, meint Lucky. „Früher bezeichnete man die Alzheimer-Krankheit als Degeneration der Nervenzellen. In unserem Gehirn haben die Nervenzellen die höchst wichtige Aufgabe, die Synthese der Neurotransmitter in den verschieden Hirnregionen sicher zu stellen. Und genau diese Nervenzellen degenerieren und sterben ab. Mit dem Absterben der Nervenzellen beginnt Alzheimer. Diese Krankheit verursacht schwere Störungen im Gedächtnis und dem Urteilsvermögen. Weltweit sind ca. fünfzehn Millionen Menschen davon betroffen. Es war ein großer Schritt, als entdeckt wurde, dass die Neuronen im Hippocampus als erste in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn diese Region ist so etwas wie die Festplatte unseres Gedächtnisses. Dort werden alle Informationen und Erinnerungen gespeichert. Hat der Hippocampus seine Arbeit getan, wird unser Langzeitgedächtnis wie in einer Bibliothek auf bestimmte Bereiche der Hirnrinde verteilt. Bei Alzheimer-Patienten sterben genau die Nervenzellen ab, die beim gesunden Menschen, bildlich gesprochen, den Bibliothekar unserer Erinnerungen hervorbringen, das Acetylcholin. Dieser Neurotransmitter belegt die Nikotin-Rezeptoren, die für unsere Gedächtnisprozesse und die Fähigkeit unsere Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten von Bedeutung sind. Wenn man fernsieht oder sich mit jemandem unterhält, muss man zuhören, dem anderen folgen. Das nennt man Aufmerksamkeit, die aber von der guten Funktion der Nikotin-Rezeptoren aufs stärkste beeinflusst wird. Man sagt nicht nur, dass man die Funktion des Gedächtnisses und unserer Aufmerksamkeit verbessern wird, indem man diese Nikotin-Rezeptoren stimuliert. Gleichzeitig wird man vielleicht, was am Menschen noch bewiesen werden muss, den tödlichen Verlauf eines Hauptfeindes der Menschheit, der Alzheimer-Erkrankung verlangsamen oder sogar zum Stillstand bringen können. Da Nikotin an genau dieselben Rezeptoren bindet, hat sich die Pharmazie bei der Entwicklung erster Medikamente gegen Alzheimer an der Wirkungsweise von Zigaretten orientiert. Die Medikamente verzögern den Krankheitsverlauf, indem sie die Nikotin-Rezeptoren ansprechen.“

 „Wie kommt es“, fragt Dario, dass man durch die Stimulierung eines Rezeptors Einfluss nehmen kann auf das Überleben oder Absterben von Zellen, oder auf die Giftigkeit mancher Substanzen?“ - „Ich habe dir doch erklärt“, erinnert Lucky, „wegen des Mangels an Acetylcholin ist die Lern- und Gedächtnisleistung im Gehirn blockiert. Durch die medikamentöse Stimulierung der Nikotin-Rezeptoren wird dieser Mangel ausgeglichen, weil diese Rezeptoren die Gedächtnis- und Lernfunktion ankurbeln.“ - „Ja, aber warum verschreibt man dann den Alzheimer-Patienten nicht das Rauchen?“

 „Tatsächlich war man lange Zeit davon überzeugt, dass Tabak-Konsum vor Alzheimer schützt. Doch heute findet diese Hypothese von der Schutzfunktion des Tabaks keine Anhänger mehr. Mittlerweile weiß man ja, dass der Tabak auch ein Traktor für die Verschlechterung der intellektuellen Leistung sein kann. Allerdings keineswegs wegen seiner Wirkung auf die Nikotin-Rezeptoren, die aller Wahrscheinlichkeit nach positiv ist. Aber der Tabak verschlechtert ja die Gefäß-Versorgung, und ist daher als Risikofaktor für die Alzheimerkrankheit zu sehen. Also, Schwächung der Blutgefäße des Gehirns, Abhängigkeit, toxische Komponenten, Verschlechterung der Neuronen zeigen, dass der Tabak nicht gerade der beste Freund des Gehirns ist. Und es wäre ja schrecklich, wenn man Tabak auf Rezept erhalten könnte wie ein Medikament.“

 „Aber bei Drogensucht werden doch auch Mittel an Süchtige kostenfrei abgegeben?“ meint Dario. - „Lieber Dario, das ist ein ganz anderes Thema. Darüber wollte ich doch noch nicht sprechen, wie du weißt. Und wir haben uns hier ganz schön verquatscht. Ich muss jetzt dringend heimgehen, sonst vermutet meine Mutter wieder Gott weiß was. Aber es war schön, dass wir mal Zeit hatten, so ausführlich zu reden. Also, tschüss Dario, bis morgen in der Schule.“

 „Du hast Recht, ich muss auch nach Hause, so schnell es nur geht. Und danke für die Aufklärung. So habe ich das bisher nicht gewusst und gesehen. Aber über die Drogen musst du mir später noch einiges sagen. Tschüss Lucky, mach´ es gut . . .“

 „Nochmals, tschüss Dario – wir reden noch mal darüber, das verspreche ich dir . . .“

 

Jede Familie lebt anders

 

Am Wochenende sind Udo und Dario bei ihrem Papa. Ihre Mama ist mit den Freundinnen aus dem Kegelklub auf Kegeltour. Vater Daniel und seine Söhne haben sich für die drei Tage viel vorgenommen. Sie wollen Schwimmen und Radeln. Unterwegs wollen sie ein großes Picknick machen, und Fußball spielen, und sich so richtig austoben. Gegen die Kegeltour ihrer Mama haben die Jungen nichts einzuwenden. Nur Silvio hat ihr mal wieder Theater gemacht, wie immer, wenn Eva nicht zu seiner Verfügung steht, so wie er es will. Das haben die Jungen am Telefon mitgekriegt. Silvio hat in voller Lautstärke in den Apparat geschrieen, und Eva war auch nicht viel leiser. Ihrem Papa haben sie davon nichts erzählt. Sie wollen sich ja nicht das Wochenende verderben. Und ihre Mama weiß schließlich, was sie tut.

 „Die nächste Zeit wird wieder von Auseinandersetzungen mit Silvio geprägt sein“, vertraut Eva auf der Fahrt im Bahnabteil ihrer besten Freundin Lena an. „Er wollte unbedingt verhindern, dass ich mit euch auf die Kegeltour gehe. Ihm fiel immer wieder etwas ein, was er vorschieben konnte, um mir die Entscheidung zu erschweren. Er hatte Theater-Karten, eine Restaurant-Reservierung und ein Wellness-Paket gebucht. Alles Sachen, die er sonst nie mit mir macht.“ - „Dann mach´ doch endlich Schluss mit ihm“, rät ihr Lena. „Der Silvio ist Gift für dich. Er hat dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Du wirst von ihm doch nur ausgenutzt. Ich höre von dir ja dauernd, dass du ihn mal wieder hierhin oder dorthin gefahren hast. Vielleicht sogar zu einer Freundin?“

 „Das glaube ich nicht“, Eva ist entsetzt über das, was ihr Lena so knallhart ins Gewissen geredet hat. „Ich habe zwar schon ein paar Mal ein anderes Parfum an ihm gewittert, aber er hatte immer eine gute Ausrede parat. In Italien würde man sich spontan umarmen, wenn man Abschied nimmt oder so. Und ich komme einfach nicht von ihm los, warum auch immer?“ - „Da spielen sicher die Hormone verrückt, denke ich“, lenkt Lena ein. Mir ist das auch schon passiert. Man muss dagegen ankämpfen, und nicht auf die Gefühle, sondern auf die Vernunft hören. Du bist doch sonst sehr realistisch, oder?“ - „Das weißt du doch“, „beruflich stimmt das bei mir auf jeden Fall. Ich wusste bisher nicht, dass dir so etwas auch mal passiert ist. Wie war das denn bei euch?“

 „Dirk und ich sind dieses Jahr schon zwanzig Jahre verheiratet. Unsere Beziehung wurde immer problematischer. Doch das haben wir nicht nach außen dringen lassen.“ - „Ich habe nichts davon mitbekommen“, Eva ist bestürzt, dass ihre beste Freundin sie nicht informiert hatte. Wie hat sich das denn ergeben, und was hast du unternommen?“ - „Als unsere Ehe nicht mehr funktioniert hat, habe ich die Trennung von Dirk in Erwägung gezogen. Aber ich liebe Dirk ja noch. Er bedeutet mir sehr viel, so liebevoll und hilfsbereit wie er ist. Unsere Harmonie ist noch vorhanden gewesen, aber leider nur unterschwellig. Nach den langen Ehejahren war unsere Beziehung völlig eingefahren. Der Trott des Alltags hatte die Liebe verdrängt.“ - „Inwiefern?“ fragt Eva hilflos.

 „Nun, Entfremdung und Distanz nahmen zu. Jeder besann sich nur auf sich. Wir waren nicht mehr im Einklang, und gingen uns teilweise regelrecht aus dem Weg, im Alltag und auch im Bett. Wir schliefen getrennt und jeder hat für sich allein gefrühstückt. Die Situation war fast unerträglich, und wir standen kurz vor der Scheidung.“ - „Das ist ja furchtbar für dich gewesen“, bedauert Eva ihre Freundin. „Hast du dich denn nicht auch etwas mit schuldig gefühlt?“

 „Ja doch, ein Vertrauensbruch wirkt bis heute noch nach.“ erklärt Lena. „Mir fehlte damals ein Ansprechpartner, dem ich etwas anvertrauen konnte, und mit dem ich durch dick und dünn gehen konnte. Ich fühlte mich allein gelassen.“ - „Warum hast du denn nicht einmal mit mir geredet, so wie wir es früher gehalten haben?“ - „Zum einem habe ich mich geschämt, weil du unsere Ehe als ideal gesehen hast. Außerdem warst du ja selbst mit deiner Scheidung von Daniel im Dauerstress. Darum habe ich alles meinem Tagebuch anvertraut, meine ganzen Gedanken. Auf meiner Arbeitsstelle habe ich dann einen Kollegen gehabt, mit dem ich darüber sprechen konnte. Aber das ist dann bald zu viel geworden.“

 „Zuerst hast du es ins Tagebuch geschrieben?“ fragt Eva nach, „hat Dirk das denn nicht mitgekriegt, oder vielleicht sogar gelesen?“ - „Du weißt doch, wer in einer engen Partnerschaft lebt, kann sich auf Dauer nicht verstecken. Als ich es Dirk gebeichtet hatte, habe ich mich auf seinen Schoß gesetzt, damit er nur ja nicht weglaufen konnte und sich alles anhören musste.“ - „Wie hat er denn darauf reagiert?“

 „Ich hatte das Gefühl, dass für ihn nur zwei Sachen infrage kamen: Entweder ich verzeihe ihr, oder ich haue ab. Später hat er mir gesagt, dass für das eine Mal seine Liebe groß genug war, um mir zu verzeihen. Aber er wüsste nicht, ob es ihm auch ein zweites Mal gelingen würde, sich zu überwinden.“ - „Dann ist ja wieder alles im Lot, oder?“

 „Aber nein“, bedauert Lena, „damit, dass der Seitensprung verziehen wurde, waren unsere Probleme noch lange nicht überwunden. Danach hatte sich wieder Distanz eingeschlichen, und wir hatten finanzielle Sorgen. Seit ich meine Stelle in der Drogerie verloren hatte, lebten wir von Dirks Gehalt. Wir mussten mit jedem Euro rechnen. Dirk verdient ja nicht schlecht. Aber wir müssen ja noch den Kredit aufs Haus abbezahlen, zusätzlich zu den laufenden Kosten. Darum kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Unsere Meinungen gehen dabei weit auseinander. Ich gebe das Geld, das ich habe, gern aus. Doch Dirk ist der Ansicht, dass wir auch etwas sparen und zurücklegen müssten. Er ist sehr auf Sicherheit bedacht, und hat für meine lockere Art mit Geld umzugehen kein Verständnis.“

 „Aber du bist doch jetzt selbständig“, wirft Eva ein. - „Aber ja“, strahlt Lena, „ich habe jetzt, wie du weißt, einen Ausweg aus der Dauerkrise gefunden. Ich habe mich mit einem Kerzen-Stand selbständig gemacht. Mit dem zusätzlichen Einkommen können wir gut und gern unseren finanziellen Engpass überwinden. Obwohl der Start nicht leicht war, kann ich Dirk jetzt beweisen, dass ich zum Haushalt beitragen kann. Ich fühle mich auch wieder unabhängiger und weniger bevormundet.“

 „Macht Dirk denn mit?“ - „Dirk unterstützt mich so gut er kann. Mit meinem ersten Stand auf dem Markt hatte ich gleich großen Erfolg. Der Umsatz war überraschend gut, und die Kasse hat gestimmt. Es kamen sogar eine Menge Vorbestellung, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte. Unser Haus ist zu einem Laden geworden. Darüber ist Dirk nicht einmal unglücklich. Ich habe mich zwar überall ausgebreitet, aber es sieht sogar dekorativ aus. Seit ich Kerzen und Gestecke zum Teil selbst herstelle und verkaufe, führen wir ein ganz neues Leben. Vieles machen wir gemeinsam, wobei wir uns ständig unterhalten und gegenseitig anregen. Dirk hat mitgeholfen, über die Hälfte der Wohnfläche in Lager- und Verkaufsflächen umzugestalten.“

 „Hat ihn das denn nicht gestört? Er ist doch eigentlich ein ruhiger Typ, der sich gern in sein Reich zurückzieht?“ - „Zuerst gab es ja auch Ärger, weil ja nicht mehr viel Platz für Dirk übrig bleibt. Doch wir haben das Herrenzimmer als Rückzugsraum für ihn reserviert. Hier kann er Lesen, Fernsehen und am Computer arbeiten, wenn Kunden kommen.“ - „Dann sitzt er doch immer nur allein herum, oder?“ - „Aber nein! Gegen 19.00 Uhr sitzen wir gemeinsam am Esstisch, und verbringen danach den Abend fast immer zusammen.“

 „Das ist gut. Mir fehlen, ehrlich gesagt, die Abende mit Daniel. Mit Silvio kann man so etwas nicht machen. Der ist immer unentschlossen. Er hat Angst, ihm könnte etwas entgehen. Für ruhige Abende hat er überhaupt keinen Sinn. Man weiß nie, wo man bei ihm dran ist.“

 „Bei uns ist das total anders. Freitags bringt Dirk als Zeichen seiner Liebe seit Jahren nach Feierabend eine Rose für mich mit. Nach allem was wir durchgemacht haben, habe ich das feste Gefühl, wir gehören zusammen. Dirk meinte mal, wenn jemand sagt, ich liebe dich wie am ersten Tag, dann ist da irgendetwas falsch gelaufen. Das ist nicht normal. Eine Liebe entwickelt sich weiter. Nach zwanzig Jahren hat man nicht mehr diese Schmetterlinge im Bauch. Das ist eine andere Liebe, ein anderes Gefühl, ein Vertrautsein miteinander. Das hat man nicht, wenn man die Schmetterlinge im Bauch hat. Und um dem Ehe-Alltag zu entfliehen, verführt Dirk mich ab und zu, einfach mal etwas Verrücktes zu machen.“ - „Interessant! Erzähl´ mal, was ihr so alles anstellt.“ Eva ist echt neugierig geworden.

 „Später mal“, zögert Lena. „Da kommt Doro. Die ist auch noch dabei ihr Leben mit Siggi zu gestalten. Vielleicht können wir ja etwas von ihr lernen, wie wir es für uns besser oder anders machen können.“

 „Hallo ihr beiden“, begrüßt Doro ihre Freundinnen, „wie geht es euch?“ - „Eigentlich ganz gut“, antwortet Lena, „wo wir jetzt endlich einmal ausspannen können. Wir haben uns einmal alles von der Seele geredet.“ - „Das würde ich auch mal gerne tun“, meint Doro, „wir haben in unserer Beziehung immer noch nicht alles so, wie es sein könnte.“

 „Dann setze dich doch zu uns“, deutet Eva auf den freien Sessel neben ihr, „wir sind echt neugierig, wie es heute in einer jungen Ehe zugeht. Ihr seid ja erst Anfang Dreißig, Siggi und du. Da sieht die Welt noch anders aus als nach zwanzig Ehejahren oder einer Trennung wie bei uns. Wie habt ihr euch den damals kennen gelernt?“ - „Es war bei uns Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte meine schönen Augen auf ihn geworfen. Er schien mir zwar kernig männlich, aber kein Machotyp zu sein. Und mit jeder Geschichte hat er mich überrascht. Das macht er heute noch. Bevor wir geheiratet haben, waren wir in einer zweijährigen Beziehung. Jeder wohnte zwar allein, aber man sah sich so oft es nur möglich war.“

 „Das hört sich alles ziemlich gut, aber auch völlig normal an“, wirft Lena ein. „Wie ging es dann weiter?“ - „Jetzt, nach unserer Hochzeit, wollen wir alles dafür tun, unsere Liebe zu bewahren, und die Lust aneinander nicht zu verlieren. Damit das so bleibt, wollen wir einiges unternehmen. Wir wollen nicht, dass wir irgendwann alles hinschmeißen und weglaufen. Doch schon jetzt merken wir, was uns zur Gefahr werden könnte. Ich bin ja verbal schneller, stärker und bestimmter als Siggi. Das hat mich am Anfang irritiert, und ich habe immer meine Meinung gesagt. Wenn Siggi zugestimmt hat, fragte ich zurück, ob es das schon wäre. Ja, meinte er dann, du hast doch gerade gesagt, wie wir es machen. Aber nein, sagte ich, das war doch nur meine Ansicht von der Sache, und jetzt bist du dran, jetzt will ich deine Überlegungen erfahren. Für mich sah es aus, als ob Siggi sich überhaupt keine Gedanken machen würde, und zu allem >Ja und Amen< sagt.“

 „Ja“, erklärt Eva, „man weiß eben nie, was der andere denkt. Was sagt Siggi dann dazu?“ - „Für Siggi steht fest, dass das Gesprächsbedürfnis von Frauen und Männern unterschiedlich ausgeprägt ist. Darum sucht man eine gemeinsame Basis, um beiden gerecht zu werden. Seit einem Jahr leben wir nun zusammen, und wir versuchen stets im Gespräch zu bleiben. Sprachlosigkeit, das wissen wir, ist der Trennungsgrund Nummer Eins. Obwohl ich mich sehr für Siggis Tagesverlauf interessiere, fällt es ihm schwer, mir alles zu erzählen, was er erlebt hat. Frauen reden eben schon mal schneller über ihre Gefühle als Männer.“ - „Das kann man wohl sagen“, Eva nickt bestätigend. „Ich glaube nicht, dass unsere Männer ein solches Gespräch führen würden, oder?“

 „Genau! Ich fühle mich nicht in sein Leben außerhalb der Ehe eingebunden. Mir ist wichtig, neugierig aufeinander zu bleiben, und das Glück zu bewahren, trotz des Alltags. Aber Siggi glaubt nicht, dass der Alltag die Liebe zerstört. Man kann seiner Meinung nach mit den Attacken umgehen, ehe sich da etwas einschleicht. Wenn er erlebt, dass er kurz vor einem Wutausbruch steht, steuert er auf eine Kurskorrektur zu.“ - „Das macht er doch eigentlich ganz gut“, meint Lena. „Was habt ihr denn sonst noch unternommen, um miteinander klar zu kommen?“

 „Wir haben an einem Wochenend-Seminar teilgenommen, bei dem wir uns schon vor der Hochzeit angemeldet hatten. Es war ein partnerschaftliches Lernprogramm, bei dem es um richtiges Zuhören und richtiges Sprechen geht. Ihr wisst ja, gerade bei Themen wie Engagement in der Beziehung fällt es schwer, dem Partner das Wort zu geben. Probleme ansprechen, ausreden lassen, konkret bleiben, beim ich bleiben, das alles haben wir gelernt, um den Alltag zu meistern.“ - „Und habt ihr euch danach daran gehalten?“ Eva ist echt neugierig, weil sie ja diese Dinge auch eigener Erfahrung tausendmal durchgemacht hat. - „Ich habe Siggi klargemacht, bevor er sich bemüht, die Welt zu retten, muss auch er sich zuerst den eigenen Problemen stellen. Man muss also ständig miteinander alles besprechen und auch ausführen. Bei dem Seminar haben wir für uns das Tanzen wieder entdeckt. Seitdem ist es für uns selbst-verständlich geworden, regelmäßig auszugehen, wie zum Beginn unseres kennen lernens. Es ist für uns eine praktische Übung von Führung, Vertrauen und Hingabe. Das ist Reden ohne Worte und Missverständnisse. Wir wollen den Zauber unserer Liebe nicht verlieren.“ - „Das finde ich gut“, erklärt Lena. „So etwas müsste ich mit Dirk auch einmal machen. Was macht ihr denn sonst noch alles?“

 „Zu unseren gemeinsamen Ritualen gehört das Zeitung lesen am Sonntagmorgen und sich darüber auszu-tauschen. Gemeinsam kann dabei jeder für sich allein sein. Das Ideal ist das Gleichgewicht von Nähe und Distanz. Es ist uns ganz wichtig, dem anderen Freiräume zuzugestehen. Wir wollen uns gegenseitig in den nächsten Ehejahren nicht einengen. Dabei akzeptieren wir auch, mal getrennte Wege zu gehen, wie jetzt auf unserer Kegeltour. Das ist für uns völlig in Ordnung. In unseren Gegensätzen liegt unsere Stärke. Konflikte, zu denen es manchmal kommt, erleben wir als Chance und Bereicherung unserer Liebe, ohne den anderen dabei aus den Augen zu verlieren.“

 „Prima“, meint Eva. „Ich lebe ja nicht mehr mit Daniel zusammen. Wenn wir früher so eine Beratung gemacht hätten, wäre unsere Ehe vielleicht nicht in die Brüche gegangen, denke ich. Aber wer heute heiratet, kann nicht darauf bauen, gemeinsam alt zu werden. Jedes Jahr werden rund 200000 Ehen geschieden, und jeder dritte Traum vom Glück zerplatzt, genau wie bei uns damals, leider.“ - „Es ist schon eine verrückte Zeit“, bedauert Lena, „früher was alles anders und besser.“

 „Das sagt man immer nur so“, meint Eva. „Die Vergangenheit nimmt man nur noch verklärt war, und die schlechten Erlebnisse werden verdrängt. Viel schlechter sieht es für uns doch in der Zukunft aus. Wenn ich da an unsere Rente denke, die wir zu erwarten haben. Bei meinem Einkommen kann ich kaum noch etwas für private Vorsorge abzweigen. Noch näher liegen vor mir die Wechseljahre . . .“

 „Wilma ist jetzt schon in den Wechseljahren“, flüstert Lena. Sie will es zwar nicht wahr haben, aber man merkt es ja an den Hitzewallungen, die sie immer hat. Niemand gibt das gerne zu, weil es uns ja auch älter macht in den Augen der anderen.“ - „Das hat Maria einmal erklärt“, tuschelt Eva den Freundinnen zu. „Sie steht zwar zu ihren Wechseljahren, bedauert aber sehr, dass sie manchmal in einem ganz tiefen Loch hängt, wie sie sagt. Dass sie nicht mehr so sein kann, dass sie noch sie selbst ist. Sie hat Ängste, bis zur Todesangst, Antriebsschwäche und negative Gedanken, die sie verfolgen. Es ist eben eine Zeit, in der Körper, Geist und Seele ganz gehörig aus dem Gleichgewicht geraten.

 „Aber nein“, schaltet sich Hildegard ein, „ich finde, dass die Wechseljahre das Beste sind, was mir passieren konnte. Ich habe jetzt endlich Freiräume für neue Perspektiven, und nehme mir Zeit für das, was ich schon immer mal vorhatte. Bauchtanz ist für mich ein lang ersehnter Wunsch gewesen. Dabei kann ich mich weiblich fühlen wie eh und je. Bei der richtigen Musik kann ich mich entspannen in den Gefühlen und im Körper. Es gibt Tage, an denen ich mich selbst schön finde und wohl in meinem Körper. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe eine ziemlich gute Haut und wenig Falten. Das führe ich darauf zurück, dass ich nie Zigaretten geraucht und keinen Alkohol getrunken habe.

 „So leicht geht das aber nicht bei allen Frauen vonstatten“, wendet Lena ein. „Manche Frauen erwischt es heftig, mit körperlichen Beschwerden und depressiven Phasen. Für alle ist es ein bedeutsamer Einschnitt. Spätestens mit Mitte Fünfzig hört die Fähigkeit zur Fortpflanzung auf, habe ich gelesen.“ - „Weil ich nie Kinder haben wollte“, berichtet Lotti, „war es für mich kein Verlust. Mich haben die Wechseljahre nicht wirklich überrascht. Nur die Wucht, mit der es geschah, hat mich überrascht, und die Auseinandersetzung mit mir, dass nun das Alter droht. Ich wurde etwas wehleidig, wenn ich plötzlich etwas hatte, bei den kleinsten Kleinigkeiten. Auch dann, wenn ich nichts spürte, war ich besonders beunruhigt. Und falls ich etwas nicht so richtig gemacht habe, hatte ich das auf die Wechseljahre geschoben. Für mein Begehren kam ich mir in dieser Zeit etwas lächerlich vor. Als ich die starken Stimmungs-schwankungen auf den Wechsel zurückführte, beschloss ich, Hormone zu nehmen. Ich bildete mir ein, dass die Hormone etwas mehr Spannung und Spannkraft wieder in meinen Körper gebracht hätten. Ich war wacher im Geist, und habe die Altersblessuren um einige Jahre gebannt.“ - „Kommt man denn im Alter leichter zum Orgasmus?“ fragt Eva. „Ich habe so etwas mal gehört.“

 „Nein, das hat nichts damit zutun, ob man plötzlich Fünfzig oder erst Fünfundzwanzig ist“, erwidert Lotti indigniert. „Die Trockenheit der Frau sagt lediglich aus, dass sie nicht wirklich geil ist. Hitzewallungen und Schlafstörungen sowie unregelmäßige und heftige Blutungen sind hingegen Anzeichen für die Wechseljahre. Ausschabungen, Erschlaffen der Haut und der Muskulatur veranlassen viele Frauen dazu mit Sport oder Joga oder Beckenbodentraining zu beginnen.“

 „Es ist also recht unterschiedlich“, meint Lena, „wie die Wechseljahre verlaufen. - „Ja, das stimmt“, erklärt Maria. „Plötzlich fielen mir die Haare aus, und ich wurde zusehends dicker, ohne, dass ich meine Lebensgewohnheiten verändert hatte. Ich habe Herzrasen bekommen, ich war nicht nur Schweiß gebadet, ich war ängstlich. Was ich angefangen hatte, habe ich nicht zu Ende gebracht. Das war mein größtes Problem.“ - „Was kann man denn dagegen tun?“ fragt Eva. „Es gibt doch heute für alles und jedes irgendwelche Mittelchen.“

 „Mein Mann hat immer nur gesagt, nun, nimm mal Hormone. So halt als Allheilmittel. Und das war in der Zeit auch so. Wenn man morgens die Zeitung aufschlug, irgendwo stand: Nehmen sie Hormone. Sie haben schöne Haut, glänzendes Haar, der Körper funktioniert. Es ist alles Ordnung, aber das wollte ich nicht, dagegen habe ich mich gewehrt.“ - „Das kann ich nicht nachvollziehen“, wirft Eva ein. „Wenn man damit doch alle Auswirkungen der Wechseljahre ausgleichen kann . . .“

 „Es wäre ja auch zu schön“, unterbricht Maria sie, „wenn man einfach Hormone nehmen könnte, und der Spuk wäre vorbei. Doch, was schon lange bekannt ist, wird von Studie zu Studie zur wissenschaftlichen Erkenntnis: Man weiß, dass sich die Gefahr beim Herz-Kreislauf-System die Lungenembolie und große Thrombosen verdreifacht. Die Lungenembolien enden auch heute noch zum Teil tödlich. Auch Schlaganfälle und Herzinfarkte treten häufiger auf bei Einnahme von Hormonen. Noch vor einigen Jahren war man der Meinung, dass Hormone geeignet wären, hierbei als Vorbeugung zu wirken. Seit über zwanzig Jahren weiß man, dass bei längerer Einnahme von Hormonen das Brustkrebsrisiko steigt sowie das Risiko für die Entstehung eines Krebses der Gebärmutter und der Eierstöcke. Was also tun? Entweder man erträgt die Beeinträchtigung seiner Lebensqualität oder man hat ein erhöhtes Krebsrisiko. Das feine empfindliche Zusammenspiel zwischen Nervensystem und Hormonsystem beeinflussen sich gegenseitig. Und das Nervensystem ist die biologische Grundlage für Gefühle und psychische Prozesse. Wenn man also schon einmal an pubertäre Gefühle denkt, wird einem klar, so was kann es in den Wechseljahren auch geben. Das Auf und Ab der Stimmung sowie die mit dem Nervensystem verbundenen Auswirkungen, wie Schlafstörungen.“

 „Das war aber hoch wissenschaftlich“, meint Eva etwas gekränkt, weil Maria sie unterbrochen hatte. „Gibt es denn nichts, was ungefährlich ist?“ - „Du weißt doch, dass ich in der Klinik aushelfe. Da erfährt man sehr viel, wenn man sich für solche Themen interessiert. Ich habe festgestellt, dass meine innere Uhr langsamer läuft als früher. Auf äußere Sachen muss ich nach wie vor fix reagieren, aber innerlich läuft alles langsamer bei mir ab. Das ist zum Teil bedrohlich. Daher muss ich auch etwas einnehmen und auf die Gesundheit achten.“

 „Was nimmst du denn?“ erkundigt sich Lena. - „Statt der chemischen Hormonprodukte gibt es so genannte Phytohormone. Das sind hormonähnliche Substanzen in Heilpflanzen, Kräutern und Nahrungsmitteln. Sie wirken langsamer und sind weniger effektiv. Dafür sind auch die Nebenwirkungen geringer. Zusätzlich aber soll man auch in den Wechseljahren so oft wie möglich Obst, Salat und Gemüse essen, möglichst unbehandelt. Damit erhält man alle notwendigen Bestandteile, die der Körper braucht. Dazu hat mir unser Professor geraten, und daran halte ich mich.“

 „Ich trinke Soja-Milch im Cappuccino“, trägt Irene zum Thema bei. „Ohne Soja kann ich mir das Leben gar nicht mehr vorstellen. Als Spätstudierende kam ich in die Wechseljahre. Mitten in der Diplomarbeit machten mir Leistungs-schwäche und Selbstzweifel zu schaffen. Jetzt habe ich wieder Kraft genug, um mir eine neue Karriere aufzubauen. Als ich die starken Schwitzanfälle hatte, bemerkte ich, dass es mir sehr gut ging, wenn ich gefastet habe. Allerdings konnte ich auch mit Jogging und Joga meine Figur nicht halten. Das Bild, das ich von mir hatte, wurde verändert. Meine Tochter hat nur gesagt: Mama, du bist jetzt älter, und du musst dich jetzt anders kleiden als ich.“

 „Wer hat denn noch etwas erlebt“, fragt Lena in die Runde. „Jetzt wollen wir auch alles erfahren, was noch auf uns zukommt. Das ist ja richtig beängstigend.“ - „Bei mir“, sagt Hannelore, „hat der Arzt mit Fünfundvierzig festgestellt, dass meine Eierstöcke abrupt die Produktion eingestellt hatten. So plötzlich hatte ich damit nicht gerechnet. Da spielten wohl Körper und Psyche erfolgreich zusammen. Meine damalige große Liebe, mein langjähriger Freund hat mich verlassen. Ich habe dann zehn Jahre lang gelitten, und niemand eine Chance gegeben. Zehn lange Jahre vom fünfundvierzigsten bis zum fünfundfünfzigsten Lebensjahr. Nun finde ich eine Art von Glück im Tango, der für mich Sehnsucht und Leidenschaft ausdrückt. Es ist meine Freude, mich rhythmisch zur Musik zu bewegen und meine Haltung als Frau, als diejenige geführt wird, zu finden. Gleichzeitig trage ich viel dazu bei, durch meine Präsenz, durch die Spannung und durch das Reaktionsvermögen. Ich bin viel weicher, sensibler und auch genauer geworden. Daher nehme ich ganz genau wahr: Der tut mir nicht gut oder hier ist eine Grenze, die ich will oder eine Grenze die ich nicht überschreiten möchte. Dann gehe ich heraus aus dem Kontakt. Das ist eine Art Präzision in meinen eigenen Bedürfnissen. Es sind ja auch Berührungen im feinstofflichen Bereich. Die extremste Berührung ist ja der sexuelle Akt, aber auch dieses Tangotanzen. Mit dieser starken Nähe gehe ich beachtsam um. Tango befriedigt das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Hautkontakt und einer gewissen Berührung.“

 „Dann wirst du ja heute Abend auf deine Kosten kommen“, lenkt Eva vom Thema ab. „Nach dem Kegeln werden wir wie immer die Nacht durchtanzen. Darauf freue ich mich schon lange. Mit Silvio gehe ich fast nie aus, und Gelegenheit zum Tanzen hat man leider nicht mehr so oft wie früher.“ - „Immer wieder der Silvio“, hänselt Lena ihre Freundin. „An deine Kinder und deinen Ex denkst du nicht so oft, oder?“

 „Irgendwie hast du recht“, denkt Eva laut nach. „Ich bin Silvio mit Haut und Haar verfallen, wie man so sagt. Wenn ich zurückkomme, muss ich ihm alles haarklein berichten, was ich mit euch unternommen habe, mit wem ich getanzt habe und was ich getrunken habe, wann ich ins Bett gekommen bin, einfach alles. Er wird dich bestimmt bei Gelegenheit ausfragen, um mich zu kontrollieren. Aber heute Nacht ist mir alles egal, das habe ich mir fest vorge-nommen. Das bin ich mit selber schuldig, für mein Selbstgefühl und Selbstbewusstsein.“ - „Das finde ich auch richtig“, stimmt Lena zu. „Du musst endlich aus diesen Zwängen heraus, sonst wirst du depressiv und unglücklich. Du bist weder verlobt noch verheiratet, und kannst tun und lassen was du willst, vergiss das nicht. Silvio legt dir gegenüber auch keine Rechenschaft ab, über das, was er tut und lässt.“

 „Ich will ihn aber nicht verlieren“, meint Eva verunsichert. „Er kann sehr eifersüchtig sein, und obendrein rachsüchtig und gefährlich ausrasten.“ - „Vergiss es“, sagt Lena genervt. „Der Kerl ist Gift für dich! Vielleicht lernst du ja heute noch einen guten Typen kennen. Dann geht es dir wenigstens für das Wochenende einmal gut!“

 „Deswegen bin ich nicht mit auf die Kegeltour gefahren“, entrüstet sich Eva. „Ich will nur meinen Spaß mit euch, etwas amüsieren und tanzen, mehr nicht!“

 

Krank vor Eifersucht

 

„Da hast du dich ja gestern doch noch verliebt, oder“, fragt Lena am Morgen nach dem Tanzabend beim Frühstück. Das war doch mal ein richtig netter, adretter und stattlicher Mann, mit dem du die halbe Nacht verbracht hast.“ - „Das ich mich verliebt hatte“, antwortet Eva hilflos, „das muss ich ja zugeben. Und das haben ja auch alle mitbekommen. Mehr war aber nicht, das kannst du mir glauben, auch wenn ich später als du ins Hotel gekommen bin. Dieser Erwin war überaus korrekt, und als er mir sagte, dass er verheiratet ist, habe ich ihn sofort gebeten, mich ins Hotel zu bringen. Das hat er anstandslos gemacht. Es ist eigentlich schade, dass gerade die besten Männer im richtigen Alter für uns, schon vergeben sind. Mit ihm hätte ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen können, so gut wie wir uns verstanden haben.“

 „Warum hast du es denn nicht drauf ankommen lassen?“ hakt Lena nach. So eine Gelegenheit kommt nicht so bald wieder.“ - „Dafür bin ich mir einfach zu schade, für so einen >One Night Stand< oder wie man auch immer dazu sagt. Und auf Dauer gab es bei seiner intakten Familie für mich keine Chance. Wir wohnen ja auch noch dreihundert Kilometer auseinander. Als Alleinerziehende mit zwei Jungen geht so etwas nicht. Ich weiß auch nicht, was Silvio machen würde, wenn er das herausgekriegt hätte.“

 „Schon wieder dieser Silvio“, stöhnt Lena. „Was soll der dann schon tun?“ - „Achtzig Prozent aller Frauen und Männer leiden unter Eifersucht, habe ich gehört. Sie soll sogar das häufigste Motiv für Morde sein.“ - „Ja, das habe ich auch gehört“, erinnert sich Lena. „In unserem Bekanntenkreis hat sich so eine Tragödie ereignet. Karim hat seine Lebenspartnerin getötet. Sie wollte ihn verlassen, und das konnte er nicht ertragen, wie er später gestand. Er habe es nicht verkraftet. Vor der Tat hatte sich einiges aufgestaut und so sei es zu der Tat gekommen. Wegen Mordes wurde er danach zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.“

 „Gibt es Eifersucht, die normal, sogar reizvoll ist?“ fragt Eva, um etwas mehr von Lenas einschlägigen Erfahrungen zu entlocken. - „Ich hatte dir doch gestern schon erzählt“, sagt Lena, „dass es in meiner Beziehung zu Dirk auch schon Eifersucht hoch Sechs gegeben hat. Wir waren damals schon zwanzig Jahre verheiratet, als die Eifersucht unsere Beziehung auf die Probe gestellt hat. Zuerst habe ich seine Eifersucht als ein Stück weit genossen, weil ich gedacht hatte, es wäre die Liebe. Aber als ich merkte, dass er mich einengte damit, fühlte ich mich auf einmal nicht mehr wohl. Mit fiel auf, dass er mir nachspioniert hat. Er hat mein Handy und das Telefon nach Telefonnummern durchsucht, um herauszufinden, wer mich angerufen hatte. An meinem Auto hat er den Tachostand kontrolliert, und er ist die Strecke nachgefahren, die ich normalerweise benutze. Und wenn er weniger Kilometer unterwegs war als ich, hat er mit Vorwürfe gemacht. Dabei hat er nicht berücksichtigt, dass ich für Einkäufe einen ganz anderen Weg nehmen musste. Das was alles sehr schlimm für mich, vor allem das mangelnde Vertrauen. Er hat sich immer tiefer in die Eifersüchteleien hineingesteigert.

 „Hallo Wilma“, begrüßt Eva ihre Kegelfreundin. „Wir reden gerade über Eifersucht. Bei dir und Ernst gibt es ja solche Probleme nicht, oder?“ - „Da hast du mehr oder weniger recht“, stellt Wilma mit zufriedener Mine fest. Ernst und ich, wir sind seit 16 Jahren ein Paar. Wir haben uns damals in unserer Heimatstadt Erfurt kennen gelernt. Damals ging ich noch zum Gymnasium. Ernst studierte bereits. Wir kennen Eifersucht gut, aber sie hat bisher unsere Beziehung nicht ernsthaft belastet. Für mich ist es ein feines Würzmittel für die Liebe. Ein bisschen eifersüchtig sollte man schon sein. Es ist auch gesund für die Beziehung, und eigentlich ein Liebesbeweis. Man bestärkt ja den Partner damit, und es sagt aus: Ich liebe dich – ich will dich behalten. Daher ist es, in gewissen Abständen, hilfreich für die Beziehung. Ernst sagt immer: Es ist ein Gefühl, das bebt, und man ist nicht mehr ganz klar, nicht mehr Herr seiner Sinne. Man weiß nicht mehr, was ist richtig, was ist falsch? Kann ich es ansprechen oder nicht? Es verschließt einem den Mund. Denn wenn man darüber spricht, ist es schon Misstrauen, also sehr heikel. Und so ähnlich sehe ich das auch.“

 „Das geht aber nicht bei allen so glatt wie bei euch“, wirft Eva ein. „Wenn Paare sich trennen, spielt Eifersucht oft eine große Rolle. Ich habe gelesen, dass die Ursachen oft starke Selbstzweifel und geringes Selbstvertrauen sind. Die Angst, den Partner zu verlieren, lässt Männer wie Frauen verrückt spielen, und löst im Kopf einen Katastrophenfilm aus. Alle Ereignisse spuken im Kopf herum. Sie werden immer weitergesponnen, und haben nachher mit der Wahrheit nicht mehr das Geringste zu tun. Man verliert jegliches Vertrauen in den Partner, aber auch in sich selbst, und malt sich das Allerschlimmste aus.“

 Inzwischen ist auch Lotti zu dem Trio gekommen, und hat die letzten Worte von Eva mitgekriegt. „Stimmt genau“, nickt sie den drei Frauen zu. „Das passiert sogar noch im vorgerückten Alter. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, breitete sich bei uns eine gewisse Leere aus, sowohl im Haus wie auch in der Beziehung. Ich suchte nach neuen Impulsen und wollte gern mehr Freiheit. Darum schlug ich Erich vor, eine Kontentrennung vorzunehmen, damit ich über mein eigenes Geld allein verfügen kann. Erich meinte, dass dies der erste Schritt für eine Trennung sei. Dabei wollte ich doch nur uns beiden mehr Freiheit geben, um das eigene Leben ein Stück weit zu gestalten. Ich wollte nicht nur noch funktionieren wie der andere das gerne möchte, sondern Selbstbestätigung finden. Das hat aber mit einer Trennung nichts zu tun.“

 „Dann scheint ja fast jeder, der in einer Beziehung lebt, vor Eifersucht nicht verschont zu bleiben“, meint Eva.

 „Genau“, schaltet sich Hannelore in das Gespräch ein. „Ihr wisst ja, mein Werner ist Schauspieler und steht jeden Abend auf der Bühne. Er trifft schöne Kolleginnen und hat Verehrerinnen im Publikum. Als Bildhauerin, die stets Aufträge bewältigen muss und viele Ausstellungen veranstaltet, bin auch ich ständig unterwegs. Doch abends sitze ich meisten zuhause und behüte unsere beiden Kinder. Gründe für Eifersucht gibt es bei dieser Konstellation zur Genüge. Und wenn er nach einer erfolgreichen Vorstellung von der Empore eine rote Rose zugeworfen bekommt, schaue ich mir die Dame schon genauer an. Immer mit dem Hintergedanken, wie sieht sie aus, könnte sie eine Konkurrentin darstellen. Aber dabei habe ich erkannt, es ist überhaupt nicht der Typ, den Werner bevorzugt. Damit war für mich das Thema Eifersucht erledigt. Wenn es wirklich einmal ernst werden sollte, kann ich mir vorstellen, dass ich integrieren würde. Ich würde versuchen, das Problem von Frau zu Frau aus der Welt zu schaffen.“ -  „Lena hat mir eben aber etwas ganz anderes erzählt“, erregt sich Eva. „Über den Mord, den Karim begangen hat, würde ich gern etwas mehr erfahren.“

 „Das wird sicher die anderen auch interessieren“, sagt Lena, und setzt ihren Bericht fort: „Karim war Neununddreißig als er seine Freundin erstach. Sie war Lehrerin, achtzehn Jahre jünger als er. Sie hatten kurz vor der Tat eine gemeinsame Wohnung bezogen. Bis zu dem Tag als er sie überraschend von der Arbeit abholte, schienen sie glücklich miteinander zu sein. Mit einer eindeutigen Umarmung und zärtlichen Küssen verabschiedete sich Susanne von einem Kollegen als Karim auf sie wartete. Er hat nicht begriffen, wie das aus heiterem Himmel heraus geschehen konnte. Vor kurzem hatten sie noch, gemeinsam mit Susannes Eltern, den Urlaub verbracht. Es gab keinen Ärger oder Stress miteinander, und keine Anzeichen, dass sie ein Verhältnis mit einem Kollegen hatte. Für Karim bricht eine Welt zusammen und er konzentriert sich mit allen Mitteln darauf, seine Freundin zu halten; Er lässt sie nicht mehr allein, versucht sie zu einen neuen Start zu überreden, bis die Angelegenheit eskalierte.“ - „Warum denn das?“ fragt Wilma, die sich in diese Situation versetzen konnte. „Bei uns wäre das nach einer Aussprache geklärt worden. Entweder hätte ich mein Verhältnis beendet oder Ernst hätte mich einfach verlassen, denke ich.“

 „Leider sind nicht alle Menschen so vernünftig wie ihr“, fährt Lena fort. „Karim drehte plötzlich durch. Immer tiefer hatte er sich in das wahnhafte Verlangen verstrickt, seine Freundin zu besitzen. Als ihm klar wurde, dass er sie nicht mehr halten konnte, verlor er seinen Verstand. In seinem Zorn wollte er auf jeden Fall verhindern, dass ein anderer Mann Susanne bekommen würde. Er hatte einen Aussetzer und erstach Susanne, nachdem sie sich mit ihrem Kollegen nach Schulschluss wiederholt getroffen hatte. Nach der Tat hatte Karim einen Blackout. Er blendet den Gewaltakt vollkommen aus, verdrängt ihn völlig.“ - „Woher weißt du das so genau?“ erkundigt sich Hannelore.

 „Wir waren mit Karim schon länger bekannt, und er hat Dirk und mir alles haarklein erzählt, als wir ihn im Knast besucht haben. Also, am nächsten Morgen, vor Arbeitsbeginn, will er seine Freundin wecken und sie zur Schule begleiten. Als er an ihr Bett kam, merkte er fast unbewusst, dass etwas Furchtbares passiert war. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie im Trance ging er zur Schule und ließ die Rektorin kommen. Mit den Worten: Mir ist etwas Schreckliches passiert, lief er ihr entgegen. Susanne ist tot, wahrscheinlich. Die Rektorin ging sofort mit ihm zur Wohnung. Dort hat sie den Puls von Susanne gemessen, weil sie dachte, dass sie sich lediglich gestritten hätten. Sie konnte sich weder so was von Karim vorstellen, noch dass bei den beiden überhaupt Unstimmigkeiten wären. Susanne und ihr Kollege hatten sich in der Schule nichts anmerken lassen. Als die Rektorin keinen Puls fühlte, hat sie den Notarzt kommen lassen. Nach dem Arzt kam sofort die Polizei. Das alles habe ich erst hinterher begriffen, erklärte Karim noch.“

 „Lena, wie war es denn damals bei euch?“ fordert Eva ihre Freundin auf, etwas aus ihrer eigenen Erfahrung zu berichten. - „Dirk war überzeugt davon, dass ich ihn betrügen würde. Er suchte ständig nach Beweisen dafür. Am Anfang“, meint Lena, „habe ich sicher den Fehler gemacht, dass ich ihm alles nachweisen wollte. Doch dann bin ich in eine Trotzhaltung gekommen und gab ihm zu verstehen, gut, es ist so wie du denkst. Das habe ich zum Teil zugespitzt und gesagt, ich habe das so gemacht, wie du es dir gern wünschen würdest. Wie gesagt, Dirk hat mir nachspioniert und meine Sachen kontrolliert. Unser Leben wurde unerträglich.“ - „Aber ihr seid doch wieder miteinander klar gekommen“, wirft Eva ein. „Wieso eigentlich?“ - „Nun, schließlich wusste Dirk keinen Ausweg mehr. Er wollte sein Lebenswerk, das selbstgebaute Haus anzünden, und in den Flammen sterben. Er dachte, wenn es zu einer Trennung kommt, soll keiner sein Haus kriegen. Er fühlte sich so erniedrigt, dass ihm alles egal war, auch der eigene Tod. Als Verlierer wollte er nicht weiter leben, weil er das wohl nicht verkraftet hätte. Bei uns wäre es zu einer Tragödie gekommen“, berichtet Lena weiter, „wenn Dirk nicht die Notbremse gezogen hätte. Er vertraute sich einer Bekannten an, die ihm zu einer Paartherapie riet. Die Entscheidung für die Therapie hat mir gezeigt, dass ich ihm nicht egal bin, und dass ihm an unserer Beziehung viel liegt. Damit gab es einen entscheidenden Wandel in unserem Zusammenleben. Wir gehen seit zwei Jahren regelmäßig zur Beratung. Und weil sich herausstellte, dass es keinen Schuldigen gibt, haben wir erst einmal wieder gelernt hinzuschauen, wie es zu dieser Krise gekommen ist. Warum ist das Ganze eskaliert? Es war ein sehr wichtiger Punkt, dass wir beide uns verloren und den anderen gar nicht mehr gesehen haben. In der Therapie haben wir erfahren, dass eine der vielen Ursachen für Eifersucht, das Gefühl von Minderwertigkeit ist. Wenn man schon in der Kindheit von den Eltern nicht genügend Selbstwertgefühl vermittelt bekommt, kann man sich auch später in einer Beziehung nicht wertvoll fühlen. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass man gut genug ist. Dadurch hat man oft auch Angst, den anderen zu verlieren. Man verliert die Lernfähigkeit, sich in eine gute Beziehung einzubringen.“

 „Ja“, sagt Hannelore. „Extreme Eifersucht besteht aus Hass, Angst, Scham und Verzweiflung. Das zerstört die Liebe und das Vertrauen zueinander. Doch die Dosis macht die Wirkung. Wenn andere Frauen meinen Mann begehren, empfinde ich Stolz. Mitunter mache ich Werner darauf aufmerksam, wenn eine Dame ihn interessiert betrachtet. Er soll das auch mitbekommen, weil Männer einfach nicht den Blick dafür haben. Frauen sind in solchen Dingen viel sensibler. Ich merke hingegen sofort, wenn eine Frau sich für ihn interessiert. Um ihm näher zu bringen, wie eine Frau denkt und fühlt, mache ich ihn in solchen Momenten aufmerksam. Dann sagt er eben auch, ja, jetzt habe ich es bemerkt. Das hebt natürlich mein Selbstwertgefühl, genauso wie seines.“ - „Ob Männer das auch so sehen?“ fragt Wilma interessiert den Hotelmanager, der sich zu ihnen gesellt hatte. 

 „Das kann ich nicht für alle Männer sagen, aber ich war mich meiner nicht immer sicher. Ich zweifelte lange an meinem Erfolg bei Frauen, fand mich nicht schön genug. Ich meinte, dass es nur darauf ankommt, wie man aussieht, und nicht darauf, wie man innen drin ist; Und dass die Damenwelt nur mit mir spielt, weil ich so unterhaltsam bin, aber mehr eben nicht. Das sollte, meiner Meinung nach, alles nur mit dem Aussehen zu tun haben. Also, der erste Komplex ist: Man ist nicht attraktiv. Es ist furchtbar, wenn man sich so fühlt. Zuerst hatte ich mich damit abgefunden, doch trotzdem war dieser Komplex immer wieder da. Dann war ich eifersüchtig auf diese Volltrottel, wie ich sie sah, die etwas Gel in ihren Haaren hatten, und eine nach der anderen abschleppten, mit denen ich mich vorher unterhalten hatte. Früher haben mir Eifersuchtsgefühle ständig zu schaffen gemacht. Aber heute mit Lara ist mein Selbstbewusstsein gewachsen. Wenn ich auf einer Party bin oder in einer Gesellschaft, und es tritt eine elegante Frau in Erscheinung wie meine Lara, sind immer einige Herrn sofort interessiert und umschwärmen sie. Das genieße ich und beobachte es auch. Und das Schöne ist, ich kann dann zu ihr hingehen, um mit ihr nach Hause zu fahren. Dann entsteht vielleicht bei dem anderen die Eifersucht, nicht aber bei mir. Weil ich vorher so viel gelitten hatte, ist das jetzt für mich etwas Wunderbares. Früher waren die Schulfreunde dran und die Kumpel bis Mitte Zwanzig, und ich nicht. Aber jetzt bin ich dran, für den Rest meines Lebens.“

 „Wie ist Karims Tragödie denn ausgegangen?“ hakt Eva bei Lena nochmals nach. - „Die >Tragödie< wie du sagst, ist überhaupt noch nicht zu Ende. Karims Tat liegt schon neun Jahre zurück. Noch immer sucht er nach einer Antwort, warum seine Eifersucht ihn zum Mörder werden ließ. Wie er den Menschen umbringen konnte, den er am meisten liebte. Es macht ihn verrückt, sich selbst nicht zu kennen. Am liebsten würde er natürlich alles wieder rückgängig machen. Erst nach Tagen konnte er damals überhaupt registrieren, was vor sich gegangen war. In der Zelle wurde ihm bewusst, dass er ein Mörder war, machtlos in dieser Situation, aus der es kein Entrinnen gab. Im Unterbewusstsein lief für ihn alles ab wie ein Film oder Traum, den man immer wieder erlebt. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Es ist einfach schrecklich. Karim war zweimal verheiratet, hat sich Seitensprünge geleistet, wurde verlassen. Das Ende seiner Beziehungen verlief schmerzhaft, aber undramatisch. Er ist an und für sich ein friedlicher Mensch, der Konflikten aus dem Wege geht. Verluste kann er normalerweise problemlos ertragen. Probleme versucht er sonst in Gesprächen zu klären. Karim hatte großes Vertrauen in seine Partnerin, und er war nicht übertrieben eifersüchtig. Desto weniger versteht er selbst die Ereignisse von damals. Darum bemüht er sich um einen Therapieplatz im Gefängnis, in der Hoffnung, dass man ihm seine Tat erklären kann. Er sieht sich nicht als gewalttätig, sondern eher als ein Mensch, der sich zurückzieht. Wenn eine Situation eskaliert, in der er Recht hat, sucht er Hilfe von außen.“ -  „Es klingt vielleicht abgedroschen“, sagt Eva, „aber vielleicht liegt sein Problem an Ereig-nissen aus seiner Kindheit?“

 „Das ist nicht auszuschließen“, erwidert Hannelore nachdenklich. „Unsere Mutter hat uns immer sehr gerecht behandelt. Sie hat kein Kind vorgezogen. Diese Gerechtigkeit hat uns sehr gut getan. Obwohl jedes Kind anders ist, hat unsere Mutter die Persönlichkeit ihrer Kinder geachtet. Jedes Kind hat die Behandlung erfahren, die es für seine Entwicklung gebraucht hat. Das habe ich damals als sehr gut empfunden. Und ich versuche es bei unseren Kindern genau so zu machen. Sie sollen auch eine gute Erziehung erhalten, damit sie anderen gegenüber ihre Person nicht übermäßig verteidigen müssen. Solange man jemanden liebt, ist man auch gefährdet eifersüchtig zu sein. Nur jemand mit übersteigertem Selbstwertgefühl ist sich seines Partners vollkommen sicher. Wenn man sich total toll findet, kann man der Eifersucht aus dem Wege gehen. Man findet sich selbst genial und unwahrscheinlich attraktiv. Dann darf man dem Ganzen keine größere Bedeutung beimessen. Doch Eifersucht völlig aus dem Leben zu verbannen gelingt kaum. Man kann sie als ein angemessenes Gefühl akzeptieren. Unsere Beziehung basiert auf einer großen Freiheit. Und ich habe eben das Glück, dass ich mein irdisches Leben mit ihm teilen darf. Deswegen kann ich da auch keine großen Ansprüche stellen. Eifersucht ist kein Beweis für Liebe, aber sie ist eine häufige Begleit-erscheinung. Völlige Sicherheit kann es in einer Partnerschaft nicht geben. Wenn Eifersucht ab und zu einmal auftritt, ist sie ein Katalysator für die Beziehung.“

 „Mir geht immer noch nicht die Tat Karims aus dem Kopf“, stöhnt Eva. „Wie will er damit jemals fertig werden?“ - „Das wird er wohl nie“, erklärt Lena. „Für den Mord an seiner Freundin verbüßt Karim eine lebenslange Haftstrafe. Er war voll geständig, und er hält seine Strafe für gerecht, quält sich mit seiner Schuld. Man kann kaum mit der Schuld leben, dass man einen Menschen getötet hat. Täglich wird man damit konfrontiert, ob man will oder nicht. Er will es ja auch nicht verdrängen. Im Gefängnis kann Karim in seinem erlernten Beruf als Schreiner arbeiten. Derzeit arbeitet er an der Ausbesserung von Büromöbeln. Frühestens in sieben Jahren wird entschieden, ob Karim vorzeitig entlassen werden kann. Dann wird er über fünfzig Jahre alt sein. Er denkt oft an die Zeit danach. Und er möchte als erstes an das Grab seiner Freundin gehen. Die Mutter seiner Freundin möchte er noch während seiner Haftzeit um Verzeihung bitten. Doch bisher hat er noch keine Worte gefunden. Er will das verarbeiten, mit Hilfe von anderen, um damit klar zu kommen. Es ist ihm bewusst, dass die alte Dame den Tod ihrer Tochter nicht verschmerzen kann, bis an das Ende ihrer Tage. Für ihn ist es von der Sache her auch richtig, dass man so etwas nicht verdrängen kann. Karim will das alles verstehen lernen in der ihm angebotenen Therapie, um dem Geschehen auf den Grund zu kommen. Er meint selbst, dass alles anders hätte kommen können. Die Beziehung auf diese Art zu beenden, dafür hat er keine Erklärung. Und er findet, dass man das auch nicht erklären kann.“

 „Eifersuchtsdramen mit tödlichem Ausgang spielen sich fast wöchentlich ab“, stellt der Hotelmanager nüchtern fest. „Oft sind es Täter wie Karim. Menschen, denen ihre Umgebung einen solchen Gewaltausbruch nicht zugetraut hätte.“

 „Auch Dirk kann im Rückblick seine damalige Besessenheit nicht begreifen“, fügt Lena hinzu. Eifersüchtig ist er bis heute. Aber er wird nicht vergessen, was er sich und mir damit angetan hat. Manchmal spürt er noch, dass bei mir Dinge hochkommen, die passiert sind. Dann müssen wir sofort darüber reden, um die Wogen zu glätten. Dirk weiß, dass bei mir noch viel von den Verletzungen nachwirkt, die während seiner Eifersucht stattfanden. Eifersucht gehört zum Leben. Aber sie ist keine Naturgewalt, der man hilflos ausgeliefert ist.“

 „Jetzt haben wir fast den ganzen Vormittag verquatscht“, lenkt Hildegard vom Thema ab. „Wir sind doch schließlich auf einer Kegeltour, und nicht im Gebetskränzchen. In einer Viertelstunde geht es aber los. Sonst kommen wir nicht mehr pünktlich zum Mittagessen auf die Hütte. Wie ich die kenne, haben sie unser Essen Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch stehen. Also auf Mädels, gehen wir´s an. Unterwegs können wir unsere Seelen mal baumeln lassen. Die Probleme der Welt können wir sowieso nicht alle lösen. Und die eigenen holen uns schon wieder ein, wenn wir nach Hause kommen. Aber bis dahin wollen wir heute Abend noch mal richtig auf die Pauke hauen . . .

 

Terror vom Ex

 

„Das war doch eine tolle Kegeltour“, begeistert sich Lena bei der Heimfahrt im Bus. „Wir waren alle so richtig gut drauf. Und nach den >Kleinen Feiglingen< kamen auch die großen Feiglinge nicht zu kurz, denke ich.“ - „Zu kurz ist gut – ich meine schlecht“, wirft Eva ein. „Wenn wir nicht so schnell im Lokal verschwunden wären, hätte das noch ein oder mehrere Nachspiele haben können.“

 „Wieso seid ihr denn so plötzlich aufgebrochen?“ fragt Irene. „Ihr habt mir noch nicht einmal Bescheid gesagt, als ihr ins Hotel gegangen seid.“ - „Das konnten wir leider nicht“, bedauert Eva. „Du hast ja mit diesem Siggi getanzt, mit dem du zusammen warst und es dir an seinem Tisch gemütlich gemacht hast. Wir wollten die Idylle einfach nicht stören.“ - „Das konntet ihr aber doch“, meint Irene. „Ich hätte doch mitkommen können, oder?“

 „Es ist nicht so einfach, wie du denkst“, erklärt Eva. „Wir hatten doch eine Flasche Whisky ins Lokal geschmuggelt. Und dann ist Hannelore mit dem Fuß gegen die Bottle gestoßen. Der Whisky ist ausgelaufen und unsere ganze Ecke stank nach Schnaps. Da haben wir unsere Sachen geschnappt und sind zum Ober nach vorne gelaufen, um zu bezahlen. Wir haben gesagt, dass unser Taxi schon auf uns wartet. Was waren wir froh, als wir wieder heil im Hotel angekommen sind.“

 „Ach, “ erinnert sich Irene, „dann ward ihr das schuld, dass plötzlich eine Unruhe im Lokal entstanden ist. Aber die haben das ganz schnell in Ordnung gebracht, als die Kapelle plötzlich ein paar schnelle Nummern gespielt hat. Danach lief alles wieder weiter, als ob nichts geschehen wäre. Ich hatte das auch direkt wieder vergessen. Erst später habe ich dann auch bemerkt, dass ihr auf einmal nicht mehr da ward.“ - „Wie ist es denn mit dir und Siggi weiter gelaufen?“ erkundigt sich Eva neugierig. - „Das könnte was werden“, meint Irene mit verliebtem Augenaufschlag. „Er will sich auf jeden Fall bei mir melden, und er hat mir seine Handy-Nummer gegeben.“

 „Dann ruf´ ihn doch einfach mal an“, mischt sich Lena in das Gespräch ein, das sie bisher nur mit halbem Ohr mitbekommen hat. Doch jetzt ist auch sie neugierig. - „Das mache ich doch glatt“, stimmt Irene zu. „Ich will ja auch wissen, wie es ihm geht nach dieser Nacht. Es war schon klasse mit ihm, muss ich zugeben. Und ich habe ja nach keinem zu fragen. – Er meldet sich nicht – doch – Andreas . . . – Was ist das denn? Ich habe doch die richtige Nummer gewählt, oder – Nein, die ist richtig. Ob er mir wohl eine falsche gegeben hat? – Die Kerle sind alle gleich . . .

 „Tut mir leid“, sagen Lena und Eva, wie aus einem Mund. „Das erinnert mich direkt wieder an Silvio. Wer weiß, was von ihm aus auf mich zukommt, wenn ich wieder zu Hause bin“, fürchtet sich Eva. - „So schlimm wird es wohl nicht werden“, beschwichtigt Lena ihre Freundin. „Du hast doch immer noch deine Söhne und deinen Ex. Die lassen dich schon nicht im Stich.“ - „Trotzdem“, sagt Eva, „das Gespräch von gestern geht mir nicht aus dem Kopf. Und ich weiß ja, dass es noch viel schlimmer kommen kann. Meine Kusine Sandra hat mir das ganz drastisch vor Augen geführt: Es sind Bilder wie in einem Horrorfilm. Sandra findet die Puppe ihrer Tochter am Fenster aufgehängt von ihrem Ex-Mann, dem Vater ihrer Tochter Julia. Für sie ist es ein eindeutiges Signal, dass ihr Ex sie und ihre Tochter umbringen will. Monatelang hat er die Familie terrorisiert und damit gedroht, sie umzubringen. Damals gab es gegen Psychoterror in Deutschland kein Gesetz, obwohl es in jedem dritten Fall zu massiver Gewalt kam. Jeden Tag fürchtete Sandra um ihr Leben. Viele Leute haben ihr vorher gesagt, dass sie maßlos übertreiben würde. Aber als sie das gesehen hatten, haben sie erklärt, ich konnte das gar nicht fassen und verstehen, was da wirklich ablief. Das es wirklich so extrem schlimm war, hat sich niemand vorgestellt.“

 „Ist der Spuk denn jetzt zu Ende?“ fragt Lena. „Dazu gibt es doch die Polizei und Gerichte, denke ich.“ - „Leider ist das nicht so einfach, wie du denkst“, erklärt Eva. „Nach zwölf Monaten Terror hat Sandra keine Ruhe. Sie hat Angst, weil ihr Ex immer noch unterwegs ist, noch immer frei rumläuft. Er will ja kommen, und er tut das, weil er das will. Und er hört nie auf, befürchtet sie. Immer wieder schleicht Jonas um das Haus seiner Exfrau. Er hinterlässt Spuren der Gewalt. Als die Nachbarn merken, in welcher Gefahr Sandra sich befindet, werden sie spontan aktiv. Weil die Polizei sich in der Umgebung nur sehen lässt, stehen sie tagtäglich abends bis spät in die Nacht hinein vor ihrem Haus, damit Sandra und Julia in Ruhe schlafen können. Ein Nachbar beobachtet von seinem Fenster aus, wie die Polizei bei ihren Einsätzen tatenlos bleibt. Er ist entsetzt über die Machtlosigkeit der Justiz. Wenn die Beamten ein- treffen, ist Jonas meistens längst wieder verschwunden. Der Nachbar richtet eine Webcam auf Sandras Haus, in der Hoffnung, ihren Ex auf frischer Tat zu ertappen. Sandra bedankt sich mit heißem Kaffee und Toastbroten bei den Freunden, die in der Dunkelheit vor ihrem Haus wachen. Sie ist endlich nicht mehr allein, und fühlt sich zum ersten Mal von ihren Nachbarn ernst genommen. Es gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit. Falls ihr Ex wieder auftaucht, ist jemand da, der ihn beobachtet und später als Zeuge zur Verfügung steht.“

 „Wo wir einmal bei dem Thema sind“, mischt sich Maria in das Gespräch ein, „kann ich ja auch einmal loswerden, was mir in einem solchen Fall passiert ist, obwohl ich mit dem Stalker überhaupt nichts zutun habe. Unser ganzes Dorf wird von einem einzigen Mann über ein Jahr lang mit Anrufen terrorisiert. Eine neu zugezogene Frau, Marion, ist der Anlass für diesen Stress. Seit drei Jahren flieht sie vor Hartmut, mit dem sie nie eine Beziehung hatte, der aber von ihr besessen ist. Weil er Marion nicht findet, terrorisiert Hartmut den ganzen Ort. - „Warum lasst ihr euch das denn gefallen?“ fragt Lena erstaunt. „Dem hätte ich die Hölle heiß gemacht, das kannst du mir glauben.“

 „So einfach ist das aber nicht“, schüttelt Maria den Kopf. Schließlich zieht Marion auch hier wieder weg. Der Umzug war sinnlos, und sie hätte sich die Kosten auch sparen können. Denn Hartmut ruft weiterhin in der Ortschaft an. Das hatte Marion befürchtet, als die ehemaligen Nachbarn ihr rieten fortzuziehen. Die früheren Vermieter von Marion sind ganz besonders betroffen. Teilweise haben sie über zweihundert Anrufe täglich von dem Psychopaten. Sie versuchten alles, um Hartmut los zu werden, aber vergeblich. Selbst Geheimnummern hat der Unbekannte immer wieder herausbekommen.“ „Dann hätte ich mein Telefon überhaupt abgeschafft“, meint Eva. „Man hat ja schließlich heute Handys, denke ich.

 „Das ging aber nicht“, erläutert Maria. „Um für erkrankte Verwandte erreichbar zu sein, mussten die Schmittens auch nachts ans Telefon gehen. Sie hatten immer wieder Hartmut in der Leitung. Obwohl sie sich die Anrufe strikt verbeten hatten, rief er ständig weiter an. Der Telefonterror hat bei den Schmittens tiefe Spuren hinterlassen. Die nervliche Anspannung ist so groß, dass beide in einer Fachklinik in Behandlung sind. Frau Schmitten hat einen Nerven-zusammenbruch, und musste mit dem Notarzt in eine Nervenklinik eingeliefert werden. Sie hatte mehrere Stunden eine Sprechblockade, konnte kein Wort reden. Niemand konnte den Schmittens und anderen betroffen Familien bisher helfen. Trotz aller Bemühungen war die Polizei machtlos. Marion hat geweint, als sie hörte, dass der Telefonterror bei den Schmittens weiterging, aber sie fühlt sich selbst völlig überfordert.“

 „Genau wie meine Schwester Sabine“, sagt Lotti spontan. Als sich Sabine vor drei Monaten von ihrem Mann trennte, begann der Psychoterror. Ständig lauert er ihr auf, verfolgt und belästigt sie. Nachts schützt sie sich mit einem Messer. Denn Todesdrohungen gehören zu ihrem Alltag. Er ruft sie an und sagt: Wenn du etwas mit einem anderen Mann anfängst, dann ist es aus mit dir, das weißt du. Damit kannst du dich nicht verstecken, mit jemand anderem, dann ist es für dich beendet. Ich schrecke vor gar nichts mehr zurück, vor gar nichts mehr.“

 „Wie ist es denn dazu gekommen?“ fragt Maria nach. „Hat sie denn ihren Mann nicht richtig behandelt?“ - „Im Gegenteil“, tritt Lotti energisch für ihre Schwester ein. „Sechs Jahre lang war Sabine mit Olaf in zweiter Ehe verheiratet, und sie ist immer auf ihn eingegangen. Aber er kam nicht wirklich mit Sabines Kindern aus erster Ehe klar. Sie hat ihn verlassen, um ihre Kinder zu schützen. Seit der Trennung terrorisiert er sie nun täglich, damit sie zu ihm zurückkommt. Schon oft musste Sabine erfahren, dass sich hinter Olafs Anrufen keine leeren Drohungen verbergen. Zuletzt kündigte er an, einen Auftragskiller auf sie zu hetzen. Er droht Sabine auf eine sehr clevere Art. Sie weiß es und er weiß es, und einige andere vielleicht auch, wenn er die Aussage macht, dass er nur einen Anruf machen braucht, und sie würde ja dann wissen, was passiert.“

 „Das ist wirklich schlimm“, meint Eva. „So etwas möchte ich nie im Leben ertragen. Ich glaube, ich könnte es auch nicht.“ - „Sabine kann nachts kaum noch schlafen, aus Angst, dass ihr Ex-Mann vor der Tür steht. Jedes Geräusch, jeder Anruf reißt sie aus dem Schlaf. Sie führt ein Leben unter ständiger Angst. Auch durch Kleinigkeiten macht er sich laufend bemerkbar. Er malt ihr etwas an die Haustür, damit sie sieht, dass er wieder da war. Außenstehende bemerken das nicht, aber Sabine weiß, dass Olaf ihr ein Zeichen seiner Anwesenheit gegeben hat. Er hat den Drang, sich bemerkbar zu machen.“

 „Wie verkraften denn die Kinder diesen Terror?“ fragt Maria, die sichtlich mit leidet. - „Auch Sabines Kinder sind täglich dem Liebesterror Olafs ausgesetzt. Bei der Oma hat das Telefon geklingelt, berichtete mir Jimmy. Als ich dran ging, hat sich keiner gemeldet. Das hat sich mehrmals wiederholt. Er war dran, meint Anni, hat aber dann sofort aufgelegt. Jimmy versucht auf seine Weise mit den täglichen Attacken Olafs fertig zu werden. Mit Plastikkugeln schießt er auf eine Zeichnung seines Stiefvaters. Auf diese Idee ist er ganz von alleine gekommen. Er denkt, sagte mir Sabine, dass er sie permanent beschützen müsste. Beide Kinder müssen sich täglich die Hilflosigkeit ihrer Mutter ansehen, und das niemand kommt, und keiner etwas machen kann. Als es mitten in der Nacht an der Haustür klingelt, traut sich Sabine im Schutz eines Nachbarn nach unten. Sie weiß nicht, was sie diesmal wieder erwartet. Es ist niemand an der Tür, aber man sieht die Fußspuren auf der feuchten Erde. Das ist Liebesterror mit System. Was zunächst nach einem Streich aussieht, soll Sabine klarmachen, dass sie ihren Ex-Mann nicht loswird.“

 „Auch Julia leidet schon seit über einem Jahr unter dem Psychoterror ihres Vaters Jonas“, wendet Eva ein. „Oft wird sie mit ihrer Mutter Sandra aus dem Schlaf gerissen, wenn er um das Haus schleicht, an die Fenster klopft oder randaliert. Jeden Tag erwartet sie ein neuer Schock. Das sind Lebensumstände, die bei Julia bereits Spuren hinterlassen haben. Sandra muss sie jeden Tag im Gesicht und an den Armen eincremen, denn je größer der Stress wird, umso mehr kratzt sie sich selbst. Sie will mit Julia zum Psychologen gehen, weil sie sich überfordert fühlt.“

 „Kann man denn nicht die Polizei einschalten“, fragt Lena, „um dem Spuk ein Ende zu bereiten?“ - „Bereits vor Monaten wurde Jonas von einem Richter verboten, sich seiner Familie zu nähern. Doch der Beschluss interessiert ihn nicht. Es scheint fast so, als ob ihn die Angst seines Kindes kalt lässt. Immer, wenn das Licht ausgeht, müssen sie befürchten, dass er kommt.“ - „Warum ruft Sandra denn nicht einfach direkt die Polizei?“ wundert sich Lena.

 „So einfach ist das eben nicht. Seit über einem Jahr ist klar, warum Julia und Sandra so viel Angst vor Jonas haben, und wie ein Mann seine eigene Familie systematisch terrorisiert. Sandra hatte Herzklopfen als sie alleine mitten in der Nacht wieder Klopfgeräusche gehört hat. Die Nachbarn waren nicht da, und Sandra fühlte sich von allen verlassen. Als Julia aufwacht und vor lauter Angst laut schreit, rief Sandra die Polizei. Und auch Nachbarn werden aufmerksam. Sie kommen Sandra zu Hilfe. Aber die Polizei kann nur sehr wenig tun. Jonas wird kurz befragt, bekommt eine freundliche Verwarnung und wird weggeschickt. Das ist für Sandra keine Lösung. Sie fühlte sich von den Beamten nicht ernst genommen. Der Hauptwachtmeister sagte: Wir können ihr Leben nicht wieder in Ordnung bringen. Ich bin ja jetzt dafür da, und kümmere mich darum, dass das zur Anzeige gebracht wird und dem- entsprechend gehandelt wird. Aber im Moment kann ich nichts machen. Sandra erklärte ihm: Ich will einfach nur, dass er hier nicht mehr auftaucht, und dass er meinem Kind keine Angst mehr einjagt, denn er taucht hier ständig auf. Die Kleine ist mir gerade ausgerastet. – Dann lassen sie doch von einem Richter klären, dass dieser Mann einzusperren ist. Ich bin im Vergleich zu einem Gericht nur eine ganz kleine Person. Ich kann nicht einfach jemand von der Straße wegnehmen und einsperren. Es fällt mir auch schwer, zu beurteilen, wer mir immer die wahre Geschichte erzählt. Dafür gibt es die Gerichte, um diese Dinge zu klären.“

 „Aber so geht das doch nicht weiter, oder?“ meint Lena. - „Am Morgen danach werden die Folgen der Nacht, und somit die wahre Geschichte sichtbar. Jonas ist außer Kontrolle geraten. Experten raten nun zur Zwangseinweisung in eine Klinik. Doch Polizei und Behörden unternehmen nichts. Sandra und Julia müssen weiterhin Angst ausstehen. Die Gewalt, die er eigentlich Sandra antun will, lässt er an Sandras Auto aus. Nachdem er ihr Auto verwüstet hat, versucht er nun auch systematisch das Umfeld Sandras zu zerstören. Neues Ziel seiner Attacken ist Sandras Arbeitsplatz. Die Chefin empfing sie mit den Worten: Wir haben das heute Morgen gesehen, und sind nicht gerade begeistert davon. Es sieht ja nicht gerade gut aus. Und dann waren wir hinten auf dem Parkplatz, da ist auch noch absolutes Chaos. Komm mit, ich will es dir mal kurz zeigen. Sandra spürt, dass es ihrer Chefin lieber ist, wenn sie momentan nicht so oft arbeiten kommt. Sie hat Angst davor, ihren Job zu verlieren. Jonas hat ihren Namen über den Parkplatz gesprüht, mit der Handy-Nummer dabei. Herren-Spezi 2,00 Euro die Stunde. Das ist schon Hammerhart meint die Chefin. Und das ist nicht gerade gut für deinen Ruf.“ - „Und auch nicht für das Nagelstudio, in dem Sandra arbeitet.“ entrüstet sich Lena.

 „Stimmt genau“, sagt Eva. „Es gibt kaum noch unbeschwerte Momente in Sandras Leben. Sie spürt, dass die Gewaltbereitschaft ihres Ex-Mannes zunimmt. Die schwierigste Aufgabe besteht für sie darin, es Julia begreiflich zu machen. Sie habe anfangs versucht, soweit es ging, den Terror von Julia fern zu halten. Wobei das alles noch ziemlich sachte angefangen hatte. Aber irgendwann ging das nicht mehr. Als ihr Ex-Mann mit einer Pistole vor der Tür stand, konnte sie nicht mehr sagen: Julia, das ist ein Karnevalsgeschenk oder so. Julia sah die Waffe, und das war etwas Schlimmes für sie. Sandra traut Jonas wirklich alles zu. Dass er Julia entführt und ihr was antut. Sogar einen Mord würde sie ihm zutrauen. Und diese Einschätzung erwies sich als richtig, als sie per SMS eine Morddrohung erhielt. Kurz danach stieß Jonas mit einem Messer auf Sandras Wohnungstür ein. Das war für sie ein klarer Mordversuch, der aber für Jonas ohne juristische Konsequenzen blieb.“

 „Ja, klar.“ sagt Lotti. „Auch Sabine ist dem Liebesterror ihres Ex-Mannes hilflos ausgeliefert. Sie geht kaum noch aus dem Haus. Nur das Nötigste erledigt sie noch. Immer wieder lauert ihr Olaf auf. Nach den telefonischen Drohanrufen macht er ernst. Ich wollte nur den Müll runterbringen, erzählte mir Sabine, da hat er mir hier aufgelauert. Er hat mich auch gleich gepackt, und wollte wieder ein letztes Gespräch mit mir führen, darüber, dass wir eine Beziehung haben sollten. Ich habe versucht, mich zu wehren und wollte wieder noch oben gehen. Da ist er mit seinem Kopf gegen meinen Kopf gestoßen und hat mit eine so genannte Kopfnuss verpasst.“

 „Mein Gott“, schüttelt Maria den Kopf. „Da ist ja ein Fall schlimmer als der andere. Wie kommt das nur?“ - „Sabine war sechs Jahre mit Olaf verheiratet, und schon die Ehe war für Sabine die Hölle. Der Außendienstler verprügelte sie und die Kinder. Darum flieht sie mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Westend61 / Klaus Mellenthin www.fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7117-5

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