Für meine Urenkel
Sahra
Luca
Lili
Leon
©Copyright 2015
1. Isella
2. Adda
3. Im Blumengarten
4. Pipo
5. Das Tal der Vögel
6. Der Fischer
7. Serena
8. Gänseblümchen
9. Tako
10. Brunhilde
11. Schlehenfeuer
12. Marco
13. Verschleppt
14. Hogla
15. Tori
16. Die Flucht
17. Prinz Aiko
18. Endlich zu Hause
Die Sonne ging gerade über den schneebedeckten Bergen auf, als Königin Isella mit ihrem weißen Hengst wie eine Sturmwolke über das Land fegte.
Um ihr Ziel zu erreichen, musste sie nur noch ein Wäldchen durchqueren. Sie wollte in ein ferngelegenes Dorf zu einem kleinen, kranken Jungen.
Auf einem Hügel zügelte sie das ungestüme Pferd. Der Hengst hob seinen Kopf und schnaubte laut.
Liebevoll tätschelte Isella seinen Hals. Ein banges Gefühl hatte die Königin beschlichen. Hoffentlich kam sie nicht zu spät!
„Komm’ Zamiro, wir müssen weiter”, flüsterte sie dem Pferd zu.
Ein leichter Schenkeldruck genügte, und das Tier gehorchte sofort. Mit einem lauten Wiehern machte es einen Satz und strebte in langgestrecktem Galopp dem Wald entgegen.
Ein ausgetretener, schmaler Pfad führte durch dunkles, dichtbewachsenes Nadelgehölz. Zielsicher bewegte sich der Hengst durch das Waldstück. Die Tiere des Waldes waren schon lange mit dem Anblick der temperamentvollen Reiterin vertraut und beobachteten sie ohne Scheu. Ob Reh, Hase, Fuchs oder Igel, alle bewunderten die schöne Frau mit ihren silberblonden, langen Haaren und den meergrünen Augen. Fasziniert blieben sie stehen, wann immer die Königin, in ihren weißen Umhang gehüllt, vorbei jagte.
Ja, diese Frau wurde von Mensch und Tier geliebt. Wie eine gute Fee schüttete sie über alle Lebewesen des Landes ihr Füllhorn aus. Sie scheute weder Mühe noch lange Wege, wenn sie erfuhr, dass ein Kind krank war und ihre Hilfe benötigte.
Den Wald hinter sich lassend, blickte Königin Isella auf ein kleines Dorf, das idyllisch eingebettet zwischen grünen Wiesen und Feldern in einer Talsenke lag. Die Bewohner des Ortes, die ihr begegneten, winkten der Königin freundlich zu.
Isella ritt auf ein blitzsauberes, kleines Haus zu, das am Ende des Dorfes in einem wunderhübschen Blumengarten stand. Auf einer Bank saß ein kleines trauriges Mädchen.
Ein schmerzhafter Stich durchzuckte die Königin als von ihrem Pferd sprang. Zärtlich und besorgt strich sie über ihren runden Bauch. War es etwa schon so weit?
Nein, das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, hatte sich nur bewegt.
Schnell band sie den Hengst an den Gartenzaun und begrüßte das Mädchen. „Hallo My, wie geht es Perry?”
Die Kleine fing an zu weinen. „Es geht ihm sehr schlecht”, schluchzte sie. „Meine Eltern machen sich große Sorgen.”
„Sei nicht traurig, My. Es wird alles wieder gut.” Isella legte tröstend ihren Arm um die Schultern des Mädchens und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. „Komm’ ins Haus, Kleine.”
Über zwei Stufen gelangten sie ins Erdgeschoss, in dem sich drei Räume befanden: Eine kleine Küche, eine Schlafkammer für die Eltern und eine gemütliche Wohnstube.
Ein junger Mann saß an einem runden Tisch und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Als er die Königin erblickte, erhellte sich sein Gesicht. Er sprang auf, fasste Isellas Hand und küsste sie.
„Danke. Danke, dass Ihr gekommen seid, Majestät.” Tränen rannen über seine bleichen Wangen.
Etwas verlegen zog Isella ihre Hand zurück. „Wir wollen keine Zeit verlieren.”
Gemeinsam verließen sie die Stube und liefen über eine schmale Holzstiege zum Dachgeschoss, wo sich die Schlafkammer der beiden Kinder befand.
Neben dem Bett saß die junge Mutter und hielt die Hand eines kleinen, blondgelockten Jungen. Sein Gesicht war von hohem Fieber gerötet. Sein Atem ging keuchend.
Isella trat an das Bett und legte ihre Hand auf Perrys heiße Stirn. Der Knabe öffnete seine Augen und lächelte zaghaft.
Aus ihrem weiten Umhang nahm die Königin ein kleines Fläschchen mit einer grünen Flüssigkeit. Sie zog Perrys Schlafjäckchen hoch und rieb den ausgemergelten Körper mit dem Elixier ein. Ein angenehmer, würziger Duft zog durch die Kammer. Das wiederholte sie noch einige Male.
Bis zum Abend hielt sie sich in dem Haus auf und spendete den Eltern Trost. Als es draußen bereits dämmerte, war der Junge fieberfrei. Ihre Bemühungen hatten sich gelohnt. Glücklich schloss sie das Kind in ihre Arme und liebkoste es. Sie liebte Kinder über alles.
Ein freudiges Gefühl zog in ihr Herz, denn schon bald würde sie ihr eigenes Kind in den Armen halten.
Bevor sich die Königin auf den Heimweg machte, beschenkte sie die Kinder noch mit warmen Mäntelchen und wollenen Socken. Außerdem hatte sie einen Beutel Süßigkeiten aus der Schlossküche dabei, die die Köchin speziell für diese Besuche zubereitet hatte. Beim Abschied gab Isella Perrys Mutter noch ein Fläschchen Medizin. „Gib dem Kleinen dreimal täglich 20 Tropfen. Du wirst sehen, in ein paar Tagen springt er wieder umher wie ein junger Hirsch.”
Vor Freude weinend, fiel die junge Frau auf die Knie und küsste Isellas Hand.
„Steh’ bitte auf.” Die Königin strich der Frau über ihre schwarzen Haare. Sie wollte nicht, dass die Menschen sie als etwas Besonderes betrachteten.
Als sie durch das Dorf ritt, winkte sie ihren Untertanen noch einmal freundlich zu. Zufrieden ritt sie zurück zum Schloss. Unter ihrem Herzen spürte sie das neue Leben.
***
Das Land, in dem Isella mit ihrem Gemahl König Carlo lebte, war urspringlich eine einzige Moorlandschaft. Ein junger Königssohn, der bei seinen Streifzügen einst dieses Land entdeckte, war so beeindruckt von der Schönheit des Tales, das von sanften Hügeln und mächtigen Bergen umgeben war, dass er beschloss, sich hier anzusiedeln.
Mit seinen wenigen Untertanen legte er mit viel Aufwand das Moor trocken. So entstand mit viel Mühe und großem Fleiß ein fruchtbares Land. An den Südhängen pflanzte er rote Edelreben, aus denen ein besonders köstlicher Wein gekeltert wurde.
Das alles geschah vor sehr, sehr langer Zeit. Genau gesagt, vor 999 Jahren. Der junge König nannte sein neugegründetes Reich Thalmoor. Dieses Land besaß sogar einen eigenen Kalender. Ihre Zeitrechnung begann mit der Urbarmachung des Tales.
König Carlo war nun schon der 11. Monarch, der liebevoll und gerecht über sein kleines Volk regierte. Es gab weder Polizei noch ein Gericht. Gefängnisse waren unbekannt.
Wenn Menschen doch einmal Probleme miteinander hatten, was nur selten vorkam, erschienen sie vor dem König. Nach genauer Prüfung des Falles sprach er dann ein gerechtes Urteil, das willig von den streitenden Parteien angenommen wurde, denn sie kannten ihren König als weisen und gerechten Mann.
König Carlo, der heute hier regierte, musste das Amt des Richters aber nur einige wenige Male ausüben.
Die Außenwelt rätselte viel darüber, ob dieses geheimnisvolle Land überhaupt existierte, weil kein Mensch es je gesehen oder gar betreten hatte. Nur Gerüchte und Legenden keimten immer wieder auf.
Durch die zerklüfteten Bergriesen, die als natürliche Grenze dienten, wurde dieses sagenumwobene Land völlig von der Außenwelt abgeschirmt. Dort, wo die Berge den einzigen Zugang erlaubten, schützten sieben gewaltige Kastanienbäume mit ihrem breiten Blätterdach wie eine undurchdringliche Hecke das Land.
Unter dem knorrigen Wurzelwerk der Bäume wohnten in sieben Höhlen sieben weise und mächtige Männer, die das kleine Königreich bewachten. Nur sie und der König kannten diesen geheimen Weg durch das Gebirge zur Außenwelt.
Selbst wenn jemand davon gewusst hätte, kein Unbefugter hätte es gewagt, an den sieben Wächtern vorbei zu schleichen. So blieb das Königreich für die Außenwelt unerreichbar. Und das war gut, denn das Land war sehr schön und fruchtbar. Alle Menschen waren glücklich und zufrieden, und das sollte auch so bleiben, dank der weisen Männer, die dem König mit gutem Rat zur Seite standen.
***
Am Tag nach dem Dorfbesuch seiner Gemahlin befand sich König Carlo im Blauen Salon und lief ruhelos im Zimmer auf und ab. Das Gemach gehörte eigentlich der Königin.
Er hielt sich gerne hier auf, denn für ihn war dieser Raum der schönste im ganzen Schloss. Liebevoll betrachtete er die hübschen, elfenbeinfarbigen Möbel aus kostbarem Holz, die Isella selbst entworfen und der Hofschreiner nach ihren Plänen angefertigt hatte. Die hellblauen Tapeten aus feinster Seide passten farblich zu den gemütlichen Polstermöbeln und den Teppichen.
König Carlo liebte diesen Raum ganz besonders, aber noch viel mehr liebte er seine wunderschöne Frau. Würde sie ihm einen kleinen Prinzen oder eine Prinzessin schenken? Der König lächelte glücklich bei dem Gedanken, endlich Vater zu werden. Er öffnete das Fenster weit, damit die kühle Morgenluft hereinströmen konnte.
Sein Blick schweifte über das weite Land seines Reiches. Im leichten Dunst des Morgens konnte er im Hintergrund die bizarren Umrisse einer mächtigen Gebirgskette erkennen. Auf saftigem Weideland grasten wohlgenährte Kühe und Schafe friedlich nebeneinander. Auf großen Koppeln weideten seine weißen Zuchtpferde, die im ganzen Land für ihr feuriges Temperament und ihren stolzen Wuchs bekannt waren. Seine Augen wanderten über eine weite Ebene mit fruchtbarem Ackerland. Die fleißigen Hände seiner Untertanen brachten gerade die reiche Ernte in die Kornkammern des Landes ein. Wie eine große, glückliche Familie lebten hier alle einträchtig zusammen.
Der König trat vom Fenster zurück und setzte sich in einen der zierlichen, blaugeblümten Sessel vor einem Kamin aus glänzenden weißen Marmor. Er legte einige Birkenscheite auf die Glut. Die auflodernden Flammen verströmten eine wohlige Wärme.
In einer Fensternische stand ein Spinnrad. In Gedanken sah er seine Frau Isella davor sitzen und Schafvlies zu Wolle spinnen, wenn sie nicht gerade unterwegs zu ihren Untertanen war. Und nicht genug: Aus der Wolle strickte sie unermüdlich, Mäntelchen, Pullover und Strümpfe. „Für meine Kinder”, wie sie immer wehmütig meinte. Es gab fast kein Kind im ganzen Königreich, das nicht ein solch warmes Kleidungsstück von ihr besaß.
Noch gestern war Isella vom Morgengrauen bis in die tiefe Nacht mit ihrem Hengst unterwegs gewesen, und heute sollte sie ihr erstes Kind gebären.
In Gedanken hörte der König bereits fröhliches Kinderlachen durch das Schloss erschallen. Wie sehr hatten sie sich dieses Kind gewünscht. Viele Jahre warteten sie schon sehnsüchtig darauf. 'Es waren zu viele Jahre', dachte er mit großem Bedauern.
König Carlo blickte zum Fenster. Im Raum war es düster geworden. Wie ein graues Tuch zogen finstere Wolken vom Westen herauf und bedeckten bald den ganzen Himmel. Ein schweres Unwetter zog in Richtung des kleinen Königreichs. Grelle Blitze durchzuckten den Horizont, gefolgt von mächtigem Donnergrollen. Die ersten Regentropfen klopften bereits auf das Fensterbrett.
Der König stand auf, um das Fenster zu schließen. Ein banges Gefühl beschlich sein Herz. War das ein schlechtes Omen? Kummervoll starrte er in den Kamin und hoffte, dass alles gut ging. Seine trüben Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.
Die Kammerzofe der Königin betrat den Raum, machte einen tiefen Knicks und verkündete freudig: „Majestät, es ist so weit.”
König Carlo sprang von seinem Sessel hoch. Aufgeregt rannte er, ziemlich unköniglich, zum Schlafgemach seiner Gemahlin. Völlig erschöpft, doch mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht, empfing Isella ihren Gatten.
Der König traute seinen Augen nicht. In jedem Arm seiner Frau lag ein kleines, schreiendes Bündel. „Zwillinge”, stieß er überrascht hervor.
Die Königin nickte überglücklich. „Ja, zwei süße Mädchen. Wir werden sie Julia und Lisa nennen, wenn du nichts dagegen hast.” Ihre Stimme klang sehr schwach.
Der König war selbstverständlich einverstanden. Jetzt waren sie endlich eine richtige Familie. Überschwänglich schloss er seine geliebte Frau in die Arme. Um die beiden Mädchen auseinander zu halten, ließ der König vom Goldschmied zwei schmale, goldene Ringe anfertigen, auf deren Innenseite der Name der Mädchen eingraviert war.
Das Volk freute sich mit dem Königspaar über die Geburt der Zwillinge. Sie schickten Geschenke, spielten die lieblichsten Melodien auf Panflöten und Lauten und sangen die fröhlichsten Lieder.
Als die sieben weisen Männer, angelockt von Gesang und Lautenklang, ihre Höhlen verliessen, stellten sie bestürzt fest, dass die sieben Kastanienbäume, die Thalmoor vor unbefugtem Zutritt beschützten, ihre gesamten Blätter und Früchte abgeworfen hatten. Auch alle Vögel, die im Schatten der Bäume auf den Zweigen wohnten, hatten fluchtartig ihre Nester verlassen. Voller Sorge blickten die Weisen auf die kahlen, fruchtlosen Äste, die gespenstisch in den düsteren Himmel ragten. Sie befürchteten Schlimmes!
In der Hoffnung, einen Weg zu finden, um Unglück von Thalmoor abzuwenden, zogen sie sich wieder in ihre Höhlen zurück. Tag und Nacht forschten sie in ihren Büchern, um zu erfahren, was das zu bedeuten hatte. Doch vergebens. Nirgendwo fanden sie eine Deutung für dieses seltsame Phänomen.
Einer der Weisen schwang sich auf sein Pferd, um König Carlo zu warnen. Erschrocken fragte der König nach der Bedeutung.
Ratlos zuckte der weise Mann nur mit den Schultern. „Wir haben nachgeforscht, aber keine Erklärung gefunden.”
„Und was vermutet ihr?” wollte der König wissen. Der Mann schaute König Carlo sehr ernst an, ohne zu antworten.
„Sagt mir bitte, was ihr darüber denkt”, bat der König wiederholt.
„Unglück wird euer Königreich treffen. Soviel steht fest.” erwiederte der Mann leise.
„Gibt es einen Weg, dieses Unglück zu verhindern? Sprich!” bat der König mit zitternder Stimme.
Der weise Mann zögerte einen Moment. „Bedauerlicherweise steht es weder in Eurer noch in unserer Macht, das Unglück abzuwenden." Nach einer Weile meinte er nachdenklich: "Es gibt eine sehr alte Prophezeiung, die besagt, dass drei Edelsteine zu einem verschmolzen werden müssen. Es sind der Stein des Windes, der Stein des Wassers und der Stein des Feuers. Dadurch kann das Unglück abgewendet werden"
"Wie soll das geschehen?" fragte der König erschrocken. "Und wo finden wir diese Steine?"
Der weise Mann schüttelte den Kopf. "Wir müssen abwarten, bis die Zeit gekommen ist und das Unglück geschieht. Dann werden wir sehen, in welcher Art die Prophezeiung eintrifft.” Mit diesen Worten verließ er das Schloss und ritt zurück zu seiner Höhle. Voll Trauer verhüllten Thalmoors Weisen ihre Häupter mit schwarzen Tüchern, um der Dinge zu harren, die über das kleine Königreich kommen sollten.
Erschrocken über diese Botschaft begab sich der König in seine inneren Gemächer. Er musste darüber nachdenken, wer wohl seinem Land Schaden zufügen könnte. Von Aussen konnte bisher niemand sein Königreich betreten. Ob das noch so bleiben wird, da die schützenden Bäume ja die Blätter abgeworfen hatten, musste sich zeigen. Vorsorglich beorderte er seine Leibgarde an das Tor zur Aussenwelt. Unbemerkt würde jetzt Niemand mehr eindringen können. Der König befürchtete, dass das Unglück nur noch von innen kommen konnte.
Er war jedoch immer ein guter König gewesen, und seine Untertanen liebten ihn und seine Familie über alles. Er war sich sicher, dass keiner seines Volke seiner Familie Schaden zufügen würde. Er schüttelte den Kopf und redete sich ein, dass die Weisen sich geirrt haben mussten. Doch ein ungutes Gefühl wollte nicht von ihm weichen.
***
Königin Isella war kaum von ihrer schweren Geburt genesen, da sah man sie schon wieder auf ihrem weißen Hengst durch Thalmoor reiten. Von nun an war immer eines ihrer Kinder dabei. Wohlbehütet band sie die Mädchen mit einem großen Wolltuch vor ihrem Körper fest. Der König hob oft tadelnd den Finger, aber seine Frau lachte nur und sagte glücklich: „Ich muss doch unserem Volk unsere süßen Babys zeigen. Außerdem sollen sie einmal, wenn ich nicht mehr bin, meine Aufgaben übernehmen.”
Ein neues Jahr ging ins Land. Die Zwillinge machten die ersten Gehversuche. Schon bald sah man die Prinzessinnen an der Hand ihrer Kindermädchen übermütig durch das Schloss springen. Neugierig untersuchten sie jeden Raum.
Der Thronsaal wurde ihr Lieblingsspielplatz. Julia, die das ungezügelte Temperament ihrer Mutter besaß, setzte sich einmal des Vaters goldene Krone auf den Kopf. Viel zu groß rutschte sie ihr über die Ohren. Lachend krabbelte sie auf den Thron und schwang das Zepter.
Oft folgte ihnen der Vater, immer in der bangen Furcht, dass seinen Kindern etwas zustoßen könnte.
In diesem Jahr wollte König Carlo mit seinen Untertanen die Tausendjahrfeier seines Königsreiches begehen. Und weil es bisher keine Zwischenfälle gab, vergaß der König allmählich die unheilvolle Botschaft der Weisen.
Es war Oktober, und die Ernte war bereits eingefahren. Die ersten Herbststürme brausten über Thalmoor, da veränderte sich plötzlich die Königin. Sie war immer müde und hatte auch nicht mehr die Kraft auszureiten. Apathisch lag sie auf ihrem Ruhebett. Ihre strahlenden Augen waren trübe, und ihr einst glänzendes Silberhaar wirkte stumpf.
Königin Isella litt an einer rätselhaften Krankheit. Sie, die so vielen Menschen geholfen hatte, lag nun selbst hilflos in ihren Kissen und wurde von Tag zu Tag schwächer. Niemand konnte sich die Ursache dafür erklären.
Der König schickte seine Kuriere mit den schnellsten Pferden durch das ganze Land, um die besten Heiler zu holen, in der Hoffnung, dass sich einer fand, der seine geliebte Frau gesund machen konnte. Doch vergebens!
Da ihnen die Krankheit unbekannt war, wussten sie auch keine Medizin, die helfen könnte. Niedergedrückt verließen die Mediziner mit hängenden Köpfen das Schloss.
Ebenso hilflos waren die sieben Weisen, die der König zu Rate zog. Sie zuckten bedauernd die Schultern. Da die Bäume immer noch blattlos waren, wussten diese nur, dass das Unheil nicht aufzuhalten war.
König Carlo saß Tag und Nacht am Bett seiner kranken Gemahlin und hielt ihre kraftlosen Hände. In seiner Verzweiflung rannen Tränen über sein Gesicht. Er konnte nicht begreifen, dass niemand in der Lage war, Isella zu helfen. Das Volk bangte in Thalmoors schwersten Tagen, die dieses Land je erlebt hatte, mit ihmem König.
Der Winter zog ins Land. Das einstmals blühende Königreich und die Menschen, die darin lebten, veränderten sich. Wo einstmals alles voll Freude und Liebe war, herrschte plötzlich tiefe Trauer und Angst.
Aus den Fenstern flatterten schwarze Banner im Wind. Die fröhlichen Weisen der Barden waren verstummt, und die großen Poeten am Hof des Königs hatten ihre Worte verloren. Kein Lachen drang an das Ohr des Königs in dieser schweren Zeit. Die Menschen klagten und bangten.
Als es Königin Isella noch gut ging, hatte sie in weiser Vorraussicht, die Goldschmiede aufgesucht. Sie hatte einen seltenen, zweifarbigen Edelstein dabei. Ein Erbstück ihres Vaters. Die eine Seite funkelte in einem zarten Hellrosa, während die Rückseite durchsichtig war. Sie ließ den Edelstein teilen und in Amulette fassen. Die Schmiede befestigten diese an lange, goldene Ketten.
Nun, da der Tag kam und die Königin spürte, dass sie sterben musste, rief sie ihre beiden Töchter zu sich.
Die Königin schenkte jedem Mädchen eines der Amulette. Julia bekam das mit der durchsichtigen Hälfte, und Lisa das mit der rosa-farbenen.
„Die Edelsteine mögen euch Glück bringen”, flüsterte sie und umarmte mit letzter Kraft ihre Mädchen. "Sie sind das größte Vermächtnis, das ich euch hinterlassen kann.” Ihre Stimme versagte fast, als sie sich zu ihrem Gemahl wandte. "Pass’ gut auf meine kleinen Mädchen auf.” Mit einem tiefen Seufzer fiel ihr Kopf zur Seite und sie entschlief. Ein ganzes Jahr hatte die Königin gegen ihre rätselhafte Krankheit angekämpft. Vergeblich!
***
Ein schmerzliches Wehklagen tönte durch die Mauern des Schlosses. Das ganze Königreich fiel in unendliche Trauer, als sich die Schreckensbotschaft vom Ableben ihrer geliebten Königin, verbreitete. Welch ein Unglück. Der König war untröstlich. Würde er jemals über den Tod seiner Frau hinwegkommen? Er bezweifelte das.
Die Mädchen waren noch keine drei Jahre alt, als Isella starb. Nun musste er seine Kinder ganz allein großziehen. Die Mutter zu ersetzen, war keine leichte Aufgabe für ihn.
Der König ließ Isella in einen gläsernen Sarg legen und in die dunklen Gewölbe unter das Schloss bringen. Außer ihm selbst hatte niemand Zutritt zu ihrer letzten Ruhestätte. Jeden Tag stieg er in die unterirdische Gruft und verbrachte viele Stunden bei seiner toten Frau. Er klagte und weinte über sie, doch sie konnte ihn nicht hören. Wenn er von den übermütigen Streichen der beiden Mädchen berichtete, meinte er manchmal, ein Lächeln auf dem Gesicht seiner geliebten Frau wahrzunehmen. Ja, er liebte sie über den Tod hinaus..
***
So vergingen die Jahre. Von Schwermut und Kummer gezeichnet, sah der König seine Töchter zu zwei wunderschönen Mädchen heranwachsen. Obwohl er Isella nicht vergessen konnte, musste er doch für seine Kinder weiterleben. Um sich von seinem tiefen Schmerz abzulenken, begann er Blumen zu züchten. Er legte um Schloss Schönblick einen herrlichen Garten an. Es dauerte nicht lange und man sprach in ganz Thalmoor nur noch von König Carlos einmalig schönem Blumengarten.
Tagtäglich, wenn er nicht gerade bei seiner Frau in der Gruft verweilte, ging König Carlo in seinen Garten. Stolz streifte er durch die Blumenbeete. In den letzten Jahren hatte er viele Blumen gesät, gepflanzt und gepflegt. Aber was er heute zu sehen bekam, versetzte ihn in große Verwunderung. Auf einem Beet, umgeben von dunkelblauen Veilchen und Vergissmeinnicht, war über Nacht eine Blume von unbeschreiblicher Schönheit erblüht. Fremdartig und exotisch, wie aus einer anderen Welt. Die Blütenblätter waren außen purpurrot, innen aber von einem tiefen Schwarz. Was sehr ungewöhnlich war, in der Mitte des Blütenkelches, wo sonst die Staubgefäße sitzen, befand sich ein Loch, durch das man bis auf den Grund des Stängels sehen konnte. Als der König sich bückte, um an der Blüte zu riechen, zog ein süßer, betörender Duft in seine Nase, der ihn leicht betäubte. König Carlo schüttelte den Kopf. Wie merkwürdig. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, sie gepflanzt zu haben.
Von Tag zu Tag nahm die Blume an Pracht und Schönheit zu. Schnell verbreitete sich die Kunde von dieser außergewöhnlichen Blume im ganzen Land. Neugierig strömten aus allen Gegenden die Menschen herbei, um dieses Wunderwerk der Natur zu bestaunen.
***
Wie jeden Nachmittag, die Sonne schien warm vom Himmel, ging König Carlo in seinen Blumengarten. Seine Tochter Julia begleitete ihn. Während sich der König um seine unzähligen Blumengewächse kümmerte, tollte Julia, übermütig wie ein Wildfang, zwischen den Blumenbeeten herum. So manche Blüte und manches Blatt wurde dabei geknickt. Wenn der Vater mit dem Finger drohte, lachte sie nur und warf ihre braune Mähne hinter sich. Ihre grünen Augen blitzten dabei verschmitzt.
‘An ihr ist ein Prinz verloren gegangen’, dachte der Vater. Und er hatte Recht. Julia benahm sich oft eigenwillig und widerborstig wie ein Knabe. Ein ungestümes Kind, das Reiten und Fechten den fraulichen Pflichten einer Prinzessin vorzog. Mit ihren fünfzehn Jahren ritt sie auf den wildesten Hengsten, die der Vater züchtete. Doch am liebsten ritt sie Zamiro, den Hengst ihrer verstorbenen Mutter. Obwohl an Jahren fortgeschritten, war er immer noch sehr temperamentvoll. In wildem Galopp preschte er mit Julia auf dem Rücken, wie der Teufel durch Wald und Wiesen, so dass die Untertanen nur kopfschüttelnd murmelten: „Wenn das mal gut geht.”
Oft sah man die Prinzessin, bekleidet mit ledernen Bundhosen und schweren Stiefeln an den Füßen, bei den Stallknechten die Pferdeboxen ausmisten. Gelegentlich fuhr sie sogar mit den Feldarbeitern zur Ernte hinaus, wobei sie hoch auf dem Wagen saß und die Ochsen mit wildem „Heja, heja” antrieb. In der Dämmerung schloss sie sich den Jägern an, strich mit ihnen durch die Wälder, um die Tiere zu beobachten. Besonders die Rehe hatten es ihr angetan. Sie liebte diese grazilen Geschöpfe, die im Mondschein, auf der silbrig glänzenden Wiese, das saftige Gras ästen. Keinem war es erlaubt die schönen Tiere zu töten. Die halbe Nacht harrte Julia auf dem Hochsitz aus. Dafür schlief sie beim Unterricht, den die Zwillinge von einem Privatlehrer erhielten, regelmäßig ein. Das ungestüme Mädchen benahm sich nicht so gesittet, wie es von einer Prinzessin erwartet wurde. Doch weil sie sich, genau wie ihre verstorbene Mutter, schon in zartem Alter um kranke Kinder und alte Menschen kümmerte, liebte und verehrte sie das Volk.
Der König setzte sich laut seufzend auf eine Bank, um sich etwas auszuruhen. Wie können Zwillinge nur so verschieden sein? dachte er. Sogar in ihrem Aussehen ähnelten sie sich nur wenig.
Lisa kam gerade aus der Küche, wo sie heute wieder gelernt hatte, wie man eine leckere Pastete zubereitete. Jeden Tag brachte ihr die Köchin bei, ein anderes Gericht zu kochen. Lisa machte es großen Spaß in den Töpfen und Schüsseln zu rühren und Kuchenteig zu kneten. Das Küchenpersonal wunderte sich über die Wissbegier der Prinzessin, die immer ein kleines Büchlein dabei hatte, um all die köstlichen Rezepte zu notieren.
Lisa wollte Adda ihrer Ahnfrau noch einen Besuch abstatten, bevor sie zum Vater in den Blumengarten ging. Doch vorher musste sie noch in die Schlossbibliothek. Der Raum war vollgestopft mit Büchern. Unzählige Werke standen hier, ordentlich aneinander gereiht in mehreren Regalen, von bekannten und unbekannten Poeten. Sie liebte phantasievolle Märchen aus fernen Ländern. Zielsicher griff sie nach einem kleinen roten Bändchen. Mit dem Buch unter dem Arm lief sie hastig die Wendeltreppe hoch.
Adda bewohnte ganz oben im Südturm eine geräumige Kammer. Sie war die Hofschneiderin und lebte schon viele Jahre im Schloss. Seit Lisa denken konnte, nähte sie die Kleider der Königsfamilie. Wunderschöne Kleider aus Seide und Brokat, reich mit Goldfaden bestickt. Lisa war begeistert und wollte das auch erlernen. So brachte die Ahnfrau ihr das Spinnen, Nähen und Sticken bei. Besonders das Sticken hatte es Lisa angetan. Die Prinzessin war eine gelehrige Schülerin. In kürzester Zeit hatte sie gelernt mit ihren geschickten Fingern, Decken, Kissen und Gewänder zu besticken. Der Vater lächelte anerkennend, als sein goldener Thron einen bestickten Überzug aus buntem Seidenfaden bekam. Doch so sehr sich die Prinzessin auch bemühte, ihre Arbeiten waren bei weitem nicht so schön wie die der Ahnfrau. Gab es ein Geheimnis um diese geschickte Näherin, die oft in einer einzigen Nacht, für die Zwillinge die schönsten Kleider nähte? Wie machte sie das bloß? Das grenzte schon an Zauberei. Die Prinzessin wollte das unbedingt herausfinden.
Leise schlich sie zur Tür und spähte neugierig durch das Schlüsselloch.
Adda saß in einem Lehnstuhl und sprach zu einer goldenen Nadel, die vor ihr in einem roten Samtkissen steckte: „Nadel geschwind, näh’ wie der Wind, des Königs neue Kleider.”
Die Prinzessin traute ihren Augen nicht, als die Nadel aus dem Nadelkissen sprang und hurtig durch den Stoff tanzte. In kürzester Zeit entstand ein reich bestickter, kostbarer Gehrock für den König.
Lisa stieß einen verwunderten Schrei aus. Sie wollte gerade wieder die Treppe nach unten laufen, als die Tür aufging.
„Nun bist du meinem Geheimnis doch noch auf die Spur gekommen”, lächelte Adda. Statt Schelte, legte sie der Prinzessin den Arm um die Schultern.
Lisa schlug die Augen nieder. „Es tut mir leid”, stammelte sie verlegen.
„Wenn die bestimmte Zeit gekommen ist schenke ich dir die Nadel. Ich bin alt und werde nicht mehr lange leben. Dann kannst du all’ die schönen Sachen nähen.”
„Wirklich?” Lisa drückte der Ahnfrau freudestrahlend einen dicken Kuss auf die Wange. „Erzählst du mir, wie du zu dieser Zaubernadel gekommen bist?”
Die alte Frau setzte sich in den Lehnstuhl und schaute verträumt aus dem kleinen Erkerfenster. „Das ist eine lange Geschichte.”
Lisa ließ sich zu Addas Füßen nieder und schaute erwartungsvoll in ihr Gesicht.
***
„Einst lebte ich mit meiner Mutter und meinem zwei Jahre älteren Bruder in einem Land, fern von hier. Mutter war auch eine Näherin. Unser winziges Haus mit zwei winzigen Kammern, stand etwas abseits eines kleinen Dorfes. Mein Vater starb, als ich gerade fünf Jahre alt war. So musste uns meine Mutter mit ihren Näharbeiten allein ernähren. Wenn niemand etwas zum Nähen brachte, mussten wir oft hungrig ins Bett gehen.
Eines Nachts wurde Mutter von einem seltsamen Geräusch geweckt. Als sie vor die Tür trat, stand ein großes, graues Pferd vor ihr und daneben auf der Erde lag ein lebloser Mann. War er krank oder verwundet? Schnell weckte sie meinen Bruder auf. Gemeinsam schleppten sie den Mann in die Schlafkammer und legten ihn auf Mutters Bett. Von dem Lärm wachte auch ich auf. Im Kerzenlicht sahen wir, dass der Mann noch sehr jung war. Doch schien alles Leben aus seinem Körper gewichen. Mutter legte ihren Kopf auf seine Brust. „Sein Herz schlägt noch, wenn auch sehr schwach”, flüsterte sie erleichtert.
Der junge Mann hatte edle Kleider an und musste wohl von vornehmer Geburt sein.
Mit Hilfe meines Bruders zog Mutter dem Fremden die Kleider aus, um nach der Ursache seiner Ohnmacht zu forschen. Oberhalb des Herzens fand sie eine schmale Verletzung, die leicht blutete. Es sah nach einer Stichwunde aus. Um die Wunde zu säubern, machte Mutter einen Kessel Wasser heiß.
Während der junge Mann schlief, lief Mutter aus dem Haus. Mit einer Handvoll Kräuter kehrte sie zurück, um daraus einen Sud zu kochen.
Die ganze Nacht saß sie in einem Lehnstuhl am Bett des jungen Mannes und wechselte von Zeit zu Zeit die Umschläge. Drei Tage und Nächte wachte meine Mutter neben dem Kranken, gönnte sich nur wenig Schlaf, bis er endlich die Augen aufschlug.
Ängstlich schaute er uns an. „Wo bin ich und wer seid ihr?”
Mutter nahm seine Hand. „Du hattest eine böse Wunde an der Schulter und warst drei Tage sehr krank.”
„Eine Wunde?” fragte der junge Mann zögernd. Er seufzte laut und nickte. „Ja, ich erinnere mich.” Mit schwacher Stimme erzählte er, dass er unter die Räuber gefallen war, die ihn niederstachen und seinen Beutel mit Goldstücken raubten. „Sie glaubten wohl ich wäre tot und ließen mich einfach liegen. Mühsam, unter starken Schmerzen, schleppte ich mich bis zu eurem Haus.”
Der junge Mann blieb noch einige Tage und Mutter versorgte ihn mit Nahrung, bis er wieder kräftig genug war auf seinem Pferd zu reiten. Zum Abschied schenkte sie ihm noch ein kleines Geldstück, damit er sich unterwegs etwas zum Essen kaufen konnte, denn er kam von sehr weit her.
„Ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast und für deine liebevolle Pflege. Ich werde dich reichlich belohnen für deine Barmherzigkeit”, versprach er und umarmte Mutter herzlich beim Abschied.
„Lass’ nur”, wehrte sie ab. „Solange ich zwei gesunde Hände und Aufträge zum Nähen habe, werden meine Kinder nicht hungern müssen.”
***
Der Sommer verging und der Herbst zog ins Land. Wir saßen gerade bei unserem kargen Abendbrot, als ein Reiter angaloppiert kam. Ein junger Mann sprang vom Pferd. Es war aber nicht der Mann, den Mutter gepflegt hatte. Dieser junge Bursche war sehr einfach gekleidet und sah eher wie ein Stallknecht aus. Meine Mutter trat vor die Tür, um ihn zu begrüßen. Dann bat sie ihn ins Haus und bewirtete ihn mit Brot und Kräutertee.
Als er sich gestärkt hatte meinte er freundlich: „Ich soll dich von Konja grüßen.”
„Konja?” fragte Mutter und schüttelte den Kopf. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen.”
„Er ist der junge Mann, den du in dein Haus aufgenommen und gesund gepflegt hast.”
„Ach ja”, erinnerte sich Mutter. „Geht es ihm gut?”
„Ja, er ist wieder vollkommen gesund. Er hat dir sein Leben zu verdanken und schickt dir das hier.” Aus seiner Jackentasche nahm er ein kleines, silbernes Schmuckkästchen und legte es in Mutters Hand.
Neugierig öffnete sie den Deckel und stieß einen entzückten Schrei aus. „Ah, wie schön.”
Auf einem roten Kissen steckte eine goldene Nadel.
„Es ist keine gewöhnliche Nadel”, erklärte der junge Mann. „Merke dir diese Worte gut: ‘Nadel geschwind, näh’ wie der Wind.’ Wenn du diese Worte sprichst, näht dir die Nadel alles was du dir wünschst. Doch wisse, zu ihrer bestimmten Zeit, wird sie die Zauberkraft verlieren.” Erneut griff er in seinen Wams. Ein kleiner Lederbeutel kam zum Vorschein, den er Mutter überreichte. „Der Lohn für deine Barmherzigkeit.” Zu guter Letzt, öffnete er seine Satteltasche und holte den Spross eines Baumes heraus. „Pflanze ihn in deinen Garten. Er bringt Sommer wie Winter Früchte hervor, köstliche Früchte.” Beim Abschied fragte er: „Weißt du eigentlich, wen du gesund gepflegt hast?” Als meine Mutter verneinte, fuhr der junge Mann fort: „Er ist der Sohn des mächtigen Elbenkönigs Zeno, vom Land der Palmenhaine, nahe des großen Meeres.”
Mutter hatte noch nie von diesem König gehört, geschweige denn von einem Land, das so hieß.
Als uns der junge Mann verließ, schauten wir neugierig in den Beutel. Er war prall gefüllt mit Goldmünzen. Mutter weinte vor Freude. Glücklich umarmte sie uns.
„Nun brauchen wir nie wieder zu hungern” schluchzte sie.
Gemeinsam liefen wir in den Garten, um den Spross einzupflanzen. Schon ein Jahr später trug der Baum herrliche, leuchtendrote Früchte. Niemals zuvor hatten wir solche Früchte gesehen, die nicht nur schön aussahen, sondern auch noch außerordentlich köstlich schmeckten. In kürzester Zeit wuchs der Baum zu einer stattlichen Größe empor. Wir ernteten so viele Früchte, dass wir sie auf dem Markt verkaufen konnten. Sie waren sehr begehrt, ja, die Menschen rissen meiner Mutter die Früchte förmlich aus den Händen.
Von diesem Tag an hatte die Not ein Ende. Der Baum war ein Wunderbaum, und die Nadel eine Zaubernadel. Mutter wurde die beste Näherin im ganzen Land. Von überall strömten die feinen Herrschaften herbei, um Mutters Nähkunst in Anspruch zu nehmen. Und die Leute zahlten gutes Geld. Dank der Zaubernadel brauchte sich Mutter nicht mehr die Finger wund zu nähen. Wir konnten uns ein hübsches, kleines Haus kaufen und mein Bruder und ich besuchten sogar eine Schule. Als meine Mutter starb vererbte sie mir die wundersame Nadel, während mein Bruder den Fruchtbaum erhielt. Nun war ich die Näherin, die die schönsten Gewänder anfertigen konnte. Das blieb auch in eurem Königreich nicht unbemerkt.
Eines Tages stand ein weißgekleideter, alter Mann an meiner Tür und bat mich, ihn zu begleiten.
Als ich fragte wohin die Reise gehen soll, erklärte der Mann: „König Temach hat von deiner Nähkunst gehört und bittet dich als Näherin auf Schloss Schönblick zu dienen.”
„Schloss Schönblick?” fragte ich. „Das kenne ich nicht. Wo steht dieses Schloss.”
„Es liegt östlich von hier im Land Thalmoor”, erwiderte der Mann. „Du kannst es nicht kennen, denn ein mächtiges Gebirge trennt dieses Land von der Außenwelt. Außerdem gibt es nur einen einzigen Zugang und der wird durch sieben riesige Kastanienbäume versperrt und von sieben weisen Männern bewacht. Ich bin einer dieser Männer und ich kann dir Einlass in unser Land gewähren.”
Adda schwieg eine Weile.
„Es war damals eine große Ehre als Hofschneiderin auf einem Schloss zu dienen. Deshalb willigte ich sofort ein. So gelangte ich vor vielen, vielen Jahren zu deinen Großeltern in euer Land. Seit dieser Zeit nähe ich all’ die schönen Kleider für dich und deine Familie. Das Brautkleid deiner Mutter war eines meiner Prunkstücke.”
Aufmerksam hatte Lisa der spannenden Geschichte gelauscht und freute sich, einmal die Besitzerin der Zaubernadel zu werden.
Liebevoll betrachtete König Carlo seine Tochter Lisa, die gerade mit einem Buch in der Hand vom Schloss kam und den weißen Kiesweg entlanglief. Sie setzte sich zwischen die duftenden Blumenbeete neben ihren Vater auf die Bank. Stolz betrachtete der König seine Tochter. Was für ein hübsches Mädchen sie doch war. Ihre silberblonden Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Ihre schönen, blauen Augen waren in das Buch vertieft. Das Mädchen erinnerte ihn schmerzhaft an seine geliebte Frau, die viel zu früh von ihm gegangen war.
***
Lisa war ganz entrückt im Reich der Phantasie, während sie las. Doch nach einiger Zeit fühlte sie Unbehagen in sich aufsteigen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war so still geworden im Blumengarten. Sie schaute von ihrem Buch auf. Ihr Blick fiel auf ihre Schwester. Merkwürdig, Julia stand bei der wundersamen Blume und schien mit ihr zu reden. Auf ihrem Kopf saß, wie eigenartig, eine silberblonde Perücke. Lisa konnte nicht hören was Julia zu der Blume sagte. Dafür war sie zu weit weg. Aber sie sah wie sich die Lippen ihrer Schwester bewegten. Lisa lächelte über Julias sonderbares Verhalten. Sie wollte sich gerade wieder ihrem Buch zuwenden, da senkte die schöne, purpurrote Blume ihren Blütenkelch. Die großen Blütenblätter umklammerten ihre Schwester und hoben sie auf. Vor den Augen des entsetzten Vaters, der das Ganze auch beobachtet hatte, verschlang die Blume die Prinzessin. Zu Tode erschrocken, mit einem lauten Aufschrei, stürzten der König und Lisa zu der Blume und starrten mit entsetzten Augen in deren Schlund.
„Julia, Julia, wo bist du?” riefen sie fassungslos und schüttelten am Stiel der Blume.
Doch vergeblich, das Mädchen war verschwunden. Nur die silberblonde Perücke blieb am Boden zurück. Der König bedeckte seine Augen. Wie viel Unglück sollte ihn noch treffen? War es nicht schon genug seine geliebte Frau zu verlieren? Und nun auch noch seine Tochter. Hilflose Verzweiflung überfiel ihn.
Lisa legte den Arm um ihren weinenden Vater, der immer wieder stammelte: „Welch ein Unglück, welch ein Unglück.”
***
In ganz Thalmoor wurden die mutigsten jungen Männer aufgefordert, nach der Prinzessin zu suchen. König Carlo versprach demjenigen eine hohe Belohnung, der sie unversehrt zurückbrachte. Die größte Suchaktion in der Geschichte des Landes begann. Der König befahl jeden Ort, jeden Winkel des Königreiches zu durchforschen. Die Menschen zogen in Scharen durch die Wälder, schauten unter jeden Busch, ja sie drehten jedes Blatt um. Doch die Prinzessin war nicht aufzufinden. Nicht eine Spur von ihr. Tapfere, unerschrockene Ritter, stiegen sogar in den Schlund der Blume. Mit ihren langen Schwertern, versuchten sie den Boden zu öffnen. Aber auch die stärksten Helden des Landes waren nicht in der Lage, der Blume auch nur einen Kratzer zuzufügen. Sie spuckte die Männer einfach wieder aus. Selbst die Waldarbeiter mit ihren scharfen Äxten, denen schon manche steinharte Eiche zum Opfer gefallen war, schlugen vergeblich auf den Stamm der Blume ein, in der Absicht sie zu fällen.
Da wusste der König sich nicht mehr anders zu helfen. Er rief die königlichen Handwerker und ließ um die Blume eine Mauer errichten. Durch sie sollte niemand mehr Schaden erleiden.
***
Wochen vergingen nachdem Julia auf so mysteriöse Weise verschwunden war. Eines Abends stieg Lisa die steile Wendeltreppe zum Ostturm hinauf. Hier hielt sie sich öfter auf, weil man von dort oben eine wunderbare Sicht auf den Blumengarten ihres Vaters hatte. Sie beugte sich über den grobgemauerten Sims und schaute direkt in den Schlund der Unglücksblume. Schwarz wie Samt glänzten die Inneren, rot wie Feuer die äußeren Blütenblätter. Tautröpfchen sammelten sich an den Härchen und sausten in die Tiefe. Die Blume sah schöner aus denn je. Gefesselt von ihrer Pracht war Lisa nicht imstande ihren Blick abzuwenden. Alles begann sich um sie zu drehen und es kam ihr vor als würde sie durch eine unheimliche Macht angezogen. Sie hatte nicht die Kraft sich dagegen zu wehren.
Da erklang eine sanfte, ruhige Stimme.
„Fürchte dich nicht, mein Kind.”
Der Bann der Blume ließ etwas nach, und Lisa konnte sich von ihrem Zauber befreien. Der Blütenkelch neigte sich leicht im Wind und schien ihr ein Zeichen zu geben. Doch Lisa achtete nicht darauf. Nur weg hier! Ganz benommen und völlig verwirrt wankte sie mit zitternden Knien die vielen Treppen hinunter, hin zu ihrem Zimmer. Erschöpft sank sie auf ihr Bett und war schon bald eingeschlafen. Ein merkwürdiger Traum beunruhigte sie. Julia, von einem Nebelschleier umgeben, winkte ihr zu.
Dann vernahm sie ganz deutlich die Stimme ihrer Schwester, die verzweifelt rief: „Lisa. Lisa, komm’!”
Immer wieder sprach Julia diese Worte. Drei Nächte hintereinander hatte Lisa diesen Traum. Julia rief nach ihr.
Doch in der letzten Nacht fügte sie noch hinzu: „Schau’ in den Stein unserer Mutter.”
Völlig verwirrt erwachte Lisa. Was hatten diese seltsamen Träume zu bedeuten? Der Mond schien direkt in ihr Gesicht. Noch ganz verschlafen rieb sie sich die Augen und streckte gähnend ihre Arme aus. Sie warf einen Blick auf den Schmuck ihrer Mutter, der neben ihr auf dem Nachttisch lag. Komisch, das war gar nicht ihr rosa Edelstein, sondern der durchsichtige ihrer Schwester, der da im Mondlicht schillerte. Julia musste die Schmuckstücke heimlich vertauscht haben.
"Aber warum?" fragte sie sich.
Während sie das Amulett betrachtete erschien Julias Gesicht in dem großen Stein.
„Bitte Lisa, hilf mir”, jammerte sie. „Ich bin beim Eisprinzen gefangen. Hinter den mächtigen, schwarzen Bergen liegt sein Schloss. Es ist bitterkalt hier. Ich friere so schrecklich.”
Dicke Tränen liefen über ihre blassen Wangen und gefroren zu Eisperlen.
„Komm’ bitte und hol' mich nach Hause. Sprich mit der Zauberblume. Sie wird dir helfen.”
Dann verschwand ihr bleiches Gesicht aus dem Stein.
Eisprinz? Wer war der Eisprinz? Und wer war die Zauberblume? Meinte Julia die sonderbare Blume aus Vaters Garten? Lisa war entsetzt. Sie sollte mit dieser unheilbringenden Blume reden? Vielleicht würde sie das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Schwester. Nein, sie war nicht begeistert von dieser Vorstellung, und sie hatte auch kein gutes Gefühl dabei. Mit Zweifel in ihrem Herzen lief sie zum Fenster und betrachtete die seltsame Blume, die im Mondlicht dunkel glänzte.
„Komm’ bitte in den Garten, Prinzessin”, säuselte eine zarte Stimme.
Es war die Blume, die da sprach. Lisa erschrak fürchterlich. Doch wie durch einen Zwang verließ sie das Zimmer. Barfuß, nur mit einem Nachthemd bekleidet, lief sie, wie eine Schlafwandlerin, über den Schlosshof bis hin zum Blumengarten. Vor der Mauer, die ihr Vater um die Zauberblume errichten ließ, blieb sie stehen.
„Berühre den dritten Stein von links!”, hörte sie die Blume sprechen.
Zaghaft tippte Lisa mit einem Finger an das Gemäuer. Wie von Geisterhand öffnete sich laut knirschend ein schmaler Spalt. Vorsichtig schlüpfte sie hindurch. Und da stand die Blume in all ihrer Schönheit. Der große Blütenkelch war nach vorne geneigt. „Tritt’ doch näher, mein Kind.”
Lisa zögerte. Ob sie dieser Aufforderung folgen sollte? Ihr Herz klopfte wie wild. Doch der Zauber der Blume zog sie fester in ihren Bann, dass ihre Füße völlig willenlos ein paar Schritte auf die Blume zuliefen.
„Fürchte dich nicht. Ich möchte dir helfen deine Schwester zu finden.”
Verwirrt schaute Lisa die Blume an. Sie wünschte sich nichts mehr auf dieser Welt als ihre geliebte Schwester wieder nach Hause zu holen. Doch wie konnte ihr diese Blume dabei helfen? Misstrauisch schüttelte sie den Kopf. „Erst verschlingst du meine Schwester und jetzt willst du mir helfen? Ich glaube nicht, dass ich dir vertrauen kann.”
„Ich verstehe dich gut”, erwiderte die Blume. „Aber es ist nicht meine Schuld. Weißt du Kind, Julia glaubte in ihrem Übermut doch tatsächlich, sie könne den Eisprinzen befreien.”
„Kannst du mir bitte sagen, was geschehen ist?” fragte die Prinzessin äußerst ungeduldig.
„Sie”..., die Stimme der Blume klang etwas verlegen. „Sie sah dir sehr ähnlich mit der silberblonden Perücke. Außerdem trug sie deine Kette um den Hals. Ich glaubte wirklich, sie wäre du.”
„Was?” fragte Lisa aufgebracht. „Du wolltest mich, statt Julia, verschlingen?”
Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Ihr war an jenem Tag sofort der Verdacht gekommen als sie Julia mit der blonden Perücke sah, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. Und das Geflüster mit der Blume fand sie auch höchst sonderbar.
Die Blütenblätter der Blume senkten sich.
Verwirrt sagte sie nach einer Weile: „Dass ausgerechnet mir so ein Missgeschick passieren konnte.” Ihre Stimme klang leicht verstimmt. „Vielleicht war ja doch alles meine Schuld”, seufzte die Blume. „Ich fühlte mich so einsam hier in der Fremde. Alle meine Artgenossen blieben in meinem Land zurück. Und du”, sagte sie traurig, „hast dich nicht um mich gekümmert. Da kam Julia zu mir. Du weißt ja, wie ungestüm sie ist. Manchmal schüttelte sie mich, dass mir ganz schwindelig wurde. Aber zu guter Letzt wurden wir die besten Freunde. Wir vertrieben uns die Zeit mit Geschichtenerzählen und hatten viel Spaß miteinander.”
Die Blume schwieg eine Weile.
„Was passierte dann?”, drängelte Lisa.
Die Prinzessin trat ein paar Schritte näher an die Blume heran.
„Ich mache mir schwere Vorwürfe wegen deiner Schwester. Ich hätte ihr viele Geschichten erzählen dürfen, nur die des Eisprinzen nicht. Die war nur für dich bestimmt. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich hätte ihr falsches Spiel durchschauen müssen.”
Lisa berührte den Stiel. Ein paar Tautropfen fielen auf ihre Hand.
„Gräme dich nicht”, sagte sie beruhigend und setzte sich ins Gras. Mit ihren Armen umfasste sie ihre Knie und schaute lächelnd zur Blume empor. „Julia hätte dich nicht so täuschen dürfen. Das war ganz allein ihre Schuld.”
Die Blume schüttelte ärgerlich ihr Haupt und seufzte. "Wie konnte ich nur so dumm sein. Ich hätte doch merken müssen, dass Julia nicht die richtige ist."
„Nun ist es zu spät. Erzählst du mir auch die Geschichte vom Eisprinzen?” lenkte Lisa ab und schaute erwartungsvoll in das Gesicht" der Blume.
„Ja, Prinzessin. Ich muss sie dir sogar erzählen, denn sie ist für dich bestimmt. Und nur du allein wirst danach eine Entscheidung treffen müssen.”
„Was für eine Entscheidung?” fragte Lisa neugierig.
„Das erfährst du später. Nun aber zu meiner Geschichte: In einem Land fern von hier lebten einst zwei Könige. Solange die Königreiche noch klein waren, herrschte Frieden. Generationen kamen und gingen. Aus den wenigen Menschen wurden bald viele. Zwei starke Königreiche wuchsen heran und erstreckten sich bald von Küste zu Küste. Mit der Zeit wurde das Land immer knapper. Und so begannen sich die Bauern um die Weideflächen für ihre Rinder zu zanken. Immer erboster gingen sie aufeinander los, bis schließlich Krieg ausbrach. Sie bekämpften sich über Jahrzehnte, doch konnte keiner die Oberhand gewinnen.
Eines Tages brachte einer der Könige, von einer weit entfernten Insel, einen mächtigen Magier mit aufs Festland. Der König versprach ihm die wertvollsten Schätze seines Reiches, wenn er den Krieg zu seinem Gunsten entscheiden könnte. Da belegte der Magier den gegnerischen König mit einem machtvollen Fluch. Der König wurde von einer schweren Krankheit ergriffen und sein Heer, fortan ohne Führer, war nicht imstande weiterzukämpfen. So erlitten sie eine schwere Niederlage. Seit dieser Zeit liegt ein bedrohlicher Schatten über unserem Land. Prinz Aiko, er war der einzige Sohn des kranken Königs, war machtlos, denn er war noch viel zu jung, um sich im Kampf zu bewähren. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinem kranken Vater und dem Hofstaat in die entlegenen Berge zu fliehen. Seitdem lebte er dort in einem kleinen Schloss, das seine Ahnen vor vielen Jahren als Zuflucht gebaut hatten.
Täglich streifte er durch die Wälder. Eines Tages entdeckte er, versteckt zwischen uralten, mächtigen Bäumen, eine kleine Lichtung, auf der eine winzige Hütte stand. Aus dem Schornstein kräuselte sich eine Rauchwolke.
Erstaunt fragte er sich, wer hier wohl wohnen mag? Obwohl er die Gegend gut kannte, war ihm diese Hütte noch nie aufgefallen. Langsam näherte er sich dem Häuschen.
Auf einem Gartenzaun saß ein großer Rabe, der laut krächzte: „Willkommen Prinz Aiko.”
Verdutzt schaute der junge Mann den Vogel an und schüttelte den Kopf. Da mussten ihm wohl seine Ohren einen Streich gespielt haben. Belustigt wandte er sich zur Tür und klopfte. Doch nichts rührte sich.
„Ist jemand zu Hause?” rief er mit lauter Stimme und klopfte noch einmal.
„Tritt doch ein Prinz Aiko”, kam eine leise, helle Stimme aus dem Inneren der Hütte.
Der junge Mann war erstaunt. Hier kannten offensichtlich alle seinen Namen. Mit gemischten Gefühlen betrat er einen düsteren Raum. In einem Lehnstuhl saß eine sehr alte Frau. Über ihre schneeweißen Haare hatte sie ein buntes Kopftuch gebunden. Unzählige Falten durchzogen ihr freundliches Gesicht.
`Ein gütiges Gesicht`, dachte der Prinz erleichtert.
Auf dem Schoss der alten Frau saß ein kleines, schwarzes Kätzchen, das sich schnurrend an ihre runzeligen Hände schmiegte.
Der ganze Raum war mit seltsamen Gegenständen gefüllt. An einer Wand erblickte der junge Mann einen Hasenfuß, umrahmt von großen und kleinen bunten Kugeln. An silbernen Ketten baumelten Amulette. Im fahlen Schein einer einzigen Kerze konnte der Prinz in einem Regal mehrere Fläschchen mit verschiedenen Flüssigkeiten und Pülverchen erkennen. Neben dem Stuhl der Frau stand ein kleiner, runder Tisch. In dessen Mitte steckte ein kristallener Stab, der an seiner Oberseite mit einer smaragdgrünen Glaskugel bestückt war.
‘Oh Schreck, eine Zauberin’, schoss es dem Prinzen durch den Kopf. Abrupt wandte er sich zur Tür, um fluchtartig die Hütte zu verlassen. Mit Zauberern hatte er nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Die Frau erkannte seine Absicht.
„Lauf doch nicht fort Aiko”, sagte sie freundlich. „Komm’, nimm’ dir den Holzschemel und setzte dich zu mir.”
Nur zögernd gehorchte der Prinz. Als er in die Augen der Frau sah, stellte er bestürzt fest, dass sie blind war.
Nach einer Weile fing sie erneut an zu reden: „Ich weiß, dass dein Vater sehr krank ist.”
„Das weißt du?” erwiderte der junge Mann verblüfft. Als die Frau nickte, fuhr der Prinz fort: „Kannst du mir auch sagen, ob mein Vater wieder gesund wird?”
Sie nickte abermals. „Ja, das kann ich. Doch dazu benötigst du einen bestimmten Gegenstand.”
„Einen Gegenstand?” fragte er neugierig.
„Nun”, erklärte sie, „es gibt einen Zauberkristall, der große Macht besitzt. Auch die des Heilens. Er kann deinen Vater wieder gesund machen.”
„Wirklich?” Voll Freude fasste er nach der Hand der alten Frau.
„Ja, das kann er” erwiderte sie und strich sanft über seine Haare. „Nur”..., sie zögerte, „da gibt es leider einen Haken.” Als der Prinz sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Der Stein ist im Besitz der Bergkobolde. Sie verwahren ihn tief in den Bergen in einer Höhle. Es ist sehr schwierig, dorthin zu gelangen.”
„Gibt es eine Möglichkeit, diesen Stein zu bekommen?” fragte Prinz Aiko hoffnungsvoll.
Die alte Frau wackelte nachdenklich mit dem Kopf.
„Niemand, außer mir, kennt den Weg. Da ich mein Augenlicht verloren habe, kann ich dich leider nicht dorthin führen. Und selbst wenn du die Höhle finden würdest, freiwillig werden die Kobolde den Kristall ganz sicher nicht hergeben, denn ihre Existenz und die Macht des Landes hängen an diesem Zauberstein. Sie wissen, dass sie diesen Kristall niemals verlieren dürfen. Deshalb wird er sehr streng bewacht.” Nach einer Weile meinte sie: „Ich könnte dir schon dabei helfen.” Zögernd richtete sie ihre blinden Augen auf den Prinzen. „Doch stelle ich eine Bedingung.”
„Eine Bedingung?” Der junge Mann schaute sie argwöhnisch an.
Ihre Stimme war kaum hörbar: „Du musst mir eines deiner Augen schenken.”
Entsetzt sprang der Prinz auf.
„Eines meiner Augen?” rief er bestürzt. „Das ist doch nicht dein Ernst?”
Völlig aufgebracht begann er in der Hütte hin- und herzulaufen.
„Ich weiß, dass das eine schwere Entscheidung für dich ist, aber es gibt leider keine andere Möglichkeit den Kristall zu erhalten. Überlege es dir gut, denn deine ganze Zukunft und das Leben deines Vaters hängen davon ab.”
Der Prinz setzte sich an den Tisch und stützte seinen Kopf in beide Hände. Er hatte die Wahl zwischen dem Verlust eines seiner Augen und dem geliebten Vater, der schwerkrank danieder lag, und sicher bald sterben würde, wenn ihm keiner half. Die Wahl, die er treffen musste, war schwer. Doch am Ende siegte die Liebe zu seinem Vater.
Mit einem lauten Seufzer sagte er: „Es fällt mir nicht leicht, aber ich schenke dir mein linkes Auge.”
Die Blume hielt inne.
„Er schenkte der Zauberin tatsächlich eines seiner Augen?” fragte die Prinzessin neugierig.
„Ja, aber nicht so, wie du denkst. Die Zauberin hatte ja selbst Augen. Ihr fehlte nur die Sehkraft. Die nahm sie dem Prinzen weg. Und das war gut so.”
„Aha”, sagte Lisa. „Ich verstehe.”
„Nun”, fuhr die Blume fort. „Als sich der Prinz von der alten Frau verabschiedete, überreichte sie ihm ein Amulett, das an einer goldenen Kette hing. Auf der Vorderseite war ein Hirschkopf eingraviert, und auf der Rückseite sah man eine Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln. Ihre großen Augen glühten und aus ihrem weit aufgerissenen Maul stachen scharfe Zähne hervor.
„Ich werde dich auf dem Weg in die Höhle der Kobolde begleiten”, erklärte die Frau.
„Oh”, erwiderte der Prinz, „ist das nicht zu beschwerlich für dich?”
Die alte Frau kicherte belustigt.
„Ich komme nicht buchstäblich mit dir. Ich begleite dich mit deinem Auge. Denn durch dein Auge kann ich genau deinen Weg verfolgen und dich, wenn nötig, leiten.”
Der Prinz schüttelte ungläubig den Kopf. Er konnte sich nicht erklären wie das geschehen sollte. Doch als er das merkwürdige Strahlen im linken Auge der alten Frau sah, das ja einmal ihm gehört hatte, erkannte er, dass hier etwas Mysteriöses vor sich ging.
In Gedanken versunken verließ der junge Mann die Hütte um in sein Schloss zurückzukehren.
Als er am Brunnentrog vorbei kam betrachtete er sein Spiegelbild im Wasser. Gott sei Dank, er hatte noch beide Augen. Nur seine Sehkraft war etwas schwächer geworden.
Zu Hause angekommen führte sein erster Gang zu seinem kranken Vater, dessen Zustand sich leider nicht gebessert hatte. Völlig apathisch lag der König in seinem Bett. Als der Prinz seine heiße Hand nahm, ging ein leichtes Zucken durch den geschwächten Körper des alten Mannes.
„Es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir”, flüsterte der junge Mann kaum hörbar.
Der König schien es dennoch wahrgenommen zu haben, denn ein kleines, schmerzhaftes Lächeln umspielte seinen Mund.
***
Am nächsten Tag, vor Sonnenaufgang, machte sich Prinz Aiko auf den Weg zur Höhle der Bergkobolde. Als sich der Weg im Gebirge gabelte, konnte er sich für keinen so richtig entscheiden. Mutlos setzte er sich auf einen Stein und schloss nachdenklich seine Augen. Plötzlich vernahm er die Stimme der alten Frau.
„Schon müde junger Mann?”
„Aber nein, ich weiß nur nicht, welchen Weg ich einschlagen soll.”
„Nimm den rechten und gehe weiterhin in diese Richtung.”
Jetzt verstand der Prinz, warum die Frau ein Auge von ihm verlangt hatte. Dadurch konnte sie ihn tatsächlich begleiten. Zuversichtlich setzte er seinen Weg fort, der durch ein langes Hochgebirgstal und einen dichten Bergwald führte. Was war das nur für ein merkwürdiger Wald. Die Bäume schienen Augen zu haben, die jeden seiner Schritte verfolgten. Und das Rauschen der Blätter hörte sich wie Stimmen an, die sich etwas Unverständliches zuraunten. Panische Angst erfasste den Prinzen. Wie von Sinnen fing er an zu rennen. Er sprang über Gräben, umgestürzte, morsche Baumstämme und Sträucher. Völlig kraftlos erreichte er den Rand dieses unheimlichen Waldes und ließ sich erschöpft auf den moosigen Waldboden fallen. Vor Müdigkeit fielen ihm die Augen zu und er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Der laute Schrei eines Vogels schreckte ihn auf. Es musste schon Mittag sein. Doch war der Himmel grau und wolkenverhangen. Obwohl die Sonne direkt über ihm stand, konnte er nur sehr schwach eine milchige Scheibe erkennen.
Auf dem Ast einer alten Eiche saß ein großer, schwarzer Rabe, der sich laut kreischend in die Lüfte hob: „Kra, Kra, lauf weiter junger Mann.”
Der Prinz hob verwundert seinen Kopf und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. War es der gleiche Rabe, den er vor dem Haus der alten Frau sitzen sah? Es hatte sich damals schon so angehört, als spräche der Vogel. Aiko schüttelte den Kopf. Vögel können nicht sprechen. Nein, er musste sich wohl getäuscht haben.
Wo befand er sich überhaupt? Seine Augen schweiften über wildzerklüftete Gebirgshänge. Steil aufragende bizarre Felsen reihten sich aneinander und hoben sich wie Türme vom Himmel ab. Ihre kahlen Spitzen waren mit Schnee bedeckt. Es schien als hätten die Berge weiße Mützen auf. Der Prinz verließ den Wald und lief zwischen kleinen Büschen und verkrüppelten Bäumen bis zu einem Geröllfeld. Ein holpriger Pfad führte in vielen Windungen bis zu den senkrecht emporsteigenden Felswänden hinauf. Je näher er kam, desto steiler und bedrohlicher wirkten die Berge. Als er um einen Felsen bog, entdeckte er einen Höhleneingang! Hastig versteckte er sich hinter einem Felsbrocken. Von dort beobachtete er, wie eine Gruppe Kobolde, schwere Lasten auf den Schultern schleppend, in der Höhle verschwanden. Und beiderseits des Einganges sah der Prinz zwei besonders starke, untersetzte Männlein Wache schieben. Wie zum Kampf bewaffnet hielten sie lange, spitze Speere in der Hand. Außerdem baumelte an ihrer Hüfte noch ein gefährliches Breitschwert. Ihre grimmigen Gesichter sahen bedrohlich aus und der Versuch an diesen Kerlen vorbeizukommen würde mit Sicherheit scheitern. Prinz Aiko besaß nicht einmal ein Messer, geschweige denn ein Schwert. Ohne Waffen war er chancenlos. So wie es aussah würden die Kobolde mit allen Mitteln ihr Territorium verteidigen. Obendrein waren es viel zu viele. Da hätten wahrscheinlich die besten Waffen nichts ausgerichtet. Es schien also völlig aussichtslos sich von hier Zugang zur Höhle zu verschaffen.
Der Prinz überlegte angestrengt. Vielleicht gab es ja noch eine andere Möglichkeit in die Höhle zu gelangen. Er wollte gerade aufbrechen, da hörte er die Stimme der alten Frau.
„Es gibt nur diesen einen Eingang. Wir müssen also die Kobolde aus der Höhle locken. Das geht aber nur mit einer List.” Sie lachte leise. „Drücke das Amulett ganz fest an dein Herz. Dann lauf’ so schnell du kannst.”
Der Prinz tat, wie ihm geheißen. Sofort spürte er eine Veränderung in sich vorgehen. Aus seinem Kopf wuchs ein mächtiges Geweih. Seine Arme und Beine wurden dünn und sehnig. Aus seinem ganzen Körper wuchs braunes Fell hervor. Blitzschnell verwandelte er sich in einen mächtigen Hirsch.
Als die Kobolde das stolze Tier erblickten, das groß und mächtig auf einem vorspringenden Felsen stand, stießen sie ein wildes Jagdgeschrei aus. Einer blies in ein Horn, dessen Schall wie ein mehrfaches Echo zwischen den Bergen widerhallte.
Der Hirsch jagte mit eleganten Sprüngen den steinigen Weg hinunter bis hin zu einem Bergwald. Von überall stürzten die Wichte herbei. An der Spitze der Koboldkönig. Man erkannte ihn an der Krone auf seinem Haupt. Außerdem war er sehr viel größer und kräftiger als die andern Kobolde.
Er warf seinen glänzenden Umhang ab und schrie einem seiner Untertanen zu: „Reicht’ mir mein Schwert.” Mit erhobener Waffe befahl er: „Mir nach!”
Dann rannte er, was seine kurzen, kräftigen Beine hergaben.
Seine donnernde Stimme hallte mit dumpfem Grollen von den Felswänden zurück. Mit Speeren bewaffnet hetzte die ganze Bande dem Hirsch hinterher.
„Führe die Kobolde tiefer in den Wald hinein”, vernahm der Prinz die Stimme der alten Frau. „Ich weise dir den Weg.”
Der Prinz folgte ihrer Anleitung. Die hohen, dunklen Tannen berührten fast die Wolken und ließen kaum Licht durch ihre dichten Baumkronen. Wie ein Schatten huschte er über einen schmalen Wildpfad. Der Wald wurde immer dichter und undurchdringlicher. Unerbittlich verfolgten die Kobolde den Hirsch. Es war bewundernswert, was für eine Kraft in den kurzen Beinen der Männlein steckte.
Dann, ganz plötzlich, ging es nicht mehr weiter. Eine schroffe Felswand versperrte den Weg.
„Ich bin verloren”, schrie der Prinz.
Zweifel und Furcht erfasste ihn, denn die Kobolde waren ihm dicht auf den Fersen.
Die ruhige Stimme der alten Frau ernüchterte ihn.
„Nicht verzagen, junger Mann, drehe schnell das Amulett um.”
Hastig beugte der Hirsch seinen Kopf, fasste das Amulett mit den Zähnen und drehte es auf die andere Seite.
Bevor die Kobolde ihre Speere werfen konnten, verwandelte sich der Hirsch in eine Fledermaus. Mit lautem Quietschen flog sie, über die Köpfe der verdutzten Wichte hinweg, zurück zur Höhle. Entsetzen ergriff sie, als sie erkannten, dass sie getäuscht wurden. Klagend und schreiend kehrten sie um und rannten, so schnell sie nur konnten, den Weg zurück.
Inzwischen war die Fledermaus in der Höhle angekommen. Glücklicherweise hatten alle Kobolde in ihrer Jagdwut die Höhle verlassen. Unbewacht lag der Kristall auf einem dunkelroten Samtkissen gut sichtbar auf einem Podest. Die Fledermaus war fasziniert von dem ungeheueren Glanz, der die ganze Höhle erfüllte. Wie gebannt schaute sie auf den prachtvollen Stein.
„Spute dich!”
Die Stimme der alten Frau drang laut an ihre Ohren. Das brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Mit ihren scharfen Zähnen packte sie den wertvollen Stein. So schnell es ging flog sie zum Höhlenausgang, über die Köpfe der gerade ankommenden, johlenden Kobolde hinweg, die wutentbrannt ihre Speere nach ihr warfen. Doch keiner traf. Geschickt wich die Fledermaus den Geschossen aus.
***
Zu Hause angekommen, wurde die Fledermaus wieder zum Prinzen. Doch oh Schreck, der König der Kobolde hatte nicht aufgegeben und ihn doch noch eingeholt. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Türen des Schlosses. Die schweren Tore ächsten und stöhnten, gaben aber nicht nach.
Die Tatsache, dass er, trotz der langen Verfolgungsjagt jetzt doch nicht ins Schloss kommen konnte, machte den Koboldkönig so wütend, dass er mit den Fäusten wie wild an das Tor trommelte. Doch vergebends. Niemand öffnete und hinein konnte er auch nicht. Und so beschwor er mit letzter Kraft die Naturgewalten herauf. Außer sich vor Zorn schleuderte er sie auf das Schloss herab.
Schlagartig verfinsterte sich der Himmel. Dichte Wolken trieben, gepeitscht von eisigen Winden, aus allen Richtungen herbei. Blitze zuckten und tauchten das Schloss in ein gespenstisches Licht. Dann tat sich der Himmel auf und Eisregen prasselte auf das Land hernieder. Er umhüllte das ganze Schloss mit einem dicken Eispanzer. Alles Leben kam im Inneren augenblicklich zum Stillstand und die Bewohner erstarrten zu Eis.
Schadenfroh blickte der König der Kobolde auf den riesigen Eisklotz. Er lachte, dass es von den Felswänden schaurig widerhallte. Doch blieb ihm das Lachen im Halse stecken, als er merkte, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Da sich der Kristall innerhalb des Eisschlosses befand. war er für ihn unerreichbar. Mit den Fäusten hämmerte er auf das Eis. Verbittert riss er seine Krone vom Kopf und warf sie auf den gefrorenen Boden. Mit seinen Füßen trampelte er darauf herum, bis sie völlig zerbeult war.
Jammernd und weinend rannte er um das Eisschloss und schrie verzweifelt: „Lasst mich rein. So lasst mich doch rein.”
Doch keiner konnte ihm antworten. Denn alle waren zu Eis erstarrt.
Enttäuscht, und todunglücklich über seine eigene Dummheit, kehrte er in seine Berghöhle zurück. Schnell trommelte er alle weisen Männer und Zauberer seines Höhlenreiches zusammen um eine Lösung zu finden. Doch die schüttelten nur ratlos ihre Köpfe. Sie wussten nur so viel, dass der Bann, einmal ausgesprochen, für immer bestehen würde.
So wurde der König der Kobolde vor Gericht gestellt und als schuldig verurteilt, weil er so leichtfertig den Kristall verloren und ihn darüber hinaus noch unerreichbar gemacht hatte. Einstimmig beschloss man ihn seines Amtes zu entheben, und ihn aus dem Land der Kobolde zu verbannen.
***
Verbittert verließ der Exkönig die Bergregion und irrte durch den Wald. Eines Tages kam auch er, wie zuvor schon der Prinz, zur Hütte der Zauberin.
Als er durch die Tür trat, begrüßte ihn die Frau mit den Worten: „Ich habe schon auf dich gewartet, König Odo.”
„Du hast auf mich gewartet?” fragte der Kobold verwundert. "Dann müsstest du auch wissen, dass ich kein König mehr bin."
„Ja kleiner König. Ich weiß, welches Missgeschick dir widerfahren ist und ich könnte dir helfen, wieder zu Macht und Ansehen zu gelangen, wie es dir rechtmässig zusteht.”
„Wirklich?”, rief er hocherfreut und fiel vor der Zauberin auf die Knie. „Ich schenke dir alle Schätze meines Reiches für den Zauberkristall.”
Die Frau wehrte mit einer Handbewegung ab. „Deine Schätze begehre ich nicht.” Sie zögerte kurz. „Nur eine Kleinigkeit möchte ich von dir.”
„Alles was du möchtest Herrin, will ich dir geben”, versprach der kleine Mann übereifrig.
„So wie du es sagst, so soll es sein.” Sie zögerte einen Moment. „Gib mir dein rechtes Auge.”
Völlig entgeistert schaute der Kobold die Frau an. „Das nennst du eine Kleinigkeit? Diesen Wunsch kann ich dir unmöglich erfüllen. Mein Volk wird mich erneut verstoßen, selbst wenn ich mit dem Kristall heimkehre. werden sie mich niemals akzeptieren. Ein einäugiger Koboldkönig! Völlig unmöglich. Sie werden mich aus dem Land jagen. Nein, das geht nicht. Dann wäre ich wieder da, wo ich jetzt schon bin.”
Gramgebeugt stand er auf, um die Hütte zu verlassen. Sein bleiches Gesicht war von Kummer und Sorgen überschattet. Dicke Tränen rollten aus seinen Augen.
„Halt, halt, bleib’ doch hier”, rief ihm die alte Frau hinterher. „Niemanden wird es auffallen, denn ich will nicht dein buchstäbliches Auge, sondern nur deine Sehkraft. Außerdem hat dich dein Volk bereits verstoßen. Was hast du also noch zu verlieren?”
König Odo drehte sich um. Er wusste, sie hatte recht. „Versprich mir, dass keiner etwas davon merkt.”
„Ich verspreche es” erwiderte die Frau feierlich.
„Nun gut, wenn das so ist, bin ich einverstanden.”
Die Zauberin machte einige Gesten in der Luft.
Der Kobold hatte den Verlust seines Auges gar nicht wahrgenommen. „War das Alles? Na dann sag’ mir, was ich tun soll!”
Seufzend schaute er der Frau in die Augen, die jetzt, wie seltsam, ein blaues und ein braunes Auge hatte.
Die Zauberin lächelte. „Gehe in den Garten, den Prinz Aiko unten im Tal angelegt hat. Suche das Beet mit den großen, roten Blumen. Nimm von der Blüte ein kleines purpurrotes Samenkorn und bring’ es mir. Aber vergiss nicht, nur ein purpurnes darf es sein.”
Der Kobold machte sich sofort auf den Weg. Er rannte, was seine kurzen Beine hergaben. Völlig außer Atem erreichte er das Tal. Schon von Weiten sah er den Blumengarten, hinter dem jetzt der Eisklotz in die Höhe ragte. Doch oh Schreck, hier wuchsen unzählige rote Blumen. Unschlüssig, welchen Samen die alte Frau meinte, betrachtete er ratlos, die vielen verschiedenen Blumensorten.
„Ach”, seufzte er laut und lief hastig über die Kieswege des Gartens.
Plötzlich vernahm er die Stimme der Zauberin: „Siehst du das Beet mit den roten Blumen nicht, kleiner König?”
Erschreckt drehte der Kobold sich um, aber er war allein.
„Wo bist du alte Frau?” fragte er verwundert. „Ich kann dich nicht entdecken.”
„Das musst du auch nicht. Doch sehe ich dich ganz genau, durch dein Auge, das du mir geschenkt hast.”
„Jetzt versteh ich”, nickte der Kobold.
„Und nun reiß` von der Blume, die in der Mitte steht, ein Samenkorn aus dem Blütenkelch und bring es mir. Beeile dich, kleiner Mann!”
„Welche meinst du? Es gibt so viele rote Blumen hier.”
„Du stehst direkt davor.”
Das Gesicht des Kobolds hellte sich auf. „Meinst du diese hier?” Er deutete mit seiner Hand auf eine besonders schöne und sehr große Blume.
„Ja, König Odo”, erwiderte die Stimme.
Der kleine Mann musste sich mächtig strecken, um ein Samenkorn aus dem Blütenkelch zu zupfen. Er verbarg es fest in seiner Faust, rannte zurück zum Haus der Zauberin und überreichte der Frau den Samen.
***
Die ganze darauffolgende Nacht blieb die alte Frau im hinteren Teil der Hütte verschwunden. Der Kobold fragte sich, was sie da wohl so lange machte. Außer einem beschwörenden Murmeln konnte er nichts hören. Geduldig wartend, saß er am Tisch. Vor Müdigkeit legte er den Kopf auf seine Arme. Die Augen fielen ihm zu und schon bald war er fest eingeschlafen.
Jemand zupfte ihn am Ärmel.
„Aufwachen du kleiner Faulpelz”, vernahm er die freundliche Stimme der alten Frau.
Als der Kobold seine Augen öffnete war es heller Morgen. Gähnend blinzelte er die Frau an. Mit einer Geste forderte sie ihn auf ihr zu folgen. Sie verließen die Hütte und wanderten einen schmalen Steig entlang, der an einem steilen Abhang endete. Der Kobold beugte sich darüber, doch dichter Morgennebel verdeckte ihm die Sicht ins Tal.
Die Zauberin legte das Samenkorn auf ihre flache Hand und schaute zum Himmel empor. Gespannt folgte der kleine Mann dem Geschehen. Die Frau rief mit eindringlicher Stimme unverständliche Worte, während sie mit einem Stab seltsame Zeichen in die Luft malte. Das Gesicht der Zauberin veränderte sich. Ihre Falten glätteten sich und die hässliche Gestalt verwandelte sich in eine wunderschöne Fee. Doch das dauerte nur einen kurzen Moment und der Kobold kam zu dem Schluss, dass ihm wohl seine Sinne einen Streich gespielt hatten.
Ein heftiger Wind brauste heran und erfasste das Samenkorn. Eine Weile konnte man es noch in der Luft herumwirbeln sehen. Dann entschwand es ihren Augen.
Der Kobold schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was das alles bedeuten sollte.
„Warum schüttelst du den Kopf”, fragte die Zauberin. „Die Sache ist doch ganz einfach. Wir brauchen eine reine Jungfrau, die ein gütiges Herz besitzt. Sie wird für uns den Bann brechen, den du in deinem Übereifer verhängt hast.”
Zerknirscht schaute der Kobold auf seine dicken, knorrigen Füße herab.
„Eine reine Jungfrau?” fragte er kleinlaut. „Dafür der ganze Aufwand? Hätten wir die nicht auch in unserem Lande finden können?”
„Nein, es kommt nur eine in Frage.”
„Du kennst sie schon?” König Odo schaute die Frau verwundert an.
„Ja, es ist Prinzessin Lisa, eine der Zwillingstöchter von König Carlos, die im Schloss Schönblick wohnt, das im Lande Thalmoor steht. Sie ist im Besitz eines Edelsteins, der nötig ist, den Fluch aufzuheben.”
„Aha”, war alles, was der Kobold sagen konnte, denn er verstand kein Wort.
Er hatte keine Ahnung wer dieser König Carlo oder seine Tochter war, und genau so wenig kannte er das Schloss Schönblick. Und von einem Land, das Thalmoor hieß, hatte er in seinem ganzen. langen Leben noch nie etwas gehört. Seltsamerweise vertraute er der alten Frau und ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in seinem Herzen auf.
„Und was tun wir jetzt?” fragte er und schaute die Frau erwartungsvoll an.
„Wir warten.”
„Und wie lange wird das dauern?”
„Nur Geduld kleiner Mann. Schon bald wird die Prinzessin hier erscheinen.”
„Und was geschieht dann?” Unwillig verzog der Kobold sein Gesicht.
Die alte Frau lächelte nachsichtig. „Das wirst du bald erfahren, kleiner König.”
***
Die Blume beugte sich zu Lisa herab, die immer noch im Gras saß und über das eben Gehörte nachsann.
„So gelangte ich in deines Vaters Blumengarten.”
„Was hat die Zauberin die ganze Nacht mit dem Samenkorn gemacht?” wollte sie schließlich von der Blume wissen.
„Sie gab mir die Sprache der Menschen. Das ist ein sehr schwieriger Zauber. Denn normalerweise gehöre ich ins Reich der Pflanzen und wir verständigen uns ganz anders, als ihr Menschen. Doch ohne diesen Zauber hätten wir uns niemals unterhalten können. Obendrein pflanzte sie mir noch eine Erinnerung ein, damit ich dir diese Geschichte auch erzählen konnte. Durch diesen Zauber wurde ich zur Zauberblume.”
Mit erstaunten Augen blickte Lisa in das Gesicht der Blume. Das ganze klang zu unglaubwürdig.
Die Zauberblume wusste, dass es für einen Menschen nicht einfach war diese Geschichte zu begreifen, deshalb schwieg sie.
„Jetzt verstehe ich, warum Julia die Steine vertauscht und eine blonde Perücke aufgesetzt hat”, brach Lisa nach einer Weile das Schweigen. „Sie wollte den Prinzen retten.”
"Ja. Das wollte sie. Sie hatte den richtigen Stein, doch war sie die falsche Prinzessin. Wie konnte ich nur so dumm sein?"
Bevor die Zauberblume wieder in Trauer versinken konnte, stieß Lisa aufgeregt hervor. „Arme Julia, wie kann ich ihr nur helfen?” Tränen rannen über ihre Wangen.
Die Blume neigte ihr Blütenhaupt.
„Verzage nicht. Du warst von Anfang an auserkoren, Prinz Aiko zu erlösen. Doch wird diese Aufgabe nicht leicht werden. Der Weg ist weit und viele Hindernisse müssen überwunden werden. Aber dein Verstand und dein gütiges Herz werden dir dabei helfen. Entscheide dich schnell Prinzessin. Dein Bräutigam wartet schon.”
„Bräutigam?” fragte Lisa erstaunt.
„Er ist nicht der, den du befreist, sondern der, der dir den Ring der Liebe schenkt. Aber sein Schicksal liegt ebenso in deinen Händen, wie auch das der anderen Bewohner dieses Landes. Aber nicht alle lieben dich. Nimm dich in Acht, vor der Frau mit der eisernen Krone. Sei auf der Hut, sie will dich vernichten. Der Ring der Liebe ist es, der dir Kraft verleihen wird. Außerdem wird das ruhmreiche Schwert, das einst beim Kampf des großen Königs der Palmenhaine zerbrach, wieder neu geschmiedet werden. Es wird seine Macht zurückerlangen, um deine Aufgabe zur Vollendung zu bringen.”
Lisa schüttelte den Kopf.
„Du redest in Rätseln, Zauberblume. Kannst du mir nicht näher erklären, was das alles zu bedeuten hat?”
Die Blume verneinte. „Du erfährst alles zu seiner bestimmten Zeit.” Als sie das besorgte Gesicht des Mädchens sah, meinte sie beruhigend: „Wenn du klug handelst, wird dieser Weg mit Glück und Erfolg gekrönt sein.”
Lisa zuckte hilflos mit den Schultern.
Doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr die Blume fort: „Es ist Eile geboten, Julia wartet schon voll Ungeduld. Beim Eisprinzen ist es bitter kalt. Das Schloss wird von einem dicken Eismantel umhüllt. Und das ganze Land wird inzwischen mit Eis und Schnee bedeckt sein. Du musst dort sein, bevor sich der Panzer ganz schliesst. Deshalb benötigst du ein warmes Mäntelchen und Handschuhe. Vergiss einen Schal und eine Wollmütze nicht. Und als Wegzehrung solltest du dir aus der Küche einen Laib Brot, Käse und Schinken mitnehmen. Gib alles in ein Säckchen. Tu' auch eine Laterne und Schwefelhölzchen mit hinein. Sie werden dir gute Dienste leisten. Das Amulett deiner Mutter darfst du auf keinen Fall vergessen. Es hat noch eine große Aufgabe zu erfüllen. Und nun geh’ ins Haus, und komm’ morgen um Mitternacht wieder hierher.”
***
Am nächsten Tag trug Lisa alle Gegenstände zusammen und packte sie in ein kleines Säckchen. Doch bevor sie aufbrach, wollte sie noch einmal ihre Ahnfrau besuchen.
„Ich habe schon auf dich gewartet”, empfing sie Adda.
„Ich werde für eine Weile verreisen.”...
„Ja Lisa”, nickte die Frau.
„Du weißt das schon?”, fragte Lisa erstaunt.
„Als ich letzte Nacht nicht schlafen konnte und durch den Blumengarten lief, habe ich dein Gespräch mit der Blume belauscht.” Adda ging zu der Kommode und nahm aus der Schublade ein kleines Schmuckkästchen. „Jetzt ist die Zeit gekommen, dir die goldene Nadel zu schenken”, meinte sie feierlich. „Kennst du die Zauberworte noch?”
„Aber ja” erwiderte die Prinzessin eifrig. „Nadel geschwind, näh’ wie der Wind.”
„Diesen Spruch darfst du niemals vergessen, Lisa. Präge ihn dir gut ein.”
Erwartungsvoll öffnete Lisa das Kästchen. Wie wunderschön die Nadel auf ihrem roten Samtkissen lag, so strahlend, wie ein glitzernder Stern.
Adda nahm Lisas Hand. „Kein unbefugter Mensch darf von der Zauberkraft der Nadel erfahren. Es ist unser Geheimnis.”
Lisa legte ihre Hand auf das Herz. „Großes Ehrenwort.”
Auf einem Tisch neben dem Fenster stand ein Korb mit rotbackigen Früchten. Adda nahm drei davon und reichte sie der Prinzessin.
„Woher hast du diese wunderschönen Früchte?” fragte Lisa neugierig und betrachtete sie von allen Seiten.
„Mein Bruder schickt mir von Zeit zu Zeit einen Korb voll. Er besitzt immer noch den Baum, den meine Mutter, als Dank für die Pflege des verwundeten, jungen Mannes erhielt. Diese Früchte sind etwas ganz Besonderes.” Adda schwieg eine Weile.
„Dein Bruder bringt dir die Früchte? Ich habe ihn noch nie hier gesehen.”
„Natürlich nicht”, bestätigte Adda. „Auch er darf das Land nicht betreten. Er gibt die Früchte den weisen Männern und die bringen sie aufs Schloss.”
„Aha”, nickte das Mädchen. „Willst du mir nicht sagen, was es mit den Früchten auf sich hat?”
Adda zögerte. „Die Früchte verleihen dem Kraft und Mut, der sie isst. Doch gehe sparsam mit ihnen um. Gebrauche sie, so wie die Nadel, nur im äußersten Notfall.”
Lisa bedankte sich herzlich für die wertvollen Geschenke.
Adda nahm Lisa in die Arme und küsste sie zum Abschied auf die Stirn.
„Ich wünsche dir viel Glück, mein Kind. Wir werden uns vielleicht nicht mehr wiedersehen. Doch solange ich lebe, werden dich meine Gedanken auf deinem schweren Weg begleiten.”
***
Am Abend schrieb Lisa einen Brief an ihren Vater. Persönlich konnte sie mit ihm nicht über ihr Vorhaben reden. Er hätte sie niemals alleine ziehen lassen. So erklärte sie kurz das Erlebte und versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen machen sollte.
Schweren Herzens legte sie sich nieder, denn sie ließ ihren Vater nur ungern allein zurück. Ihre Gedanken waren mit der Geschichte der Zauberblume so erfüllt, dass sie vor banger Erwartung nicht einschlafen konnte. Die Ungewissheit, wie alles weitergehen sollte, beunruhigte sie. Noch einmal zogen die Bilder an ihrem geistigen Auge vorüber. Es schien alles so unwirklich und einen Moment lang dachte sie, das alles wäre nur ein böser Traum. Verwirrt wälzte sie sich auf ihrem Bett, bis sie die wohlbekannte Stimme der Zauberblume vernahm, die nach ihr rief.
„Lisa, es ist höchste Zeit.”
Die Prinzessin stand auf und zog sich an. Bevor sie das Schloss verließ, legte sie den Brief an ihren Vater, gut sichtbar in Mutters Salon auf den Kaminsims. Über dem Kamin hing das Bild ihrer Mutter.
Lisa hob ihre Hand und sagte leise: „Wünsch’ mir viel Glück Mutter und pass’ gut auf Vater auf.”
Es schien, als huschte ein Lächeln über das Antlitz der schönen Frau. So, als wollte sie Lisa Mut zusprechen.
Der Mond stand groß und rund am Himmel und schaute mit seinem bleichen Gesicht auf Lisa herab, die mit schnellen Schritten, das Säckchen auf den Rücken gebunden, über den Schlosshof hastete. Ganz außer Atem kam sie bei der Zauberblume an, die schon ungeduldig auf sie wartete.
„Da bist du ja endlich”, kam es erleichtert aus dem Blütenkelch. „Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.” Als Lisa den Kopf schüttelte, fuhr die Blume fort. „Nun ist es höchste Zeit aufzubrechen. Du musst den gleichen Weg gehen, wie deine Schwester.”
Die Blume ergriff die Prinzessin und hob sie auf. Ehe Lisa sich versah, wurde sie von der Blume verschlungen und rutschte durch den Stiel in die Tiefe. Ein großes schwarzes Loch tat sich auf, in dem sie verschwand.
„Viel Glück”, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme der Blüte.
„Danke”, rief sie zurück.
Lisa plumpste auf etwas Weiches. Es war stockdunkel, doch roch es angenehm nach frischer Erde. Sie suchte in ihrem Säckchen nach der Laterne und den Schwefelhölzern. Sie zündete eines an und sah in zwei schwarze Knopfaugen. Vor Schreck fiel ihr das brennende Hölzchen aus der Hand. Hastig griff sie erneut zu den Zündern. Als die Laterne brannte sah Lisa wieder diese dunklen Augen. Sie gehörten einem Maulwurf, der gerade mit seiner Familie beim Abendessen saß.
„Oh, schon wieder so reizender Besuch”, sagte er überrascht. „In letzter Zeit herrscht hier ganz schön reger Verkehr.”
Er lachte so dröhnend, dass die Wände zitterten und Erde von der Decke rieselte.
„Entschuldigt bitte mein Eindringen”, sagte Lisa. „Ich störe euch nur ungern, aber die Zauberblume hat mich hierher gebracht. Ich suche meine Schwester Julia. Ist sie hier vorbeigekommen?”
Der Maulwurfsvater nickte freundlich.
„Ja, aber sie war nur ganz kurz hier. Setz’ dich doch ein wenig, dann werde ich dir den Weg zeigen, den sie genommen hat. Er führt wieder an die Oberfläche zurück. Aber der Ort, an den du kommen wirst, ist nicht derselbe, von dem du kamst.”
Lisa verstand nicht so recht was der alte Maulwurf damit sagen wollte. So setzte sie sich etwas verwirrt zur Maulwurfsfamilie an den Tisch. Die Laterne stellte sie vor sich auf die Tischplatte. Die zwei Maulwurfskinder, die auf niedlichen, kleinen Hockern saßen, starrten sie aus großen, erstaunten Augen neugierig an.
„Übrigens, ich heiße Edi” stellte sich der Maulwurf vor. Er deutete auf eine Maulwurfdame, die eine grüne Schürze um ihren molligen Bauch gebunden hatte. „Das ist meine Frau Dasy. Und hier, der ganze Stolz unserer Familie, unsere Söhne Jo und Mo.”
Er strich liebevoll über die Köpfe der Kleinen.
„Mein Name ist Lisa.”
„Wir wissen wer du bist”, erwiderte der Maulwurf. „Wir haben dich oft, mit deinem Vater und deiner Schwester, in eurem herrlichen Blumengarten beobachtet und wir wissen auch welches furchtbare Unglück deine Familie traf.” Er seufzte laut. „Eine tragische Geschichte.”
„Ja”, nickte Lisa traurig. „Es war sehr schlimm für uns.”
Für kurze Zeit herrschte eine bedrückende Stille. Lisas trübe Gedanken wurden von Dasy unterbrochen, die ihre Kinder Jo und Mo ermahnte doch ihre Teller leer zu essen. Bah, und was sie da aßen. Lisa wurde es ganz flau im Magen, als sie all die Krabbeltiere sah. Mit großem Appetit verzehrte die Maulwurfsfamilie Grillen, Würmer, Käfer und Insekten. Es krachte und schmatzte nur so.
Die Prinzessin schloss die Augen und seufzte laut, als sie den Maulwurfsvater laut lachen hörte.
„Ist es nicht gut, dass wir all dieses Ungeziefer vertilgen?”, meinte er.
Lisa musste ihm Recht geben. Wenn auch widerwillig. „Ja, es ist sehr wichtig für die Natur, dass es euch gibt”, sagte sie anerkennend.
Im selben Moment ging die Tür auf, und eine kleine Feldmaus kam hereinspaziert.
„Guten Abend”, sagte sie artig.
„Setz dich doch”, forderte die Maulwurfsmutter die Maus auf.
Sie wandte sich an Lisa.
„Das ist Pipo, unser Nachbarssohn. Er wohnt nur wenige Meter weiter, unter dem Rübenfeld. Jeden Tag besucht er uns, um mit unseren Kindern Jo und Mo zu spielen.” Sie machte mit der Pfote eine einladende Geste. „Möchtest du auch etwas essen, Pipo?”
„Brrr”. Der Mäusejunge verzog so angewidert sein Maul, dass seine Schnurrhaare zitterten.
Das sah umwerfend komisch aus. Alle lachten so laut, dass die Erde von den Wänden bröckelte. „Ihr müsstet doch wissen, dass Mäuse gerne Samenkörner, aber auch mit Vorliebe Brot, Speck und Käse fressen, doch niemals so ein abscheuliches Gewürm.” Er schüttelte sich vor Ekel.
„Das musst du nicht essen” sagte Lisa. „Komm’ her, ich habe da etwas Anderes für dich.”
„Wer bist denn du?” fragte Pipo und schaute das Mädchen neugierig an.
„Ich bin Lisa vom Schloss Schönblick.”
„Doch nicht etwa Prinzessin Lisa?”
Lisa nickte bestätigend und griff in ihren Proviantbeutel.
„Wau”, stieß die Maus hervor. „Ich werd’ verrückt.”
„Woher kennst du mich?” fragte die Prinzessin.
„Vor vielen Monden war ich einmal im Schloss.”
„Aha”, erwiderte Lisa und reichte ihm ein Happen Brot und ein Stückchen Käse. "Was woltest du denn dort?"
Genüsslich schnalzte Pipo mit der Zunge. „Mmm, das riecht ja köstlich.” Er bedankte sich überschwänglich, während er mit der Vorderkralle seinen Bauch rieb. Dann vertiefte er sich in sein Festmahl und man hörte nur noch das emsige Scharren seiner scharfen Nagezähne.
„Es ist schon eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal solche Leckerbissen gegessen habe”, meinte er, als er den letzten Brocken zwischen seine Zähne schob. „Damals lebte mein Großvater noch. Er kannte sich gut aus im Schloss Schönblick und brachte uns immer einige Delikatessen mit. Das letzte Mal durfte ich ihn begleiten.” Pipo machte eine Pause und strich sich mit der Vorderkralle über seine Backenhaare. „Ich musste mit ansehen, wie er in einer Falle getötet wurde, gerade als er nach einem Stück Speck angelte.” Eine dicke Träne kullerte über sein Näschen. „Seitdem geht keiner mehr von meiner Familie ins Schloss.” Seine Stimme senkte sich. „Dort ist es viel zu gefährlich für uns.”
Lisa streichelte Pipo über den Kopf. „Es tut mir schrecklich leid um deinen Großvater. Wenn ich wieder nach Hause komme, werde ich alle Mausefallen beseitigen lassen. Das verspreche ich dir.”
„Wirklich?” rief Pipo hocherfreut. „Du bist aber eine gute Prinzessin und eine schöne obendrein.” Er rollte seine Knopfaugen und schaute Lisa ganz verliebt an.
Die Maulwurfsfamilie lauschte aufmerksam dem Gespräch.
„Wir haben auch ein Problem mit den Menschen”, sagte der Maulwurfsvater leise.
„Ihr auch?” fragte Lisa überrascht.
„Du siehst ja, dass wir unter der Erde viele Gänge anlegen. Das Erdreich, das wir ausgraben, muss ja irgendwohin. Und so schieben wir es einfach nach oben. Es bleibt uns ja gar keine andere Wahl. Deshalb entstehen dann auf den Wiesen oder in den Gärten kleine Hügel. Aber das mögen die Menschen nicht und rücken mit Spaten und Hacken an, um uns zu töten.”
„Das ist ja schrecklich”, rief Lisa empört. „Nur wegen dieser kleinen Erdhügel bringt man euch um?”
„Ja leider”, erwiderte der Maulwurf zerknirscht. „Viele unserer Verwandten sind schon ums Leben gekommen. Nicht wahr Daisy?”
Die Maulwurfsfrau nickte traurig. „Ja Edi, wir hatten schon mehrere Trauerfälle in den letzten Jahren.”
Edi wandte sich wieder an Lisa. „Wir haben schreckliche Angst um unsere Kinder.”
Mitleidig schloss die Prinzessin alle in die Arme und streichelte über ihr seidenweiches, schwarzes Fell.
„Das wird aufhören wenn ich wieder zu Hause bin. Großes Ehrenwort!” Sie hob ihre Hand zum Schwur.
„Leider muss ich euch nun verlassen”, meinte sie nach einer Weile, „denn es liegt noch ein sehr langer Weg vor mir.”
„Wir werden dich ein Stück begleiten.” Der alte Maulwurf sprach's und die kleine Schar setzte sich in Bewegung. Sie verließen die große, gemütliche Wohnstube und liefen im Gänsemarsch einen schmalen, langen Gang entlang. Lisa folgte in gebückter Haltung mit der Laterne in der Hand. Am Ende des Ganges stießen sie auf eine Treppe. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch eine kleine Öffnung.
„Pipo kann dich nach draußen begleiten”, sagte Edi. „Für uns ist es besser, hier unten zu bleiben. Die Sonne ist viel zu grell für unsere empfindlichen Augen.”
Nachdem das Mädchen zu allen Lebewohl gesagt hatte, stieg sie mit Pipo die Stufen nach oben. Durch ein schmales Loch zwängte sie sich nach draußen.
Lisa blickte sich neugierig um. Wie ein Feuerball ging im Osten gerade die Sonne auf und färbte den Himmel blutrot. Sie war doch um Mitternacht aufgebrochen und höchstens eine halbe Stunde bei der Maulwurfsfamilie gewesen. Das war es wohl, was der Maulwurfsvater gemeint hatte, denn offensichtlich ging hier tatsächlich die Zeit anders.
Sie befand sich in einem ihr völlig fremden Land. Von einer Anhöhe blickte sie auf ein wunderschönes Tal, das zwischen bewaldeten, sanften Hügeln lag. Am Horizont vereinigte sich der Wald zu einem Ganzen und säumte so das ganze Tal ein. Ein schmales Bächlein schlängelte sich durch üppige Wiesen. Hier war es so schön, dass Lisa fast den kleinen Pipo vergaß, der neben ihr stand und sie beobachtete.
„Ich werde mit dir gehen”, sagte der Mäuserich kurz entschlossen.
„Vielen Dank Pipo, aber das geht nicht. Es ist nicht nur ein langer, sondern auch ein schwieriger Weg, der vor mir liegt. Ich möchte dich keiner Gefahr aussetzten. Außerdem werden deine Eltern bestimmt nicht einverstanden sein, wenn du so einfach davonläufst.”
„Meine Eltern?” Pipo lachte breit. „Ich bin eine erwachsene Maus, nein Mäuserich”, verbesserte er sich „und brauche meine Eltern nicht zu fragen.”
„Nein Pipo, es geht wirklich nicht. Glaub’ mir, ich muss diesen Weg ganz allein gehen.”
„Na ja”, erwiderte er leichthin und lächelte spitzbübisch. „Da kann man halt nichts machen.”
Lisa war überrascht, aber sehr froh, dass er sich so schnell abgefunden hatte.
„Es wird Zeit für mich.” Pipo drehte sich um, winkte noch einmal zurück und verschwand in einem Mauseloch.
Nun war das Mädchen allein. Sie schnallte ihr Säckchen ab und setzte sich erst einmal auf einen großen Stein, der neben dem Wasserlauf lag. Die Luft war erfüllt von einem herrlich, süßen Duft, den die unzähligen, verschiedenen Wildblumen verströmten. Wie ein großer, bunter Teppich bedeckten sie die Wiese. Doch wie seltsam, die Blütenköpfe waren tief zur Erde geneigt und hatten ganz traurige Gesichter. Als sie die Blumen näher betrachtete, stellte sie voll Mitleid fest, dass dicke Tränen aus den Blütenkelchen flossen. Weinende Blumen. Lisa kannte viele Blumen aus ihres Vaters Garten, aber so etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie strich sanft über die Blüte eines kleinen Stiefmütterchens und vernahm ein kaum wahrnehmbares, leises Seufzen. Die zarte Blume senkte ihren Kopf zur Erde.
Lisa konnte sich nicht erklären, was für Kummer oder welche Ängste die Blumen haben könnten?
Erst nach einiger Zeit bemerkte sie die unheimliche Stille, die hier herrschte. Kein Vogel zwitscherte. Keine Biene summte. Kein Schmetterling flatterte herum. Was für ein merkwürdiges Tal. Mit einem leichten Unbehagen erhob sie sich, schnallte ihr Säckchen um und wanderte durch die Gräser, die sich leicht im Wind zur Seite neigten.
***
Gut die Hälfte des Tales hatte sie bereits zurückgelegt, als sie am Himmel eine dunkle Wolke entdeckte, die sich allmählich vor die Sonne schob. Doch das war keine Wolke. Es war ein Riesenschwarm schwarzer Vögel. Mit einem fürchterlichen Gekreische umrundeten sie das Tal. Dann änderten sie ihre Richtung und kamen direkt auf das Mädchen zu. Das Rauschen ihrer breiten Schwingen klang wie ein starker Sturm, der immer mehr anschwoll. Urpötzlich stürzten sie sich in die Tiefe und flogen dicht über Lisas Kopf hinweg. Ihr Kreischen wurde wilder und unerträglich laut. Aus großen, rotglühenden Augen starrten sie das Mädchen böse an. Lange, rote Zungen hingen wie kleine Giftschlangen aus ihren aufgerissenen, krummen Schnäbeln. Mit Schwung versuchten sie mit ihren spitzen Schnäbeln nach Lisa zu hacken. Erschreckt duckte sie sich, schlug wild mit den Armen um sich und versuchte die Vögel abzuwehren. Für einen Moment waren sie abgelenkt. Sie stiegen hoch in die Lüfte und sammelten sich. Kurze Zeit später stürzten sie erneut auf das Mädchen herunter. Einer der Vögel, grösser als die Anderen und scheinbar ihr Anführer, war besonders aggressiv und krallte sich in Lisas Haare fest, während die anderen die Prinzessin umkreisten und nach ihr hackten. Gegen diese Übermacht konnte sich das Mädchen nicht wehren. Sie stolperte und fiel zu Boden. Mit ihren Händen schützte sie ihren Kopf, so gut es ging. Mit den Füssen trat sie nach ihren Feinden. Dabei schrie sie wie am Spieß.
Eine aufgeregte Stimme kam aus ihrem Säckchen. Es war Pipos Stimme, die schrie: „Renn. Renn um dein Leben.”
Lisa sprang, wild mit den Armen fuchtelnd, auf ihre Füße und lief, was ihre Beine hergaben, dem Wald entgegen.
Pipo hatte ein goldenes Korn in seiner Kralle und warf es weit von sich weg. Blitzschnell wuchs eine Ähre aus dem Boden und noch eine und wieder eine. Es dauerte nur wenige Augenblicke und aus den Ähren wurde ein riesiges Kornfeld. Augenblicklich ließen die Vögel von Lisa ab und stürzten sich mit wildem Gekreische auf das Korn. Wie wild pickten und fraßen sie alles kahl.
Das Mädchen rannta so schnell sie ihre Füsse trugen in den Wald und verbarg sie sich ängstlich hinter einem dichten Busch. vorsichtig spähte sie durch die Äste zurück. Entsetzt sah sie immer mehr Vögel, die sich kreischend auf das Korn stürzten. Wo war Pipo?
Nach einer Weile, die Vögel kamen immer näher und das Korn war fast abgefressen, da teilen sich die Halme und Pipo spurtete auf sie zu. "Ist mit dir alles in Ordnung?", fragte er ganz ausser Atem.
"Ja, mir geht es gut. Nur ein paar Kratzer." Sie versuchte zuversichtlich zu klingen, doch ihre Stimme zitterte.
Das Kornfeld war jetzt völlig zerpflückt und glich einem Ort der Verwüstung. Die Vögel hatten alles kahlgefressen und die Reste mit ihren riesigen, spitzen Krallen zertrammelt. Mit klopfendem Herz beobachtete Lisa einige Vögel, die am Waldrand auf und ab flogen. Ihre glühenden Augen spähten durch die Bäume, so als suchten sie nach ihr. Lisa machte sich ganz klein und verharrte reglos in ihrem Versteck.
Nach einiger Zeit erhob sich der Vogelschwarm und flog mit einem schauerlichen Gekreische davon. Wie eine dunkle Wolke verschwand in der Ferne.
Erleichtert ließ sich Lisa auf einem Baumstumpf nieder und stützte den Kopf in ihre Hände. Sie brauchte eine ganze Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen.
„Sag’ mal Pipo, hast du die Vögel abgelenkt? Und wo kam, um alles in der Welt, plötzlich dieses Kornfeld her? Wir sind doch über eine Wiese gelaufen, nicht durch ein Kornfeld.”
„Du hast recht Prinzessin. Da gab es kein Kornfeld. Ich besaß ein goldenes Korn.”
„Ein goldenes Korn?”
„Ja, ein Erbstück meines Großvaters. Er sagte kurz bevor er umkam: Junge, ja er nannte mich immer Junge.” Pipo lächelte bei dem Gedanken an seinen Großvater, denn er liebte den alten Mäuserich sehr. „Er sagte also: Junge, gebrauche das Korn nur, wenn du einmal in großer Gefahr bist.” Pipo faltete die Vorderkrallen und blickte zum Himmel. „Danke lieber Großvater. Das Glückskorn hat uns gerettet.”
„Mein Gott Pipo, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn ich daran denke, dass ich dich nach Hause schicken wollte ...”. Lisa sprach nicht weiter. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre. „Ich bin dir so dankbar, Pipo. Ohne dein goldenes Korn hätten mich die boshaften Vögel sicher getötet.” Sie schaute den Mäuserich lange an. „Eins ist mir trotzdem noch unklar, wie bist du überhaupt in mein Säckchen gekommen? Ich sah dich doch im Mauseloch verschwinden.”
Pipo winkte grinsend ab. „Das war doch nur ein Ablenkungsmanöver. Als du auf dem Stein gesessen bist, habe ich mich zurückgeschlichen und bin heimlich in dein Säckchen gekrochen. Ich kann dich doch nicht allein den gefährlichen Weg gehen lassen. Du brauchst doch einen Beschützer.” Er stellte sich auf die Hinterbeine und setzte eine todernste Miene auf.
„Aha”, versuchte Lisa zu scherzen. „Und du meinst, dafür bist du der Richtige.”
„Aber klar doch, schau mich an, was für starke Muskeln ich habe.” Er hob ein Vorderbein und zeigte seine kräftigen Muckis.
Lisa musste lachen, bei so viel angeberischem Gehabe. Er war ein kleines Großmaul, aber ein liebenswertes. „Ich bin dir zwar sehr dankbar Pipo, aber ich weiß nicht, ob ich dich mitnehmen soll. Du hast ja selbst erlebt, welcher Gefahr wir gerade ausgesetzt waren. Wer weiß, welche Bedrohung noch auf uns wartet.” Lisa seufzte laut. „Was mach ich bloß mit dir?”
„Nun, da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder du bringst mich zurück durch dieses schreckliche Tal, oder du nimmst mich mit.” Er legte seinen Kopf zur Seite und schaute Lisa erwartungsvoll an.
Die Entscheidung fiel ihr leicht, wenn sie an die unheimlichen Vögel dachte, die sie womöglich wieder angreifen und verletzten könnten. Dorthin wollte sie auf keinen Fall zurück. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als die zweite Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Sie musste also den kleinen Angeber wohl oder übel mitnehmen.
„Na Prinzessin, wie steht es?”
„Du lässt mir ja keine andere Wahl.” Sie hielt inne und schaute den Mäuserich sehr ernst an.
„Du willst mich also zurückbringen?” Er senkte traurig sein Köpfchen.
„Aber nein Pipo, ich nehme dich natürlich mit.”
„Wirklich?” Seine Augen glänzten. Er drehte sich im Kreis und tanzte eine Pirouette. Dann sprang er mit einem Satz auf Lisas Schulter und schmatzte einen feuchten Kuss auf ihre Wange. „Das wirst du nicht bereuen, Prinzessin. Großes Ehrenwort.”
„Hoffentlich hast du dich richtig entschieden, Pipo.” Lisa legte ihre Stirn in Falten.
Der Mäuserich stellte sich auf die Hinterbeine und blähte seine Brust auf. „Mit dir gehe ich durch dick und dünn”, zitierte er theatralisch.
„Wenn du meinst, Pipo. Aber du musst mit meiner Manteltasche vorlieb nehmen. Da ist es zwar ein bisschen eng, aber schön weich und warm.” Pipo ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem Satz sprang er in die Tasche und schaute nur noch mit seinem Köpfchen heraus.
„Nun müssen wir aber weiter. Oder was meinst du, mein starker Held?” Lisa strich zärtlich über sein weiches Fell.
Der Mäuserich nickte gerührt. Sein Herz floss über vor Glück, die hübsche Prinzessin begleiten zu dürfen, dass er keine passenden Worte fand. So machten sich die beiden auf den Weg.
***
Der Tag ging langsam zur Neige. Wo sollten sie heute Nacht ihr müdes Haupt hinlegen? Lisa hatte ihr ganzes Leben in Schloss Schönblick verbracht, und musste noch nie unter freiem Himmel schlafen, im Gegensatz zu ihrem kleinen Freund. Mit einem beklemmenden Gefühl lief sie durch den Wald und stieß auf einen schmalen Wildpfad. Es war schon sehr dunkel. Um etwas zu erkennen, zündete Lisa ihre Laterne an. In der Ferne schrie ein Käuzchen. Es klang schauerlich durch die Nacht. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. Im Unterholz knackte es. Huschte da nicht etwas über den Weg? Mit wilder Panik im Nacken begann sie schneller und schneller zu laufen, bis ihre Beine vor Müdigkeit ihren Dienst versagten.
Pipos Stimme kam aus der Manteltasche. „Warum rennst du denn so Prinzessin? Ist jemand hinter dir her?”
„Ja..., äh, nein Pipo", meinte Lisa etwas verwirrt, "aber es ist so unheimlich in dem finsteren Wald. Außerdem brauchen wir ein geeignetes Plätzchen zum Schlafen.” Angespannt lauschte Lisa in die Nacht. Es war still geworden. Neben einer großen Eiche, deren Äste bis zum Boden reichten, machte sie halt. „Was meinst du Pipo, sollten wir unter diesem Baum übernachten?” flüsterte sie ihm zu.
Der Mäuserich sprang auf den Boden. „Ich werde den Platz erst einmal inspizieren... . Mmm”, hörte Lisa ihn nach einer Weile brummen. „Ich glaube, da sind wir gut geschützt.”
Lisa hob die Äste an und krabbelte darunter. „Ja Pipo, ich bin deiner Meinung”, stimmte sie ihm zu und machte es sich auf dem weichen Moos bequem. Wie unter einem Baldachin, vor Regen und Kälte geschützt, konnte sie endlich ihre müden Knochen ausstrecken und die Augen schließen.
***
Am nächsten Morgen wurde Lisa durch das Gezwitscher der Vögel geweckt. Eine ganze Reihe Ameisen, mit schweren Lasten auf ihren Schultern, rannten über den Waldboden. Wie fleißig sie waren. Die Prinzessin rieb sich die Augen. Noch schlaftrunken, erinnerte sie sich an den letzten Tag. An das merkwürdige, stille Tal. Bei dem Gedanken an die grässlichen, gefräßigen Vögel, fröstelte sie.
Erleichtert, dank Pipos Hilfe, waren sie dieser Gefahr entronnen. Vorsichtig spähte sie durch die herunterhängenden Äste. Es roch angenehm nach Pilzen und frischen Tannennadeln. Bevor sie aufbrach, wollte sie mit Pipo noch eine Kleinigkeit essen.
Den Kopf auf ein dickes, weiches Blatt gebettet, lag der Mäuserich friedlich da und schnarchte leise. „Aufwachen, du Schlafmütze. Es gibt etwas zu Essen.” Lisa zog ihn sanft an seinem Beinchen.
Pipo ließ sich nicht lange bitten. Putzmunter sprang er auf und grabschte nach dem großen Stück Käse und einem kleinen Stück Brot, das Lisa auf einem Tuch angerichtet hatte. Mit seinen spitzen Zähnen knabberte und schabte er so lange, bis sein Bauch voll und rund war. Dann schnalzte er genießerisch mit der Zunge. „Käse ist nun mal mein Leibgericht.”
Lächelnd räumte Lisa die Reste wieder in das Säckchen und band es auf ihren Rücken. „Wir müssen weiter, Pipo.”
„Na klar doch, Prinzessin, ich bin bereit.”
Lisa schob den Ast zur Seite und krabbelte darunter hervor. Die Bäume standen dicht zusammengedrängt. Doch bewegten sich die Baumwipfel durch einen sanften Wind hin und her, so dass die Sonne ab und zu ihre warmen Strahlen durch das Blätterdach auf den bemoosten Waldboden schicken konnte. Heidelbeersträucher, voll reifer Früchte wuchsen hier in Hülle und Fülle. Morgentau lag auf den Blättern. Die Sonnenstrahlen tanzten über die Tautropfen, die wie kleine, bunte Regenbogen schillerten.
Die Eiche, unter der die Prinzessin geschlafen hatte, wachte auf und seufzte laut. Sie dehnte und streckte ausgiebig ihr Astwerk in die Luft. Dann senkte sie ihr Haupt und schaute mit ihren knorrigen Augen zu dem Mädchen herab.
Lisa erschrak, als sie eine tiefe Stimme hörte: „Na, kleine Lady, hast du gut geschlafen?”
„Danke der Nachfrage, lieber Baum. Ich habe wunderbar geschlafen”
„Darf ich raten? Du bist sicher Lisa, die Prinzessin von Schloss Schönblick.” Der Baum nickte ihr freundlich zu.
„Woher kennst du mich?” fragte die Prinzessin erstaunt.
„Hörst du die Vögel in meinen Ästen?” Als Lisa nickte, meinte sie: „Sie bringen mir Nachrichten von überall her. Auch von dir und deiner Schwester wurde mir berichtet. Leider eine traurige, sehr, sehr traurige Geschichte”, sagte die Eiche mit bewegter Stimme. Ihre knorrigen Augen waren sehr Ernst auf Lisa gerichtet. „Hoffentlich geht alles gut.” Mit einem Ast strich sie sanft über Lisas Haar.
„Du weißt also auch, dass ich zu meiner Schwester Julia ins Eisschloss will?”
„Ja, kleine Lady. Da hast du dir aber viel vorgenommen. Ich muss schon sagen: bewundernswert.” Sie nickte anerkennend, dass die Blätter nur so rauschten.
„Dann kannst du mir bestimmt auch sagen, ob ich auf dem richtigen Weg bin?” fragte Lisa.
„Aber klar doch”, erwiderte die Eiche. „Halte dich genau in diese Richtung.” Sie zeigte mit einem Ast nach Norden.
„Wie ich sehe, hast du ja einen starken Beschützer dabei.” Die Eiche lachte belustigt und deutete auf Lisas Manteltasche, aus der Pipos Kopf lugte.
Das war nicht sehr nett von dem Baum. Lisa senkte den Blick, streichelte über Pipos Kopf und sagte: „Er ist mein bester Freund.”
„Tut mir leid Kleine, das war doch nur ein Spaß.”
„Das will ich auch hoffen”, kam Pipos Stimme aus der Manteltasche. „Ich bin nämlich stärker, als ich ausschaue.”
„Dann ist es ja gut”, antwortete die Eiche. „Ich bewundere euren Mut. Wenn ich nicht angewurzelt wäre, würde ich euch begleiten. Ehrlich, ich würde das sofort tun.”
„Das ist sehr nett von dir, lieber Baum, aber wir kommen schon allein zurecht”, erwiderte Lisa. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dieses riesige Ungetüm mitzuschleppen. „Aber jetzt müssen wir leider weiter. Leb’ wohl.” Sie winkte zum Abschied zur Baumkrone hoch.
„Viel Glück”, antwortete die knorrige Stimme des Baumes.
Unterwegs pflückte Lisa einige von den reifen, saftigen Heidelbeeren. Und um ihren Durst zu stillen, trank sie aus einer Quelle, die unter einem Stein hervorsprudelte. Dann schlug sie genau die Richtung ein, die ihr der Baum gezeigt hatte. Es raschelte im Unterholz. Ein Reh mit einem Kitz brach aus dem Gestrüpp hervor, blieb stehen und sah sie mit ihren großen, braunen Augen an. Mit einem entsetzten Schrei, rief es dem Kitz zu: „Komm’ schnell Kind, ein Mensch ist in unserem Revier. Schau ihn dir genau an. So einer Gestalt auf zwei Beinen, gehst du am besten aus dem Weg, so schnell dich deine Läufe tragen können. Sputen wir uns, bevor wir gefressen werden.”
Das Rehkitz schaute Lisa mit großen, ängstlichen Augen an und rannte hinter seiner Mutter her, die sich gerade aus dem Staub machen wollte.
„Warum rennt ihr denn weg?” rief Lisa ihnen zu. „Ich tu euch doch nichts.”
Das Reh blieb stehen und schaute das Mädchen misstrauisch an. „Traue niemals einem Menschen. Das hat mir meine Mutter beigebracht, als ich noch ein Baby war. Du bist doch ein Mensch, oder?”
Pipo sprang aus der Manteltasche auf Lisas Schulter. „Natürlich ist sie ein Mensch”, mischte er sich in das Gespräch. Er schaute das Reh mit einem finsteren Blick an. „Oder dachtest du, sie wäre ein Monster?”
„Du meine Güte”, erwiderte das Reh. Es zog verächtlich seine Stirn kraus und schaute ziemlich arrogant auf Pipo herab. „Eine Maus mit einer kessen Lippe. Das hat mir gerade noch gefehlt.” Dann zuckte es mit den Schultern. „Menschen sind Ungeheuer. Davon bin ich fest überzeugt. Sie jagen uns mit Pfeilen und Speeren. Und mit ihren langen Messern hacken sie unsere Köpfe ab.” Als das Reh Lisas entsetzte Augen sah, meinte es: „Du glaubst mir wohl nicht. Schau’ mich an. Ich bin dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Ein Speer hat meine Schulter gestreift.” Es deutete mit seiner Schnauze auf eine lange Narbe in seinem Fell. Wenn ich nicht im Zickzack abgedampft wäre, hätte mich irgend so ein rehfressender Mensch in die Pfanne gehauen und aufgefressen. Ich höre heute noch die Pfeile um meine Ohren zischen.”
Lisa schüttelte den Kopf. „Du hast aber eine schlechte Meinung von uns Menschen. Doch gebe ich dir mein Wort, dass ich nicht zu den rehfressenden Ungeheuern gehöre. Im Gegenteil, ich liebe alle Tiere und würde keinem ein Leid zufügen.”
Das Reh hob seinen Kopf und meinte immer noch skeptisch: „Vielleicht, vielleicht auch nicht.”
Dann zuckte es mit den Schultern und sagte etwas versöhnlicher: „Eine Frage sei erlaubt. Was macht ihr überhaupt so alleine hier? Und vorgestellt habt ihr euch auch noch nicht.”
„Ich bin Prinzessin Lisa und das ist mein liebster Freund Pipo. Wir kommen aus dem Land Thalmoor und sind auf dem Weg zum Eisprinzen.”
„Ich kenne dein Land nicht. Wo soll das liegen? Vielleicht hinter dem Mond.” Das Reh verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Eine Maus und eine Prinzessin. Wie ungewöhnlich. Hör’ ich da vielleicht schon die Hochzeitsglocken läuten? Ich könnte deinen Brautschleier tragen.” Es schüttelte den Kopf und lachte spöttisch. „Wie werden eure Kinder aussehen? Und wie wird man sie nennen? Mäusemenschen, oder Menschenmäuse?” Bevor Lisa antworteten konnte, machte das Reh einen Satz und verschwand mit seinem Kitz im Dickicht. Sein meckerndes Gelächter hörte man noch eine ganze Weile.
„Ich weiß nicht was an unserer Freundschaft so lächerlich sein soll?” fragte Pipo gekränkt.
„Mach dir nichts daraus. Es ist wahrscheinlich nur eifersüchtig, weil es keinen so guten Freund hat.”
Pipo schmiegte sich versöhnlich an Lisas Wange. „Du hast sicher recht, Prinzessin.”
Später begegneten sie noch einem roten Eichhörnchen. Es sauste den Baumstamm hinauf und sprang von einem Ast zum anderen. Dabei ließ es, direkt vor Lisas Füße ein paar Nüsse fallen.
„Danke liebes Eichhörnchen”, rief sie nach oben.
„Keine Ursache, ich habe genügend davon.”
Mit einem Stein klopfte Lisa die Schale auf und aß die süßen, noch weichen Kerne. Als sie Pipo eine Nuss geben wollte, merkte sie, dass der kleine Racker in der Manteltasche schnarchte. Sie steckte die übrigen Nüsse ins Säckchen, um sie für später aufzuheben. Dann setzte sie ihren Weg durch den Wald fort. Der Gedanke an Julia trieb sie zur Eile.
Endlich lichtete sich der Wald, so dass die wärmenden Sonnenstrahlen durch das Blätterdach dringen konnten. Plötzlich sah die Welt wieder hell und freundlich aus. Beschwingt lief Lisa zum Waldrand. Inmitten eines Gartens stand ein kleines Holzhaus. Im Wind bewegte sich, leise quietschend, eine Schaukel, die an einem dicken Ast eines uralten Baumes hing. Vor dem Haus stand ein Brunnen mit einer Pumpe. Lisa war erleichtert. Hier mussten Menschen wohnen. Freudig lief sie zur Tür und klopfte. Doch nichts regte sich. Sie beschattete mit der Hand ihre Augen und spähte durch die fast blinden Fensterscheiben. Leider konnte sie nichts erkennen. Das Ohr an die Tür gelegt, klopfte sie erneut. Diesmal etwas heftiger. Eine schwache Stimme drang nach draußen. Bedrückende Düsternis und ein kalter modriger Geruch schlug Lisa entgegen, als sie vorsichtig die Tür öffnete und eintrat. Es dauerte einen Moment bis sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten. Das ganze Haus bestand nur aus einem einzigen Raum mit zwei kleinen Fenstern, die nur spärlich Licht herein ließen. Ein Tisch mit einigen Stühlen, aus grobgezimmertem Holz, stand in der Mitte des Zimmers. An der Rückwand entdeckte Lisa ein Bett, in dem ein alter Mann lag. Vorsichtig näherte sie sich. Seine Augen waren geschlossen. Dichtes, weißes Haar und ein weißer Bart umrahmten sein Gesicht. Langsam drehte er seinen Kopf zur Seite und schaute Lisa aus fiebrig glänzenden Augen an. Das Mädchen ergriff seine heißen, feuchten Hände.
„Ich werde bald sterben”, flüsterte der Mann kaum hörbar.
Er sah sehr krank und elend aus. Kurzentschlossen zog Lisa ihren Mantel aus. Sie musste dem Mann helfen. Aber wie? Da sie keine Ahnung hatte, wie man Kranke heilte, setzte sie sich ratlos auf die Kante des Bettes und schaute in das schmale Gesicht des Mannes. Ihr fiel ein, als sie einmal Fieber hatte, machte ihr Kindermädchen kalte Umschläge. Vielleicht half das ja auch bei ihm. Dazu brauchte sie frisches Wasser und ein Tuch. Hastig sprang sie auf und lief zu einem Schränkchen, das neben dem Herd stand. Wie vermutet, fand sie dort einige Blechschüsseln, und in einer Kommode lagen weiße Tücher. Mit der Schüssel in der Hand rannte sie in den Hof, zum Brunnen. Sie musste einige Male pumpen, bis das Wasser hervorsprudelte. Zurück in der Stube, legte sie vorsichtig das feuchte Tuch auf die Stirn des Kranken. Der alte Mann seufzte kaum hörbar.
´Ich werde ihm eine Suppe kochen`, überlegte Lisa. ´Die wird ihn stärken. Wer weiß wie lange er schon so danieder liegt.`
Ein Glück, dass sie bei der Schlossköchin Kochen gelernt hatte. Eine Gemüsesuppe war eine leichte Übung für sie. Alles was sie dazu brauchte fand sie im Garten. Karotten, Kohl, Kartoffel und verschiedene Kräuter. Sie wusch das Gemüse am Brunnen. Dann schnipselte sie alles in einen eisernen Topf. Aus ihrem Säckchen holte sie noch ein Stückchen Schinken. Das gibt eine kräftige Brühe und wird dem Mann sicher wieder auf die Beine helfen.
Hinter dem Haus fand Lisa einen Stapel Holz, von dem sie einen Korb voll ins Haus trug.
Bald knisterte ein lustiges Feuer im Ofen. Mollige Wärme begann sich im Zimmer auszubreiten. Es roch angenehm nach Gemüse und Lisa spürte ebenfalls großen Hunger. In einem Küchenschrank fand sie Teller und Löffel.
Pipo war aufgewacht und schaute aus der Manteltasche. „Wo sind wir?” Neugierig blickte er sich um und schnüffelte in der Luft. „Mhm, das duftet ja köstlich.” Er sprang aus seinem Versteck auf den Tisch, wo Lisa gerade das Geschirr auftrug. „Soll ich dir helfen, Lisa?”
„Nein, nein Pipo, das mach’ ich schon”, wehrte sie ihn ab.
Der alte Mann war zu schwach um aufzustehen. Er konnte nicht einmal aufrecht im Bett sitzen. Lisa zog ihn etwas hoch, um ein Kissen hinter seinen Rücken zu schieben.
Seine Augenlider öffneten sich schwerfällig.
Vorsichtig flößte Lisa ihm mit dem Löffel die Brühe ein. Das war gar nicht so einfach, weil der Mann immer wieder vor Schwäche einschlief. Es dauerte lange bis der Teller leer war. Dann setzte sie sich zu Pipo an den Tisch.
„Ich glaube wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen, Pipo”, sagte Lisa zum Mäuserich, der neben ihrem Teller saß und auf sein Essen wartete.
„Ja, der Meinung bin ich auch. Wahrscheinlich wäre er bald verhungert, so schwach wie er ist.”
Lisa schöpfte eine große Portion Suppe in einen flachen Blechnapf und schob ihn Pipo vor die Nase. In kürzester Zeit hatte der kleine Kerl den ganzen Teller leergeschlappert. Er rieb sich den vollgefressenen, runden Bauch und meinte anerkennend: „Mhm, für eine Prinzessin, bist du eine prima Köchin. Wo hast du das nur gelernt?”
„Weißt du Pipo, ich war fast täglich in der Schlossküche und habe zugeschaut wie das geht und oft kochte ich sogar selbst.”
Pipos Augen wurden kugelrund. „Willst du etwa behaupten, dass du selber den Kochlöffel geschwungen hast? Ich dachte immer, eine Prinzessin läuft den ganzen Tag in schönen Kleidern herum und lässt sich bedienen.” Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Du bist also nicht eine von diesen faulen Prinzessinnen, die sich herausputzen, die Diener schikanieren und eingebildet durch die Gegend stolzieren?”
„Na na Pipo, wo hast du denn diese Weisheiten her?” fragte lächelnd das Mädchen.
„Nur was man im Allgemeinen so liest.”
„Du liest Bücher?” Lisa war verblüfft. Sie hatte schon bemerkt, dass er ein besonderer Mäuserich war, aber dass er lesen konnte, hätte sie ihm nicht zugetraut.
„Ich habe schon viele Bücher gelesen. In der Schule war ich immer der Beste.”, brüstete er sich.
„Nein Pipo, jetzt schneidest du aber auf. Ich kann es nicht glauben, dass du auf eine Mäuseschule gegangen bist.”
Pipo deutete auf ein kleines Regal, in dem einige abgegriffene Bücher standen. „Bring’ bitte ein Buch, dann werde ich es dir beweisen.”
Lisa holte ein kleines, dünnes Büchlein und legte es vor Pipo auf den Tisch.
Der Mäuserich las den Titel auf dem Einband: „Miki im Regenbogenland.” Mit der Kralle deutete er auf die einzelnen Wörter.
Jetzt war es an Lisa, erstaunt auszurufen. „Das ist doch nicht möglich. Eine gebildete Maus.” Sie nahm den kleinen Kerl auf den Arm, streichelte über sein graues Fell und rief wiederholt: „Ich glaube das einfach nicht.”
„Soll ich dir das ganze Buch vorlesen, Lisa?”
„Nein, nein Pipo, es ist nur äußerst ungewöhnlich. Eine Maus die lesen kann, ist mir noch nie begegnet.”
„Mäuserich”, verbesserte er das Mädchen und runzelte die Stirn.
„Entschuldige Pipo, ich vergesse immer, dass du ja ein Mann bist.”
***
Zwei Tage verbrachten sie nun schon in der Hütte, doch der Zustand des Mannes wollte sich einfach nicht bessern. Lisa saß auf der Bettkante und hielt seine heiße Hand. Blass und kraftlos lag der Kranke in seinem Kissen. Sie brachte es nicht übers Herz weiterzuziehen und den Mann seinem Schicksal zu überlassen. Völlig ratlos saß sie am Abend neben Pipo vor dem Haus auf der Bank.
„Was mach’ ich nur Pipo? Der alte Mann ist immer noch sehr krank. Doch können wir nicht noch länger hierbleiben. Meinst du, die Zauberblume kann ihn wieder gesund machen?”
„Die Zauberblume?” fragte Pipo erstaunt. Er zuckte mit den Schultern. „Wie soll das geschehen? Sie steht doch in deines Vaters Garten.”
„Ja Pipo, doch versprach sie, mir beizustehen, wenn ich Hilfe benötige.” Lisa betrachtete den Stein an ihrer Kette. Plötzlich wurde die Blume sichtbar. Es schien, als hätte sie Lisas Gedanken erraten. „Bin ich froh dich zu sehen, Zauberblume”, rief Lisa erleichtert. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Der alte Mann wird bald sterben, wenn ihm keiner hilft. Ich habe alles versucht, doch vergebens.”
Die Blume neigte ihr Haupt. „Du bist ein gutes Kind. Geh’ bitte in den Garten, da findest du einen gelbblühenden Strauch. Pflücke genau zehn Blüten, nicht mehr und nicht weniger. Dann grabe eine seiner Wurzeln aus. Koche alles mit Wasser zu einem Tee. Gib dem Kranken das Getränk, dann wird er wieder gesund.”
Mit diesen Worten verschwand das Bild der Blume aus dem Stein.
Lisa nahm Pipo auf die Schulter und rannte in den Garten. Den gelben Blütenstrauch fand sie gleich, denn es wuchs nur dieser eine dort. Sie pflückte zehn Blüten ab, während Pipo auf die Erde sprang und mit seinen scharfen Krallen eifrig eine Wurzel ausgrub. Augenblicklich verwelkte der Strauch und sank verdorrt zu Boden.
„Schau nur Prinzessin”, der Mäuserich zeigte auf den dürren Busch. Lisa schüttelte ungläubig den Kopf, aber sie hatte keine Zeit jetzt darüber nachzudenken. Schnell liefen sie ins Haus zurück, wo der alte Mann immer noch wie leblos in seinem Bett lag. Als der Tee fertig war flößte Lisa ihm löffelweise die Flüssigkeit ein. Nun musste sie abwarten. Aus dem Fenster blickend, sah sie die Sonne blutrot am Horizont untergehen. Wieder ging ein Tag zur Neige. Lisa legte sich auf das alte Sofa, neben dem Herd, auf dem sie schon die letzten Nächte verbracht hatte.
„Ach Pipo”, seufzte sie. „Ich wünsche mir so sehr, dass der alte Mann wieder gesund wird.”
„Aber sicher doch Prinzessin. Ich bin sogar fest davon überzeugt.”
„Hoffentlich hast du recht mein kleiner Freund.”
Pipo machte es sich auf Lisas Bauch bequem, wo es so kuschelig warm war. Kurze Zeit später schliefen beide tief und fest.
***
Am nächsten Tag wurde die Prinzessin von einer angenehmen, dunklen Stimme geweckt. Als sie die Augen aufschlug, sah sie in die gütigen Augen des alten Mannes, der sie lächelnd ansah.
„Guten Morgen mein Kind.”
Lisa sprang auf und umarmte voll Freude den alten Mann.
„He”, schrie Pipo erschrocken und machte einen Satz zur Seite. „Du willst mich wohl zerquetschen?”
Doch Lisa hörte den Mäuserich nicht. Sie hatte nur Augen für den Mann, der gesund vor ihr stand. „Ich bin so glücklich, dass du wieder genesen bist”, sprudelte es freudestrahlend aus ihrem Mund.
„Ich glaube, das hab’ ich nur dir zu verdanken, Kind.” Er schaute Lisa liebevoll an.
„Nicht mir allein”, erwiderte Lisa.
Der Mann schaute sie fragend an. „Wie meinst du das?”
„Davon erzähle ich dir später. Doch möchte ich mich erst einmal vorstellen. Ich heiße Lisa und komme von Schloss Schönblick.”
„Ich heiße Pipo.” meldete sich der Mäuserich zu Wort. Er machte eine Verbeugung vor Lisa. „Sie ist eine richtige Prinzessin, eine von den guten Prinzessinnen. Und ich bin ihr Beschützer.” Er verdrehte schmachtend seine Augen und fügte leise hinzu: „Sie ist meine Freundin.”
„Aha”, lächelte der Mann. „Ich heiße Joe.” Er reichte Lisa die Hand und streichelte Pipos weiches Fell. „Möchtet ihr mit nach draußen kommen, da können wir uns weiter unterhalten.”
***
Wenig später saßen sie auf der Bank unter dem großen Apfelbaum und tranken Tee, den der Mann zubereitet hatte.
Pipo machte es sich auf Lisas Schulter bequem und hörte aufmerksam zu, was der Mann zu erzählen hatte. Er berichtete von Josi seinem einzigen Sohn, der vor einiger Zeit in einem nahegelegenen See ertrunken war. „Es soll dort eine Nixe wohnen”, erklärte er und senkte traurig den Kopf.
„Eine Nixe?” Lisa schüttelte ungläubig den Kopf.
„Ja”, nickte der Mann. „Vor Jahren behauptete ein Fischer sie gesehen zu haben.”
„Wirklich?” rief Lisa erstaunt.
„Ich war oft zum Fischen auf dem See, doch einer Nixe bin ich nie begegnet.” Der Mann schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist es ja nur ein Gerücht.”
„Doch wie kam es, dass dein Sohn ertrunken ist?” wollte Lisa wissen. „Konnte er nicht schwimmen?”
„Oh doch, er war ein guter Schwimmer, der sogar nach Muscheln tauchte. Eines Tages, Josi und ich fuhren wie so oft mit dem Boot zum Fischen. Doch hatten wir an diesem Tag nur wenig Glück. In meinem Netz lagen nur einige kleine Fische. Es war schon dunkel, deshalb wollte ich nach Hause. Doch Josi warf noch einmal seine Angel aus. Es dauerte nicht lange, da zappelte ein riesiger Fisch am Haken. Es war ein wunderschöner, bunter Barsch. Ein solches Prachtexemplar hatten wir bis dahin noch nie in unserem See gesehen. Glücklich über den guten Fang ruderten wir zurück ans Ufer. Es war ein heißer Tag gewesen und Josi wollte noch ein paar Runden schwimmen. So ging ich allein nach Hause, um das Abendessen zuzubereiten. Stell’ dir vor Lisa, als ich den Bauch des Fisches aufschnitt, fand ich eine wunderschöne große Perle, von seltsamer, grüner Farbe.”
„Eine grüne Perle?” fragte Lisa erstaunt.
„Warte einen Moment, ich zeige sie dir.” Der alte Mann stand auf und ging in die Hütte. Nach einer Weile kam er mit einem silbernen Perlmutkästchen zurück und öffnete es.
Lisa war entzückt, als sie die strahlende Perle sah, die auf einem roten Samtkissen lag. „Oh, wie wunderschön sie ist und sicher auch sehr wertvoll.”
„Nicht für mich”, erwiderte der Mann traurig. „Das Wertvollste für mich war mein Sohn Josi.” Er starrte vor sich auf den Boden. „Er war doch erst fünfzehn Jahre alt. Tagelang lief ich am Ufer entlang. Verzweifelt rief ich seinen Namen. Doch vergebens. Er blieb verschwunden. Es war eine schlimme Zeit für mich. Die Gewissheit, dass ich ihn niemals mehr wiedersehen werde, wurde mir nach wochenlangem Warten klar.” Der Mann reichte Lisa die Perle. „Ich schenke sie dir. Ich will sie nicht mehr haben. Sie erinnert mich immer an mein geliebtes Kind.” Traurig senkte er sein Haupt.
Voll Mitleid legte Lisa ihren Arm um seine Schulter. Um ihn von seinem Schmerz abzulenken, erzählte sie nun ihre Geschichte. Als sie vom Tal ohne Leben berichtete, unterbrach sie der Mann.
„Es wird das Tal des Todes genannt, denn alles Leben wurde von den Raubvögeln zunichte gemacht. Sie sind die Herrscher dieses Tales und dulden keine anderen Lebewesen dort. Kein Mensch wagt sich auch nur in die Nähe dieses unheimlichen Ortes. Du hattest großes Glück Lisa, denn die Vögel zerfleischen unbarmherzig alles, was zwischen ihre Krallen kommt.”
Ein Schauer lief über Lisas Rücken. Sie berührte zärtlich Pipos Fell. Ihr kleiner Freund hatte sie gerettet. Denn erst jetzt wurde ihr deutlich bewusst, in welcher Gefahr sie gewesen sind. Sie musste an ihre arme Schwester denken. In welchen Schwierigkeiten mochte sie wohl stecken? Der Gedanke machte sie unruhig.
„Ich muss unbedingt weiter.” Sie stand auf.
Der Mann hielt ihre Hand fest. „Ich verstehe dich gut Lisa, du machst dir große Sorgen um deine Schwester. Aber möchtest du nicht doch noch ein Weilchen hier bleiben?” Der Mann hielt ihre Hand fest. „
Lisa schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht.” Sie lief ins Haus um ihr Säckchen zu holen.
Zum Abschied schenkte der Mann Lisa eine kleine Decke aus Ziegenfell. „Du wirst sie gut gebrauchen. Die Nächte werden zusehends kälter, je weiter du nach Norden kommst.”
Er begleitete Lisa und Pipo noch ein kleines Stück. „Siehst du den Hügel dort?” Er deutete auf eine grasbewachsene Anhöhe. „Dahinter liegt der See, in dem mein geliebter Sohn sein Leben verlor.”
Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er wandte sich ab, doch Lisa sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Das Mädchen streichelte seine Hand. Sie hätte ihm so gerne Trost zugesprochen. Aber konnte man jemanden, der seinen einzigen Sohn verloren hat, überhaupt trösten? Sie konnte ihm sein Kind nicht zurückbringen. Lisa seufzte laut. Sie verstand den Kummer des Mannes. Auch sie hatte ihre geliebte Mutter und Schwester verloren und wusste nicht, ob sie Julia überhaupt finden und befreien konnte. Und wenn sie an ihren Vater dachte. Über zehn Jahre ist Mutter schon tot, doch der Vater war immer noch mit tiefer Trauer erfüllt.
„Es ist ein riesiger See, so groß und breit, dass man das andere Ufer nicht erblicken kann”, unterbrach der Mann Lisas trüben Gedanken. „Noch kein Mensch hat je versucht, die andere Seite zu erreichen, weil oft wilde Stürme über das Wasser toben. Unsere kleinen Boote sind dem nicht gewachsen. Die hohen Wellen würden sie verschlingen. Wir fischen deshalb nur in der Nähe des Ufers.” Traurig lächelnd fuhr er fort: „An einem Steg findest du ein Boot. Damit kannst du versuchen den See zu überqueren. Ich hoffe es wird dir gelingen.”
Lisa fiel der Abschied schwer. Gerne wäre sie noch ein Weilchen hier geblieben, denn der einsame Mann tat ihr von Herzen leid. Aber sie hatte eh’ schon viel zu viel kostbare Zeit verloren und musste unbedingt weiter.
Als sie auf der Anhöhe stand, schaute sie noch einmal zurück. Gramgebeugt stand der alte Mann an der Tür und hob die Hand.
„Leb’ wohl”, rief Lisa ihm zu, und Pipo winkte wie wild mit der Pfote.
Lisa starrte mit offenem Mund auf das riesige Gewässer. Der alte Mann hatte nicht übertrieben. Der See in seiner unendlichen Weite war wirklich schwindelerregend groß und glich eher einem Meer, das bis zum Horizont reichte.
Lisa trat ans Ufer. Dichtes Schilf raschelte leise in einer sanften Brise. Unzählige weiße und rosa Seerosen blühten auf dem Wasser, über dem Schwärme von buntschillernden, grazilen Libellen tanzten. Ein dicker, grüner Frosch saß, laut quakend, auf einem großen Blatt und ließ sich von den leichten Wellen auf und ab schaukeln. Festgebunden an einem Pfahl lag ein Boot an einem Steg.
Der Mäuserich kratzte sich mit der Kralle am Kopf. „Hoffentlich werde ich nicht seekrank.”
Lisa wollte gerade das Boot losbinden, als sie eine Wasserfontäne aufsteigen sah. Entsetzt wich sie ein paar Schritte zurück. Ein sonderbarer Anblick bot sich ihr.
„Was ist denn das?” schrie Pipo zu Tode erschrocken. Er flüchtete in Lisas Manteltasche und hielt sich die Augen zu.
Der Frosch sprang von seinem Blatt ins Wasser und schrie Lisa zu: „Sei auf der Hut vor der Nixe.” Dann tauchte er unter
„Nixe?” fragte Lisa und starrte auf das seltsame Wesen, das auf sie zu geschwommen kam und im seichten Wasser liegen blieb.
Lange, grüne Haare hingen ihr wirr über die Schultern. Wunderschöne, leuchtend grüne Augen schauten zu Lisa empor. Das weiße, wohlgeformte Antlitz lächelte freundlich.
Als Lisa eine Schwanzflosse am Körper des Wesens erblickte, murmelte sie ungläubig: „Mein Gott, es gibt sie wirklich.” Wie versteinert stand sie am Ufer, unfähig sich zu bewegen.
Eine leise singende Stimme drang an ihre Ohren: „Komm doch näher, Lisa. Hab’ keine Angst, ich möchte dir mein Reich zeigen. In meinem Schloss wird es dir gefallen. Wir könnten zusammen spielen.”
Sie hob ihre spindeldürren Finger und machte eine Handbewegung über den See. Ein weißer Dunst stieg aus dem Wasser, der sich allmählich zu zarten Wesen formte. Es waren Seejungfrauen mit langen, wallenden Gewändern. Auf den silbrig glänzenden Wellen tanzten sie einen wundersamen Reigen. Dabei sangen sie eine zarte Melodie. „Komm’ doch und tanze mit uns”, hörte Lisa die Nixe mit lockender Stimme.
Wie verzaubert machte die Prinzessin ein paar Schritte zum Ufer hin. Plötzlich fasste die Nixe nach ihrem Arm und zog sie ins Wasser. Wie ein Pfeil schoss sie durch den See, das erschrockene Mädchen hinter sich herziehend, vorbei an Seegras und Fischen, die aufgeschreckt mit ängstlichen Augen auseinanderstoben. In der Ferne glitzerte etwas am Boden des Sees. Je näher sie kamen, desto heller leuchtete es. Ein großes gläsernes Tor war zu sehen, auf das die Nixe zusteuerte.
„Wir sind zu Hause”, sagte sie und machte das Tor auf.
„Aah.” Lisa stieß einen überraschten Schrei aus. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah. Nicht nur, dass sie auf trockenem Land stand erstaunte sie, nein, auch ihr Mantel zeigte keine Spur von Feuchtigkeit. Es war, als wäre er nie mit Wasser in Berührung gekommen.
Lisa schüttelte den Kopf, als sie sah wie sich die Nixe gerade ihre Flosse abstreifte Ungläubig wischte sie sich über die Augen. Das war doch nicht möglich. Die Nixe hatte genau wie sie, zwei Beine. Ein kurzes, lindgrünes, duftiges Kleid bedeckte ihren schmalen Körper. Sie schlüpfte mit ihren Füßen in goldene Pantoffeln, die neben der gläsernen Tür standen. Die langen, grünen Haare band sie im Nacken mit einer goldenen Schleife zusammen. Sie sah wunderschön aus.
Mit offenem Mund blickte sich Lisa um.
Pipos Kopf kam zum Vorschein. „Donnerwetter”, stieß er begeistert hervor. Mit glänzenden Augen sprang er auf den Boden und drehte sich im Kreis. Er war sprachlos und das wollte was heißen.
„Das ist Pipo, mein Freund und Weggefährte”, stellte Lisa den Mäuserich vor.
„Aha”, erwiderte die Nixe, beachtete Pipo aber kaum.
Lisa schüttelte ungläubig den Kopf. „Wo sind wir und wer bist du?”
„Ich heiße Serena und wir sind im See.” Sie breitete ihre Arme aus. „Das ist mein Zuhause.”
Als Lisa sich umsah, sah sie über sich Fische schwimmen. Eine riesige, gläserne Kuppel war wie ein Schirm über sie aufgespannt. Mächtige Säulen trugen dieses durchsichtige Dach, in dessen Mitte ein großer, glitzernder Kristall schillerte, der so hell wie die Sonne strahlte und alles mit gleißendem Licht überflutete. Im Hintergrund erblickte Lisa ein weißes Schloss, das von einer ganzen Anzahl kleiner runder Häuser umgeben war. Die Dächer der Häuschen liefen spitz zu und waren mit glänzenden, schwarzen Schindeln gedeckt. Lisa hatte noch nie solche Häuser gesehen. Die schmalen Wege waren mit weißen Kieselsteinen gepflastert, auf denen seltsame, kleine Männlein geschäftig umher liefen. Ihre Gesichter wirkten alt und verschrumpelt wie Tausendjährige und ihre Gestalten waren kaum größer als eineinhalb Ellen. Doch waren ihre Ohren, im Verhältnis zu ihren Körpern, groß und spitz.
Pipo deutete mit der Kralle auf die Männlein. „Schau nur Prinzessin, was für komische Kleider die anhaben.”
Lisa war das auch sofort aufgefallen. Alle kleinen Leute trugen die gleichen grauen Kittel, die ihnen bis zu den Knien reichten und mit einer dicken Kordel an der Taille zusammengebunden waren. Ihre Sandalen, aus geflochtenem Leder, waren mit Schnüren bis zu den Knien gebunden. Auf einigen Köpfen saßen hohe Spitzhüte, die mit eigenartigen Zeichen bestickt waren. Darunter quollen blonde, lockige Haare hervor.
Als Serena mit Lisa durch die Straßen lief, verbeugten sich die Männlein tief vor der Nixe.
Lisa staunte, als sie die sauber angelegten Gärten mit den vielen verschiedenen Obstbäumen erblickte. Blumengirlanden, aus vielfarbigen Blüten, schmückten die Häuser. Ein schmales, glasklares Bächlein schlängelte sich durch den Ort und endete in einem silberglänzenden, kleinen See, in dessen Mitte eine Wasserfontäne hochschoss. Aus manchen Häusern drang gedämpftes Klopfen und Hämmern.
„Sie haben sehr geschickte Hände, die wunderschöne Schmuckstücke aus Perlmutt und Edelsteinen herstellen”, erklärte Serena.
„Was sind das nur für merkwürdige kleine Leute? Die passen genau so wenig hierher, wie ich”, stellte Lisa fest und dachte bei sich, ob die wohl freiwillig oder gezwungenermaßen hier waren.
„Du hast Recht, Lisa. Sie gehören zum Volk der Gnome.”
„Gnome?” fragte Lisa verblüfft. „Sind das Zwerge, oder kleine Menschen?”
Serena schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Weder das Eine, noch das Andere. Sie leben schon viele, viele Sommer bei uns.” Die Nixe nahm Lisa bei der Hand. „Komm, ich möchte dich meinem Vater vorstellen. Leider ist er krank am Gemüt, seit unsere grüne Perle verschwunden ist. Sie war das einzige, was von meiner Mutter übrig blieb.”
Lisa horchte auf. Sie zog aus ihrer Manteltasche das Perlmutkästchen hervor und öffnete es. „Meinst du diese Perle?”
„Aber ja”, rief Serena aufgebracht und wollte Lisa das Schmuckkästchen aus der Hand reißen. „Woher hast du sie? Sprich!”
Doch Lisa zog schnell ihre Hand zurück und verwahrte das Kästchen wieder. „Ein alter Mann schenkte sie mir, dessen Sohn Josi vor einiger Zeit hier im See ertrunken ist.”
„Josi?” fragte die Nixe. „Er ist nicht ertrunken.” Sie legte die Hand auf ihren Mund und schwieg.
„Er lebt noch”? rief Lisa erfreut. „Sag mir wo Josi ist?”
„Josi?” Das Gesicht der Nixe verschloss sich. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen.”
„Aber du sagtest doch gerade, dass er lebt.”
„Ich?” Die Nixe lachte laut auf. „Da musst du dich verhört haben.”
Lisa schwieg. ‘Sei auf der Hut’, hatte sie der Frosch gewarnt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie spürte ganz deutlich, dass Serena etwas zu verbergen hatte.
Als sie an einem kleinen Gebäude vorbeikamen, dessen Fenster vergittert waren, sah Lisa für einen Moment ein Gesicht. War es der verschwundene Josi? Wenn ja, warum log Serena? Und warum war der Junge eingesperrt?
„Wer ist das, der in diesem Haus wohnt?” fragte Lisa.
„Da wohnt niemand”, antwortete Serena ausweichend. „Das Haus steht schon lange leer.”
‘Erneut eine Lüge’ dachte das Mädchen.
Pipo hatte dem Gespräch gelauscht und spürte die Spannung zwischen den beiden. Er nickte Lisa zu, ließ sich leise zu Boden gleiten und huschte davon.
Inzwischen hatte Lisa und die Nixe die breite Treppe, die zum Schloss führte, erreicht.
Abrupt blieb Serena stehen. „Du wartest hier einen Moment.” Ihre Stimme klang plötzlich hart und herrisch. Mit zusammengekniffenen Lippen lief sie hastig über den Platz, zu dem angeblich leeren Haus und verschwand hinter der Tür.
***
Pipo war unbemerkt mit der Nixe in das Haus geschlüpft.
Ein düsterer Raum empfing ihn. Schnell huschte er unter ein Bettgestell und lugte neugierig hervor. In einem Lehnstuhl saß ein blasser, junger Mann, mit langen, blonden Haaren. Sein ernstes Gesicht war auf die Nixe gerichtet. „Willst du mich nun endlich freilassen?” Er hob müde seine Hand.
„Freilassen? Nein, niemals”, stieß die Nixe hervor.
„Warum tust du mir das an, Serena? Was hab’ ich dir getan, dass du mich so quälst?” Er schwieg und senkte traurig sein Haupt.
„Ich quäle dich nicht. Ich liebe dich. Sobald du einwilligst mein Gemahl zu werden, darfst du dich hier frei bewegen.”
Josi schüttelte den Kopf und seufzte laut. Dann sagte er: „Ich sah ein Mädchen mit dir über den Schlossplatz laufen. Was hast du mit ihr vor? Brauchst du noch eine Gefangene?”
„Das geht dich nichts an”, erwiderte die Nixe barsch und wandte sich zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal um. „Ich rate dir, dich ruhig zu verhalten, solange sich das Menschenmädchen hier aufhält. Übrigens ist dein Vater ein Dieb”, stieß sie wütend hervor. „Er hat unsere grüne Perle gestohlen.”
„Was sagst du da, mein Vater hat eine Perle gestohlen? Davon weiß ich nichts. Nein”, er grübelte eine Weile. „Nein wir besaßen nie eine Perle.” Er schüttelte den Kopf.
„Warum hat dein Vater, dem Mädchen, das du sahst, unsere Perle geschenkt?”
Josi schwieg. Er hatte keine Ahnung, von was die Nixe sprach.
Serena öffnete die Tür und sagte noch einmal eindringlich. „Halte dich verborgen.” Ihre grünen Augen funkelten den Jungen böse an.
Pipo schlich sich mit Serena wieder nach draußen. Er wartete so lange, bis die Nixe mit dem Rücken zu ihm vor den Stufen stand, die zum Portal des Schlosses führten.
Eine gute Gelegenheit, unbemerkt über den Schlossplatz zu laufen. Er rannte, was seine kurzen Beine hergaben. Schnaufend hangelte er sich an Lisas Mantel hoch und setzte sich auf ihre Schulter. „Es ist Josi, den dieses hinterhältige Biest gefangen hält” flüsterte er in Lisas Ohr, die sich gerade mit einem der kleinen Männlein unterhielt.
Die Prinzessin nickte. Sie hatte sich also nicht getäuscht.
Ein Gnom kam eilfertig angelaufen und verbeugte sich vor der Nixe. Dann deutete er auf die Körbe, die einige seiner Artgenossen auf ihren Köpfen trugen.
„Na Daki, was bringst du uns heute?” fragte die Nixe. Ihre Stimme klang ungewöhnlich freundlich.
„Die ersten reifen Früchte für dich und deinen Vater”, erwiderte der Kleine ehrfurchtsvoll. „Aber wie ich sehe hast du Besuch.” Er musterte Lisa neugierig. „Wenn du noch mehr Früchte brauchst, schicke ich später Amy vorbei.”
„Vielen Dank Daki, das wird nicht nötig sein.”
Lisa war überrascht. Die Nixe konnte auch nett sein. Doch war sich Lisa nicht sicher, ob die Freundlichkeit auch echt war. Sie musste vorsichtig sein und durfte sich die Nixe nicht zur Feindin machen. Deshalb lächelte auch sie und schwärmte von der schönen Stadt und den netten Bewohnern.
Serena nickte. Mit unüberhörbarem Stolz in ihrer Stimme meinte sie: „Es ist ein fleißiges Völkchen. Schau nur, welch köstliche Früchte sie gezüchtet haben. Aber sie sind nicht nur gute Bauern, sondern auch grandiose Architekten. Diese schöne Stadt ist unter ihren geschickten Händen entstanden.”
„Wirklich?” Pipo schnippte mit der Vorderkralle. „Das sind ja wahre Künstler. Einfach genial. Solche Häuser habe ich noch nirgendwo gesehen.”
Einige Wasserjungfrauen kamen angelaufen, schnappten sich die Obstkörbe und brachten sie ins Schloss.
Liebevoll strich Serena über die blonden Krausköpfe der putzigen, Kerlchen, die immer noch an der Treppe standen. „Ich bin sehr froh, dass diese kleinen Leute hier sind.”
Lisa starrte auf Serenas Hand. Der Ring, der an ihrem Finger steckte, kam ihr sehr bekannt vor. Richtig, es war Julias Ring. Seit ihrer Geburt besaßen die Zwillinge einen solchen Ring. Um die Prinzessinnen nicht zu verwechseln, ließ der Vater diese Schmuckstücke anfertigen und auf der Innenseite mit ihren Namen versehen. Mit den Jahren, als ihre Finger dicker wurden, mussten die Ringe immer wieder größer gemacht werden.
Serena folgte Lisas Blick, der erstaunt auf den Ring gerichtet war. Hastig versteckte sie die Hand auf ihrem Rücken.
„Woher hast du den Ring?” fragte sie die Nixe.
„Ein Geschenk von meinem Vater”, erwiderte Serena mit unbeweglichem Gesicht.
Lisa wunderte sich, wie leicht die Lügen über Serenas Lippen kamen. Ein unbehaglicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Ihre Schwester muss also auch hier gewesen sein. Wie sonst käme die Nixe zu Julias Ring?
Ihr kummervolles Gesicht fiel auch Pipo auf. „Was ist Prinzessin?” fragte er leise.
Lisa flüsterte ihm ins Ohr: „Sie hat Julias Ring am Finger.”
„Oh.” Pipo zog seine Stirn kraus.
Lisa schüttelte den Kopf und legte den Finger auf den Mund. Es war besser im Moment zu schweigen. Doch nahm sie sich ganz fest vor, nicht ohne den Ring den See zu verlassen.
„Schau nur Pipo, wie schön es hier ist”, lenkte sie den Mäuserich ab.
„Ja Lisa, fast so schön, wie auf Schloss Schönblick. Wenn ich zu Hause erzähle, dass sich in diesem See eine ganze Stadt befindet, glaubt mir das ganz sicher kein Mäuseschwanz.”
Lisa nickte. „Tröste dich Pipo, mir auch nicht.” Sie dachte an ihren Vater und seufzte laut. „Ach Pipo, ich mach’ mir große Sorgen um meinen Vater. Hoffentlich geht es ihm gut. Er ist doch so allein. Ich war das Letzte, was ihm auf dieser Welt noch geblieben war.”
Pipo sprang auf Lisas Schulter und schmiegte sein Schnäuzchen an ihre Wange. „Nicht traurig sein, Prinzessin. König Carlo ist ein starker und weiser Mann. Sicher wird er die Hoffnung auf deine glückliche Heimkehr nicht aufgeben.”
„Ich wünschte, du hast Recht, mein kleiner Freund.”
Wehmütig schaute sie zum Schloss empor. Es war kleiner als Schloss Schönblick, aber weit prachtvoller mit seinen hohen Fenstern und den vielen, spitzen Türmchen. Schneeweiß glitzerte es unter dem großen Kristalldach. Grüner Efeu und rote Kletterrosen rankten sich an den Wänden empor. Es sah wie ein verzaubertes Märchenschloss aus. Lisa zählte zwölf Stufen bis zu dem zweiflügeligen Portal.
„Was soll das Gerede?” fragte Serena ungeduldig. „Kommt endlich und lasst uns schnell zu meinen Vater gehen.” Sie nahm Lisas Hand und zog das Mädchen durch das Portal in eine weitläufige Vorhalle.
Auch hier begegneten ihnen einige Seejungfrauen. Serena machte eine Tür auf und schob Lisa in einen mit schweren, weinroten Samtvorhängen abgedunkelten Raum. Im ersten Moment war nur wenig zu erkennen. Als die Nixe die Vorhänge zurück zog, durchflutete gleißendes Licht das Zimmer. In einem Lehnstuhl saß eine zusammengesunkene Gestalt. Es war ein älterer Mann mit langen, grauen Haaren, in dessen faltenlosen, schönen Gesicht ein bitterer Zug lag. Seine schwermütigen, grünen Augen ruhten auf den beiden Ankömmlingen. Mit einer müden Geste sagte er leise: „Du sollst doch keine Menschenkinder”...
Weiter kam er nicht, denn Serena unterbrach ihn heftig. „Lisa ist nur auf der Durchreise.” Sie lief lachend zu ihrem Vater, fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf die Wange. „Schau nur Väterchen, was sie uns mitgebracht hat.” Sie wandte sich an Lisa und befahl in barschem Ton: „Zeig’ meinem Vater die Perle.”
Lisa nahm das Schmuckkästchen aus der Manteltasche und öffnete es. Dabei beobachtete sie, wie sich die Schultern des Mannes strafften. Seine Augen leuchteten auf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Wie gebannt schaute er auf die Perle. „Meine Perle, meine geliebte Frau. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Dass ich das noch erleben darf”, stammelte er gerührt, während Tränen aus seinen Augen rannen.
„Ich werde dir die Perle schenken”, sagte Lisa. „Unter einer Bedingung, natürlich.”
„Eine Bedingung?” fiel der König ihr ins Wort. „Ich werde dir für diese Perle, soweit es in meiner Macht steht, jeden Wunsch erfüllen.”
„Serena muss unverzüglich den Jungen freilassen, den sie gefangen hält und mich über den See bringen. Außerdem besitzt sie einen Ring, der meiner Schwester Julia gehört.”
Der König schaute seine Tochter sehr streng an. „Was für eine Erklärung hast du zu diesen Anschuldigungen?”
Serena warf Lisa einen bitterbösen Blick zu. „Sie lügt, Väterchen”, stieß sie mit zusammengekniffenen Lippen hervor.
„Was für einen Jungen meinst du mein Kind?” wandte er sich an Lisa.
„Josi, der Sohn eines Fischers, den deine Tochter in einem Haus mit vergitterten Fenstern gefangen hält.”
„Bei uns gibt es keine Gefängnisse”, erwiderte der Mann.
„Ich habe es selber gesehen”, meldete sich Pipo zu Wort und setzte sich auf Lisas Schulter.
„Ist das wahr, Kind?”
„Lüge, Lüge”, schrie die Nixe außer sich. Ihr weißes Gesicht färbte sich grün vor Zorn. „Du glaubst doch so einem hergelaufenen Mensch und dieser nichtsnutzigen Maus nicht mehr als mir?” Wütend stampfte sie mit den Füßen auf.
„Sag’ bitte die Wahrheit, meine Tochter. Du weißt, was mir die Perle bedeutet.”
Serena fing an zu weinen. „Ich liebe Josi. Schon lange beobachtete ich ihn, wenn er mit seinem Vater im See fischte oder wenn er badete. Ja”, schluchzte sie. „Ich habe ihn in die Stadt gebracht und halte ihn verwahrt. Ich will ihn zu meinem Gemahl haben und warte darauf, dass er einverstanden ist.”
„Bist du von Sinnen, Serena”, unterbrach sie der Vater heftig. „Du kannst das Menschenkind nicht heiraten. Du weißt ganz genau, dass das unmöglich ist. Menschen sind nicht geschaffen, um unter dem Wasser zu leben. Jedenfalls nicht auf Dauer. Das würde den Tod des Jungen bedeuten.” Der Mann schüttelte den Kopf. „Was hast du dir bloß dabei gedacht?”
Serena schaute trotzig auf ihre Füße. Sie wusste, dass ihr Vater Recht hatte. Doch wollte sie nicht auf ihre Liebe verzichten. Andererseits war die Perle für ihren Vater sehr wichtig. Sie befand sich in einer Zwickmühle. Unruhig trat sie von einem Bein auf das andere und überlegte angestrengt. Sie liebte ihren Vater von ganzem Herzen und sie liebte Josi.
„Bringe den Jungen unverzüglich zurück, bevor es zu spät ist”, befahl der König. „Doch vorher gibst du Lisa den Ring.”
Serena warf Lisa einen giftigen Blick zu, streifte den Ring vom Finger und schleuderte ihn wütend vor Lisas Füße. Laut weinend stürmte sie aus dem Zimmer.
„Ach” seufzte der Vater. „Sie ist so ein impulsives Kind.”
`Eher ein verwöhnter Balg´, dachte Lisa und folgte der Nixe. Auf der Schlosstreppe blieb sie stehen. Sie wollte sehen, ob Serena Josi tatsächlich frei ließ und nach Hause brachte.
Die beiden kamen gerade aus dem Haus. Der Aufenthalt hier hatte dem Jungen schwer zugesetzt. Er sah sehr schwach und krank aus. Wie ein alter Mann schlurfte er über den Schlossplatz.
Lisa rief seinen Namen. „Josi, warte bitte einen Moment.”
Der Junge blieb stehen und schaute das Mädchen aus trüben Augen an. „Bist du auch ein Mensch”, fragte er mit brüchiger Stimme.
Lisa nickte und nahm seine Hand. „Ich komme gerade von deinem Vater. Er war ganz krank vor Kummer, weil er dachte, du wärst im See ertrunken. Doch jetzt ist er wieder gesund.” Lisa wandte sich an Serena. „Ihr könntet doch gute Freunde bleiben, oder?” Während Serena krampfhaft nickte, verzog Josi zu diesem Vorschlag nur sein Gesicht. Er hatte wohl die Schnauze voll von dieser Nixe.
‘Das wird wohl nichts’, dachte Lisa, als sie sein verschlossenes, ausgemergeltes Gesicht sah.
Schnell holte sie eine Frucht von Adda aus ihrem Säckchen und reichte sie dem Jungen. „Iss sie, wenn du zu Hause bist. Sie wird dir wieder Kraft verleihen. Und grüße deinen Vater von mir.”
Josi betrachtete die Frucht von allen Seiten. „Von wem soll ich Vater grüßen?”
„Ich heiße Lisa.”
Pipo, der immer noch auf Lisas Schulter saß, sagte mit stolzer Miene: „Prinzessin Lisa von Schloss Schönblick.”
Der Junge nickte und lief mit der Nixe zum gläsernen Tor, das in den See führte.
Lisa ging zurück ins Schloss.
***
Als Serena nach einer Weile das Zimmer betrat, sah Lisa ihre rotgeweinten Augen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank sie schluchzend vor ihrem Vater auf die Knie. Ihr ganzer Körper bebte.
Tief bewegt strich der König über ihre grünen Haare und sprach ihr Trost zu.
Um diesen Gefühlsausbruch ein Ende zu machen, nahm Lisa die Perle aus dem Schmuckkästchen und reichte sie dem König.
Lange hielt der alte Mann sie auf seiner Handfläche und starrte sie an. Dann drückte er sie an seine Brust und weinte ergriffen. Eine dicke Träne löste sich aus seinem Auge und benetzte die Perle. Was für eine Überraschung. Die Perle wurde größer und größer und der König konnte sie nicht mehr halten. Sie fiel auf den Marmorboden und tatzte ein paarmal hin und her. während sie weiter wuchs. Dann drang aus ihrem Inneren ein geheimnisvoller Nebel hervor, der sie schliesslich ganz umhüllte. Aus dem Dunst formte sich eine große, schlanke Gestalt.
Lisa wischte sich über die Augen, als eine wunderschöne Frau aus dem Dunst heraustrat. Ihr grünes Haar, das bis zu ihrer Hüfte reichte, schmückte ein schmales, goldenes Diadem. In dessen Mitte saß ein großer, glänzender Smaragd. Das lange, elfenbeinfarbige Seidenkleid reichte bis zu ihren Füßen, die in goldenen Pantoffeln steckten. Mit ausgestreckten Armen lief sie zu ihrem Mann, der neben Serena stand. Lachend und weinend umarmten sich die drei. Lisa begriff nicht so recht was hier vor sich ging. Woher kam die schöne Frau? Einfach so aus dem Nebel? Sie schüttelte ungläubig den Kopf, während Pipo mit offenem Mund und riesigen Knopfaugen alles beobachtete.
Die Frau sah Lisas erstauntes Gesicht und lächelte glücklich. „Ich bin Silbertau, Serenas Mutter.” Sie nahm Lisas Hand. „Danke mein Kind, du hast mich zu meiner Familie zurückgebracht.”
„Was ist geschehen?” fragte Lisa. „Ich verstehe das Alles nicht.”
„Es ist eine traurige Geschichte”, seufzte Silbertau. Ihr Blick fiel auf die Kette um Lisas Hals. „Du trägst das Amulett meiner Schwester Wolkenwind.”
„Wolkenwind? Nein, da irrst du. Es gehörte meine Mutter Isella. Sie schenkte es mir, bevor sie starb.”
„Isella?” fragte sie. Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich. „Ich besaß die gleiche Kette, nur mit einem blauen Stein. Hogla raubte sie mir.”
„Hogla?” fragte Lisa. „Wer ist das?”
„Er ist ein Erdgnom und ein abscheuliches, böses Geschöpf. Besonders gefährlich ist er, seit er sich mit den bösen Wesen aus dem finsteren Reich verbrüdert hat. Gemeinsam verbreiten sie Angst und Schrecken in unserem Land.” Silbertau schwieg einen Moment. Der König fasste nach ihrer Hand und streichelte sie zärtlich. Sie lächelte und legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes, während sie fort fuhr: „Eines Tages tauchte Hogla, in Begleitung des großen Zauberers Zottaka, hier auf. Wir ahnten Unheil und hatten Recht. Dieser grässliche Unhold erdreistete sich tatsächlich, um die Hand unserer schönen Tochter anzuhalten. Doch als wir sein Angebot dankend ablehnten, lachte Hogla nur böse. "Bekomme ich eure Tochter nicht zur Frau, brauchst du auch keine Frau", schrie er meinem Mann ins Gesicht. Er winkte dem Magier zu. Wutentbrannt schleuderte Zottaka einen Zauber über mich.” Silbertaus Stimme zitterte, wobei Tränen über ihr schönes Antlitz liefen. „Und ich wurde in eine Perle verwandelt”, schluchzte sie.
„Ja”, erzählte der König weiter, während er tröstend den Arm um seine Gattin legte. „Ich war machtlos gegen diese Bösewichte und musste mit ansehen, wie Hogla die Perle in den See warf, wo sie von einem Fisch verschluckt wurde. Sein hässlichem Gelächter dröhnt mir heute noch in meinen Ohren. Dann verließen die beiden das Schloss. Niemand war seither in der Lage, diesen Unholden das Handwerk zu legen.” Liebevoll schaute er auf seine Gattin. „Wir durchstreiften den ganzen See und suchten fieberhaft nach dem Fisch”, fuhr er fort. „Hast du gesehen Lisa, wie groß der See ist? In ihm diesen einen bestimmten Fisch zu finden war einfach unmöglich.”
„Wie furchtbar”, stieß Lisa entrüstet hervor.
Glücklich lächelte der König seine Gemahlin an. „Doch jetzt wollen wir die schlimme Vergangenheit vergessen.”
„Du bleibst doch noch eine Weile, Lisa?” fragte Serena, die an ihrer Mutter hing. Sie war plötzlich sehr lieb und sanft.
„Das geht leider nicht”, wehrte das Mädchen ab. „Ich muss heute noch weiterziehen. Meine Schwester wartet auf mich.”
„Deine Schwester?” fragte Silbertau.
Lisa erzählte ihr mit wenigen Worten von Julia, der Zauberblume und dem Eisprinz. „Nun bin ich auf dem Weg dorthin.”
Silbertau umarmte Lisa. „Ich wünsche dir viel Erfolg, Kind. Doch sei auf der Hut vor Hogla und seiner Bande. Dieser machthungrige Unhold wird mit Sicherheit versuchen dein Vorhaben zu vereiteln.”
„Ich werde vorsichtig sein”, versprach das Mädchen.
Lisa sagte Lebewohl zu Serenas Eltern.
„Wir danken dir sehr, mein Kind”, sagte der Mann und umarmte Lisa zum Abschied.
Pipo, der alles mit großem Interesse verfolgt hatte, winkte mit der Pfote dem König und seiner Gemahlin zu. „Auf Wiedersehen Majestät”, sagte er vornehm und beugte ehrfürchtig seinen Kopf.
Silbertau strich zärtlich über sein seidiges Fell. „Pass’ gut auf deine große Freundin auf.”
„Wird gemacht, großes Ehrenwort”, versprach er. Dann verkroch er sich in die Manteltasche.
Serena war wie umgewandelt. Glücklich darüber, ihre Mutter wieder zu haben, fasste sie nach Lisas Hand. „Du darfst mich Chusine nennen und ich bringe dich über den See.” Bevor sie durch das gläserne Tor gingen, schlüpfte sie wieder in ihre Schwanzflosse. Mit wenigen Zügen schwamm sie wie ein Fisch, Lisa fest an der Hand haltend, durch das Wasser zum Ufer, wo das kleine Boot lag.
Als Lisa ins Boot stieg, fasste die Nixe mit ihren dünnen Spinnenfingern nach dem Seil, mit dem das Boot am Steg befestigt war und schlang es um ihre Schwanzflosse. Erst langsam, dann immer schneller, sauste sie über den See, das kleine Boot hinter sich herziehend. Spielerisch schlug sie mit ihrer Schwanzflosse auf das Wasser und lachte dabei. Das Boot drohte zu kentern, so wild schaukelte es hin und her.
„Hör’ sofort auf Serena”, schrie Lisa ängstlich. „Du willst mich wohl ertränken?”
Die Nixe lachte nur noch übermütiger. Wasser war ihr Element, in dem sie sich am wohlsten fühlte. Gott sei Dank konnte man die gegenüberliegende Seite des Sees schon erkennen. Als das Boot ans Ufer stieß, sprang Lisa mit einem Satz heraus, heilfroh darüber, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
„Es scheint, der Abschied ist gekommen.” Die Stimme Serenas wurde sehr ernst. „Werden wir uns jemals wiedersehen?” Eine Träne lief aus ihrem Auge.
Lisa wusste nicht, was sie von dieser Nixe halten sollte. Einmal war sie boshaft, dann wieder mitfühlend und sanft. Etwas unsicher über Serenas Verhalten, meinte sie nur: „Vielleicht.”
„Ich werde auf dich warten. Und seid bitte vorsichtig, du und dein kleiner Freund.”
Pipo! Großer Gott, sie wird ihn doch nicht im Schloss vergessen haben. Hastig griff sie in die Tasche ihres Mantels und war erleichtert. Der kleine Kerl lag selig zusammengerollt und verschlief den Abschied von Serena.
Lisa stieg die Böschung hinauf und blickte noch einmal über den See, in der die Nixe, übermütig mit der Flosse schlagend, im aufgewühlten Wasser verschwand.
Vor Lisa lag eine karge Heidelandschaft, über die ein kühler Nordwind strich. Nebelschwaden zogen vom Wasser herüber und bedeckten die Heide mit einem dichten, feuchten Schleier. Eine unheimliche Stille lag über dem Land. Verkrüppelte Birken warfen dunkle Schatten, und reckten gespenstisch ihre Äste in die Höhe. Bedrückend lastete die Einsamkeit auf Lisa. Die Aufgabe, ihre Schwester zu befreien, türmte sich wie ein unüberwindbarer Berg vor ihr auf. Obwohl sie nicht wusste wie es weitergehen sollte, nahm sie sich ganz fest vor niemals aufzugeben, was auch immer geschehen mochte.
Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch das Heidegewächs. Mit einem tiefen Seufzer folgte sie dem Weg, der nach Norden führte.
Pipos Kopf lugte aus der Manteltasche. „Brrr, hier ist es aber ungemütlich”, sprach’s und war auch schon wieder untergetaucht.
„Du hast recht mein kleiner Freund”, seufzte das Mädchen.
Stunde um Stunde wanderte sie durch die dunstige, öde Landschaft. Der Gedanke, Julia zu retten, gab ihr immer wieder neue Kraft. Doch als die Nacht hereinbrach, fühlte sie sich völlig ermattet. Außerdem schmerzten ihre Füße fürchterlich. Eine Reihe dichter Sträucher tauchten schemenhaft aus dem Nebel auf.
`Hier werde ich etwas ausruhen`, dachte sie.
Die Zweige anhebend, kroch sie unter einen Busch. Die Felldecke des alten Mannes wärmte sie in der kühlen Nacht. Die Augen fielen ihr zu und sie versank sogleich in einen tiefen Schlaf. Sie merkte nicht einmal wie der Mäuserich aus der Manteltasche kroch und sich zu ihr unter die warme Decke kuschelte.
***
Am nächsten Morgen weckte Pipo Lisa mit einem dicken Kuss. „Zeit aufzuwachen, Prinzessin.” Die Sonne, die goldgelb am Horizont emporstieg, strahlte wunderbar warm durch die Zweige in Lisas Gesicht. Der Nebel hatte sich aufgelöst und der Himmel zeigte sich in seinem schönsten Blau.
Lisa war hungrig und auch Pipos Magen knurrte gewaltig. Sie krochen unter dem Gebüsch hervor und setzten sich in die Sonne. Lisa holte aus dem Säckchen ihren Proviantbeutel. Von dem Brot, Käse und Schinken schnitt sie jeweils ein Stückchen ab.
„Mmm, riecht das lecker.” Pipo rieb sich seinen leeren Bauch und schnalzte genießerisch mit der Zunge. Allein der Duft ließ ihn schon das Wasser im Mund zusammen laufen. Er stopfte sich so voll, bis er umfiel.
Lisa amüsierte sich königlich über den kleinen Vielfraß. „Wie ich sehe, hat es dir geschmeckt.” lächelte sie.
„Köstlich, einfach köstlich.” Er war heute so vornehm, eben ein gebildeter Mäuserich.
„Weißt du Pipo, dass ich froh bin, dich bei mir zu haben.” Sie streichelte über sein kleines Köpfchen.
Pipo verdrehte seine Augen und meinte spitzbübisch: „Du bist wohl in mich verliebt?”
„Aber klar doch Pipo, du bist mein allerallerbester Freund.” Sie küsste ihn zärtlich auf sein spitzes Schnäuzchen, dass er verschämt die Augen senkte. Doch dann hob er stolz seine Brust. Eine Prinzessin als Freundin zu haben, hatte es in seiner ganzen Mäusedynastie noch nie gegeben. Er legte sich auf den Rücken und kreuzte die Hinterbeine in der Luft. An einem Grashalm kauend, ließ er sich von der warmen Herbstsonne den Bauch bescheinen. Währenddessen verstaute Lisa die restlichen Lebensmittel wieder in ihrem Säckchen.
Im Glanz der Morgensonne öffneten die Heideblumen ihre Kelche und verwandelte die karge Gegend in einen riesigen, blühenden Blumengarten. Lisa roch den würzigen Duft der Erikastauden, die mit silbrig glänzendem Morgentau benetzt waren. Dicke Hummeln, bunte Schmetterlinge und andere Insekten tummelten sich auf den vielfarbigen Blüten der Azaleen, um sich am Nektar zu laben. In einem Schlehenbusch, der unzählige blaue Früchte trug, saß ein Amselpärchen, das seine zarten Melodien in die Lüfte trällerte. Lustig hüpften sie von einem Ast zum anderen.
Lisa strich über Pipos vollgefressenen, runden Bauch und kraulte sein Fell. Mit geschlossenen Augen lag der Mäuserich im Gras und grinste behaglich. „Komm’ du kleiner Faulpelz, wir müssen weiter.”
„Ja Prinzessin”, seufzte er und stand auf.
Bald stießen sie auf den Pfad, den sie am Abend verlassen hatten. Frohen Mutes setzten sie ihren Weg durch das rotleuchtende Heidekraut fort. Die Birken sahen nicht mehr so furchterregend wie am Vortag aus. Im Gegenteil, die Äste waren mit buntem Herbstlaub geschmückt und raschelten leise im Wind.
Eine Zeitlang lief Pipo neben Lisa her, bis er schnaufend innehielt. „Puh, diese Rennerei ist mir doch zu anstrengend. Ich glaube, ich verkrümel mich lieber.” Er rangelte sich an Lisa hoch und kroch in die Manteltasche. „Von hier oben kann ich sowieso alles viel besser beobachten.”
Nach einer Weile zupfte er Lisa am Ärmel und flüsterte: „Schau mal Prinzessin, bewegt sich dort nicht etwas hinter den Büschen?”
Erschrocken fuhr Lisa herum. Pipo hatte Recht. Ein kleines, kräftiges Pferd stand dort und graste. Sein schwarzes Fell glänzte in der aufgehenden Sonne wie Kristall. Es hob seinen Kopf, den eine lange, silberne Mähne schmückte. Große, dunkle Augen sahen das Mädchen erstaunt an. Um das Tier nicht zu erschrecken, näherte sich Lisa ganz langsam und sprach besänftigende Worte. Doch das war gar nicht nötig, denn das Pferd trottete gemächlich auf sie zu und rieb zutraulich seinen Kopf an ihrer Schulter.
„Wer bist du denn und was suchst du so allein hier in der Heide?”
„Ich bin Lisa.”
„Prinzessin Lisa”, verbesserte Pipo und lugte aus der Manteltasche. „Und ich bin Pipo”, fügte er hinzu.
„Hallo Prinzessin Lisa. Hallo Pipo”, schnaubte der Gaul. „Ich heiße Gänseblümchen und lebe hier in der Heide.”
„Gänseblümchen?” Lisa fing an zu lachen. Sie lachte, dass es durch die ganze Heide schallte. Sie konnte, seit sie von zu Hause weg war, das erste Mal wieder so richtig von Herzen lachen. „Entschuldige, sei mir bitte nicht böse, aber ich habe noch nie gehört, dass ein Pferd Gänseblümchen heißt. Wie kommst du nur zu solch’ einem ungewöhnlichen Namen?”
„Naja”, das Pferd senkte verlegen den Kopf. „Meine Mutter gab ihn mir. Damals war ich noch ein kleines Fohlen und Gänseblümchen standen ganz oben auf meiner Speisekarte. So streifte ich den ganzen Tag durch die Heide, um nach den Blümchen zu suchen. Immer wenn ich mich von meinen Eltern zu weit entfernt hatte, rief meine Mutter „Gänseblümchen, Gänseblümchen”. Sie hatte dann immer ein Büschel Gänseblümchen im Maul. Wenn ich folgsam zurückkam, erhielt ich sie zur Belohnung. Von da an hieß ich Gänseblümchen.” Das Pferd verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
„Mir gefällt der Name, ehrlich. Er ist zwar nicht alltäglich, aber wirklich süß.” Lisa tätschelte den Hals des Pferdes.
„Meinst du das wirklich? Dann brauch' ich mich nicht wegen meines Namens zu schämen?” fragte Gänseblümchen zaghaft.
„Aber nein, du kannst stolz darauf sein”, beruhigte es Lisa.
„Im Ernst?” fragte Gänseblümchen etwas unsicher.
„Aber ja, welches Pferd trägt schon so einen wohlklingenden, süßen Namen”, versicherte Lisa. Sie war glücklich, noch einen Freund gewonnen zu haben.
„Und jetzt hätte ich gerne gewusst was ihr beiden hier macht?”
„Das ist eine lange Geschichte, Gänseblümchen.” Lisa setzte sich ins Gras und erzählte, was sie alles erlebt hatte. „Ja und jetzt bin ich auf dem Weg zum Eisprinzen.”
„Und ich begleite sie”, fiel Pipo ein.
Das Pferd nickte ab und zu, während Lisa sprach. „Brunhilde hat mir von dem tragischen Unglück des Prinzen berichtet.”
„Brunhilde? Wer ist denn das?” fragte Lisa neugierig
„Brunhilde ist eine alte, sehr weise Eule, die mich von Zeit zu Zeit besucht, um mir alle Neuigkeiten zu erzählen, die sich in unserem Land ereignen. Das mit dem Eisprinz erfuhr sie wiederum von ihrer Freundin der Fledermaus, die einst im Schloss des Prinzen gewohnt hatte. Sie war zufällig unterwegs und konnte so dem Unglück entkommen.”
„Aha”, sagte Lisa.
„Wenn dir unterwegs zufällig Brunnhilde begegnet, grüße sie herzlich von mir. Sag ihr, sie könnte ruhig wieder einmal vorbeischauen.”
„Ja, das werde ich gerne ausrichten, wenn ich sie treffen sollte.”
Das Pferd stupste sie am Arm. „Soll ich dich ein Stück begleiten, Prinzessin?”
Lisa war hocherfreut über das Angebot. „Das wäre wunderbar.”
„Dann setze dich doch auf meinen Rücken.”
Das ließ sich das Mädchen nicht zweimal sagen. Reiten war für sie kein Problem. Sie war zwar keine so ungestüme Reiterin wie ihre Schwester, aber sie konnte sehr gut mit Pferden umgehen. Zu Hause war sie oft mit ihrem Vater ausgeritten. Sie führte Gänseblümchen an einen Baumstumpf, damit sie besser aufsteigen konnte. Es klappte wunderbar. Am Anfang musste sie sich noch gut an der Mähne festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, denn ohne Sattel war sie noch nie geritten. Doch nach einer Weile hatte sie keine Schwierigkeiten mehr.
„Bis zum Ende der Heide begleite ich euch”, sagte das Pferd mit seiner tiefen, rauen Stimme.
Pipo hechtete aus der Manteltasche und rangelte sich an Gänseblümchens Mähne hoch. Zwischen den Ohren bezog er Stellung. Er legte sich flach auf den Bauch und schrie begeistert: „Hurra, von hier hab’ ich einen herrlichen Ausblick.” Er drehte sich um und warf Lisa eine Kusshand zu. Dabei kicherte er vorwitzig.
***
„Ist es noch sehr weit bis zum Ende der Heide?” fragte Lisa am späten Nachmittag.
„Ich schätze bis morgen könnten wir es schaffen.” erwiderte das Pferd. Es lenkte seine Schritte gemächlich, mit gedämpftem Hufschlag, weiter nach Norden. „Doch wenn du es sehr eilig hast, lege ich gerne noch einen Schritt zu.”
„Nein, nein Gänseblümchen. Ich glaube das wird nicht nötig sein.”
„Wie du meinst Prinzessin”, antwortete das Pferd und trabte weiter.
Am Himmel kräuselten sich unzählige weiße Wolken, die sich langsam zu riesigen Wolkenbergen auftürmten. Bald verschwand die Sonne hinter den Wolken, die riesige Schatten auf das Land warfen. In der Ferne hörte man leises Donnern. Plötzlich zuckten grelle Blitze durch den grauen Himmel und gruben sich in die Erde.
Pipo deutete mit seiner Kralle nach vorn. „Seht nur”, schrie er aufgeregt. „Das Unwetter kommt näher.” Er verließ fluchtartig seinen Hochsitz. Wie ein geölter Blitz sauste er über den Rücken des Pferdes und verkrümelte sich in Lisas Manteltasche.
Vor ihnen lag ein kleines Birkenwäldchen. Wind kam auf und brauste so heftig um ihre Ohren, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstehen konnten.
„Dort können wir Schutz suchen”, rief Lisa, denn es fing plötzlich sehr heftig an zu regnen.
Das Pferd galoppierte los. Unter den Bäumen waren sie einigermaßen vor dem Unwetter geschützt. Sturmböen zerrten an den Ästen, die sich knarrend und ächzend zur Seite bogen.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Gewitter in der Heide sind nicht gefährlich.” Kaum ausgesprochen, schlug krachend ein greller Blitz, in unmittelbarer Nähe, in einen Baum und spaltete ihn in zwei Hälften. Ein fürchterliches Grollen, ließ die ganze Erde erbeben. „Brr”, brummte das Pferd und wackelte mit dem Kopf. „Man kann sich auch einmal täuschen.”
Unter dem dichten Laubdach der Birken warteten sie bis der Regen nachließ. Zum Glück zog das Gewitter schnell vorüber und der Sturm wurde zu einer leichten Brise. Die Sonne spähte aus den abziehenden Wolken und ein prächtiger Regenbogen erschien am Himmel. Die Erde dampfte. Die Büsche und Bäume verströmten einen herrlich frischen Duft.
Als das Pferd aus dem Wald heraustrat, hob es seinen Kopf. Mit weitaufgeblähten Nüstern schnupperte es ängstlich nach allen Seiten.
„Was ist Gänseblümchen, ist alles in Ordnung?” fragte Lisa
„Nichts ist in Ordnung Prinzessin”, erwiderte das Pferd und stampfte nervös mit den Hufen auf den Boden. „Steig auf und halte dich gut fest, wir müssen hier sofort verduften.” Mit Schwung sprang Lisa auf seinen Rücken und legte die Arme um seinen Hals. Im gestreckten Galopp, kaum die Erde berührend, jagte Gänseblümchen über die Erikastauden.
Lisa drehte sich um. Ihr stockte das Blut in den Adern als sie ein Rudel Wölfe sah. „Oh Gott, Gänseblümchen, lauf schneller”, schrie sie, denn das Hecheln der Verfolger war schon deutlich zu hören.
Gänseblümchen gab sein Bestes, doch ein großer, grauer Wolf war ihnen schon dicht auf den Fersen und wollte das Pferd gerade von hinten anspringen.
Gänseblümchen erkannte die Gefahr. Geistesgegenwärtig schlug es mit dem rechten Hinterhuf aus und traf den Wolf am Kopf.
Vor Schmerz aufjaulend blieb das Tier stehen. Gänseblümchen war gerade noch einmal den scharfen Raubtierzähnen des Wolfes entgangen. Es galoppierte noch ein ganzes Stück durch die Heide, sprang über einen schmalen Bach und blieb erschöpft stehen.
Ein langgezogenes Heulen zerriss die Stille. Dann, wie ein Spuk, verschwanden die Tiere in einem Wäldchen. Lisa war erleichtert, doch ihre Beine zitterten immer noch.
„Puh, das war ganz schön knapp”, schnaubte Gänseblümchen noch ganz außer Atem. „Beinahe wären wir den hungrigen Mäulern zum Opfer gefallen.”
Lisa streichelte dankbar den Hals des Pferdes. „Meinst du, wir haben sie abgehängt?”
„Ich weiß es nicht, Prinzessin. Wölfe sind sehr hartnäckige Jäger. Wenn sie sehr hungrig sind und sich eine Beute ausgesucht haben, geben sie nicht so leicht auf.”
`Das klingt ja nicht sehr beruhigend´ dachte das Mädchen, sagte aber nichts.
Laut gähnend, mit verschlafenen Augen, spitzte Pipos Kopf aus der Manteltasche. „War irgendwas? Ich hörte so komische Geräusche.”
„Na, du bist mir ja ein schöner Beschützer”, erwiederte Lisa lächelnd. „Beinahe hätte uns ein Rudel Wölfe gefressen und du schnarchst währenddessen wie ein Murmeltier.”
„Was sagst du da?” Er sprang aufgeregt auf Lisas Arm und stellte sich auf seine Hinterbeine. Seine Knopfaugen funkelten angriffslustig. „Warum hast du mich nicht geweckt? Ich hätte ihnen mächtig Feuer unter dem Hintern gemacht.” Seine Großspurigkeit wirkte so komisch, dass sich Lisa und Gänseblümchen vor Lachen schüttelten.
„Das nächste Mal, du großer Held”, wieherte das Pferd. „Ganz sicher wirst du noch Gelegenheit haben deinen Mut unter Beweis zu stellen.”
***
Den ganzen Tag waren sie nun schon unterwegs. Die Landschaft hatte sich allmählich verändert. Die Heide wich zurück und machte einem hügeligen Grasland Platz. In der Abenddämmerung konnte man am Horizont schemenhaft eine Bergkette erkennen.
„Wir müssen uns ein Nachtlager suchen”, bemerkte Gänseblümchen und blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Das hatte das Pferd bei ihrer Wanderschaft durch die Heide immer wieder getan. Kein ungewöhnliches Geräusch entging ihm.
Gänseblümchen steuerte auf eine noch weit entfernt stehende Gruppe kleiner Birken und Kiefern zu. „Ich glaube dort sind wir sicher.”
Es war schon finster, als sie die Bäume erreichten. Das Pferd legte sich auf den moosigen Boden und Lisa kuschelte sich eng an seinen warmen, weichen Körper. Hier fühlte sie sich geborgen. Sie hörte noch den klagenden Schrei einer Eule in der Nacht und fragte sich, ob es vielleicht Brunhilde war, die da rief. Dann schlief sie ein.
***
Durch ein leises Schnauben wurde Lisa am nächsten Morgen geweckt. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Gänseblümchen schon aufgestanden war und auf einer nahen Wiese graste. Wie schön es aussah. Das schwarze Fell glänzte in der aufgehenden Sonne und die silbrige Mähne leuchtete wie Kristall.
Lisa wollte gleich aufbrechen.
Doch Pipo zupfte sie am Arm. „Gibt es heute kein Frühstück? Ich habe Hunger wie ein Wolf.” Er hielt sich die Kralle vor den Mund und schaute sich ängstlich um. Doch kein Wolf war zu sehen.
„Bedien’ dich selbst, du kleiner Vielfraß.” Lisa holte den Proviant aus dem Säckchen und legte es dem Mäuserich vor die Füße.
Während Pipo schmatzend in ein Stück Käse biss, lief Lisa durch das feuchte Gras zu Gänseblümchen, das sie mit einem freudigen Wiehern begrüßte.
„Ich habe eine Quelle entdeckt”, verkündete das Pferd. „Du wirst sicher auch durstig sein.” Das Pferd trabte voraus zu einem schmalen Bach. Zwischen zwei Steinen sprudelte glasklares Wasser hervor. Während Lisa mit den Händen das Wasser auffing und trank, senkte Gänseblümchen den Kopf und schlürfte in großen Zügen das kühle Nass.
Pipo kam angesaust. „Ich hörte, hier gibt es etwas zu trinken.” Er legte sich auf dem Bauch und schlapperte mit seiner kleinen Zunge. „Mmh”, meinte er genießerisch. „Das schmeckt aber köstlich.”
Lisa musste ihm zustimmen. So klares, wohlschmeckendes Wasser hatte sie schon lange nicht mehr getrunken.
Gänseblümchen schaute ihnen eine Weile zu. Dann sagte es mit ernster Miene: „Hier muss ich euch leider verlassen.”
„Schade”, bedauerte Lisa. „Ich hätte dich zu gerne als Weggefährte mitgenommen.”
„Die Heide ist meine Heimat, schon sehr, sehr lange Zeit. Seit ich denken kann lebten meine Artgenossen hier.”
„Ich verstehe dich. Jedes Tier bewohnt sein eigenes Revier und das ist gut so.” Lisa strich noch einmal liebevoll über seine Flanken. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du uns durch deine Heimat begleitet hast. Wer weiß, ohne dich wären wir vielleicht den Wölfen zum Opfer gefallen.”
Die Trennung fiel allen sehr schwer. Gänseblümchen sah Lisa aus seinen großen, samtigen Augen traurig an. Eine dicke Träne rollte aus dem Augenwinkel über seine Nase.
„Du bist ein mutiges Mädchen, Prinzessin. Ich wünsche dir gutes Gelingen.” Aus der Stimme des Tieres klang Bewunderung, aber auch Bedauern über die Trennung.
Lisa hauchte einen Kuss auf seine Nase. „Vielleicht sehen wir uns wieder.”
„Ja vielleicht.” Es rieb noch einmal seinen Kopf an Lisas Schulter, dann trabte es davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Das war aber ein kurzer Abschied”, sagte Pipo traurig. Er winkte und piepste: „Auf Wiedersehen Gänseblümchen und gib acht, dass dich die Wölfe nicht fressen.”
Doch das Pferd hörte nicht mehr. Es war schon zu weit weg.
„Ich werde noch eine Runde schlafen”, sagte der Mäuserich. „Mein Bauch ist so voll.” Behäbig kraxelte er in die Manteltasche.
Lisa schaute zum Himmel. Die Sonne stand, wie ein roter Ball im Osten, über einem Waldstück. Sie musste nach Norden. Vor ihr lag eine große, hügelige Wiesenlandschaft, die mit unzähligen Herbstzeitlosen übersät war. Im Wind nickten sie mit ihren Köpfen. Eine Hasenfamilie versammelte sich zum Frühstück. Lisa schaute ihnen eine Weile zu, wie sie das feuchte Gras abknabberten.
„Schmeckt’s?” fragte sie freundlich.
Der Hasenvater schaute Lisa vorwurfsvoll an. „Siehst du nicht, dass wir gerade fressen. Typisch Mensch. Immer müssen sie stören.” Er schüttelte unwillig seinen Kopf, dass seine langen Löffel wild hin und her baumelten. Dann wandte er sich an seine Familie. „Kommt bitte weiter.”
„Es tut mir leid”, entschuldigte sich Lisa. „Ich wollte doch nur freundlich sein.”
„Freundlich hin, freundlich her. Wir haben keine Zeit freundlich zu sein. Der Winter steht vor der Tür und bald gibt es nur noch ein paar dürre Grashalme zu knabbern. Deshalb müssen wir uns jetzt den Bauch vollfuttern. Halte uns also nicht auf.”
„Ich verstehe euch”, erwiderte Lisa. Doch war die Hasenfamilie schon auf und davon gehoppelt und hörte nicht mehr zu.
Der Weg führte leicht bergan. In der klaren, kühlen Luft hatte man einen weiten Überblick. Die Bergkette, die Lisa am Vortag schon aufgefallen war, konnte sie nun ziemlich deutlich erkennen. Wild und zerklüftet ragten die nicht gerade vertrauenserweckenden, schwarzen Felsen bis zu den Wolken empor. Mächtig und unüberwindbar, wie eine starke Festung. Eine lustig schnatternde Gänseschar flog über ihre Köpfe gen' Süden.
„Grüßt meinen Vater”, rief sie und schaute ihnen sehnsüchtig nach, wie sie allmählich in der Ferne verschwanden.
***
Der Tag ging langsam zur Neige und Lisa wanderte immer noch über sanfte Hügel und dürftig bewachsenes Grasland. Die Wolken verdichteten sich und hingen regenschwer am Himmel.
Plötzlich drangen seltsame, fremdartige Geräusche an ihr Ohr. Als sie näher kam, sah sie, hinter einer zerzausten Hecke eine Bärin stehen, die zwei kleine Bärenjungen bei sich hatte.
Die Alte stellte sich auf die Hinterbeine und hob den Kopf. Lautstark zog sie die Luft durch die Nase. Hatte sie Lisa bereits gewittert? Die Prinzessin wusste wie gefährlich eine Bärin war, die Junge hatte. Unwillkürlich duckte sie sich. Das Blut stockte in ihren Adern, als sie sah, dass die Alte genau in ihre Richtung schaute und mit großen, hastigen Schritten und einem tiefen, boshaften Knurren direkt auf sie zugerannt kam. Die Bärin riss ihr Maul auf. Furchterregend lange, gebogene Zähne blitzten messerscharf hervor. Lisa machte auf der Stelle kehrt und rannte davon. Doch die Bärin hatte sie mit ein paar Sätzen eingeholt. Mit einem markerschütternden Brüllen, das die Erde erbeben ließ, wollte sich das zottelige Tier auf Lisa stürzen.
Pipo, der von dem Geschrei aufgewacht war, erkannte sofort die Gefahr. Hastig kletterte er aus seiner Tasche und sprang mit einem Satz zwischen die Augen des wütenden Tieres. Abgelenkt von der Attacke, blieb die Bärin abrupt stehen.
Lisa hielt ihren Schmuckstein fest mit ihrer Hand umklammert. Plötzlich umhüllte die alte Bärin ein gleißender Strahlenkranz. Die zum Schlag erhobene Tatze sank zu Boden. Dann trottete sie auf Lisa zu und beschnupperte sie ausgiebig. Vollkommen friedlich trollte sie sich wieder zu ihren Kleinen, die von Weitem alles neugierig beobachtet hatten. Laut quietschend liefen sie ihrer Mutter entgegen und schmiegten sich an ihr dickes Fell.
„Es ist alles in Ordnung”, sagte die Bärin und leckte über das Fell ihrer Kinder. „Das Menschenkind tut uns nichts.”
Pipo war inzwischen von der alten Bärin auf die Wiese gesprungen. „Ich bin blind”, schrie er verzweifelt. Lisa nahm den zitternden, kleinen Kerl hoch. „Ich kann dich nicht sehen Prinzessin”, wiederholte er und wischte mit der Kralle über seine Augen.
„Aber nein”, tröstete ihn Lisa. „Du warst nur einen Moment von dem grellen Licht geblendet.”
Lisa hatte recht. Es dauerte zum Glück nicht lange und der Nebel vor Pipos Augen begann sich allmählich wieder zu lichten.
„Gott sei Dank”, seufzte das Mädchen. „Das ist gerade noch einmal gutgegangen. Danke Pipo, das war sehr mutig von dir, aber auch sehr gefährlich. Das hätte ganz schön ins Auge gehen können.”
„Du hast recht Prinzessin.” Er lag völlig erschöpft auf Lisas Hand. Aufgeregt griff er sich mit der Kralle an den Kopf. „Ich begreife selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich sah dich in Gefahr und musste einfach handeln.”
Lisa drückte ihn zärtlich an ihre Wange. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.”
Pipo winkte ab. „Ich glaube, um dich zu retten, hätte ich es sogar mit einem Drachen aufgenommen.”
„Wirklich? Wenn ich bedenke wie klein du bist, da gehört schon eine riesige Portion Mut dazu, mit einem Drachen zu kämpfen. Zum Glück war es nur eine Bärin, die aber auch mächtig stark ist.”
„Sag mal Lisa woher kam denn dieses grelle Licht?”
„Ich weiß auch nicht Pipo. Vielleicht von dem Stein meiner Mutter. Ich hielt ihn in der Hand, als die Bärin mich ansprang. Und dann war plötzlich diese Helligkeit da. Das muss der Stein bewirkt haben.” Fasziniert betrachtete sie den Stein, während sie zärtlich über Pipos Köpfchen streichelte.
Das gefiel dem Mäuserich. Schmachtend verdrehte er seine Augen, während er Lisa ganz verliebt anschaute. „Ich glaube, ich verkrümel mich wieder.” Er schlüpfte in die Manteltasche und beobachtete wieder alles von dort aus.
Vorsichtig lief Lisa auf die Bärenmutter mit ihren beiden Kinder zu. In angemessener Entfernung blieb sie stehen. „Ich bin Lisa und suche meine Schwester Julia.”
„Julia? Ach ja, wir haben von ihr gehört”, sagte die Bärin freundlich, während sie unzählige, reife Beeren, die an niederen Büschen wuchsen, in sich hineinstopfte. „Man erzählt sich, sie wäre bei Prinz Aiko, dort in den Bergen.” Sie deutete mit der Tatze auf die schroffen, schwarzen Felsen der weit entfernten Gebirgskette. „Das ist eine tragische Geschichte die dem armen Jungen passiert ist. So in dem kalten Eis zu sitzen ist wahrlich kein Vergnügen. Naja, vor einiger Zeit hat er ja Gesellschaft bekommen.”
„Ja, meine Schwester Julia.”
Aus dem Gebüsch brach plötzlich ein noch größerer Bär hervor. Schleppenden Schrittes ging er auf Lisa zu. Er hinkte und musste große Schmerzen haben. An seinem linken Bein klaffte eine lange, blutende Wunde.
„Was ist passiert?” fragte Lisa mitfühlend.
„Ach”, seufzte der Bär. „Es ist schon zwei Monde her, als ein fremder, sehr mächtiger Bär in unser Revier eindrang. Es kam zum Kampf, als ich ihn vertreiben wollte. Leider habe ich seine Stärke unterschätzt. Mit einem Prankenschlag, gruben sich seine Krallen in mein Bein, als ich zur Seite sprang. So fügte er mir diese schmerzhafte Wunde zu. Mit letzter Kraft stürzte ich mich, laut brüllend, auf ihn und er suchte erschrocken das Weite.” Schwer atmend legte sich der alte Bär vor dem Mädchen nieder, als wollte er sie um Hilfe bitten.
‘Die goldene Nadel’ dachte Lisa. Vielleicht konnte sie auch Wunden nähen. Schnell öffnete sie das Kästchen. Feierlich sprach sie die bedeutsamen Worte: „Nadel geschwind, näh wie der Wind, die Wunde des Bären” Die Nadel sprang auf das Bein des Bären und fing an, den blutende Riss zuzunähen. Lisa steckte die Nadel wieder ein. Erstaunt strich sie über die Wunde. Sie war nicht nur genäht, sie war sogar geheilt.
„Bist du vielleicht eine gute Fee?” fragte der Bär verwundert.
Lisa verneinte. „Ich bin Lisa von Schloss Schönblick, aus dem Land Thalmoor.”
Dankbar legte der Bärenvater seine schwere Pranke auf Lisas Schulter und leckte über ihre Wange. „Ich bin Tako und lebe mit meiner Frau Mirna und den Kindern da oben in einer Höhle.” Er deutete auf einen in der Nähe gelegenen Berg. „Willst du nicht heute Nacht unser Gast sein? Die Sonne ist schon untergegangen und du hast bestimmt noch keinen Platz zum Schlafen.”
Lisa blickte zum Himmel. Das Grau der Abenddämmerung umhüllte bereits das ganze Land. „Danke für deine Einladung, Tako. Ich komme gerne mit.”
Die Bärin und ihre Jungen fraßen immer noch.
„Mirna, Kinder”, mahnte der Bärenvater. „Wir müssen nach Hause gehen.” Er wandte sich an Lisa. „Die Kleinen haben noch keinen Namen. Weißt du vielleicht, wie wir sie nennen könnten?”
„Mm”, Lisa überlegte eine Weile. „Wie wäre es denn mit Bommel und Brummer?”
„Ganz hübsch. Ich glaube diese Namen passen gut zu den Kindern. Ich werd's mir noch überlegen.”
Seelenruhig machte sich die kleine Schar auf dem Heimweg. Kalter Wind strich über die Anhöhe. Lisa fröstelte. Die Bärenkinder störte die Kälte nicht. Gut geschützt durch ihre dicken Pelzmäntel, jagten sie quietschvergnügt über die Wiese und balgten spielerisch miteinander.
„Du wirst sehen Lisa, in unserem Bau ist es schön warm”, versicherte Tako.
Sie liefen stetig bergauf, über einen weitläufiger, grasbewachsener Hügel und einem steinigen Pfad. Dann erreichten sie eine Felsengruppe. Der Bär trottete gemächlich zwischen zwei Felsen hindurch. Gut getarnt hinter niederem Buschwerk versteckt, entdeckte Lisa einen Spalt im Berg.
„Wir sind zu Hause. Willkommen in unserem Heim.”
Er grinste breit, hob seine Pranke und schob Lisa, die etwas zögerte, durch die Öffnung. Die Höhle war sehr geräumig und angenehm warm.
Die Bärenkinder kuschelten sich eng an ihre Eltern. Das Mädchen nahm die Laterne aus ihrem Säckchen und zündete sie an.
„Ah”, staunte die Bärin. „Du beherrscht die Kunst des Feuermachens.” Ihre kleinen Knopfaugen leuchteten anerkennend.
„Ja, sicher doch. Alle Menschen beherrschen das”, erklärte Lisa.
Pipo war aufgewacht und sprang mit einem Satz auf Lisas Arm.
„Eine Maus, eine Maus”, schrie Tako entsetzt. Er hob seine Pranke und wollte nach Pipo schlagen.
„Nein, nicht”, wehrte Lisa erschrocken ab. „Pipo ist mein Freund.”
Der Mäuserich stellte sich auf die Hinterbeine und fauchte: „Schäm dich, du Muskelprotz, gegen eine wehrlose Maus deine Pranke zu erheben. Ich bin Lisas Beschützer.” Er rollte drohend mit seinen schwarzen Augen und blähte seine Brust auf.
„Entschuldige Pipo”, erwiderte der Bär belustigt. „Das wusste ich nicht. Ich dachte du wärst so ein dahergelaufener Halunke.”
„Ich bin ein anständiger Mäuserich und kein dahergelaufener Halunke”, entrüstete er sich. „Du hast wohl schlechte Erfahrungen mit Meinesgleichen gemacht?” fragte er etwas versöhnlicher.
„Darauf kannst du deinen Mäuseschwanz verwetten, Pipo. Deine Artgenossen sind nicht so rücksichtsvoll wie du. Sie kommen immer so plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, aus ihren Löchern geschossen und erschrecken uns fast zu Tode. Aber wie ich sehe bist du keiner von denen.”
„Du sagst es, Tako. Mein Großvater, er ist schon im Mäusehimmel, bewegte sich in vornehmer Gesellschaft. Er ging in Schloss Schönblick ein und aus. Dort lernte er gute Manieren und das ist in meiner Familie ein Gebot. Außerdem...”, er hielt einen Moment inne. Dann hob er stolz seinen Kopf. „Außerdem besuchte ich eine Mäuseschule.”
„Eine Mäuseschule? Was ist denn das?” wollte Tako wissen.
Pipo schaute den Bär ungläubig an. „Du weißt nicht, was eine Mäuseschule ist?” Als der Bär den Kopf schüttelte, erklärte Pipo: „Dort lernt man lesen und schreiben und was man sonst noch in einem Mäuseleben so braucht.”
„Sieh’ mal einer an”, staunte der Bär und nickte mehrmals anerkennend. Auch die Bärenkinder schauten Pipo verwundert an.
„Wie ich sehe bist du eine gebildete Maus.” Tako gähnte laut. „Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht in meinem dicken Pelz übernachten. Da ist es schön weich.”
„Meinst du das im Ernst?” fragte Pipo skeptisch und schaute den Bärenvater schief an.
„Aber klar doch”, lachte Tako.
Die beiden Bärenkinder meldeten sich nun auch zu Wort: „Er soll bei mir schlafen, nein er soll bei mir schlafen” wetteiferten sie.
Pipo fiel die Wahl nicht leicht. Er kratzte sich ausgiebig am Kopf. Gleich drei dicke Bärenpelze zur Auswahl. Er überlegte eine Weile. Der große, schwere Bär war ihm nicht geheuer. Er könnte ihn vielleicht, während er schlief, mit seinem Gewicht zu Brei zerquetschen. Kurz entschlossen sprang er von Lisas Arm auf eines der Bärenkinder und verkroch sich in dessen Pelz, dass nur noch sein Schnäuzchen hervor lugte. „Hu, hier ist es wirklich herrlich warm und so weich. Vielen Dank”, hörten sie ihn noch murmeln. Er war schließlich eine wohlerzogene, höfliche Maus.
***
Nachts wurde Lisa von einem ungewöhnlichen Geräusch geweckt. Sie setzte sich auf und sah den Bärenvater zum Höhleneingang tapsen. Stimmen wurden laut. Auf leisen Sohlen schlich sie hinter Tako her und spitzte vorsichtig über seine Schulter. Oh Schreck, vor der Höhle lief ein ganzes Rudel Wölfe unruhig auf und ab.
Ein besonders großer Wolf stand vor dem Eingang und knurrte. „Gib sie uns.”
„Schäm’ dich Rudolfo, Lisa ist unser Gast und du wirst ihr kein Haar krümmen. Verstanden?” Er hob drohend seine Tatze und der Wolf wich einen Schritt zurück. „Ich warne dich, lass deine gierigen Pfoten von Lisa. Solange sie in unserem Land ist, steht sie unter meinem Schutz.”
„Verstehst du das nicht, Tako? Du hast doch auch zwei Kinder. Wenn wir ohne Beute zurückkehren, werden unsere Kinder verhungern”, jammerte der Wolf. „Wir fressen normalerweise keine Menschen, aber dieses Jahr mangelt es an Futter.”
„Dann solltest du auch jetzt nicht damit anfangen, dich an Menschen zu vergreifen”, entgegnete Tako streng. „Anstatt hier deine Zeit zu vertrödeln und uns den wohlverdienten Schlaf zu rauben, solltest du lieber abziehen und dir einen Hasen oder ein paar Mäuse fangen”, sagte der Bär spöttisch. „Oder mach’ es wie wir, pflück’ dir Beeren, die sind jetzt besonders süß.”
Der Wolf zog angeekelt seine Lefze hoch und schüttelte sich. „Beeren? Brrr, wir sind doch keine Pflanzenfresser. Unsere Kleinen werden sich fürchterlich den Magen verderben.”
„Das ist ganz allein deine Sache. Und nun haben wir genug diskutiert”, meinte der Bär unwillig. „Wir brauchen unsere Nachtruhe. Der Winter steht vor der Höhle. Wir müssen uns noch eine Menge Speck anfressen und morgen sehr früh aufstehen.”
Rudolfo senkte den Kopf. „Ist ja schon gut” brummte er enttäuscht. Dann trottete er mit seiner Familie in die dunkle Nacht hinein.
„Halt Rudolfo, warte einen Augenblick”, rief ihm der Bär hinterher.
„Was ist, hast du es dir anders überlegt und gibst mir das Menschenkind?” Rudolfo drehte sich erwartungsvoll um.
„Ganz sicher nicht”, erwiderte Tako. „Aber mir ist da gerade etwas eingefallen.” Tako grinste den Wolf an. „Vor ein paar Tagen war ich im Gebirge. Unterhalb der Schneegrenze, sah ich in einer Felsspalte, eine tote Gemse liegen. Sie muss wohl abgestürzt sein. Ihr Fleisch reicht sicher für dein ganzes Rudel. Geh’ nach Norden und dann immer dem Aasgeruch nach, dann wirst du sie bestimmt finden.”
„Danke”, erwiderte Rudolfo erfreut. „Wir machen uns sofort auf den Weg.”
Als die Wölfe sich davon getrollt hatten, schlich Lisa wieder zu ihrem Schlafplatz zurück.
Der alte Bär stand noch eine Weile am Höhleneingang. Nach einiger Zeit hörte Lisa ein triumphierendes Heulen durch die Berge hallen. Dann wurde es still. Wahrscheinlich hatten die Wölfe ihr Abendessen gefunden.
***
Am nächsten Morgen war der Himmel trüb und grau. Es hatte den ersten leichten Nachtfrost gegeben. Die Spinnennetze an den Büschen vor der Höhle waren weiß von gefrorenem Tau. Dichter Nebel verdeckte die aufgehende Sonne. Tiefhängende Wolken kündeten schlechtes Wetter an. Es roch nach Schnee. Und wirklich, es dauerte nicht lange und Schneeflocken wirbelten ausgelassen durch die Luft, bis sie ermattet zur Erde fielen. Sie schmolzen, denn der Boden war noch nicht hart gefroren.
„Hier oben in den Bergen gibt es manchmal im Herbst schon etwas Schnee”, erklärte Tako als Lisa ihren Mantel anzog. Sie wollte zeitig aufbrechen, denn sie hatte wieder diesen seltsamen Traum von ihrer Schwester, die mit trauriger Stimme rief: „Lisa beeile dich! Komm’ schnell!”
Der Bär zeigte großes Verständnis. Doch warnte er sie eindringlich vor Hogla und seiner Bande. „Sie sind die boshaftesten Wesen in unserem Land. Hogla, der König der Erdgnome, ist ein besonders böser Finger. Er möchte auch unser Land beherrschen. Aber Schlehenfeuer hatte uns bisher immer beschützt.”
„Schlehenfeuer?” fragte Lisa. „Wer ist das?”
„Schlehenfeuer ist unsere gute Fee, die früher im Elfenwald wohnte. Leider ging auch sie eines Tages dem bösen Hogla in die Falle. Man erzählt sich, dass er ihr sehr übel mitgespielt haben soll.” Der Bär senkte traurig den Kopf.
„Was geschah mit ihr. Erzähl doch bitte?”
„Man weiß nichts Genaues. Das Gerücht geht um, dass die Gnome es irgendwie geschafft haben, einen großen Zauber gegen sie auszusprechen. Eines wissen wir mit Sicherheit, Schlehenfeuer ist seit längerer Zeit verschwunden. Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Nicht einmal die weise Eule Brunhilde hat eine Ahnung, obwohl sie hin und wieder den Feenwald auskundschaftet. Es sieht schlecht für uns aus, ohne die Macht der guten Fee. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf. Hoglas Treiben muss Einhalt geboten werden. Ansonsten wird er sich wirklich noch unser ganzes Land unter den Nagel reißen und alle Bewohner schikanieren und ausbeuten.” Der Bär seufzte laut.
„Da muss etwas geschehen”, nickte Lisa und streichelte tröstend über sein dickes Fell.
Doch war es Zeit aufzubrechen. Sie bedankte sich bei Tako, für seine Gastfreundschaft und seine Hilfe. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie alleine nachts auf das Wolfsrudel gestoßen wäre. Als sie sich von Mirna und ihren Kindern verabschiedete, lugte plötzlich Pipos Kopf aus dem Fell des einen Bärenjungen.
„Mich wolltest du wohl hier lassen?” fragte er beleidigt.
„Entschuldige Pipo, ich hätte dich wirklich fast vergessen. Wenn du möchtest, könntest du bei Tako bleiben. Er hätte sicher nichts dagegen. Hier ist es schön warm und wenn ich zurückkomme, hole ich dich wieder ab.”
Pipo stemmte seine Pfoten an die Hüfte. Er konnte es einfach nicht glauben, was er da gerade hörte. „Du willst mich doch tatsächlich loswerden?” Sein Gesicht verzog sich erst ärgerlich, doch dann rannen Tränen aus seinen Augen.
„Nein, nein Pipo”, sie nahm ihn auf den Arm. „Ich dachte nur, dass du hier in Sicherheit bist. Tako erzählte gerade, dass es noch gefährlich werden kann. Hogla und seine Bande möchten das ganze Land beherrschen.”
„Pah”, fiel ihr Pipo ins Wort. „Der soll mir nur kommen. Mit dem werde ich auch noch fertig.” Breitbeinig, wie ein kleiner Krieger stand er da und drohte mit seiner Vorderpfote.
´Ach ja’, dachte Lisa. `Er hat wieder einmal eine ganz schön große Klappe, der kleine Kerl.`
Doch konnte ihm keiner böse sein. Im Gegenteil, er hatte ja gestern erst seinen Mut bewiesen. Lisa war froh, dass er bei ihr war.
„Nun komm’ schon”, sagte sie und küsste ihn zärtlich auf sein kleines Schnäuzchen. „Wir beide werden das schon schaffen.”
„Das will ich auch meinen”, antwortete Pipo siegessicher.
„Soll ich euch noch ein Stück begleiten?” bot sich Tako an.
Lisa war einverstanden. „Wenn du deine Familie so lange alleine lassen kannst.”
Tako nickte. „Mirna passt während meiner Abwesenheit auf die Kleinen auf. Sie ist eine gute Mutter.”
Sie verließen die Höhle und liefen wieder ins Tal. Auf einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe blieb der Bär stehen. Von hier konnte man auf einen großen, finsteren Wald blicken, der sich über mehrere sanfte Hügel zog. Dahinter ragte das mächtige, schwarze Bergmassiv empor. Bedrohliche Berge, die fast bis an die Wolken stießen.
Tako deutete mit seiner Tatze nach Norden. „Dort hinten, bei dem schwarzen Gebirge beginnt das Reich der Gnome. Doch musst du erst durch den Feenwald. Wir nennen ihn manchmal auch den stillen Wald.”
„Weshalb den stillen Wald?” wollte Lisa wissen.
„Du wirst das bald selbst erleben.” Als Lisa ihn fragend ansah, meinte er langsam: „Es gibt keine Tiere mehr dort. Alle haben den Wald verlassen. Sogar die fleißigen Ameisen zogen fort.”
Lisa schüttelte bedauernd den Kopf. Nach einer Weile sagte sie, während sie über das dunkle Waldgebiet blickte: „Er muss riesig groß sein. Den werde ich sicher nicht an einem Tag durchqueren können.”
Der Bär nickte. „Ja, da hast du leider recht. Einmal wirst du mit Sicherheit dort die Nacht verbringen müssen.” Tako tänzelte nervös hin und her.
„Was ist los mit dir”, fragte Lisa neugierig.
„Nun, der Wald. Er birgt so seine Geheimnisse”, seufzte er. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, ohne dir Angst einzujagen.”
„Erzähl` doch einfach was los ist im stillen Wald”, ermunterte ihn Lisa.
„Das Dumme ist, ich weiß selbst nicht genau was da unten vor sich geht. Als Schlehenfeuer noch da war, strich ich ständig durch den Feenwald. Doch plötzlich war sie verschwunden und mit ihr auch das wunderschöne Elfenschloss. Von dem Hügel dort”, er zeigte mit seiner Pranke auf eine kleine Anhöhe. „Von dort konnte man Schlehenfeuers Schloss stehen sehen. Besonders in der Nacht, leuchtete es im Mondlicht wie ein weißer Diamant. Ein herrlicher Anblick.”
„Und es weiß niemand, was mit der Fee passiert ist?” fragte Lisa. Der Bär schüttelte sein schweres Haupt. „Vielleicht ist sie ja schon gestorben, oder in ein anderes Land gezogen”, fuhr Lisa fort.
„Nein, nein, das Letzte ist unmöglich. Schlehenfeuer hätte uns das mitgeteilt. Nein, sie war eine gute Fee und hätte sich niemals so einfach aus dem Staub gemacht”, widersprach Tako.
„Das Merkwürdige ist, seit die Fee verschwunden ist, hat sich eine furchtbare, alte Hexe im Elfenwald eingenistet. Ich sah sie nur ein einziges Mal und das auch nur aus der Ferne. Es war schrecklich was ich damals erlebte.” Er schüttelte sich.
„Es ist dir doch offensichtlich nichts geschehen, oder?” fragte Lisa besorgt.
„Das stimmt. Nicht ein Haar wurde mir gekrümmt. Aber nur deswegen, weil ich das alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Es war so gewaltig, so unbeschreiblich, dass sich mir bei dem Gedanken noch heute die Haare sträuben.” Tako war so aufgeregt, dass er nicht weiter reden konnte.
„Was ist passiert?” Lisa fragte sich, ob sie ihm wohl jeden Brocken aus seiner Bärennase ziehen müsse.
„Damals wohnte ich im Feenwald. Ein wunderbarer Ort, in dem ich viel Freude erlebte. Doch seitdem die schrecklichen Dinge dort geschahen, wirkt er geradezu düster und unheimlich. Keine Tatze habe ich seither mehr dorthin gesetzt. Ich suchte mir ein anderes Zuhause. Beim Umherstreifen im Gebirge, fand ich unsere Höhle, und ließ mich dort nieder. Mein neues Revier verlegte ich in die Heide. Da traf ich auch meine Frau und wir gründeten eine Familie. Doch oft, in der Nacht, stieg ich den Hügel hinauf, um zu sehen was im Feenwald so vor sich ging. Mir ist heute noch ganz schlecht, wenn ich mich daran erinnere, was ich da alles zu sehen bekam. Du würdest es nie glauben, wenn ich dir das erzähle.”
„Ich habe selbst auch schon Dinge erlebt, die du mir wahrscheinlich nicht glauben würdest. Nun sprich schon, Tako”, drängelte Lisa.
„Es ist schon einige Jahre her, da passierte etwas Unglaubliches. Aber seitdem ist es ruhig geworden im Elfenwald. Vielleicht lebt ja die alte Hexe gar nicht mehr.” Wieder machte der Bär eine lange Pause.
Lisa war es leid ihn immerzu aufzufordern weiterzuerzählen. So liefen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis der Bär aufs Neue anfing zu sprechen: „Eines Abends, es war kurz nach Sonnenuntergang, da stieg ich den Hügel hinauf und blickte auf den stillen Wald. Sofort bemerkte ich, dass dort irgendetwas Seltsames vor sich ging. Das spürte ich in meiner linken Pranke. Außerdem entging meinen sehr guten Ohren nicht, dass in weiter Ferne die Erdgnome auf ihren Hörnern zum Angriff bliesen. Es musste eine wilde Horde sein, denn es schallte vielfach durch das ganze Tal. Um besser sehen zu können, stellte ich mich auf die Hinterbeine. Die Nacht war sternenklar. Und da sah ich die Hexe noch einmal. Sie saß auf einer großen, weißen Wolke und kreiste vor dem hochstehenden bleichen Mond. Ein gewaltiges Brausen erfüllte die Luft, so wie es manchmal bei einem großen Sturm oder Gewitter zu hören ist. Da hob die Hexe einen Arm. Flammen züngelten aus ihren Fingern. Wie feurige Blitze tanzten sie über den dunklen Nachthimmel. Die Erdgnome liefen schreiend durcheinander und flüchteten in den Wald. Doch die Feuerflammen verfolgten sie und schlugen in die Gnomenhorde ein. Dann regneten Feuerbälle, so groß wie riesige Felsbrocken, vom Himmel. Viele von den Bösewichten wurden vernichtet. Schmerzerfüllte Schreie drangen durch die Nacht. Der ganze Südwald brannte lichterloh. Und dann vernahm ich ein tiefes, lautes Rumoren. Es hörte sich an, als ob die Berge Hunger hätten, oder wie das Knurren im Bauch eines Riesen. Es dröhnte so laut, dass ich meine Tatzen auf die Ohren legen musste, um nicht taub zu werden. Der Boden unter mir begann so heftig zu beben, dass ich nur mit viel Mühe das Gleichgewicht halten konnte. So fürchterlich das auch war, konnte ich doch meine Augen nicht von dem Geschehen abwenden. Wie gelähmt starrte ich auf das Schauspiel, das sich mir bot. Erst zweifelte ich an meinem Verstand. Dann kniff ich in meine Tatze, aber das Bild war immer noch da. Es erfüllt mich heute noch mit Schaudern, wenn ich daran denke.”
„Das ist ja furchtbar”, unterbrach Lisa den Bär. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.
Tako nickte und machte erneut eine Pause. Lisa merkte, dass es ihm nicht leicht fiel, über das schlimme Erlebnis zu sprechen. Sie legte ihre Hand beruhigend auf seine mächtige Pranke und strich sanft über sein Fell.
Mit einem tiefen Seufzer erzählte der Bär weiter. „Weißt du Lisa, in unserem Feenwald gab es immer Ruhe und Frieden. Dafür sorgte unsere gute Fee Schlehenfeuer. Doch nun herrschte Krieg. Deswegen war ich so erschüttert über das, was ich dort erlebte. Stell’ dir vor, ich sah mit eigenen Augen, wie sich die Erde mit berstendem Krachen spaltete und alles, ob Gnome, Bäume, oder Tiere, ja der gesamte brennende Wald, von einem tiefen Schlund verschluckt wurde. Dann zog die Hexe ihre Hand zurück und der Spuk war vorüber. Eine unnatürliche Stille senkte sich auf das Land. Der Wald, der einst von Leben überquoll, ist seither düster und leblos.”
Lisa, die mit offenem Mund gelauscht hatte, nickte und Pipo hielt sich mit seinen Krallen die Augen zu. „Wie schrecklich”, piepste er. „Und da sollen wir durch?”
„Es gibt leider keinen anderen Weg, Pipo.” Der Bär zuckte bedauernd mit den Schultern. „Willst du nicht doch lieber hierbleiben?”
„Niemals! Ich laß doch meine liebste Freundin nicht in Stich.” Der Mäuserich schüttelte den Kopf. „Nein niemals," beteuerte er mit Nachdruck. "Lass` uns gehen, Prinzessin”, rief er fest entschlossen. „Je eher wir aufbrechen, desto schneller bringen wir den Hexenwald hinter uns.
Tako begleitete sie noch über die Wiese bis zum Waldrand hinunter. Dann blieb er stehen und spähte misstrauisch durch die Bäume, doch nichts rührte sich. Der stille Wald, der einst vor Leben überquoll, lag düster und leblos da.
Der alte Bär drehte sich um und legte Lisa seine schwere Pranke auf die Schulter. „Viel Glück, Prinzessin.” Seine raue Stimme klang sehr traurig.
Lisa umarmte den dicken Bär noch einmal. „Vielen Dank Tako, du hast mir sehr geholfen.”
„Das war ich dir schuldig, Kleine. Ohne deine Zaubernadel, wäre mein Bein nicht geheilt.” Er wandte sich ab und trottete mit gesenktem Haupt davon. Dann drehte er sich noch einmal um und meinte: „Fast hätte ich vergessen, dir zu sagen, wie du den Weg durch das Gebirge findest. Über die Felswände klettern ist für dich kleinen Menschen unmöglich.” Tako überlegte kurz. „Wenn du an einen Wasserfall kommst, achte auf zwei gekreuzte Bäume. Dahinter gibt es eine schmale Öffnung. Es ist nur ein ganz schmaler, tunnelähnlicher Durchlass, aber er bringt dich direkt zum Eisschloss.”
„Vielen Dank Tako, das hat mir sehr geholfen. Ich hoffe, ich finde den Weg.”
Der Bär nickte. „Du bist ein kluges Kind. Außerdem hast du doch so einen mutigen Freund.” Mit einem freundlichen Lächeln trollte er sich davon.
Lisa wartete noch, bis Tako den Hügel erreichte. Mit seiner schweren Tatze winkte er noch einmal zum Abschied. Dann verschwand er im leichten Morgendunst.
dte er sich an seine Familie. „Kommt bitte weiter.”
„Es tut mir leid”, entschuldigte sich Lisa. „Ich wollte doch nur freundlich sein.”
„Freundlich hin, freundlich her. Wir haben keine Zeit freundlich zu sein. Der Winter steht vor der Tür und bald gibt es nur noch ein paar dürre Grashalme zu knabbern. Deshalb müssen wir uns jetzt den Bauch vollfuttern. Halte uns also nicht auf.”
„Ich verstehe euch”, erwiderte Lisa. Doch war die Hasenfamilie schon auf und davon gehoppelt und hörte nicht mehr zu.
Der Weg führte leicht bergan. In der klaren, kühlen Luft hatte man einen weiten Überblick. Die Bergkette, die Lisa am Vortag schon aufgefallen war, konnte sie nun ziemlich deutlich erkennen. Wild und zerklüftet ragten die nicht gerade vertrauenserweckenden, schwarzen Felsen bis zu den Wolken empor. Mächtig und unüberwindbar, wie eine starke Festung. Eine lustig schnatternde Gänseschar flog über ihre Köpfe gen' Süden.
„Grüßt meinen Vater”, rief sie und schaute ihnen sehnsüchtig nach, wie sie allmählich in der Ferne verschwanden.
***
Der Tag ging langsam zur Neige und Lisa wanderte immer noch über sanfte Hügel und dürftig bewachsenes Grasland. Die Wolken verdichteten sich und hingen regenschwer am Himmel.
Plötzlich drangen seltsame, fremdartige Geräusche an ihr Ohr. Als sie näher kam, sah sie, hinter einer zerzausten Hecke eine Bärin stehen, die zwei kleine Bärenjungen bei sich hatte.
Die Alte stellte sich auf die Hinterbeine und hob den Kopf. Lautstark zog sie die Luft durch die Nase. Hatte sie Lisa bereits gewittert? Die Prinzessin wusste wie gefährlich eine Bärin war, die Junge hatte. Unwillkürlich duckte sie sich. Das Blut stockte in ihren Adern, als sie sah, dass die Alte genau in ihre Richtung schaute und mit großen, hastigen Schritten und einem tiefen, boshaften Knurren direkt auf sie zugerannt kam. Die Bärin riss ihr Maul auf. Furchterregend lange, gebogene Zähne blitzten messerscharf hervor. Lisa machte auf der Stelle kehrt und rannte davon. Doch die Bärin hatte sie mit ein paar Sätzen eingeholt. Mit einem markerschütternden Brüllen, das die Erde erbeben ließ, wollte sich das zottelige Tier auf Lisa stürzen.
Pipo, der von dem Geschrei aufgewacht war, erkannte sofort die Gefahr. Hastig kletterte er aus seiner Tasche und sprang mit einem Satz zwischen die Augen des wütenden Tieres. Abgelenkt von der Attacke, blieb die Bärin abrupt stehen.
Lisa hielt ihren Schmuckstein fest mit ihrer Hand umklammert. Plötzlich umhüllte die alte Bärin ein gleißender Strahlenkranz. Die zum Schlag erhobene Tatze sank zu Boden. Dann trottete sie auf Lisa zu und beschnupperte sie ausgiebig. Vollkommen friedlich trollte sie sich wieder zu ihren Kleinen, die von Weitem alles neugierig beobachtet hatten. Laut quietschend liefen sie ihrer Mutter entgegen und schmiegten sich an ihr dickes Fell.
„Es ist alles in Ordnung”, sagte die Bärin und leckte über das Fell ihrer Kinder. „Das Menschenkind tut uns nichts.”
Pipo war inzwischen von der alten Bärin auf die Wiese gesprungen. „Ich bin blind”, schrie er verzweifelt. Lisa nahm den zitternden, kleinen Kerl hoch. „Ich kann dich nicht sehen Prinzessin”, wiederholte er und wischte mit der Kralle über seine Augen.
„Aber nein”, tröstete ihn Lisa. „Du warst nur einen Moment von dem grellen Licht geblendet.”
Lisa hatte recht. Es dauerte zum Glück nicht lange und der Nebel vor Pipos Augen begann sich allmählich wieder zu lichten.
„Gott sei Dank”, seufzte das Mädchen. „Das ist gerade noch einmal gutgegangen. Danke Pipo, das war sehr mutig von dir, aber auch sehr gefährlich. Das hätte ganz schön ins Auge gehen können.”
„Du hast recht Prinzessin.” Er lag völlig erschöpft auf Lisas Hand. Aufgeregt griff er sich mit der Kralle an den Kopf. „Ich begreife selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich sah dich in Gefahr und musste einfach handeln.”
Lisa drückte ihn zärtlich an ihre Wange. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.”
Pipo winkte ab. „Ich glaube, um dich zu retten, hätte ich es sogar mit einem Drachen aufgenommen.”
„Wirklich? Wenn ich bedenke wie klein du bist, da gehört schon eine riesige Portion Mut dazu, mit einem Drachen zu kämpfen. Zum Glück war es nur eine Bärin, die aber auch mächtig stark ist.”
„Sag mal Lisa woher kam denn dieses grelle Licht?”
„Ich weiß auch nicht Pipo. Vielleicht von dem Stein meiner Mutter. Ich hielt ihn in der Hand, als die Bärin mich ansprang. Und dann war plötzlich diese Helligkeit da. Das muss der Stein bewirkt haben.” Fasziniert betrachtete sie den Stein, während sie zärtlich über Pipos Köpfchen streichelte.
Das gefiel dem Mäuserich. Schmachtend verdrehte er seine Augen, während er Lisa ganz verliebt anschaute. „Ich glaube, ich verkrümel mich wieder.” Er schlüpfte in die Manteltasche und beobachtete wieder alles von dort aus.
Vorsichtig lief Lisa auf die Bärenmutter mit ihren beiden Kinder zu. In angemessener Entfernung blieb sie stehen. „Ich bin Lisa und suche meine Schwester Julia.”
„Julia? Ach ja, wir haben von ihr gehört”, sagte die Bärin freundlich, während sie unzählige, reife Beeren, die an niederen Büschen wuchsen, in sich hineinstopfte. „Man erzählt sich, sie wäre bei Prinz Aiko, dort in den Bergen.” Sie deutete mit der Tatze auf die schroffen, schwarzen Felsen der weit entfernten Gebirgskette. „Das ist eine tragische Geschichte die dem armen Jungen passiert ist. So in dem kalten Eis zu sitzen ist wahrlich kein Vergnügen. Naja, vor einiger Zeit hat er ja Gesellschaft bekommen.”
„Ja, meine Schwester Julia.”
Aus dem Gebüsch brach plötzlich ein noch größerer Bär hervor. Schleppenden Schrittes ging er auf Lisa zu. Er hinkte und musste große Schmerzen haben. An seinem linken Bein klaffte eine lange, blutende Wunde.
„Was ist passiert?” fragte Lisa mitfühlend.
„Ach”, seufzte der Bär. „Es ist schon zwei Monde her, als ein fremder, sehr mächtiger Bär in unser Revier eindrang. Es kam zum Kampf, als ich ihn vertreiben wollte. Leider habe ich seine Stärke unterschätzt. Mit einem Prankenschlag, gruben sich seine Krallen in mein Bein, als ich zur Seite sprang. So fügte er mir diese schmerzhafte Wunde zu. Mit letzter Kraft stürzte ich mich, laut brüllend, auf ihn und er suchte erschrocken das Weite.” Schwer atmend legte sich der alte Bär vor dem Mädchen nieder, als wollte er sie um Hilfe bitten.
‘Die goldene Nadel’ dachte Lisa. Vielleicht konnte sie auch Wunden nähen. Schnell öffnete sie das Kästchen. Feierlich sprach sie die bedeutsamen Worte: „Nadel geschwind, näh wie der Wind, die Wunde des Bären” Die Nadel sprang auf das Bein des Bären und fing an, den blutende Riss zuzunähen. Lisa steckte die Nadel wieder ein. Erstaunt strich sie über die Wunde. Sie war nicht nur genäht, sie war sogar geheilt.
„Bist du vielleicht eine gute Fee?” fragte der Bär verwundert.
Lisa verneinte. „Ich bin Lisa von Schloss Schönblick, aus dem Land Thalmoor.”
Dankbar legte der Bärenvater seine schwere Pranke auf Lisas Schulter und leckte über ihre Wange. „Ich bin Tako und lebe mit meiner Frau Mirna und den Kindern da oben in einer Höhle.” Er deutete auf einen in der Nähe gelegenen Berg. „Willst du nicht heute Nacht unser Gast sein? Die Sonne ist schon untergegangen und du hast bestimmt noch keinen Platz zum Schlafen.”
Lisa blickte zum Himmel. Das Grau der Abenddämmerung umhüllte bereits das ganze Land. „Danke für deine Einladung, Tako. Ich komme gerne mit.”
Die Bärin und ihre Jungen fraßen immer noch.
„Mirna, Kinder”, mahnte der Bärenvater. „Wir müssen nach Hause gehen.” Er wandte sich an Lisa. „Die Kleinen haben noch keinen Namen. Weißt du vielleicht, wie wir sie nennen könnten?”
„Mm”, Lisa überlegte eine Weile. „Wie wäre es denn mit Bommel und Brummer?”
„Ganz hübsch. Ich glaube diese Namen passen gut zu den Kindern. Ich werd's mir noch überlegen.”
Seelenruhig machte sich die kleine Schar auf dem Heimweg. Kalter Wind strich über die Anhöhe. Lisa fröstelte. Die Bärenkinder störte die Kälte nicht. Gut geschützt durch ihre dicken Pelzmäntel, jagten sie quietschvergnügt über die Wiese und balgten spielerisch miteinander.
„Du wirst sehen Lisa, in unserem Bau ist es schön warm”, versicherte Tako.
Sie liefen stetig bergauf, über einen weitläufiger, grasbewachsener Hügel und einem steinigen Pfad. Dann erreichten sie eine Felsengruppe. Der Bär trottete gemächlich zwischen zwei Felsen hindurch. Gut getarnt hinter niederem Buschwerk versteckt, entdeckte Lisa einen Spalt im Berg.
„Wir sind zu Hause. Willkommen in unserem Heim.”
Er grinste breit, hob seine Pranke und schob Lisa, die etwas zögerte, durch die Öffnung. Die Höhle war sehr geräumig und angenehm warm.
Die Bärenkinder kuschelten sich eng an ihre Eltern. Das Mädchen nahm die Laterne aus ihrem Säckchen und zündete sie an.
„Ah”, staunte die Bärin. „Du beherrscht die Kunst des Feuermachens.” Ihre kleinen Knopfaugen leuchteten anerkennend.
„Ja, sicher doch. Alle Menschen beherrschen das”, erklärte Lisa.
Pipo war aufgewacht und sprang mit einem Satz auf Lisas Arm.
„Eine Maus, eine Maus”, schrie Tako entsetzt. Er hob seine Pranke und wollte nach Pipo schlagen.
„Nein, nicht”, wehrte Lisa erschrocken ab. „Pipo ist mein Freund.”
Der Mäuserich stellte sich auf die Hinterbeine und fauchte: „Schäm dich, du Muskelprotz, gegen eine wehrlose Maus deine Pranke zu erheben. Ich bin Lisas Beschützer.” Er rollte drohend mit seinen schwarzen Augen und blähte seine Brust auf.
„Entschuldige Pipo”, erwiderte der Bär belustigt. „Das wusste ich nicht. Ich dachte du wärst so ein dahergelaufener Halunke.”
„Ich bin ein anständiger Mäuserich und kein dahergelaufener Halunke”, entrüstete er sich. „Du hast wohl schlechte Erfahrungen mit Meinesgleichen gemacht?” fragte er etwas versöhnlicher.
„Darauf kannst du deinen Mäuseschwanz verwetten, Pipo. Deine Artgenossen sind nicht so rücksichtsvoll wie du. Sie kommen immer so plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, aus ihren Löchern geschossen und erschrecken uns fast zu Tode. Aber wie ich sehe bist du keiner von denen.”
„Du sagst es, Tako. Mein Großvater, er ist schon im Mäusehimmel, bewegte sich in vornehmer Gesellschaft. Er ging in Schloss Schönblick ein und aus. Dort lernte er gute Manieren und das ist in meiner Familie ein Gebot. Außerdem...”, er hielt einen Moment inne. Dann hob er stolz seinen Kopf. „Außerdem besuchte ich eine Mäuseschule.”
„Eine Mäuseschule? Was ist denn das?” wollte Tako wissen.
Pipo schaute den Bär ungläubig an. „Du weißt nicht, was eine Mäuseschule ist?” Als der Bär den Kopf schüttelte, erklärte Pipo: „Dort lernt man lesen und schreiben und was man sonst noch in einem Mäuseleben so braucht.”
„Sieh’ mal einer an”, staunte der Bär und nickte mehrmals anerkennend. Auch die Bärenkinder schauten Pipo verwundert an.
„Wie ich sehe bist du eine gebildete Maus.” Tako gähnte laut. „Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht in meinem dicken Pelz übernachten. Da ist es schön weich.”
„Meinst du das im Ernst?” fragte Pipo skeptisch und schaute den Bärenvater schief an.
„Aber klar doch”, lachte Tako.
Die beiden Bärenkinder meldeten sich nun auch zu Wort: „Er soll bei mir schlafen, nein er soll bei mir schlafen” wetteiferten sie.
Pipo fiel die Wahl nicht leicht. Er kratzte sich ausgiebig am Kopf. Gleich drei dicke Bärenpelze zur Auswahl. Er überlegte eine Weile. Der große, schwere Bär war ihm nicht geheuer. Er könnte ihn vielleicht, während er schlief, mit seinem Gewicht zu Brei zerquetschen. Kurz entschlossen sprang er von Lisas Arm auf eines der Bärenkinder und verkroch sich in dessen Pelz, dass nur noch sein Schnäuzchen hervor lugte. „Hu, hier ist es wirklich herrlich warm und so weich. Vielen Dank”, hörten sie ihn noch murmeln. Er war schließlich eine wohlerzogene, höfliche Maus.
***
Nachts wurde Lisa von einem ungewöhnlichen Geräusch geweckt. Sie setzte sich auf und sah den Bärenvater zum Höhleneingang tapsen. Stimmen wurden laut. Auf leisen Sohlen schlich sie hinter Tako her und spitzte vorsichtig über seine Schulter. Oh Schreck, vor der Höhle lief ein ganzes Rudel Wölfe unruhig auf und ab.
Ein besonders großer Wolf stand vor dem Eingang und knurrte. „Gib sie uns.”
„Schäm’ dich Rudolfo, Lisa ist unser Gast und du wirst ihr kein Haar krümmen. Verstanden?” Er hob drohend seine Tatze und der Wolf wich einen Schritt zurück. „Ich warne dich, lass deine gierigen Pfoten von Lisa. Solange sie in unserem Land ist, steht sie unter meinem Schutz.”
„Verstehst du das nicht, Tako? Du hast doch auch zwei Kinder. Wenn wir ohne Beute zurückkehren, werden unsere Kinder verhungern”, jammerte der Wolf. „Wir fressen normalerweise keine Menschen, aber dieses Jahr mangelt es an Futter.”
„Dann solltest du auch jetzt nicht damit anfangen, dich an Menschen zu vergreifen”, entgegnete Tako streng. „Anstatt hier deine Zeit zu vertrödeln und uns den wohlverdienten Schlaf zu rauben, solltest du lieber abziehen und dir einen Hasen oder ein paar Mäuse fangen”, sagte der Bär spöttisch. „Oder mach’ es wie wir, pflück’ dir Beeren, die sind jetzt besonders süß.”
Der Wolf zog angeekelt seine Lefze hoch und schüttelte sich. „Beeren? Brrr, wir sind doch keine Pflanzenfresser. Unsere Kleinen werden sich fürchterlich den Magen verderben.”
„Das ist ganz allein deine Sache. Und nun haben wir genug diskutiert”, meinte der Bär unwillig. „Wir brauchen unsere Nachtruhe. Der Winter steht vor der Höhle. Wir müssen uns noch eine Menge Speck anfressen und morgen sehr früh aufstehen.”
Rudolfo senkte den Kopf. „Ist ja schon gut” brummte er enttäuscht. Dann trottete er mit seiner Familie in die dunkle Nacht hinein.
„Halt Rudolfo, warte einen Augenblick”, rief ihm der Bär hinterher.
„Was ist, hast du es dir anders überlegt und gibst mir das Menschenkind?” Rudolfo drehte sich erwartungsvoll um.
„Ganz sicher nicht”, erwiderte Tako. „Aber mir ist da gerade etwas eingefallen.” Tako grinste den Wolf an. „Vor ein paar Tagen war ich im Gebirge. Unterhalb der Schneegrenze, sah ich in einer Felsspalte, eine tote Gemse liegen. Sie muss wohl abgestürzt sein. Ihr Fleisch reicht sicher für dein ganzes Rudel. Geh’ nach Norden und dann immer dem Aasgeruch nach, dann wirst du sie bestimmt finden.”
„Danke”, erwiderte Rudolfo erfreut. „Wir machen uns sofort auf den Weg.”
Als die Wölfe sich davon getrollt hatten, schlich Lisa wieder zu ihrem Schlafplatz zurück.
Der alte Bär stand noch eine Weile am Höhleneingang. Nach einiger Zeit hörte Lisa ein triumphierendes Heulen durch die Berge hallen. Dann wurde es still. Wahrscheinlich hatten die Wölfe ihr Abendessen gefunden.
***
Am nächsten Morgen war der Himmel trüb und grau. Es hatte den ersten leichten Nachtfrost gegeben. Die Spinnennetze an den Büschen vor der Höhle waren weiß von gefrorenem Tau. Dichter Nebel verdeckte die aufgehende Sonne. Tiefhängende Wolken kündeten schlechtes Wetter an. Es roch nach Schnee. Und wirklich, es dauerte nicht lange und Schneeflocken wirbelten ausgelassen durch die Luft, bis sie ermattet zur Erde fielen. Sie schmolzen, denn der Boden war noch nicht hart gefroren.
„Hier oben in den Bergen gibt es manchmal im Herbst schon etwas Schnee”, erklärte Tako als Lisa ihren Mantel anzog. Sie wollte zeitig aufbrechen, denn sie hatte wieder diesen seltsamen Traum von ihrer Schwester, die mit trauriger Stimme rief: „Lisa beeile dich! Komm’ schnell!”
Der Bär zeigte großes Verständnis. Doch warnte er sie eindringlich vor Hogla und seiner Bande. „Sie sind die boshaftesten Wesen in unserem Land. Hogla, der König der Erdgnome, ist ein besonders böser Finger. Er möchte auch unser Land beherrschen. Aber Schlehenfeuer hatte uns bisher immer beschützt.”
„Schlehenfeuer?” fragte Lisa. „Wer ist das?”
„Schlehenfeuer ist unsere gute Fee, die früher im Elfenwald wohnte. Leider ging auch sie eines Tages dem bösen Hogla in die Falle. Man erzählt sich, dass er ihr sehr übel mitgespielt haben soll.” Der Bär senkte traurig den Kopf.
„Was geschah mit ihr. Erzähl doch bitte?”
„Man weiß nichts Genaues. Das Gerücht geht um, dass die Gnome es irgendwie geschafft haben, einen großen Zauber gegen sie auszusprechen. Eines wissen wir mit Sicherheit, Schlehenfeuer ist seit längerer Zeit verschwunden. Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Nicht einmal die weise Eule Brunhilde hat eine Ahnung, obwohl sie hin und wieder den Feenwald auskundschaftet. Es sieht schlecht für uns aus, ohne die Macht der guten Fee. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf. Hoglas Treiben muss Einhalt geboten werden. Ansonsten wird er sich wirklich noch unser ganzes Land unter den Nagel reißen und alle Bewohner schikanieren und ausbeuten.” Der Bär seufzte laut.
„Da muss etwas geschehen”, nickte Lisa und streichelte tröstend über sein dickes Fell.
Doch war es Zeit aufzubrechen. Sie bedankte sich bei Tako, für seine Gastfreundschaft und seine Hilfe. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie alleine nachts auf das Wolfsrudel gestoßen wäre. Als sie sich von Mirna und ihren Kindern verabschiedete, lugte plötzlich Pipos Kopf aus dem Fell des einen Bärenjungen.
„Mich wolltest du wohl hier lassen?” fragte er beleidigt.
„Entschuldige Pipo, ich hätte dich wirklich fast vergessen. Wenn du möchtest, könntest du bei Tako bleiben. Er hätte sicher nichts dagegen. Hier ist es schön warm und wenn ich zurückkomme, hole ich dich wieder ab.”
Pipo stemmte seine Pfoten an die Hüfte. Er konnte es einfach nicht glauben, was er da gerade hörte. „Du willst mich doch tatsächlich loswerden?” Sein Gesicht verzog sich erst ärgerlich, doch dann rannen Tränen aus seinen Augen.
„Nein, nein Pipo”, sie nahm ihn auf den Arm. „Ich dachte nur, dass du hier in Sicherheit bist. Tako erzählte gerade, dass es noch gefährlich werden kann. Hogla und seine Bande möchten das ganze Land beherrschen.”
„Pah”, fiel ihr Pipo ins Wort. „Der soll mir nur kommen. Mit dem werde ich auch noch fertig.” Breitbeinig, wie ein kleiner Krieger stand er da und drohte mit seiner Vorderpfote.
´Ach ja’, dachte Lisa. `Er hat wieder einmal eine ganz schön große Klappe, der kleine Kerl.`
Doch konnte ihm keiner böse sein. Im Gegenteil, er hatte ja gestern erst seinen Mut bewiesen. Lisa war froh, dass er bei ihr war.
„Nun komm’ schon”, sagte sie und küsste ihn zärtlich auf sein kleines Schnäuzchen. „Wir beide werden das schon schaffen.”
„Das will ich auch meinen”, antwortete Pipo siegessicher.
„Soll ich euch noch ein Stück begleiten?” bot sich Tako an.
Lisa war einverstanden. „Wenn du deine Familie so lange alleine lassen kannst.”
Tako nickte. „Mirna passt während meiner Abwesenheit auf die Kleinen auf. Sie ist eine gute Mutter.”
Sie verließen die Höhle und liefen wieder ins Tal. Auf einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe blieb der Bär stehen. Von hier konnte man auf einen großen, finsteren Wald blicken, der sich über mehrere sanfte Hügel zog. Dahinter ragte das mächtige, schwarze Bergmassiv empor. Bedrohliche Berge, die fast bis an die Wolken stießen.
Tako deutete mit seiner Tatze nach Norden. „Dort hinten, bei dem schwarzen Gebirge beginnt das Reich der Gnome. Doch musst du erst durch den Feenwald. Wir nennen ihn manchmal auch den stillen Wald.”
„Weshalb den stillen Wald?” wollte Lisa wissen.
„Du wirst das bald selbst erleben.” Als Lisa ihn fragend ansah, meinte er langsam: „Es gibt keine Tiere mehr dort. Alle haben den Wald verlassen. Sogar die fleißigen Ameisen zogen fort.”
Lisa schüttelte bedauernd den Kopf. Nach einer Weile sagte sie, während sie über das dunkle Waldgebiet blickte: „Er muss riesig groß sein. Den werde ich sicher nicht an einem Tag durchqueren können.”
Der Bär nickte. „Ja, da hast du leider recht. Einmal wirst du mit Sicherheit dort die Nacht verbringen müssen.” Tako tänzelte nervös hin und her.
„Was ist los mit dir”, fragte Lisa neugierig.
„Nun, der Wald. Er birgt so seine Geheimnisse”, seufzte er. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, ohne dir Angst einzujagen.”
„Erzähl` doch einfach was los ist im stillen Wald”, ermunterte ihn Lisa.
„Das Dumme ist, ich weiß selbst nicht genau was da unten vor sich geht. Als Schlehenfeuer noch da war, strich ich ständig durch den Feenwald. Doch plötzlich war sie verschwunden und mit ihr auch das wunderschöne Elfenschloss. Von dem Hügel dort”, er zeigte mit seiner Pranke auf eine kleine Anhöhe. „Von dort konnte man Schlehenfeuers Schloss stehen sehen. Besonders in der Nacht, leuchtete es im Mondlicht wie ein weißer Diamant. Ein herrlicher Anblick.”
„Und es weiß niemand, was mit der Fee passiert ist?” fragte Lisa. Der Bär schüttelte sein schweres Haupt. „Vielleicht ist sie ja schon gestorben, oder in ein anderes Land gezogen”, fuhr Lisa fort.
„Nein, nein, das Letzte ist unmöglich. Schlehenfeuer hätte uns das mitgeteilt. Nein, sie war eine gute Fee und hätte sich niemals so einfach aus dem Staub gemacht”, widersprach Tako.
„Das Merkwürdige ist, seit die Fee verschwunden ist, hat sich eine furchtbare, alte Hexe im Elfenwald eingenistet. Ich sah sie nur ein einziges Mal und das auch nur aus der Ferne. Es war schrecklich was ich damals erlebte.” Er schüttelte sich.
„Es ist dir doch offensichtlich nichts geschehen, oder?” fragte Lisa besorgt.
„Das stimmt. Nicht ein Haar wurde mir gekrümmt. Aber nur deswegen, weil ich das alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Es war so gewaltig, so unbeschreiblich, dass sich mir bei dem Gedanken noch heute die Haare sträuben.” Tako war so aufgeregt, dass er nicht weiter reden konnte.
„Was ist passiert?” Lisa fragte sich, ob sie ihm wohl jeden Brocken aus seiner Bärennase ziehen müsse.
„Damals wohnte ich im Feenwald. Ein wunderbarer Ort, in dem ich viel Freude erlebte. Doch seitdem die schrecklichen Dinge dort geschahen, wirkt er geradezu düster und unheimlich. Keine Tatze habe ich seither mehr dorthin gesetzt. Ich suchte mir ein anderes Zuhause. Beim Umherstreifen im Gebirge, fand ich unsere Höhle, und ließ mich dort nieder. Mein neues Revier verlegte ich in die Heide. Da traf ich auch meine Frau und wir gründeten eine Familie. Doch oft, in der Nacht, stieg ich den Hügel hinauf, um zu sehen was im Feenwald so vor sich ging. Mir ist heute noch ganz schlecht, wenn ich mich daran erinnere, was ich da alles zu sehen bekam. Du würdest es nie glauben, wenn ich dir das erzähle.”
„Ich habe selbst auch schon Dinge erlebt, die du mir wahrscheinlich nicht glauben würdest. Nun sprich schon, Tako”, drängelte Lisa.
„Es ist schon einige Jahre her, da passierte etwas Unglaubliches. Aber seitdem ist es ruhig geworden im Elfenwald. Vielleicht lebt ja die alte Hexe gar nicht mehr.” Wieder machte der Bär eine lange Pause.
Lisa war es leid ihn immerzu aufzufordern weiterzuerzählen. So liefen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis der Bär aufs Neue anfing zu sprechen: „Eines Abends, es war kurz nach Sonnenuntergang, da stieg ich den Hügel hinauf und blickte auf den stillen Wald. Sofort bemerkte ich, dass dort irgendetwas Seltsames vor sich ging. Das spürte ich in meiner linken Pranke. Außerdem entging meinen sehr guten Ohren nicht, dass in weiter Ferne die Erdgnome auf ihren Hörnern zum Angriff bliesen. Es musste eine wilde Horde sein, denn es schallte vielfach durch das ganze Tal. Um besser sehen zu können, stellte ich mich auf die Hinterbeine. Die Nacht war sternenklar. Und da sah ich die Hexe noch einmal. Sie saß auf einer großen, weißen Wolke und kreiste vor dem hochstehenden bleichen Mond. Ein gewaltiges Brausen erfüllte die Luft, so wie es manchmal bei einem großen Sturm oder Gewitter zu hören ist. Da hob die Hexe einen Arm. Flammen züngelten aus ihren Fingern. Wie feurige Blitze tanzten sie über den dunklen Nachthimmel. Die Erdgnome liefen schreiend durcheinander und flüchteten in den Wald. Doch die Feuerflammen verfolgten sie und schlugen in die Gnomenhorde ein. Dann regneten Feuerbälle, so groß wie riesige Felsbrocken, vom Himmel. Viele von den Bösewichten wurden vernichtet. Schmerzerfüllte Schreie drangen durch die Nacht. Der ganze Südwald brannte lichterloh. Und dann vernahm ich ein tiefes, lautes Rumoren. Es hörte sich an, als ob die Berge Hunger hätten, oder wie das Knurren im Bauch eines Riesen. Es dröhnte so laut, dass ich meine Tatzen auf die Ohren legen musste, um nicht taub zu werden. Der Boden unter mir begann so heftig zu beben, dass ich nur mit viel Mühe das Gleichgewicht halten konnte. So fürchterlich das auch war, konnte ich doch meine Augen nicht von dem Geschehen abwenden. Wie gelähmt starrte ich auf das Schauspiel, das sich mir bot. Erst zweifelte ich an meinem Verstand. Dann kniff ich in meine Tatze, aber das Bild war immer noch da. Es erfüllt mich heute noch mit Schaudern, wenn ich daran denke.”
„Das ist ja furchtbar”, unterbrach Lisa den Bär. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.
Tako nickte und machte erneut eine Pause. Lisa merkte, dass es ihm nicht leicht fiel, über das schlimme Erlebnis zu sprechen. Sie legte ihre Hand beruhigend auf seine mächtige Pranke und strich sanft über sein Fell.
Mit einem tiefen Seufzer erzählte der Bär weiter. „Weißt du Lisa, in unserem Feenwald gab es immer Ruhe und Frieden. Dafür sorgte unsere gute Fee Schlehenfeuer. Doch nun herrschte Krieg. Deswegen war ich so erschüttert über das, was ich dort erlebte. Stell’ dir vor, ich sah mit eigenen Augen, wie sich die Erde mit berstendem Krachen spaltete und alles, ob Gnome, Bäume, oder Tiere, ja der gesamte brennende Wald, von einem tiefen Schlund verschluckt wurde. Dann zog die Hexe ihre Hand zurück und der Spuk war vorüber. Eine unnatürliche Stille senkte sich auf das Land. Der Wald, der einst von Leben überquoll, ist seither düster und leblos.”
Lisa, die mit offenem Mund gelauscht hatte, nickte und Pipo hielt sich mit seinen Krallen die Augen zu. „Wie schrecklich”, piepste er. „Und da sollen wir durch?”
„Es gibt leider keinen anderen Weg, Pipo.” Der Bär zuckte bedauernd mit den Schultern. „Willst du nicht doch lieber hierbleiben?”
„Niemals! Ich laß doch meine liebste Freundin nicht in Stich.” Der Mäuserich schüttelte den Kopf. „Nein niemals," beteuerte er mit Nachdruck. "Lass` uns gehen, Prinzessin”, rief er fest entschlossen. „Je eher wir aufbrechen, desto schneller bringen wir den Hexenwald hinter uns.
Tako begleitete sie noch über die Wiese bis zum Waldrand hinunter. Dann blieb er stehen und spähte misstrauisch durch die Bäume, doch nichts rührte sich. Der stille Wald, der einst vor Leben überquoll, lag düster und leblos da.
Der alte Bär drehte sich um und legte Lisa seine schwere Pranke auf die Schulter. „Viel Glück, Prinzessin.” Seine raue Stimme klang sehr traurig.
Lisa umarmte den dicken Bär noch einmal. „Vielen Dank Tako, du hast mir sehr geholfen.”
„Das war ich dir schuldig, Kleine. Ohne deine Zaubernadel, wäre mein Bein nicht geheilt.” Er wandte sich ab und trottete mit gesenktem Haupt davon. Dann drehte er sich noch einmal um und meinte: „Fast hätte ich vergessen, dir zu sagen, wie du den Weg durch das Gebirge findest. Über die Felswände klettern ist für dich kleinen Menschen unmöglich.” Tako überlegte kurz. „Wenn du an einen Wasserfall kommst, achte auf zwei gekreuzte Bäume. Dahinter gibt es eine schmale Öffnung. Es ist nur ein ganz schmaler, tunnelähnlicher Durchlass, aber er bringt dich direkt zum Eisschloss.”
„Vielen Dank Tako, das hat mir sehr geholfen. Ich hoffe, ich finde den Weg.”
Der Bär nickte. „Du bist ein kluges Kind. Außerdem hast du doch so einen mutigen Freund.” Mit einem freundlichen Lächeln trollte er sich davon.
Lisa wartete noch, bis Tako den Hügel erreichte. Mit seiner schweren Tatze winkte er noch einmal zum Abschied. Dann verschwand er im leichten Morgendunst.
Der Spätherbst war ins Land gezogen. Die gelben und braunen Blätter der Bäume lösten sich von ihren Ästen und tanzten sanft zu Boden, der schon dick mit einem bunten Teppich bedeckt war und der jeden ihrer Schritte verschluckte. Es roch nach Moos und würzigem Harz. Lisa fröstelte leicht, wenn sie an Takos Erzählung dachte, denn was er erzählt hatte, war alles anderes als ermutigend.
„Ob sich das alles wirklich so zugetragen hat?” Pipo schaute Lisa fragend an. „Vielleicht ist es ja doch nur eine Fantasiegeschichte. Oder Tako hat das alles nur geträumt. Doch ist er kein unglaubwürdiger Geselle.”
Auch Lisa konnte sich nicht vorstellen, dass er sich das Ganze nur aus seinen Tatzen gesogen hatte.
„Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon, dass Tako die Wahrheit gesagt hat.”
Die mächtigen Kronen der Bäume wuchsen so dicht, dass kein wärmender Sonnenstrahl den Waldboden erreichte. Lisa fühlte sich winzig klein inmitten der Baumriesen. Sie lief über einen undeutlich erkennbaren Pfad. Ein Wildpfad wahrscheinlich, der scheinbar seit sehr langer Zeit nicht mehr benutzt wurde und nun von Moos und Gestrüpp überwuchert war. Hin und wieder hatten sich sogar junge Bäume hier angesiedelt. Es war sehr mühsam sich durch den verwachsenen Pfad einen Weg zu bahnen. Die Stille hier war bedrückend. Nur das Rauschen der Blätter im Wind und das Knacken abgestorbener Zweige waren zu hören.
***
Wie lange war sie schon unterwegs? An der Sonne konnte sie sich nicht orientieren, das Blätterdach war zu dicht, um nur einen Sonnenstrahl durch zu lassen. Aber es mussten bestimmt schon mehrere Stunden vergangen sein, seitdem Tako sie verlassen hatte.
Lisa blieb horchend stehen. Was waren das für Geräusche, die an ihr Ohr drangen? Je näher sie kam, um so lauter wurde das Rauschen. Da, ein reißender Bach schlängelte sich durch die Bäume. Er war nicht sehr breit, aber doch viel zu breit, um darüber zu springen. Auch schien er zu tief, ihn zu durchwaten, denn das Wasser war dunkel und der Grund war nicht zu erkennen. Das gefiel ihr gar nicht, denn ihr Weg führte nach Norden, wogegen der Bach in westlicher Richtung floss. Leider blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Bachlauf zu folgen, obwohl sie sich dadurch von ihrem Ziel entfernte.
Allmählich wurden ihre Füße schwer und weigerten sich weiterzulaufen. Müde setzte sie sich unter einen dicken Baum ins weiche Moos. Brombeerbüsche, mit reichlichen Früchten, wuchsen hier in Hülle und Fülle, deren Ranken an den Baumstämmen hochkletterten. Fast bis in die Wipfel hinauf reichten ihre Ranken, so als suchten sie dort oben einige Sonnenstrahlen zu erhaschen. Pipo kam aus der Manteltasche hervor und setzte sich auf ihren Schoß. Die Beeren waren überreif und verlockten zum Naschen. Lisa pflückte eine Handvoll und hielt sie dem Mäuserich unter die Nase. Pipo nahm gleich eine ganze Beere auf einmal und stopfte sie in sein Schnäuzchen, sodass der Saft aus beiden Mundwinkeln heraus triefte.
„Mm, sie schmecken zuckersüß”, schmatzte er laut und stopfte gleich noch eine Beere hinterher. Lisa legte sich auf den weichen, bemoosten Waldboden. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, starrte sie in die Luft. Die Baumkronen wiegten sich sanft im Wind, dass man ab und zu einen Fetzen vom blauen Himmel sehen konnte.
„Tako hatte recht, es gibt wirklich keine Tiere in diesem Wald.” sagte sie nach einer Weile.
„Ja Prinzessin. Ich habe auch noch keinen Hasenschwanz gesehen”, erwiderte der Mäuserich nachdenklich.
„Ich höre nicht einmal einen Vogel zwitschern.”
Pipo legte horchend seinen Kopf zur Seite und nickte. „Ich auch nicht.”
„Naja, bis jetzt ist ja alles gut gegangen”, meinte Lisa erleichtert und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange und sie war fest eingeschlafen.
***
Lisa wusste nicht was es war, aber ein seltsames Geräusch hatte sie geweckt. Der Wald hüllte sich bereits in dunkle Schatten. Sie setzte sich auf und schaute direkt in zwei große, runde, leuchtende Augen, die sie, von einem Gebüsch aus, anstarrten. Mit einem spitzen Schrei sprang Lisa hoch. Ein belustigtes Kichern war die Folge. Eine große, graue Eule kam aus ihrem Versteck und setzte sich unmittelbar vor Lisa auf einen Ast.
„Mein Gott, hast du mich erschreckt”, stieß Lisa hervor.
„Du wirst dich doch nicht etwa vor einer harmlosen, alten Eule fürchten. Hahaha”, lachte sie und verdrehte ihre Augen. Sie war gut gelaunt und strahlte über das ganze Gesicht. „Du bist sicher Prinzessin Lisa? Hab’ schon viel von dir gehört. Ich freue mich deine Bekanntschaft zu machen.”
„Bist du die Eule Brunhilde?” fragte das Mädchen
„Du hast es erraten, Kind”, nickte die Eule und streckte ihre Flügel aus. „Aber woher kennst du meinen Namen?”
„Gänseblümchen erzählte von dir. Übrigens soll ich dir Grüße bestellen und du möchtest dich wieder einmal blicken lassen.”
„Ach ja, mein alter Freund Gänseblümchen. Ich war schon lange nicht mehr in der Heide. Dabei haben wir zusammen so manches lustiges Abenteuer erlebt. Übrigens brauchst du keine Angst vor mir zu haben.” Sie kicherte wieder.
„Ich habe mich bloß vor deinen großen Augen erschreckt.”
„Verstehe”, erwiderte der Vogel. „Aber Eulen haben nun einmal so große Augen. Wir sind die Jäger der Nacht. Hahaha, wenn ich so eine Blindschleiche wie du wäre, hätte mich längst der Hungertod hinweggerafft. Apropos Blindschleiche. Hast du zufällig eine in deinem Beutel? Ach, sicher nicht”, beantwortete die Eule ihre Frage selbst. „Du isst ja kein Gewürm, wie ich.”
Lisa schüttelte nur den Kopf. „Du wohnst wohl hier im Wald, Brunhilde? Tako sagte, dass alle Tiere den Wald verlassen hätten.”
„Iwo, ich wohne nicht hier”, wehrte die Eule entsetzt ab und spreizte nervös ihre Flügel. „Hier leben keine Tiere, schon lange nicht mehr. Ich fliege manchmal durch die Bäume um nach dem Rechten zu sehen.” Brunhilde blickte vorsichtig um sich. „Und du willst zum Prinzen Aiko?” fragte sie nachdenklich.
„Ja, und auch zu meiner Schwester Julia.”
„Ich weiß”, sagte Brunhilde ernst. „Als das Unglück den Prinzen traf, haben wir alles versucht, ihn zu befreien. Alle Vögel des Himmels versammelten sich, um mit ihren scharfen Schnäbeln ein Loch in den Eispalast zu schlagen. Leider ohne Erfolg. Nicht einmal Schlehenfeuer, vermochte dem Prinz zu helfen.”
„Schlehenfeuer? Weißt du etwas über ihren Verbleib?”
Die Eule schüttelte den Kopf. „Leider weiß ich auch nicht viel. Nur das, was man sich so erzählt.”
„Und das wäre?“ fragte Lisa neugierig.
„Man soll der Ärmsten großes Leid zugefügt haben.” Sie seufzte laut und schwieg.
„Erzähl’ doch bitte, was passiert ist.”
Brunhilde zögerte. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte gut für deine Ohren ist.”
„Mach dir deswegen keine Gedanken. Meine Ohren sind nicht so zart wie sie aussehen. Sie vertragen mehr als du glaubst.”
„Wie du meinst, Lisa. Also, es waren die Erdgnome, an der Spitze König Hogla, die unserer guten Fee schwer zugesetzt haben sollen.”
„Hogla, diesen Namen höre ich immer wieder, aber nur in Verbindung mit Untaten”, unterbrach Lisa die Eule.
„Genau so ist es, Kind. Er ist der schlimmste Bösewichte und der mächtigste. Außerdem hatte er den großen Zauberer Zottaka an seiner Seite und so komische, hässliche Wesen, die..." sie schüttelte ihr Federkleid und schwieg.
„Ich weiß”, nickte Lisa. „Das habe ich von Silbertau der Nixenkönigin gehört.”
Die Eule flatterte kurz mit den Flügeln. „Dieser armen Frau hat man genauso übel mitgespielt wie Schlehenfeuer.”
„Kennst du diese komischen Wesen?” wollte Lisa wissen.
„Brrr”, gurrte Brunhilde. „Hab’ kein Bedürfnis sie persönlich kennenzulernen. Um diese scheußlichen Ungetüme macht man besser einen großen Bogen.” Sie schüttelte sich erneut. „Ich hoffe, du wirst keine Bekanntschaft mit ihnen machen.”
„Was soll ich jetzt tun? Kannst du mir vielleicht einen guten Rat geben? Du bist doch das weiseste Tier unter allen Tieren des Waldes.”
„Oh”, staunte die Eule. „Sagt man das von mir?” Sie hob stolz ihren Kopf und ihre Brust schwoll an. „Ohne eingebildet zu sein, ich habe wirklich schon manchen guten Rat erteilt. Doch bei der gegenwärtigen Situation ist meine Weisheit begrenzt. Aber dank meiner Genialität bin ich bereit dir trotzdem weiterzuhelfen, und dir einen guten Rat mit auf den Weg zu geben.” Sie überlegte kurz, während sie sich mit der Kralle ausgiebig am Kopf kratzte. „Sei immer auf der Hut vor den Erdgnomen. Wenn du klug und umsichtig handelst, wirst du Gelingen haben.”
`Was für ein toller Rat`, dachte Lisa bei sich, `einfach super`, darauf wäre sie im Leben nicht gekommen. Dennoch bedankte sie sich höflich bei der Eule, die gnädig abwinkte.
„Ich verkrümel mich lieber.” Brunhilde flüsterte plötzlich und schaute sich nach allen Seiten misstrauisch um. „Hier wird mir der Boden zu heiß.”
„Was meinst du denn damit?” fragte Pipo und lugte mit dem Kopf aus der Manteltasche.
„Oh”, erwiderte die Eule. Sie hatte Pipos Frage völlig überhört. „Du hast mir ja doch einen fetten Leckerbissen mitgebracht, Kind.” Sie wollte gerade mit ihren Krallen nach Pipo greifen, doch Lisa hielt schützend die Hand über ihren Mäuserich. „Halt, halt”, rief sie entrüstet. „Pipo ist mein Freund.”
„Dein Freund? Naja, ich dachte, er wäre für mich bestimmt. Mäuse sind nun einmal mein Leibgericht.”
Pipo kam aus der Manteltasche und setzte sich provokativ auf Lisas Schulter. Seine Augen waren voll Verachtung auf die Eule gerichtet. „Dein Leibgericht? Schämst du dich nicht? Ich bin doch nur eine kleine, wehrlose Maus, du Ungeheuer mit zwei Flügeln.”
„Entschuldige Pipo, ich werde dich nicht fressen, versprochen. Obwohl mir bei deinem Anblick ganz gewaltig das Wasser im Mund zusammenläuft. So eine fette, kleine Maus, wäre schon eine willkommene Abwechslung auf meinem Speiseplan und reichte für einen halben Tag. Naja nicht ganz.”
„Hör’ sofort auf, sonst kratze ich dir die Augen aus.” Pipo stellte sich auf die Hinterbeine und drohte mit seiner geballten Kralle.
Nun war es Zeit für Lisa einzugreifen, sonst würden sich die beiden Streithähne noch wehtun. „Jetzt ist es aber genug. Hier wird weder jemand gefressen, noch werden die Augen ausgekratzt.”
Brunhilde lenkte lachend ein. „Das war doch nicht böse gemeint. Pipo versteht wohl keinen Spaß?” Sie kicherte verhalten. „Nichts für ungut, Kleine. Es tut mir leid, Pipo.” Sie breitete ihre Flügel aus und machte sich fluchtartig aus dem Staub.
„Warte doch, Brunhilde”, rief Lisa und schaute ziemlich ratlos der davonfliegenden Eule hinterher, die mit lautem Flügelschlag zwischen den Bäumen verschwand. Warum hatte sie es plötzlich so eilig. Sich so einfach, ohne Abschied davon zu machen, war nicht gerade sehr höflich. Lisa hätte gerne noch mehr über die Feenkönigin erfahren.
„Ich versteh’ das nicht, warum ausgerechnet mich alle fressen wollen.” Pipo schüttelte entrüstet den Kopf.
Lisa seufzte. „Eulen fressen nun mal gerne Mäuse. Leider”, fügte sie hinzu. „Außerdem siehst du so hübsch und appetitlich aus.” Lisa drückte den Mäuserich an ihre Brust. „Ich hab’ dich auch zum Fressen gern.”
Geschmeichelt verdrehte Pipo die Augen und schmatzte Lisa einen feuchten Kuss auf die Wange. „Glaubst du auch Lisa, ich wäre zu dick?” Er fuhr sich mit seiner Kralle über den runden Bauch. „Sollte ich vielleicht etwas abnehmen?”
„Aber nein Pipo, du bist gerade richtig” tröstete ihn das Mädchen und streichelte zärtlich sein Fell. „Komm’ Pipo, wir sollten uns auch verkrümeln.
Nebel zog über den Bach. Doch wie seltsam, er bewegte sich tanzend auf und ab. Lisa meinte einen Moment lang ein Gesicht darin zu erkennen, das aber gleich wieder verschwand. Dann erschien es abermals. Es war ein zartes Gesicht umrahmt von langen, silbernen Haaren. Aus einem Nebelfetzen bildete sich schemenhaft ein Arm, der ihr zuwinkte. Wie gebannt lief Lisa auf das silbrige Gebilde zu. Als sie näher kam und schon dachte es zu erhaschen, löste sich der Nebel auf und der Spuk war vorbei. Enttäuscht lief sie weiter durch den dichten, stillen Wald.
Inzwischen war es bereits düster geworden.
„Wir werden hier übernachten müssen”, schlug Lisa vor. „Ich bin müde und außerdem ist es sinnlos im Dunkeln durch die Gegend zu stolpern.”
Pipo nickte. „Du hast recht, Prinzessin, wir sollten das Tageslicht abwarten, bevor wir weiter laufen.”
Lisa lief noch ein Stück, um ein passendes Plätzchen für die Nacht zu suchen, als sie plötzlich vor einer verfallenen Mauer stand, die nicht gerade vertrauenserweckend aussah.
Sie stieß Pipo an, der schon wieder in ihrer Manteltasche saß.
Er steckte seinen Kopf heraus und gähnte laut. „Was ist Prinzessin?”
„Schau doch.” Sie deutete auf die Mauerreste.
Pipo schüttelte den Kopf. „Wo kommen die denn so plötzlich her?”
„Ich weiß nicht Pipo. Vielleicht sollten wir uns das einmal aus der Nähe ansehen.”
Der Mäuserich witterte ein Geheimnis und nickte zustimmend.
Vorsichtig liefen sie ein Stück an der Mauer entlang, die teilweise von Brombeerranken und Unkraut überwuchert war. Im bleichen Mondlicht konnte man ein halbgeöffnetes Tor sehen, das windschief in den Angeln hing. Lisa zögerte. sollte sie einzutreten?
Pipo platzte bald vor Neugier. „Geh’ schon rein, Prinzessin.”
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Es ist so unheimlich hier.”
Pipo sprang auf den Boden und spurtete durch das Tor.
Nun blieb Lisa nichts anderes übrig, als dem kleinen, vorwitzigen Kerl zu folgen. „Warte doch Pipo.” Als sie das Tor passierte, hielt sie inne. Auf einem freien Platz stand eine Ruine. Es musste einmal ein sehr großes Haus gewesen sein. Das konnte man an dem restlichen Mauerwerk und den mächtigen Säulen erkennen, die noch fast unbeschädigt in die Höhe ragten.
„Pipo”, schrie Lisa. „Komm’ sofort zurück.”
Aus weiter Ferne hörte sie ihn antworten: „Gleich, Prinzessin.”
Wind kam auf, der jammernd und klagend durch das zerstörte Gemäuer strich. Lisa lief ein Schauer über den Rücken. Graue Wolkenfetzen zogen vor den Mond, so dass er nur noch wenig Licht spendete. Gerade wollte sie wieder nach Pipo rufen, als ihr Jemand auf die Schulter tippte. Erschrocken fuhr sie herum und schaute direkt in das Gesicht des Mäuserichs. „Nein”, schrie sie und hielt sich die Hand vor den Mund. Pipo war genau so groß wie sie. Oder war sie geschrumpft und jetzt so klein wie er? Nein, das Erstere kam wohl in Frage.
„Was ist passiert?” stieß sie aufgeregt hervor.
Der Mäuserich zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich trank hinter der Ruine aus einer Quelle und dann spürte ich plötzlich wie ich wuchs und wuchs und wuchs”, berichtete er kleinlaut. Dicke Tränen rollten aus seinen Knopfaugen.
Lisa schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn liebevoll an ihre Brust. „Nicht weinen, mein lieber Freund”, tröstete sie ihn.
„Was mach ich bloß? Nie wieder werde ich in ein Mäuseloch kriechen können. Und was werden meine Freunde sagen, wenn ich nach Hause komme?” jammerte er. Sein Schluchzen war so herzerweichend, dass auch Lisa Tränen über die Wangen liefen.
„Es wird sich sicher eine Lösung finden”, beruhigte sie den aufgeregten Mäuserich. „Hoffentlich”, fügte sie leise hinzu. „Komm’ Pipo, wir müssen noch etwas schlafen.” An einen dicken Baumstamm gelehnt, saßen sie traurig zusammengekauert und schwiegen lange.
Schluchzend legte Pipo seinen Kopf auf Lisas Schoß. Das Mädchen kraulte sanft sein Fell, bis sie an seinem gleichmäßigen Atem merkte, dass er schlief.
Reglos in die Finsternis starrend, überlegte sie, wie sie Pipo helfen konnte. Letztendlich fand sie es gar nicht so schlimm, dass der Mäuserich jetzt genau so groß war wie sie selbst. Vielleicht könnte das sogar einmal nützlich sein.
Lisa lauschte in die Nacht. Manchmal meinte sie schleichende Schritte zu hören, aber wenn sie angestrengt horchte, war alles still. Nur das leise Knistern der Zweige war zu hören, wenn der Wind durch die Baumkronen strich. Da, schon wieder drangen seltsame Geräusche an ihr Ohr. Undeutliche, kaum hörbare Stimmen drangen durch das Geäst. Klagende Stimmen, die seufzten und stöhnten, aber bald vom Wind davongetragen wurden. Ängstlich rollte sie sich zur Seite und legte den Arm um Pipos Leib.
„Hast du Angst, Prinzessin?” hörte sie seine verschlafene Stimme.
Lisa setzte sich und überlegte eine Weile. „Ich glaube schon, mein kleiner Freund”, flüsterte sie kaum hörbar, denn sie hatte immer das Gefühl, die Bäume hätten Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten und Arme, die nach ihr greifen wollten. Ihr Herz klopfte laut. Dann schloss sie die Augen. Doch dauerte es lange bis sie ein unruhiger Schlaf überfiel.
Es musste wohl schon Mitternacht sein, als Lisa von einem polternden Geräusch geweckt wurde. Erschrocken fuhr sie hoch. Ihr Atem stockte, als sie zur Ruine blickte. Sie war verschwunden. Stattdessen stand dort ein riesiges, weißes Schloss, das silbern im Mondlicht schimmerte. Mit offenem Mund starrte Lisa auf den herrlichen Palast. Durch das Portal trat eine Gestalt, die in ein weißes, glänzendes Kleid gehüllt war. Ihre schwarzen Haare reichten bis zu ihrer Taille. Ein goldenes Diadem saß auf ihrer Stirn.
Als Lisa aufstehen wollte, war das Bild wieder verschwunden. Und Pipo war wieder der kleine Mäuserich, der er vorher gewesen ist. Sicher hatte sie das alles nur geträumt. Ja, genau so muss es gewesen sein, beruhigte sie sich.
***
Der Morgen dämmerte bereits als Pipo erwachte. Er dehnte und streckte sich. Gähnend strich er über seinen Körper. „Ich hatte heute Nacht einen schauerlichen Traum”, stieß er aufgeregt hervor. Er kniff die Augen zusammen und starrte zur Ruine.
„Einen Traum?” fragte Lisa.
„Stell’ dir vor Prinzessin, ich träumte, ich wäre ein Riesenmäuserich, genau so groß wie du.”
„Das ist ja furchtbar.” Sie schüttelte den Kopf. Dass sie beide den gleichen Traum geträumt haben sollten, kam ihr unwahrscheinlich vor. Hastig stand sie auf. Sie wollte diesen unheimlichen Ort sofort verlassen. „Komm’ Pipo, ich möchte auf gar keinen Fall noch länger hierbleiben.”
„Sollten wir nicht erst etwas essen, Prinzessin? Ich habe einen Kohldampf und könnte eine halbe gebratene Sau verspeisen. Außerdem habe ich gestern Nacht hinter der Ruine eine Quelle entdeckt, da könnten wir auch unseren Durst löschen.”
Lisa erschrak fürchterlich. Sie nahm Pipo auf den Arm und rannte durch das windschiefe Tor nach draußen. Als sie an der zerfallenen Mauer entlang lief, meinte sie: „Ich will hier weg, Pipo. Wir können später etwas frühstücken.”
Der Mäuserich schaute erstaunt auf das Mädchen. Warum hatte sie es plötzlich so eilig? „Was ist Prinzessin?” fragte er. „Du wirkst so verängstigt. Gibt es etwas, was du mir verschweigst?” Er schaute forschend in ihr ernstes Gesicht.
„Nein, nein”, versicherte sie schnell. Sie wollte ihn nicht auch noch beunruhigen. Hastig rannte Lisa durch den Wald. Kreuz und quer, wie ein von Hunden aufgescheuchtes Reh. Und immer meinte sie wispernde Stimmen zu hören und Augen, die sie verfolgten. Abrupt blieb sie stehen. Sie wusste nicht mehr welche Richtung sie einschlagen sollte. „Ich glaube Pipo, wir haben uns verirrt”, klagte sie. Ihr war elend zumute, während sie sich verzweifelt nach allen Seiten umblickte.
„Genaugenommen Prinzessin, hast du dich verirrt”, erwiderte Pipo gelassen. „Jammern hilft jetzt auch nichts.”
„Wenn wir wenigstens feststellen könnten wo die Sonne steht, damit wir uns daran orientieren können”, seufzte sie. Leider war das Blätterdach der Bäume so undurchdringlich, dass man kaum den Himmel sehen konnte.
„Ich klettere einfach auf einen Baum”, beschloss Pipo und hielt nach einem passenden Objekt Ausschau. „Ich glaube, der dort drüben ist genau richtig.” Er zeigte auf eine etwas windschiefe, dicke Eiche. Ehe Lisa ihn hindern konnte, war er schon auf den Stamm gesprungen und sauste wie ein geölter Blitz über die rissige Rinde nach oben.
„Sei bitte vorsichtig”, rief Lisa ihm hinterher.
„Ok, Prinzessin.”
Lisa wartete und wartete. Ihr schien es eine Ewigkeit, seit Pipo fort war. Sie starrte zum Wipfel des Baumes, bis sie endlich ein leises, scharrendes Geräusch hörte. Inzwischen dämmerte es bereits.
„Pipo bist du das?”
„Selbstverständlich bin ich es. Oder erwartest du jemand Anderes?” fragte er völlig außer Atem.
„Nein, nein. Natürlich nicht.”
Pipo ließ sich erschöpft ins weiche Moos sinken. „Gott’, war das anstrengend”, seufzte er.
Lisa strich sanft über sein Fell. „Konntest du feststellen, welche Richtung wir gehen müssen?”
„Die Sonne ging dort drüben unter.” Er deutete mit der Kralle nach links. „Wenn wir nach Norden gehen wollen, müssen wir dort entlang.”
„Danke Pipo, du hast mir sehr geholfen.”
„Dafür bin ich doch da, Prinzessin.”
„Geh’ in die Manteltasche Pipo und ruh’ dich etwas aus. Ich laufe noch ein Stück.”
Das ließ sich der Mäuserich nicht zweimal sagen. Er war so richtig geschafft. Noch so eine Klettertour würde er nicht überleben.
Nach einer Weile hörte Lisa ein leises Rauschen. „Hörst du das auch Pipo?” fragte sie den Mäuserich.
Pipo steckte den Kopf aus der Tasche. „Ja Prinzessin, ich vermute, das ist ein Bach.”
Lisa rannte und stolperte über Baumwurzeln und niederes Buschwerk. Das Rauschen wurde lauter und dann stieß sie genau auf den Bach, den sie am Vortag verlassen hatte.
„Gott sei Dank”, rief sie erleichtert.
Sie lief noch eine Zeitlang am Ufer entlang. Quer über dem Bach lag ein dicker Baumstamm und versperrte ihr den Weg. Doch das war die Rettung. Hier konnte sie endlich auf die andere Seite gelangen. Sie hatte bereits einen Fuß auf den Stamm gesetzt und hielt inne. Was war das nur für ein seltsamer Baum? Aus der morschen Borke wuchsen viele kleine Bäumchen. Erstaunt stellte Lisa fest, dass statt Blätter, feine Silberfäden an den Zweigen hingen. Als leichter Wind durch die Äste fuhr, ertönte ein merkwürdiges Klingen, wie von vielen, kleinen Glöckchen. Lisa kannte viele Gewächse. Doch diese Art war ihr unbekannt. Vorsichtig kletterte sie über die Bäumchen hinweg. Sie hatte schon fast das andere Ufer erreicht, als sie in der Dunkelheit einen herausragenden Ast übersah. Sie stolperte und plumpste kopfüber ins kalte Wasser. Zum Glück war der Bach hier nicht mehr so tief. Mühsam rappelte sie sich hoch und kroch ans Ufer.
„Hilfe, Hilfe”, brüllte Pipo wie am Spieß. Er war bei dem Sturz aus der Manteltasche gefallen. Wie ein Wilder schlug er mit seinen Beinen, tauchte unter und kam wieder an die Oberfläche. Lisa bekam ihn gerade noch an seinem Schwanz zu fassen. Hastig zog sie den schreienden Mäuserich aus dem Wasser.
„Du willst mich wohl ertränken”, prustete er. Hustend und niesend schnappte er nach Luft. Dabei ergoss sich ein ganzer Schwall Wasser aus seinem Maul.
„Es tut mir so leid, aber ich bin gestolpert.”
Als der Mäuserich das klitschnasse Mädchen sah, lachte er schon wieder. „Du siehst ja wie eine gebadete Maus aus.” Er schüttelte sich wie ein Hund, dass das Wasser in sämtliche Richtungen aus seinem Fell spritzte.
„Das ist nicht zum Lachen, mein kleiner Freund”, tadelte Lisa den Mäuserich. „Wenn wir keinen trockenen, warmen Unterschlupf finden, werde ich heute Nacht sicher erfrieren.”
„Oh, das ist ja schrecklich Prinzessin”, entschuldigte sich Pipo zerknirscht.
Lisa hob den Kopf und schnupperte in der Luft. Roch es da nicht nach Rauch?
„Riechst du das auch?” fragte Lisa ihren kleinen Freund.
Pipo streckte seine Nase in den Himmel. „Rauch”, erwiderte er. „Wo ein Feuer brennt, müsste es auch Menschen geben.”
„Du hast recht Pipo. Dort vorn schimmert ein Licht durch die Nacht.” Als sie näher kamen, konnte man auf einer Lichtung die Umrisse eines kleinen Hauses erkennen.
Lisa war starr vor Kälte, als sie das Haus erreichte. Ein hell erleuchtetes Fenster warf mattes Licht auf den Rasen und auf einige Blumenbeete, die vor dem Haus angelegt waren. Wohnte hier vielleicht die schreckliche Hexe, von der Tako erzählt hatte? Ein Schauder lief über ihren Rücken. Doch was sollte sie tun? Sie musste ihre nassen Kleider trocknen. Ihr Herz schlug ängstlich, als sie leise an die Tür pochte.
„Komm’ nur herein Prinzessin Lisa”, ertönte von drinnen eine helle Frauenstimme. Lisa war erstaunt. Woher wusste die Frau, wer draußen stand? Sie drückte die Klinke und öffnete sehr zaghaft die Tür. Als erstes kam ihr ein schwarzes Kätzchen entgegengelaufen und strich schnurrend um ihre Beine.
„Eine Katze, eine Katze”, schrie Pipo. Er flüchtete auf Lisas Kopf und klammerte sich krampfhaft an ihren Haaren fest.
Eine alte Frau saß in einem Lehnstuhl und winkte der Katze. „Komm’ her Mirko.” Ihre Stimme war sehr fein und gar nicht so, wie man das von einer Hexe erwartet hätte.
Die Katze gehorchte sofort und sprang auf den Schoß der Frau. Sie flüsterte dem Tier etwas ins Ohr und die Katze nickte zustimmend.
„Hab’ keine Angst Pipo, Mirko tut dir nichts.” Sie kannte auch den Mäuserich mit Namen.
Das Mädchen stand immer noch an der Tür und fror.
„Tritt doch näher, Lisa. Und mach die Tür zu. Es kommt kalt herein.”
Lisa zögerte. Sollte das die mächtige Hexe sein, die auf den Wolken ritt und mit den Erdgnomen kämpfte? Das kam Lisa unwahrscheinlich vor. Da hatte Tako sicher übertrieben. Diese alte Frau sah eher wie ein harmloses Großmütterchen und nicht wie eine Zauberin aus. Sie schloss die Tür und ging auf die alte Frau zu.
Müde erhob sich die Frau aus ihrem Lehnstuhl, kam Lisa entgegen und fasste nach ihrer Hand. „Endlich bist du da”, sagte sie mit wehmütiger Stimme. Sie schaute das Mädchen lange aus ihren strahlenden Augen an und Lisa sah, dass sie ein blaues und ein braunes Auge hatte. „Was ist passiert, Kind?”
„Ach nichts weiter. Ich bin nur über einen Ast gestolpert und in den Bach gefallen. Aber wenn ich deine Hütte nicht gefunden hätte, wäre ich bestimmt im Wald erfroren." Lisa schwieg eine Weile und fragte dann: „Bist du die Zauberin, von der mir die Zauberblume erzählt hat?”
„Ja und nein”, erwiderte die Frau geheimnisvoll lächelnd. Als sie Lisas fragenden Blick bemerkte, meinte sie: „Davon erzähle ich dir später. Doch nun zu dir, mein armes Kind. Zieh’ deine Sachen aus und setz’ dich ans Feuer.” Aus einer alten, wackligen Kommode holte sie eine Decke und legte sie Lisa um die nackten Schultern. „Wir wollen ja nicht, dass du krank wirst”, meinte sie besorgt. Die nassen Kleider hängte sie an eine Schnur über den heißen Kamin, in dem ein lustiges Feuer wohltuende Wärme verbreitete. Dann lief sie zu einem alten, eisernen Herd, auf dem ein Wasserkessel summte. „Ich brühe uns schnell einen Tee auf.”
Wenig später brachte sie auf einem Holzbrett zwei große, geblümte Tassen und stellte sie auf den Tisch. Der Duft des heißen Tees stieg Lisa angenehm in die Nase und sie erzählte freimütig was sie bisher erlebt hatte, während sie von Zeit zu Zeit einen Schluck aus ihrer Tasse trank.
Die Frau nickte ab und zu und stocherte dabei mit einem Eisenhaken im Kamin, dass die Funken knisternd hochsprühten.
Lisa merkte, dass Pipo schon wieder weg war. Wo war er? Ihre Augen wanderten durch den kleinen Raum. Sie entdeckte ihn, mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Schnäutzchen, an Mirkos Bauch geschmiegt auf der Ofenbank. Die Katze leckte mit ihrer Zunge sanft über sein Fell. Der kleine Racker fühlte sich überall zu Hause.
Die Tür ging auf und eine wunderschöne Elfe schwebte in die Hütte. Liebevoll legte sie ihre Arme um die alte Frau.
„Hallo Mutter! Entschuldige, es ist leider etwas später geworden. Hallo Lisa! Ich heiße Jasmina. Wir haben dich schon vor Tagen erwartet. Jede Nacht habe ich mein Bild in den Nebel geschickt, um dir den Weg zu weisen. Wo warst du nur so lange? Wir haben uns große Sorgen gemacht.”
Lisa schaute voll entzücken auf das wunderschöne zarte Wesen, während sie noch einmal erzählte, was sie erlebt hatte. Von den boshaften, schwarzen Vögeln, der Wassernixe und ihren lieben Freunden, Gänseblümchen und Tako. Nur zögernd berichtete sie von der seltsamen Ruine im Wald und was sie und Pipo dort erlebten. Das weiße Schloss erwähnte sie nicht, weil sie sich nicht sicher war, ob sie das wirklich erlebt oder bloß geträumt hatte. „Wer mag in den alten Gemäuern einst gewohnt haben?” fragte sie.
Die alte Frau und die Elfe tauschten einige vielsagende Blicke, doch keiner beantwortete Lisas Frage. Stattdessen sagte die Elfe: „Nun bist du ja hier und hast alles gut überstanden.”
Die alte Frau nickte, während sie vor der Kommode stand und mit Fläschchen und Dosen hantierte.
„Darf ich euch eine Frage stellen?” Lisa blickte, leicht errötend, auf ihre nackten Füße.
„Nur zu, mein Kind”, ermunterte sie die Frau und schaute Lisa fragend an.
„Als Jasmina hereinkam, sprach sie dich mit Mutter an. Aber ihr seht euch doch gar nicht ähnlich. Noch nicht einmal aus dem gleichen Geschlecht scheint ihr zu stammen.”
Lisas Augen wanderten von der Frau zur Elfe und wieder zurück.
Mit einem langen Seufzer setzte sich die alte Frau in ihren Lehnstuhl. „Es ist ein bitteres Los, Lisa, das ich erleiden muss. Jasmina war zum Glück außer Landes und entging so ihrem Schicksal, als mich die bösen Erdgnome überfielen. Hinterhältig wie sie sind, brachen sie Nachts in mein Schloss ein und überraschten mich im Schlaf.” Ihre Stimme versagte, als sie sich an den schrecklichen Vorfall erinnerte. Ihr Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Jasmina lief zu ihrer Mutter und schlang die Arme um sie.
„Bitte nicht weinen, Mutter. Jetzt ist ja Lisa da und alles wird bald wieder so sein, wie es früher war.”
Mit einem großen Taschentuch trocknete sich die Frau die Tränen von ihrem runzligen Gesicht. „Entschuldigt bitte”, schluchzte sie.
Lisa verstand nicht so recht was hier vor sich ging.
„Der Feenwald war mein Zuhause”, begann die Frau erneut. „Ich war einst die schönste Fee im Land und hielt meine schützende Hand über alle Lebewesen des Waldes. Täglich streiften wir im Wald umher. Kranke und verletzte Tiere brachten wir auf mein Schloss und pflegten sie gesund. Deshalb, und aus noch anderen Gründen, wurde ich von den Waldelfen zur Königin gewählt. Ach ja”, seufzte sie, „ich war so glücklich mit meinen Elfenkindern. Wir verbrachten viel Zeit mit tanzen und spielen.” Wehmütig, mit stockender Stimme berichtete sie was weiter geschah: „Statt mit uns in Frieden zu leben, neideten mir diese schrecklichen Erdgnome mein schönes Leben. Schon lange suchten sie nach einem Zauber, der mich und das Elfenvolk vernichten sollte. Töten konnten sie mich nicht, dazu reichte ihre Macht nicht aus, selbst nicht, als Hogla meinen Zauberstein stahl und den großen Magier Zottaka um Hilfe bat. Aber der Stein war in seiner Hand wertlos. Er gehorchte ihm nicht. Doch was nun geschah, war genau so schlimm für mich, denn er verwandelte mich in einen sterblichen Menschen. Oh, wie grässlich.”
Lisa war entsetzt.
„Verzeih’ mir Lisa, das war nicht persönlich gemeint. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was es für eine Fee bedeutet, ein Mensch zu sein. Stell’ dir vor, meine Schönheit wurde zu echtem ... Fleisch und was das Ärgste an der ganzen Sache war, mit der Zeit wurde ich immer älter und gebrechlicher. Welch eine Schmach.” In ihrem Gesicht spiegelten sich die Qualen wieder, die sie litt. Nach einer langen Pause fuhr sie müde fort: „Aber meine Zauberkraft blieb mir erhalten. Fortan jagte ich die Erdgnome, wo immer ich sie finden konnte. Viele von ihnen habe ich vernichtet. Eines Tages rüsteten sich die Erdgnome zum großen Kampf, den sie natürlich nicht gewinnen konnten, da ich diesmal auf sie vorbereitet war. Nur Hogla und einige seiner Kumpane konnten entkommen. Alle anderen habe ich getötet. Doch inzwischen bin ich schon zu alt und zu schwach geworden um zu kämpfen. Ich kann keine Gnome mehr jagen.” Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht und einen Moment lang schien sie jung und schön zu sein. „Zum Glück weiß Hogla nicht, wie hilflos ich inzwischen geworden bin. Seit dem großen Kampf, traut er sich nicht mehr heraus aus seinem Loch und so können wir wenigstens in Ruhe leben. Leider brachte mir das viele Kämpfen den Ruf einer bösen Hexe ein. Alle Tiere flüchteten aus den Feenwald. Ich hoffe immer noch, sie würden zurückkehren.”
„Ich glaube nicht, dass sie das tun werden”, sagte Lisa, die inzwischen überzeugt war, dass der Bär doch nicht geträumt hatte. „Sogar Tako, der mächtige Bär, der den Feenwald jede Nacht beobachtet, hat eine Heidenangst. Und wenn er sich schon fürchtet, was ist dann erst mit den viel schwächeren Tieren?”
„Aber du bist doch auch hergekommen, und du bist ein kleines Menschenkind.”
„Ich bin nur wegen meiner Schwester hier.”
Die alte Frau schaute Lisa lange nachdenklich an. „Lassen wir das. Ich will dir lieber erzählen, was weiter geschah. Als sterblicher Mensch litt ich an vielen Krankheiten. Mein Körper wurde zusehends schwächer. Meine letzte Krankheit war so schlimm, dass ich fast daran gestorben wäre. Keines der Kräuter, die im Feenwald wuchsen, konnte mir helfen. Jeder Zauber, den ich benutzte, schlug fehl. Ich wurde immer gebrechlicher und verlor sogar mein Augenlicht. Nun war ich blind und in meiner Hütte gefangen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es heißt, in dieser kleinen Hütte mein Leben zu fristen. Als alte, blinde, dem Tode geweihte Frau. Zum Glück kamen der Prinz und der Kobold hier vorbei. Sie schenkten mir jeweils die Sehkraft eines ihrer Augen.”
„Ich weiß, die Zauberblume hat mir davon erzählt.” Lisa richtete ihren Blick auf die bedauernswerte Frau. „Du warst also Schlehenfeuer, die schöne Feenkönigin?”
Die alte Frau seufzte laut. Ihr Rücken war vor Kummer gebeugt. Sie schluchzte: „Ja, das war ich und bin es auch heute noch, in gewisser Weise. Die weiße Feenkönigin, so nannte man mich einst, denn ich besaß das schönste Schloss im Feenwald. Ein Palast, erbaut aus weißem Marmor, mit vielen silbernen Türmchen bestückt und eingerichtet mit den wertvollsten Möbeln.” Nach langem Schweigen straffte sich ihr Körper wieder. „Es ist schon spät geworden. Ich bin müde und werde mich schlafen legen. Gute Nacht, meine Kinder.”
Schwerfällig erhob sie sich aus ihrem Lehnstuhl und begab sich schleppenden Schrittes hinter einen Vorhang. Leise unterhielten sich Lisa und Jasmina noch eine Zeitlang, bevor sie sich ebenfalls zur Ruhe begaben. Lisa machte es sich vor dem Kamin bequem. Obwohl das Häuschen armselig aussah, fühlte sich Lisa bei der alten Frau geborgen.
***
Um Mitternacht wurde Lisa wieder von einem seltsamen Geräusch geweckt. Der Raum, in dem sie erwachte, war erfüllt von einem gleißenden, hellen Licht. Geblendet setzte sie sich auf. Sie war doch gestern Abend im Haus der alten Frau vor dem Kamin eingeschlafen. Nun saß sie vor einem Kamin, der glitzerte wie Kristallglas. Ein lustiges Feuer knisterte darin und verbreitete eine angenehme Wärme. Lisa ließ ihren Blick durch den Raum wandern und schüttelte den Kopf. Sie befand sich in einem riesigen Prunksaal, der dem Thronsaal im Schloss Schönblick sehr ähnlich war. Doch war er bei Weitem größer und prächtiger. Zwischen dicken Marmorsäulen, auf einem Podest, stand ein goldener Thron, der mit einem hellblauen Baldachin überdacht war.
Eine Flügeltür öffnete sich. Eine große, wunderschöne Frau betrat den Raum. Ihre schlanke Figur war in einen weiten, hellblauen Umhang gehüllt. Lange, schwarze Haare fielen leicht und lockig über ihre schmalen Schultern. Auf ihrem Haupt saß ein schmaler Goldreif, in dessen Stirnseite ein großer tropfenförmiger Rubin funkelte. Sie legte den Umhang auf einen seidenbezogenen Schemel und setzte sich auf den Thron. Ihr langes, wallendes Gewand war schneeweiß und wurde an der Taille von einer goldenen, edelsteinbesetzten Spange zusammengerafft.
Eine ganze Schar Elfen folgte der Frau. Das Mondlicht, das durch die hohen Fenster schien, ließ die Gesichter der Elfen wie Kristall leuchten. Ihre zarten hellblauen Kleider schimmerten wie glänzende Seide. In ihren Händen hielten die zarten Wesen Flöten und Geigen. Sie setzten sich vor den Thron auf einen saphierblauen, golddurchwirkten Teppich und begannen zu spielen. Eine wundersame, zarte Melodie erfüllte den Saal. Ganz verzaubert lauschte Lisa dem Gesang der Elfen. Wie geschmolzenes Kristall, das auf eine silberne Schale tropfte, klangen ihre Stimmen. Lisas Herz war tief bewegt.
Die Frau hob ihre Hand und die Musik verstummte.
„Komm’ her mein Kind”, sagte sie mit einer feinen, melodischen Stimme.
Woher kannte Lisa diese Stimme? ‘Oh Gott, es ist die Stimme der alten Frau’, dachte sie erfreut. Lisa schüttelte den Kopf. Nein nein. Sicher träumte sie das bloß. Doch waren ihre Augen offen und wach. „Wo bin ich?” fragte sie neugierig.
„Setz’ dich zu mir, dann will ich dir alles erklären.”
Langsam erhob sich Lisa und lief etwas zögernd über den spiegelglatten, elfenbeinfarbigen Marmorboden auf den Thron zu. Sie erschrak, als sie in das freundlich lächelnde Gesicht der Frau schaute. Die Ähnlichkeit mit dem Bild ihrer Mutter, das zu Hause über dem Kamin hing, war verblüffend.
„Mutter?” flüsterte sie.
Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein”, sagte sie, „Ich bin Schlehenfeuer und deine Mutter war meine Schwester. Wolkenwind, so hiess sie, als sie noch eine Fee war. Als Mensch nannte sie sich Isella.”
„Isella war deine Schwester?” Lisa konnte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. „Aber meine Mutter war doch keine Fee, sondern ein Mensch.”
„Sie war früher, genau wie ich, eine Fee”, erklärte sie und zog Lisa neben sich auf den Thron. „Damals, als deine Mutter 300 Jahre alt wurde, das ist noch sehr jung für eine Fee, da wünschte sie sich zum Geburtstag eine Reise ins Reich der Menschen. Bei ihrer Rückkehr schwärmte sie von einem jungen, schönen, menschlichen Königssohn, den sie kennengelernt hatte. Es war dein Vater. Stell’ dir nur vor Lisa, sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt. Sie wusste aber genau, dass eine Fee das Menschenreich nur einmal betreten darf. Beim Zweiten Mal würde sich ihr Feendasein auflösen und dann wäre keine Rückkehr ins Elfenreich mehr möglich. Ich beschwor sie, ja ich flehte sie an, nicht ins Menschenreich zurückzugehen. Doch umsonst, die Liebe zu deinem Vater war größer, als alles andere. Alles Zureden half nicht. Sie verließ uns und heiratete deinen Vater. Dadurch wurde meine Schwester zu einem menschlichen Wesen. Sie dachte nun wie ein Mensch und war sterblich wie ein Mensch. Und sie wünschte sich nichts sehnlichster, als ein Kind von ihrem geliebten Mann. Das brachte ihr den Tod. Sie kannte ja die Gesetze unseres Geschlechts sehr gut. Eine zum Mensch gewordene Elfe darf keine Kinder haben. Sie ist nicht dazu geschaffen, Kinder zu gebären. Sie wusste, welchen Preis sie zahlen muss. So nahm das Schicksal seinen Lauf.”
Lisa war erschüttert. „Arme Mutter”, flüsterte sie unter Tränen. „Nur weil sie uns das Leben geschenkt hat, musste sie sterben. Ich war damals noch sehr klein als sie starb und habe sie nie richtig kennengelernt.”
Schlehenfeuer legte den Arm um Lisa. „Du siehst ihr sehr ähnlich.”
Lisa nickte. „Das sagt Vater auch immer. Weißt du, dass mein Vater furchtbar traurig ist. Er kann den Verlust meiner Mutter nicht überwinden. Er hat sie abgöttisch geliebt. Wie oft habe ich versucht ihn zu trösten. Doch vergebens. Er sitzt stundenlang in der Gruft, in der meine Mutter aufgebahrt ist und schaut auf den gläsernen Sarg. Er spricht sogar mit ihr, als hoffte er, sie dadurch wieder zum Leben zu erwecken.” Lisa weinte leise. Das Schicksal ihrer Mutter berührte sie zutiefst.
„Sei nicht traurig Lisa.” Schlehenfeuer drückte das schluchzende Kind fest an sich. „Es wird alles wieder gut.”
„Wie meinst du das?” fragte Lisa hoffnungsvoll.
„Es gibt eine Prophezeiung, die besagt: Wenn die drei Edelsteine zu einem Ganzen verschmolzen werden, wird der Fluch von uns genommen.”
Lisa kannte die Prophezeiung der weisen Männer. Nur wusste sie nicht, welche Steine die Weisen gemeint hatten. „Sind es die Steine, die Mutter mir und Julia geschenkt hat, bevor sie starb?” fragte Lisa.
Schlehenfeuer nickte. „Ursprünglich war es nur ein einziger Stein. Mein Vater ließ ihn in unserer Schmiede von den Zwergen in drei Stücke teilen. Er nannte sie den Stein des Windes, des Wassers und des Feuers. Meine Schwester Wolkenwind erhielt den weißen Stein des Windes, während ich den rosafarbigen Stein des Feuers erhielt. Als ich mit meinen Schwestern noch in unserem Schloss lebte, war die Zauberkraft der Steine ungebrochen. Erst als sich unsere Wege trennten, verloren sie ihre Einigkeit und konnten nicht mehr zusammen wirken. Hogla hatte das erfahren und sah darin die Chance, uns zu bezwingen. Diese Gelegenheit lies er sich nicht entgehen und sogleich überfiel er unser Land. Ich war zu schwach und konnte nicht ganz widerstehen.” Die Fee senkte traurig ihr Haupt und schwieg.
„Und wer besitzt den dritten Stein?” unterbrach Lisa das Schweigen.
„Meine Schwester Silbertau.”
„Die Nixe Silbertau ist deine Schwester?” fragte Lisa erstaunt.
„Sie ist keine Nixe. Sie ist eine Fee, genau wie ich und deine Mutter. Und sie besitzt den dritten Stein des Wassers.”
„Besaß”, fiel Lisa ihr ins Wort.
„Was willst du damit sagen?”, wollte Schlehenfeuer wissen.
„Hogla hat ihn gestohlen.”
„Das ist ja furchtbar.” Die Fee sank in sich zusammen. Doch dann straffte sie sich. „Ich bin überzeugt, dass sich die Prophezeiung erfüllen wird. Durch dich Prinzessin. Obwohl Eile geboten ist, denn mein Leben als sterblicher Mensch ist begrenzt. Trotzdem muss ich geduldig abwarten. Pass’ also gut auf deinen Stein auf, dass es dir nicht auch noch abhanden kommt.
Lisa griff nach dem Schmuckstein und umschloss ihn mit ihrer Hand. „Ich werde ihn hüten wie einen Schatz”, versprach sie.
Während sich die Feenkönigin von ihrem Thron erhob, sprangen die Elfen auf und legten ihr den Umhang um ihre Schultern.
„Komm mit Lisa”, forderte sie Schlehenfeuer auf und führte sie an der Hand in einen großen Raum. Hier stand eine riesige Tafel mit erlesenen Speisen. Eine Elfe füllte aus einem glänzenden Kristallkrug eine goldgelbe Flüssigkeit in zwei Silberbecher und reichte sie der Fee und Lisa. Das Getränk schmeckte süß wie Honig und duftete wie eine Blumenwiese.
„Das wird dir Kraft verleihen, um deine Aufgabe zu erfüllen”, erklärte Schlehenfeuer.
Im gleichen Moment hörte Lisa eine Glocke schlagen. Ihre Augen wurden schwer. Sie legte ihren Kopf auf den Tisch und schlief ein.
***
Ein neuer Tag brach an. Die Sonne ging gerade auf und schien Lisa direkt ins Gesicht, als sie aufwachte. Ganz vorsichtig öffnete sie die Augen. Enttäuscht stellte sie fest, dass sie sich wieder vor dem Kamin in der alten Hütte befand. Wahrscheinlich hatte sie das alles nur geträumt. Während sie sich rekelte, stieg ein angenehmer Duft in ihre Nase. Die alte Frau hatte schon das Frühstück gemacht. Der Tisch war mit einem blütenweißen Tischtuch und zierlichen Tassen gedeckt. In der Mitte stand eine Vase mit bunten Wiesenblumen. Pipo saß erwartungsvoll auf der Bank. Er war pudelmunter, doch Lisa gähnte laut. Es war eine kurze Nacht für sie gewesen.
„Guten Morgen Lisa”, begrüßte sie die alte Frau freundlich lächelnd. „Hast du gut geschlafen?”
„Nicht sonderlich”, erwiderte das Mädchen. „Ich hatte einen Traum, der mich tief beunruhigt.”
„Einen Traum?” fragte die Frau. „Möchtest du darüber reden?”
Etwas zögernd erzähle Lisa davon.
„Das war kein Traum, mein Kind, das hast du wirklich erlebt.”
„Dann bist du meine Tante?” rief Lisa aufgebracht.
Die alte Frau nickte. „Du hast es erraten, Kind.”
Lisa sprang auf und umarmte die Frau, indem sie immer wieder rief: „Meine Tante ist eine Feenkönigin, meine Tante ist eine Feenkönigin.” Außer sich vor Freude hüpfte sie in dem kleinen Zimmer herum.
„Und die zerfallene Ruine im Wald?”...
„Ist mein Schloss”, unterbrach sie Schlehenfeuer. „Wenn auch nur für eine Stunde um Mitternacht. Ich nahm dich heute Nacht, als du tief und fest schliefst, mit dorthin.”
Jasmina kam angeflogen. Als sie das aufgeregte Mädchen sah, fragte sie ihre Mutter: „Weiß sie es schon?” Als die Mutter nickte, nahm Jasmina Lisa in die Arme und küsste sie zart auf die Stirn. „Meine kleine Menschencousine.”
Lisa war glücklich. Mit einer Feenkönigin und eine Elfe verwandt zu sein, das konnte sie immer noch nicht richtig begreifen.
Sie schlüpfte in ihre Kleider, die inzwischen trocken waren und lief aus dem Haus, um sich am Brunnen frisch zu machen. Ein großer Rabe saß auf dem Gartenzaun und schrie mit krächzender Stimme: „Kra, Kra.”
Auf einer Tanne, in der Nähe des Hauses, saß eine ganze Schar Vögel. Sie begrüßten, mit ihrem lieblichen Gesang, den neuen Tag. Lisa riss die Tür auf und schrie: „Kommt schnell, die Vögel sind zurückgekehrt.”
Die alte Frau und ihre Tochter kamen aus der Hütte gestürzt.
„Das ist ein gutes Zeichen.” Freudestrahlend umarmte Jasmina ihre Mutter. „Ich glaube, nun wird bald alles wieder gut.”
Ihre Mutter war nicht ganz so zuversichtlich. „Hoffentlich”, seufzte sie. „Lisa hat noch eine schwere Aufgabe zu erfüllen. Und vergiss nicht unsere Feinde. Sie werden mit allen Mitteln versuchen, Lisa daran zu hindern, zum Eisschloss zu gelangen. Es steht sehr viel auf dem Spiel. Wenn es Lisa nicht gelingt...”, sie fuhr sich mit der welken Hand über die runzlige Stirn. „Dann werde ich sehr bald sterben und unser Elfenreich ist für immer verloren.”
Lisa war bestürzt. Sollte alles nur von ihr abhängen? Sie nahm die Hand ihrer Tante und rief: „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, dir zu helfen.”
Pipo saß neben Mirko vor dem Haus auf der Bank. Er stellte sich auf die Hinterpfoten und blähte seine Brust auf. „Und ich werde ihr tatkräftig zur Seite stehen.”
Die alte Frau lächelte gequält. „Du hast einen treuen Kamerad, Lisa.”
„Ja, Pipo hat mir schon mehrmals in brenzligen Situationen geholfen. Er ist wirklich unentbehrlich für mich.”
„Ich mache mir trotzdem große Sorgen, wenn du durch das Reich der Erdgnome musst. Sie haben schon so viel Schaden angerichtet. Schau mich an, was sie aus mir gemacht haben.” Betroffen senkte sie den Kopf. „Ich hätte dir so gerne Jasmina mitgeschickt”, sagte sie nach einer Weile. „Aber das geht leider zur Zeit nicht. Ich werde von Tag zu Tag gebrechlicher. Deshalb benötige ich dringend einige Kräuter, die mir wieder etwas Kraft verleihen. Sie wachsen nur im Sumpf der Träume.”
„Im Sumpf der Träume?”, fragte Lisa. „Wenn es auf meinem Weg liegt, könnte ich Jasmina begleiten.”
„Nein Lisa, das ist unmöglich. Es ist schon schwer für eine Elfe dorthin zu gelangen. Für ein Menschenkind ist dieser Ort unerreichbar. Es würde unweigerlich versinken. Wenn Jasmina keine Flügel hätte, gäbe es auch für sie keine Möglichkeit in dieses Land zu kommen.”
Lisa nickte und fasste nach der Hand der alten Frau. „Wenn das so ist, will ich nicht länger verweilen.”
„Warte bitte noch einen Moment, Lisa. Ein kleines Stück führt mein Weg in deine Richtung. Doch muss ich vorher noch meine Geschwister begießen.” Jasmina lief leichtfüßig zu einem kleinen Schuppen und holte eine Gießkanne.
„Geschwister?” fragte Lisa neugierig. „Leben noch mehr Elfen hier?”
„Hast du nicht die kleinen Silberbäumchen gesehen? Es sind die verzauberten Elfen, die du gestern Nacht in meinem Schloss gesehen hast. Auch sie dürfen, für eine Stunde um Mitternacht zurück in ihre Elfengestalt. Doch bleiben sie nur so lange am Leben, bis der abgestorbene Baum zerfällt, dann müssen auch sie sterben. Darum haben wir schon so sehnsüchtig auf dich gewartet, damit endlich der Fluch, der über unserem Land liegt, gebrochen wird.”
Lisa beobachtete von Weitem, wie Jasmina vom Bach Wasser in eine Kanne füllte und damit die Bäumchen mit dem Silberhaar begoss.
„Jasmina kümmert sich liebevoll um ihre Geschwister”, seufzte die alte Frau.
Als die Elfe mit ihrer Arbeit fertig war schwebte sie zurück zum Haus.
Zum Abschied überreichte die alte Frau Lisa einen Beutel mit Brot Äpfel und Nüssen. Dann legte sie ihre Hand auf Lisas Kopf. „Ich wünsche dir viel Glück. Geh’ beharrlich deinen Weg und lass’ dich von Niemandem aufhalten.”
Lisa nickte und versprach sehr vorsichtig zu sein.
Die Elfe umarmte ihre Mutter. „Mach’ dir keine Sorgen, wir werden schon aufpassen.”
Die beiden wandten sich zum Gehen, als Pipo hinter ihnen her rief: „Wartet doch bitte auf mich.”
Lisa drehte sich um. Pipo stand neben Mirko und schmuste mit dem Kater, der ziemlich verlegen den Kopf senkte. „Ich muss mich doch noch von meinem lieben Freund verabschieden.” Er stellte sich auf seine Hinterbeine und schmatzte einen dicken Kuss auf Mirkos Lippen. Der Kater verdrehte schamhaft seine Augen. „Leb’ wohl, großer Freund”, säuselte Pipo theatralisch und eilte von dannen. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Er winkte mit der Pfote und warf dem verdatterten Kater eine Kusshand zu.
Immer musste er übertreiben, der kleine Angeber. Lisa konnte sich nur schwer das Lachen verkneifen.
Als sie an den Silberbäumchen vorbei kamen, flüsterte Lisa. „Macht euch keine Sorgen meine lieben Cousinen. Es wird alles wieder gut, das verspreche ich.” Ein zartes Wispern war die Antwort.
Jasmina schwebte wie eine Feder neben Lisa, die große Mühe hatte mit der leichtfüßigen Elfe Schritt zu halten. So ging es durch den Wald.
***
An einer Wegkreuzung, am Ende des Waldes, blieb Jasmina stehen. „Unsere Wege trennen sich hier. Du musst in diese Richtung.” Sie zeigte auf einen Pfad, der über einen Grashügel führte. „Wenn alles gut geht, treffen wir uns vor dem Schloss des Eisprinzen. Ich werde eilen und versuchen, rechtzeitig da zu sein. Auf Wiedersehen, kleine Menschencousine.”
Die beiden Cousinen umarmten sich. Es war ein seltsames Gefühl, eine Elfe anzufassen. Sie schien nichts zu wiegen. Obwohl sie nicht aus Fleisch war, fühlte sie sich trotzdem angenehm warm an. Die Berührung war sehr wohltuend für Lisa und Jasmina fragte sich schon, ob sie sie jemals wieder loslassen würde. Schließlich lösten sie sich doch voneinander. Wie ein Hauch schwebte die Elfe davon. Lisa sah ihr nach, wie sie langsam vom Morgennebel verschluckt wurde.
Pipo stand mit offenem Maul da und starrte in den Himmel. „Fliegen wie eine Elfe, oder wenigstens wie ein Vogel, das wäre auch mein Traum.”
Lisa lächelte über so hochtrabende Wünsche. „Das wird auch ein Traum bleiben, fürchte ich. Du bist weder eine Elfe, noch ein Vogel. Und daran wird sich kaum etwas ändern.”
„Ja leider”, seufzte er und verdrehte schwärmerisch seine Knopfaugen. „Findest du nicht auch Lisa, dass Jasmina eine wunderschöne Elfe ist? In sie könnte ich mich glatt verlieben.”
„Du bist mir ja ein Schwerenöter”, lachte Lisa. „Ich dachte immer, du liebst mich?”
Der Mäuserich schaute Lisa lange an. Dann kraxelte er auf ihre Schulter und drückte einen dicken Kuss auf ihre Wange. „Dich Prinzessin, liebe ich natürlich noch viel mehr.”
„Dann bin ich aber beruhigt, du kleiner Casanova.”
„Casanova?” fragte er. „Ist das etwas Gutes oder etwas Schlechtes?”
„Wie man es nimmt, Pipo. Als gelehrte Maus müsstest du eigentlich wissen, was ein Casanova ist.”
Als Pipo den Kopf schüttelte, erklärte ihm Lisa: „Das ist jemand, der viele Frauen liebt.”
„Ach so und du meinst, das trifft auf mich zu?”
„Ich glaube schon.”
Pipo machte ein zufriedenes Gesicht. Der Gedanke, ein Casanova zu sein, schien ihm zu gefallen.
Sie liefen weiter den Pfad entlang, der in vielen Windungen über ein weites Grasland führte. Es ging stetig bergan, dann wieder bergab. Von den Anhöhen konnte man, schon deutlic, die mächtige, schwarze Bergkette sehen, die sich düster und drohend vom Himmel abhob. Ihr Ziel. Der gewundene Pfad endete am Rand eines weiteren Waldes. Lisa spähte durch die Bäume und zögerte.
„Na komm schon Prinzessin, da müssen wir noch durch.”
Undurchdringliches Dickicht überwucherte den Waldboden. Die mächtigen Bäume, die kaum Licht durchließen, standen dicht zusammengedrängt. Es war sehr still hier, nur das leichte Säuseln des Windes in den Blättern war zu hören und ab und zu ein paar zarte Vogelstimmen. Schon die ersten Schritte waren beschwerlich. Das dichte, dornige Gebüsch zerkratzte Lisa die Arme. Umgestürzte Bäume, sowie das stachelige Gestrüpp machten ihr große Mühe vorwärts zu kommen. Immer wieder blieb sie an den Dornen hängen, die Löcher in ihren Mantel rissen. Es roch nach faulem Holz und vermodertem Laub.
„Meinst du, dass wir hier jemals wieder herausfinden, Pipo?”
Der Mäuserich saß auf ihrer Schulter und wackelte bedenklich mit seinem Kopf: „Schwierig, schwierig”, meinte er.
Als Lisa sich kriechend unter einem Busch ihren Weg bahnte, wäre er fast herunter gepurzelt. Er konnte sich gerade noch an ihren Haaren festkrallen.
„Es ist besser, du verschwindest in deinem Versteck, sonst verliere ich dich noch.”
Das tat Pipo sofort. Mit einem Satz saß er in der Manteltasche und beobachtete nun alles von dort.
Nach einiger Zeit wich das Dickicht zurück und Lisa kam etwas besser voran.
Ein seltsames Rauschen strich durch das dichte Blätterdach der Baumriesen. Es hörte sich wie Stimmen an, die sich irgendwelche Geheimnisse zuflüsterten. Was für ein unheimlicher Ort. Die Baumkronen neigten sich. Sie schienen Augen zu haben, die das Mädchen misstrauisch beobachteten. Ängstlich um sich blickend, stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel hin. Völlig außer Atem ließ sie sich unter einem Baum auf dem bemoosten Waldboden nieder und schloss die Augen. Nur ein bisschen ausruhen wollte sie, doch bald schlief sie vor Erschöpfung tief und fest.
***
Jemand zupfte sie am Ärmel. Erschreckt öffnete Lisa ihre Augen. Ein altes, freundlich lächelndes Weiblein stand vor ihr. Sie sah wie eine Kräuterfrau aus, denn auf dem Rücken trug sie einen großen Korb, aus dem allerlei Gewächse und Wurzeln ragten. Ihr verschlissener Rock hatte so viele Flicken, dass der ursprüngliche Stoff kaum mehr zu erkennen war. Ihr buntes Kopftuch war löchrig und verschmutzt, genau wie ihre schwarzen, ausgelatschten Schuhe, die nur dürftig mit ausgefransten Schnürsenkeln zusammengehalten wurden.
„Kannst du mir nicht dein Mäntelchen schenken, liebes Kind? Mein Kleid ist zerrissen und ich friere so schrecklich.”
„Meinen Mantel kann ich dir nicht geben. Ich muss zum Eisprinzen, und dort ist es bitterkalt, aber dein Kleid kann ich wieder flicken.” Lisa holte das Kästchen mit der Zaubernadel aus ihrer Manteltasche, und öffnete den Deckel. „Nadel geschwind, näh’ wie der Wind, das Kleid der alten Frau.” Die goldene Nadel flitzte in Windeseile durch das zerflickte Kleid, und schon bald sah das Gewand neu und edel aus. Die Nadel sprang zurück in das Kästchen.
Lisa hatte den stechenden Blick der Frau beobachtet, die gierig auf die Nadel starrte. Schnell steckte sie das Kästchen weg. Zu spät merkte sie, dass es ein großer Fehler von ihr war, der Frau die Nadel zu zeigen.
Der zahnlose Mund der Frau grinste breit. Doch hatte Lisa das Gefühl, dass sich hinter ihrem freundlichen Gesicht trügerische Absichten verbargen.
„Kannst du mir noch einen kleinen Gefallen tun?” Sie sprach gleich weiter, ohne Lisas Antwort abzuwarten. „Ich habe mein Hündchen verloren, mein liebes, kleines Hündchen. Hilfst du mir, es zu suchen?”
„Aber gern”, erwiderte Lisa. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte ihrer Tante: ‘Lass’ dich von niemandem aufhalten.’ Deshalb sagte sie schnell: „Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Ich hab’ es sehr eilig.”
Das freundliche Gesicht des alten Weibleins verzog sich zu einer hässlichen Fratze. Ihre dunklen Augen funkelten böse. „Du ungezogenes Kind”, keifte sie. „Wie kannst du es wagen.”
Sie sprach nicht weiter. Ihr Arm zuckte vor, als wollte sie das Mädchen schlagen.
Lisa wich einen Schritt zurück. Aus dem Korb der Frau tauchte plötzlich ein riesiger, abscheulicher Hundekopf auf. Seine feurigen Augen sprühten Funken. Aus seinem aufgerissenen Maul ragten spitze, gelbe Zähne.
Zu Tode erschreckt, wollte Lisa davonlaufen, aber die alte Frau griff blitzschnell nach ihrem Arm und hielt sie fest. Ihre dürre Hand schnellte vor und riss Lisa die Kette vom Hals.
Bestürzt sah das Mädchen, wie die Frau immer kleiner wurde und bis zur Größe einer Maus zusammenschrumpfte. Sie schrie und zeterte immer noch: „Die Kette kannst du dir bei König Hogla abholen.” Ein hämisches Lachen gellte in Lisas Ohren. Doch wurde ihre Stimme immer leiser. Schließlich verschwand sie mit ihrem grässlichen Hund, die geballte Faust drohend auf Lisa gerichtet, in einem Mauseloch.
Lisa erwachte aus ihrer Starre und suchte nach einem Stock. Wie eine Wilde stocherte sie in dem Loch herum. Ihre wertvolle Kette war wohl für immer verloren. Mutlosigkeit überfiel sie und tiefe Trauer über diesen großen Verlust.
Pipo, der alles mit angesehen hatte, schrie: „Warte Lisa, ich werde sie verfolgen.” Ehe sich Lisa versah, sprang er auf den Boden und kroch in die kleine Öffnung.
***
Eine Ewigkeit verstrich und Pipo kam und kam nicht wieder zurück. Lisa machte sich große Sorgen. Wo blieb er nur so lange? Sie legte sich auf den Bauch und schrie verzweifelt nach dem Mäuserich. „Pipo komm’ zurück, bitte.”
Bittere Tränen liefen über ihre Wangen. Der Verlust der Kette war schon schlimm genug. Aber jetzt auch noch Pipo zu verlieren, das war einfach zu viel für sie. Schluchzend saß sie am Boden und rief immer wieder seinen Namen in das Mauseloch, bis sie ganz heiser war.
Endlich, nach einer Ewigkeit, schaute Pipos Schnauze aus dem Loch. Mühsam schob er seinen kraftlosen Körper nach und blieb reglos liegen. Er war völlig abgekämpft. „Das wäre beinahe schiefgelaufen”, flüsterte er und streckte alle Viere von sich.
Lisa hob ihn auf und drückte den kleinen, leblosen Kerl an ihr Herz. „Bitte nicht sterben, kleines Mäuschen”, weinte sie und strich über Pipos verschmutztes Fell.
„Aber nein, nicht doch Prinzessin, ich sterbe nicht, noch lange nicht.” Er verzog sein Schnäuzchen zu einem Lächeln und zwinkerte dem Mädchen mit einem Auge zu. „Lass mich nur ein wenig ausruhen, dann bin ich wieder fit.” Er seufzte tief und schmiegte sich an Lisas Brust. Sofort schlief er ein. Lisa traute kaum sich zu bewegen, weil sie befürchtete ihn zu wecken. Steif wie ein Stock saß sie an einen Baum gelehnt und wartete.
Als sich Pipo wieder regte, schaute Lisa in das dichte Blätterdach, das lückenlos den ganzen Wald überspannte. Wie spät mag es wohl sein? Hier herrschte immer Dämmerung, weil kein Sonnenstrahl durch die dichten Baumkronen dringen konnte.
Laut gähnend reckte Pipo seine Vorderpfoten in die Luft. „Das tat gut”, sagte er und sprang auf Lisas Hand. „Es tut mir so leid, aber die alte Frau war wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt dort unten unzählige Gänge. Ich habe alle abgesucht, leider ohne Erfolg. Beinahe hätte ich mich verirrt. Wenn du nicht gerufen hättest, ich weiß nicht, ob ich da je wieder herausgefunden hätte. Naja, vielleicht am anderen Ende der Welt. Komm’ her meine Retterin, dass ich dich küssen kann.” Er war schon wieder der alte Sprücheklopfer. Pipo hielt sich mit einer Kralle an Lisas Ohr fest und drückte ihr einen langen, feuchten Kuss auf die Wange. „Ich liebe dich Prinzessin.”
„Ich dich auch, mein kleiner Freund.” Lisa suchte nach einem Tannenzapfen. „Ich werde das Loch verstopfen”, meinte sie nach einer Weile. „Damit diese grässliche, alte Hexe kein Unheil mehr anrichten kann.”
Pipo schleppte einen zweiten Zapfen heran. „Doppelt hält besser”, meinte er zuversichtlich.
Dann kratzte Lisa mit ihren Händen Erde zusammen und warf sie über das Loch. Dann wälzte sie noch einen Stein darauf.
„Komm’ Pipo wir müssen weiter, wir haben schon so viel Zeit vertan.”
„Durch meine Schuld”, erwiderte der Mäuserich zerknirscht.
„Nein, nein, Pipo, du wolltest mir doch nur helfen. Leider weiß ich nicht, wie es ohne meine Kette weitergehen soll.” Verzweifelt über den Verlust, setzten sie traurig ihren Weg durch den finsteren Wald fort.
Pipo überlegte wie er Lisa etwas aufheitern konnte. Sollte er wieder ein paar dumme Sprüche loslassen? Nein, er würde ihr erst einmal etwas vorpfeifen. Ja, Mäuse können das prima. Er spitzte sein Schnäuzchen und pfiff wie ein Vogel. Zu guter Letzt sang er noch ein Wanderlied, das er einst von seinem verstorbenen Großvater gelernt hatte.
„Die Welt ist schön, die Welt ist rund,
Ich bin ein kleiner Vagabund.
Ich wandere froh durch die Natur,
durch Busch und Heide, Wald und Flur.
Holladiri, holladiro, juchu.”
„Na, wie war ich?” Er legte seinen Kopf auf die Seite. „War ich gut?”
„Ganz große Klasse Pipo, ich habe noch nie eine Maus so schön singen und jodeln gehört.”
Er hob seine Brust und ließ gleich noch einen Jodler los, dabei hüpfte er übermütig von einem Bein auf das andere.
Lisa klatschte Beifall. „Wirklich toll, Pipo. Ich hätte dir ja gerne noch länger zugeschaut, aber die Zeit drängt.”
Pipo nickte. „Ich weiß, Prinzessin.”
***
Seit Stunden stapften sie schweigend durch das dichte Unterholz. Lisa hatte Mühe sich auf den Beinen zu halten. Mit gekrümmten Rücken, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern, schleppte sich das Mädchen dahin. Immer wieder strauchelte sie. Mit jedem Schritt wurden ihre Füße schwerer.
Pipo schaute sie besorgt an, als sie wieder stolperte.
„Nun ist es aber genug”, schrie er Lisa an. „Wir sollten unverzüglich eine Pause machen.”
Lisa zuckte zusammen und schaute den Mäuserich tadelnd an. „Warum schreist du denn so”, fragte sie matt.
„Ich habe versprochen auf dich aufzupassen und nun möchte ich, dass wir uns ein Weilchen ausruhen.” Er hielt nach einem geeigneten Platz Ausschau. Der Wald hatte sich etwas gelichtet. Die Bäume traten weiter auseinander. Nun konnte das Sonnenlicht ungehindert bis auf den Waldboden herab strahlen. Da, zwischen den Baumstämmen, schimmerte eine Lichtung.
„Komm’ Prinzessin.” Sie liefen noch bis zum Rand des Waldes und blickten auf eine grasbewachsene, weite Ebene.
„Gut Pipo”, seufzte Lisa. „Hier können wir etwas rasten.”
„Und ich werde Wache schieben”, versprach der Mäuserich. „Du kannst unbesorgt schlafen.”
„Und du bist nicht müde?” warf Lisa ein.
„Ich hab’ doch fast den ganzen Tag geschlafen. Jetzt bist du an der Reihe”, meinte er großmütig.
Im Schatten einer mächtigen, alten Eiche setzte sich das Mädchen ins weiche Moos. Sie merkte erst jetzt, wie sehr ihre Füße schmerzten. Müde schloss sie die Augen. Sofort fiel sie in einen tiefen Schlaf. Ein seltsamer Traum beunruhigte sie. Ein fremdes Gesicht beugte sich über sie. Es war das Gesicht eines jungen Mannes.
Als sie erwachte, schmerzte ihr Rücken, als hätte sie auf Tannenzapfen geschlafen. Außerdem hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Ängstlich blickte sie sich um, aber da war niemand. Merkwürdig, schon im Wald dachte sie, verfolgt zu werden. Einmal hatte sie sogar flüsternde Stimmen vernommen. Doch war sie sich nicht sicher, ob es vielleicht doch nur das Säuseln im Laub der Bäume gewesen ist. Wie lange hatte sie überhaupt geschlafen? Sie erinnerte sich, als sie einschlief ging gerade die Sonne unter. Das war merkwürdig, denn nun war es schon heller Tag. Sie wird doch nicht die ganze Nacht und den halben Vormittag verschlafen haben? Hastig sprang sie hoch.
Pipo war nicht da. Wo war der Schlingel jetzt schon wieder? Lisa fröstelte. Vom Norden wehte ein kühler Wind und wirbelte das Herbstlaub wie Federn durch die Luft.
Sie legte die Hand über die Augen und suchte die Gegend ab. „Pipo”, rief sie. Nichts rührte sich. Sie formte die Hände zu einem Trichter und schrie noch einmal: „Piiipooo.”
Echos wiederholten seinen Namen einige Male. Sonst rührte sich nichts. Lisas Herz klopfte ängstlich. Unruhig lief sie am Waldrand auf und ab. Es wird ihm doch hoffentlich nichts zugestoßen sein? Sie rief ein drittes Mal. Diesmal holte sie zuerst tief Luft, bevor sie, so laut sie konnte, seinen Namen in den Wald schrie. Das Echo vervielfältigte sich, wurde schwächer, und erstarb in den Tiefen des Waldes.
Im Gras raschelte es. „Warum plärrst du denn so?” fragte Pipo unwillig. „Mit deinem Geschrei weckst du ja die ganze Gegend auf.”
„Du bist mir ja ein schöner Beschützer”, entgegnete Lisa, glücklich den kleinen Kerl wiederzusehen. „Wo warst du denn?”
„Ich habe doch nur ein wenig die Gegend ausgekundschaftet.”
"Und hast du etwas Außergewöhnliches entdeckt?"
"Nein. Alles paletti."
Lisa deutete auf die Sonne. „Hab’ ich wirklich so lange geschlafen? Es muss fast Mittag sein.”
Pipo nickte nur.
„Warum hast du mich nicht geweckt?”
„Du hast geschlafen wie ein Stein. Wenn Steine überhaupt schlafen können”, lächelte er. „Ich wollte dich nicht stören.”
„Dann wird es aber höchste Zeit aufzubrechen.”
Pipo war vom Umherstreifen doch ziemlich geschafft. "Wenn du nichts dagegen hast Lisa, mach ich noch ein kleines Nickerchen."
Lisa streichelte über sein kleines Köpfchen. "Tu das, mein kleiner Freund."
Als sie sich von dem schützenden Wald entfernen wollte, stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel der Länge nach auf den Bauch. Hastig wollte sie aufstehen da merkte sie, dass sich eine Wurzel des Baumes, wie ein Fangarm um ihr Fußgelenk geschlungen hatte und sie festhielt.
„Pipo, Pipo”, schrie sie und versuchte ihren Fuß zu befreien.
Der Baum, zu dem die Wurzel gehörte, schüttelte sein Blätterdach und lachte höhnisch. „Schrei nur, der Wurm kann dir auch nicht helfen.”
Pipo schaute aus der Manteltasche. „Was ist passiert?” fragte er verschlafen.
Lisa deutete auf ihren Fuß.
Der Mäuserich sprang auf den Boden und ballte zornig seine Kralle. „Was fällt dir ein”, schimpfte er den Baum aus. „Lass sofort die Prinzessin los, du Ungetüm. Schämst du dich nicht, ein hilfloses, kleines Mädchen zu belästigen?”
Der Baum lachte laut und dröhnend. Ein ganzer Blätterregen fiel von den Ästen herab.
„Das finde ich überhaupt nicht lustig, du, du... .” Pipo fand nicht die richtigen Schimpfworte. „Wenn du Lisa nicht sofort freilässt, beiße ich dir die Wurzel ab”, drohte er und fletschte seine spitzen Zähne.
„Probier es doch”, spöttelte der Baum.
Wütend biss Pipo an der Wurzel herum, aber die war so hart wie Eisen. Keinen Millimeter konnte er abnagen.
„Ich schaffe das nicht, eher beiße ich mir die Zähne aus”, jammerte er.
Aus dem Wald hörte Lisa trabende Geräusche, die rasch näherkamen. Es klang wie eine ganze Herde wilder Pferde. Kurz darauf kam eine Gruppe Reiter auf sie zu galoppiert.
„Hü, ho”, schrien die Männer.
Die großen, grauen Rösser bäumten sich auf und blieben direkt vor Lisa stehen. Unruhig umringten sie das Mädchen, während sie aus ihren aufgeblähten Nüstern Dampf ausstießen. Düster aussehende Männer saßen hochgewachsen und schlank in ihren Sätteln. Schwungvoll ließen sie sich von den Pferden gleiten. Ihre schwarzen Mäntel reichten bis zum Boden. Die hohen Lederstiefel wurden mit dicken Schnüren zusammengehalten. Auf ihren Köpfen trugen sie schwarze Hüte, die sie sich so tief in die Stirn gezogen hatten, dass ihre Gesichter kaum zu erkennen waren. Bis auf einen Mann waren alle gleich gekleidet. Er schien auch jünger zu sein, als seine Begleiter. Sein hellblauer Umhang hing ihm lässig über der Schulter. Auch sein Pferd war nicht grau, sondern schneeweiß, mit einer langen silbernen Mähne. Und er trug keinen Hut. Seine halblangen, blonden Haare waren zum Teil unter einer Kapuze versteckt. Stolz und edel sah er eher wie ein Elbenkönig aus. Er redete leise auf die anderen Männer ein, die zustimmend nickten. Als der blonde Mann auf Lisa zukam, bemerkte sie ein langes, silberglänzendes Schwert, das unter seinem Umhang an einem Gurt baumelte.
Lisas Gesicht war blass vor Entsetzen. Mit großen, erstaunten Augen starrte sie die fremden Reiter an. Wer waren die Männer, die ihr so eine bange Furcht einjagten?
Der junge Mann blickte zum Baum hoch. Zu Lisas Erstaunen sagte er: „Du kannst jetzt loslassen. Ich kümmere mich um sie.”
Die Wurzel löste sich von Lisas Fuß und kroch in den Boden. Endlich konnte sie wieder aufstehen.
„Du kommst mit uns”, befahl der Mann. Er fasste das widerstrebende Mädchen am Arm und zog sie zu den Pferden.
Pipo schoß es ihr durch den Kopf. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Mäuserich ihr gefolgt war. Er rangelte sich an ihrem Mantel hoch und verschwand in seinem Versteck und murmelte nur seufzend: „Vetrau ihm!. Er ist ein guter Mensch." Laut gähnend legte er sich zum schlafen hin.
Währenddessen protestierte Lisa lauthals „Lass’ mich sofort los. Ich werde nirgendwo hingehen, schon gar nicht mit fremden Männern." Sie versuchte sich zu befreien, leider vergebens.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. Er hob Lisa einfach hoch und setzte sie vor sich auf sein Pferd. Die anderen Männer schwangen sich ebenfalls auf ihre Rösser und rammten den Tieren die Sporen ihrer schweren Stiefel in die Flanken. Die Pferde bäumten sich mit lautem Wiehern auf und in wildem Galopp preschte die Gruppe davon. Die Reiter rasten die nächste Anhöhe hinauf. Oben hoben sich die Tiere in die Lüfte. Ihre Hufe hoben sich vom Boden ab und doch hörte Lisa weiterhin ihren Hufschlag. Wie auf einem unsichtbaren Weg ging es immer höher hinauf. Sie überflogen erst Hügel und schliesslich ein steilaufragendes Gebirge. Lisa blieb fast der Atem weg vor Schreck. Von fliegenden Pferden hatte sie noch nie gehört. Die kamen höchstens in ihren Märchenbüchern vor.
„Was willst du von mir?” schrie sie den jungen Mann an, der hinter ihr saß und sie mit seinen starken Armen fest umklammerte. Doch sie erhielt keine Antwort und so schwieg auch sie. Tränen liefen über die Wangen. Sie musste nach Norden, aber die Reiter bewegten sich immer weiter nach Westen.
***
Lisa blickte in die Tiefe. Sie hatten das Gebige hinter sich gelassen und überquerten ein Hochplateau. Was für ein seltsames Land war das? Grau und öde, wie ein verbrannter Planet, lag es unter ihr. Die Pferde verloren langsam an Höhe und landeten sanft auf der Erde. Fast lautlos trabten sie über den staubigen Boden. Das ganze Land war düster und bedrückend. Lisa konnte keinen einzigen Baum, nicht einmal einen Grashalm entdecken. Soweit das Auge blickte, nur vereinzelte, kahle, graue Hügel. Von Weitem konnte Lisa die Umrisse einer Burg erkennen, die grau und finster, auf so einem Aschenhügel stand.
Die Pferde trabten auf die bedrohlich wirkende Burg zu. Drei dicke, nach oben versetzte Ringmauern umgaben schützend das Gebäude. Jede Mauer war mit Zinnen versehen, auf denen schwer bewaffnete Wächter standen. Sicher waren die mächtigen Mauern uneinnehmbar. Rechts neben der Burg lag ein ebenes Stück Land, übersät mit unzähligen Steinplatten. Lisa erkannte eingravierte Namen. War es ein Friedhof? Viele Steine waren bereits so weit verwittert, dass man die Schrift nur erahnen konnte. Andere hatten sich zur Seite geneigt oder waren gar umgestürzt und zerbrochen. Was für Menschen lagen hier wohl begraben? Waren es tapfere Helden, die im Krieg gefallen waren? Oder wurden sie von einer schlimmen Krankheit dahin gerafft? Lagen auch Frauen und Kinder hier? Lisa erschauerte. Friedhöfe machten sie immer so traurig. Inmitten ihrer düsteren Gedanken, sah sie, dass die Reiter ein eisernes Tor in der äußeren Burgmauer erreicht hatten. Einer der Männer klopfte an einem großen Eisenring, der inmitten der Tür hing. Lisa sah oberhalb des Tores seltsame Buchstaben eingeritzt. Eine Schrift, die ihr fremd war.
„Wer begehrt Einlass?” drang eine tiefe Stimme nach draußen.
„Mach auf. Marco und seine Mannen sind zurückgekehrt.”
Ein Gesicht erschien in einer Luke. Kurze Zeit später wurde das Tor hochgezogen.
Die Pferde trabten in einen, mit schwarzen Steinen gepflasterten, Innenhof. Ihre eisenbeschlagenen Hufe klapperten ohrenbetäubend auf dem harten Stein. Während die Männer von ihren Pferden sprangen, half Marco Lisa abzusteigen.
Etliche Stallknechte kamen angerannt, nahmen die Tiere an den Zügeln und führten sie in ein Nebengebäude.
„Komm’ Lisa”, sagte Marco mit sanfter Stimme.”
„Woher kennst du meinen Namen?” fragte Lisa erstaunt.
Statt einer Antwort nahm er ihren Arm und führte sie über eine breite Treppe bis zur nächsten Mauer. Am Tor musste er sich wieder zu erkennen geben, bevor er eingelassen wurde. Das gleiche geschah am letzten Tor.
Lisa schüttelte unmerklich den Kopf über die strengen Sicherheitsmaßnahmen. Wer sollte schon Interesse an diesem alten Gemäuer und dem verbrannten Land haben? Wer möchte hier schon freiwillig wohnen, ja noch nicht einmal begraben sein.
Durch das Haupttor der Burg betraten sie eine riesige Halle. In großen Gefäßen brannten mehrere Feuer. Es war hier nicht nur ungemütlich, sondern unheimlich. Es gab weder Teppiche noch Bilder. An den kahlen Wänden entdeckte Lisa nur einige Schriftzeichen, ähnlich wie die an den Toren der Außenmauern.
Lisa stieß Marcos Hand weg, mit der er sie immer noch festhielt. „Was soll das Ganze? Erkläre mir bitte, warum du mich entführt hast! Ich verlange, dass du mich unverzüglich wieder zurückbringst.” Lisa schaute zornig auf ihr Gegenüber. Es war das erste Mal, dass sie ihm ins Gesicht schaute. Erstaunt stellte sie fest, dass er ein sehr schöner, junger Mann war. Seine ebenmäßigen Züge und die strahlend blauen Augen wirkten freundlich. So konnte kein Räuber aussehen.
„Komm’ bitte mit. Ich möchte dich meinen Vater, als meine zukünftige Frau vorstellen”, lächelte Marco.
„Was soll denn das schon wieder bedeuten?” Lisa war entsetzt.
„Nun, das ist doch ganz einfach. Wir werden in Kürze heiraten.”
„Nein, niemals. Ich muss zu meiner Schwester.”
„Ich weiß von deinem Vorhaben, Lisa. Aber das muss noch etwas warten”, entgegnete Marco geduldig.
Pipo lugte aus der Manteltasche. „Was soll der Tumult, Prinzessin?” Er blickte sich um und bekam große, runde Augen. „Was geht hier vor? Wo sind wir eigentlich?”
„Das hätte ich auch gerne gewusst, Pipo. Wie konntest du schlafen, während ich entführt werde?”
„Entführt?" fragte er ungläubig.
"Ja, von den Männern, die wir am Wald begegneten."
Der Mäuserich kletterte auf ihre Schulter. „Gütiger Himmel, was für eine Räuberhöhle ist denn das?” Er schüttelte sich angewidert. „Lisa komm’, wir verschwinden hier sofort!”
Marco schaute belustigt auf Pipo. „Die Maus hat wohl hier das Sagen?” Er lachte laut und herzlich.
Pipo hob stolz seinen Kopf. „Warum denken immer alle, ich wäre eine Mäusedame. Das muss man doch sehen, dass ich ein Mäuserich bin.” Er blickte Marco tadelnd an. „Ich bin ein Herr, genau wie du.”
Wieder lächelte Marco und strich sanft über Pipos Köpfchen. „Entschuldige bitte Herr, aber das habe ich nicht gewusst.”
„Naja, ist schon in Ordnung”, erwiderte Pipo versöhnlich. Der junge Mann gefiel ihm von Anfang an. Trotzdem fragte er herausfordernd: „Warum hast du uns hierher gebracht, in dieses grässliche Land?”
„Für mich ist dieses Land nicht grässlich. Und ich musste euch hierher bringen, denn ich werde Lisa heiraten. Alles muss seine Ordnung haben”, erwiderte Marco gelassen.
„Das ist natürlich etwas Anderes und ein triftiger Grund für eine Entführung”, meinte Pipo spöttisch.
„So, jetzt ist aber Schluss mit eueren Mätzchen”, mischte sich Lisa ein und setzte den kleinen Kerl auf ihre Hand. „Ich hätte da auch gerne ein Wörtchen mitzureden. Außerdem werde ich mir meinen Mann selbst aussuchen, wenn es so weit ist.”
Lisa wandte sich an den jungen Mann. „Woher kennst du mich überhaupt?”
„Ich beobachte dich schon geraume Zeit. Genaugenommen, seit du den Feenwald betratest. Außerdem hat es sich im Land der Palmenhaine herumgesprochen, dass eine wunderschöne Prinzessin unterwegs ist, um den Eisprinz zu befreien”, lächelte er das Mädchen an.
Lisa staunte, wie gut die Menschen über sie unterrichtet waren. Alle, mit denen sie zu tun hatte, wussten über ihr Vorhaben Bescheid. Und wo war das Land der Palmenhaine, das der junge Mann erwähnte? Lisa konnte nicht einmal einen Grashalm entdecken, geschweige denn Palmen.
Marco und Lisa betraten einen großen, schmucklosen Saal. Auf einem schwarzglänzenden Thron saß ein alter, zusammengekauerter Mann mit gesenktem Haupt. Auf seinen langen, grauen Haaren saß eine breite Krone aus dunklem Metall. Sein gebeugter Rücken wirkte wie ein grauer, verwitterter Stein, an dem der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hatte.
Rechts neben ihm stand eine schwarzgekleidete, hagere Frau. Auch sie trug einen schmalen Eisenreif auf ihrem Kopf. Ihr bleiches Gesicht, umrahmt von tiefschwarzen Haaren glich einer unbeweglichen Maske. Ihre dunklen Augen blickten streng auf die Ankömmlinge.
Der Mann auf den Thron hob seinen Kopf.
„Vater, Tante Citta. Das ist meine Braut, Prinzessin Lisa.” Er lief zu seinem Vater und umarmte ihn.
„Prinzessin?” Die Frau musterte verächtlich Lisas Mantel, der bei ihrer letzten Wanderung durch den Wald sehr gelitten hatte und einige Risse aufwies. „Prinzessin?” wiederholte sie. „Bist du vielleicht eine Zigeunerprinzessin, oder eine Bettelprinzessin?” fragte sie und lachte höhnisch.
Lisa stieg die Zornesröte ins Gesicht. Stolz hob sie ihren Kopf. „Ich bin Prinzessin Lisa von Schloss Schönblick. Außerdem war meine Mutter eine echte Elfe und meine Tante ist die Feenkönigin Schlehenfeuer.” Doch sie wollte sich mit dieser unfreundlichen Frau nicht streiten, deshalb lächelte Lisa sie an.
„Das ist ja eine interessante Geschichte. Wo hast du die denn gelesen? Wenn du überhaupt lesen kannst... .” Ihr Gesicht verzog sich spöttisch.
Der Mann auf den Thron hob die Hand und gebot der Frau zu schweigen. „Ich bin König Konja. Willkommen Prinzessin Lisa”, sagte er leise. „Entschuldige, dass ich nicht aufstehe. Ich fühle mich nicht sehr wohl.” Er hustete und hielt die Hand an seine rechte Schulter. Das Sprechen machte ihm große Mühe.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von ihren Augen. Das Land der Palmenhaine und dazu noch Konja. Adda, ihre Ahnfrau hatte davon erzählt. Der Mann, den sie gesund gepflegt hatte, hieß auch Konja. Adda war damals selbst noch ein Kind, als ihre Mutter dem verletzten jungen Mann half. Er könnte es also gewesen sein.
Lisa schaute in das verhärmte, welke Gesicht des Mannes. War er krank oder bloß altersschwach? Das Erste kam wohl in Frage, denn die zusammengekrümmte Gestalt des Mannes deutete darauf hin, dass er unsagbare Schmerzen litt.
Die Frau legte beruhigend ihre Hand auf seine rechte Schulter. „Du darfst dich nicht anstrengen, Bruder. Komm’ bitte, ich bringe dich in dein Gemach.”
Schwerfällig erhob sich der König. Auf seine Schwester gestützt, schleppte sich der alte Mann zu einer Tür. Er drehte sich noch einmal um und lächelte Lisa zu, bevor er den Raum verließ.
Tiefes Mitleid erfasste die Prinzessin. Es tat ihrem Herzen weh, diesen niedergedrückten, mutlosen Mann so leiden zu sehen. „Was ist mit deinem Vater?” wandte sie sich an Marco.
Er zögerte etwas, bevor er sprach. „Bei seinem letzten Feldzug wurde er schwer verletzt und die Wunde will und will nicht heilen. Wir hatten schon mehrere Heiler hier, aber keiner konnte ihm helfen. Er leidet sehr und hat oft unerträgliche Schmerzen.”
Pipo, der in der Manteltasche saß, hatte alles mit angehört. „Lisa”, flüsterte er. „Denk an deine Nadel.”
„Psst”, zischte sie. Sie wollte noch nicht preisgeben, dass sie vielleicht den König von seinen Schmerzen befreien konnte. Womöglich konnte sie die Heilung des Königs für ihre Freiheit eintauschen. Sie lächelte bei dem Gedanken, einen starken Trumpf in ihrer Hand zu haben.
„Ich bringe dich in dein Zimmer”, hörte sie Marcos Stimme.
Schweigend liefen sie eine breite Treppe nach oben und durch einen düsteren langen Flur, der nur mit einigen wenigen Fackeln erleuchtet war. Marco öffnete eine Tür und ließ Lisa eintreten. Es war eine große, spärlich möblierte, ungemütliche Kammer. Obwohl in einem Kamin ein Feuer brannte und dem Zimmer ein bisschen Wärme verlieh, fröstelte Lisa. Ihr Blick fiel auf ein eisernes Himmelbett, dessen Baldachin mit einfachem, weißen Leinenstoff bezogen war. Das Bett war so groß, da hätte gut und gerne eine vierköpfige Familie Platz gefunden. Unter dem Fenster stand ein Tisch und ein Lehnstuhl und neben dem Bett eine Waschkommode. Kein Teppich, kein Bild, das diesen Raum etwas wohnlicher gemacht hätte.
Marco wünschte dem Mädchen eine gute Nacht. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste sie auf beide Wangen.
Verlegen senkte Lisa ihre Augen. „Gute Nacht”, erwiederte sie leise. Todmüde zog sie ihre Kleider aus. ‘Endlich wieder ein richtiges Bett’, dachte sie und war schon bald eingeschlafen.
Pipo kroch unter die Bettdecke und legte sich auf Lisas Bauch.
***
Licht fiel durch das Fenster, als Lisa erwachte. „Pipo”, rief sie, „wo bist du denn?”
„Hier Prinzessin.” Er kam gerade aus einem kleinen Loch in der Wand und sprang mit einem Satz auf das Bett, in dem Lisa immer noch lag.
„Wo warst du schon wieder?”
„Ich hab’ mich nur ein bisschen umgesehen und einige Gespräche belauscht.”
„Und was hast du gehört?”
„Der König ist sehr krank. Ich habe seine Wunde an der Schulter gesehen. Ein Heiler war gerade bei ihm, aber der hat nur hilflos den Kopf geschüttel. Weißt du überhaupt, wo wir uns befinden?” Er wartete Lisas Antwort gar nicht ab und plapperte gleich weiter. „Im Land der Palmenhaine, doch ist mir unklar, wo die sich befinden sollen.”
„Das weiß ich doch längst, Pipo”, unterbrach ihn Lisa. „Ich weiß sogar noch mehr.”
„Noch mehr?” Pipo schaute Lisa erwartungsvoll an.
„Es ist das Land, von dem mir meine Ahnfrau Adda erzählt hat. Sie erwähnte auch den Namen Konja, Stell’ dir vor Pipo, Addas Mutter hatte vor vielen Jahren einen jungen Mann mit diesem Namen gesund gepflegt und zum Dank die Zaubernadel bekommen.”
„Und ausgerechnet du bist mit deiner Zaubernadel in diesem düsteren Land gelandet. Das kann doch kein Zufall sein, oder Prinzessin?”
Lisa zuckte die Schultern. „Du meinst wirklich, die Nadel hat uns hierher geführt?” fragte sie zweifelnd.
„Es sieht so aus Prinzessin”, nickte der Mäuserich.
Lange schwiegen sie, jeder in seine Gedanken vertieft.
Plötzlich stieß Pipo hervor: „Marco ist ganz schön in dich verknallt. Du wirst lachen Lisa, mir gefällt der junge Mann. Er ist sehr schön und ich glaube, er hat ein gutes Herz. Hast du gesehen, wie liebevoll er mit seinem Vater umgeht? Du solltest dir das gut überlegen.”
„Was meinst du, Pipo?” Sie war nur mit halbem Ohr seinem Geplapper gefolgt.
„Ich meine Marcos Heiratsantrag.”
Lisa wurde rot bis zu den Haarwurzeln. „Da brauche ich nicht viel zu überlegen. Ich muss zu Julia und habe keine Zeit zum Heiraten.”
„Ach ja Prinzessin”, seufzte der Mäuserich und schaute Lisa ganz verliebt an. „Ich verstehe Marco. Wäre ich ein Mensch, ich würde dich auch vom Fleck weg heiraten, meine geliebte Prinzessin.” Wie charmant er heute wieder war. Ein richtiger Gentleman.
„Ja Pipo, das ist sehr schade, denn ich würde dich auch nehmen. Doch jetzt hab’ ich andere Sorgen. Wir müssen unbedingt hier weg.”
„Du hast wie immer recht, Prinzessin.” Er legte seine Stirn in Falten und überlegte angestrengt. Dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Wir werden mit Marco einen Handel tätigen.”
„Was meinst du damit?”
„Verstehst du nicht Lisa, du wirst seinen Vater mit deiner Zaubernadel wieder gesund machen und Marco bringt uns dafür wieder zurück. Meinst du nicht auch, dass das ein kluger Tausch ist?”
„Du kannst wohl Gedanken lesen, Pipo. Genau das Gleiche dachte ich auch. Aber ob das klappen wird, bin ich mir nicht sicher. Die Nadel kann zwar Kleider nähen”...
„Und hat dem alten Bär seine Wunde geheilt”, unterbrach sie Pipo. „Versuchen kannst du es doch. Vielleicht hast du noch einmal Glück und sie kann auch Menschen heilen.”
Lisa sprang aus dem Bett, schüttete Wasser in eine Blechschüssel und wusch sich das Gesicht. In aller Eile zog sie ihre Kleider an. Pipo wartete bereits. Als Lisa die Tür öffnete, stand eine Wache davor. Ein riesiger Kerl in einem Kettenhemd. Auf dem Kopf trug er eine enganliegende Kappe aus Metallplättchen. Er hob sein langes Schwert und versperrte den Weg.
„Ohne Cittas Erlaubnis darfst du das Zimmer nicht verlassen.”
„Ich bin Gast in diesem Haus”, protestierte die Prinzessin.
„Gast?” Der Mann lachte, dass es von den kahlen Wänden widerhallte.
„Dann sag’ bitte Marco Bescheid, dass ich ihn sofort sprechen muss.”
„Du befiehlst mir? Ich erhalte meine Befehle nur von Citta.”
„Wenn du nicht sofort Marco holst, werde ich so laut schreien, dass das ganze Haus zusammenläuft. Hast du mich nun verstanden?” stieß Lisa zornig hervor.
Der Mann schubste sie wieder ins Zimmer zurück. „Du wartest drinnen.”
Pipo steckte den Kopf aus der Manteltasche. „Das ist ja ein dickes Ding, uns wie Gefangene zu behandeln.”
Lisa nickte. Sie setzte sich auf einen hohen Hocker vor den Kamin und ließ die Beine baumeln. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Marco trat ein, gefolgt von dem Kettenhemdträger.
„Guten Morgen, meine kleine Braut”, begrüßte er Lisa und umarmte das widerstrebende Mädchen.
„Warum werde ich hier wie eine Gefangene gehalten?” empörte sie sich.
„Ich weiß nicht, was du meinst, Prinzessin?” fragte der junge Mann erstaunt. „Du kannst dich frei in der Burg bewegen. Niemand hindert dich daran.”
„Warum wurde mir dann verweigert das Zimmer zu verlassen?”
„Wer sollte so etwas tun?” Marco schüttelte ungläubig den Kopf.
„Deine Tante Citta, zum Beispiel. Sie gab die Anweisung, dass ich ohne ihre Erlaubnis das Zimmer nicht verlassen darf.”
Marco zog seine Stirn kraus. „Entschuldige Lisa. Das werde ich sofort in Ordnung bringen.” Er wollte gerade wieder gehen, doch Lisa hielt ihn zurück. „Bitte Marco, ich muss zu meiner Schwester.”
„Dann sollten wir noch vorher heiraten”, entgegnete unbeirrt der junge Mann. Sein Gesicht strahlte schon wieder.
„Nein, nicht vorher”, widersprach Lisa erregt.
„Wie willst du das verhindern?” fragte Marco lächelnd.
Lisa griff in ihre Tasche und zog das Kästchen mit der goldenen Nadel hervor. „Ich werde deinen Vater wieder gesund machen. Im Gegenzug bringst du mich an den Ort zurück, von dem du mich entführt hast.” Lisa öffnete das Schmuckkästchen.
Marco stieß einen verwunderten Schrei aus. „Woher hast du diese Nadel? Sprich!”
„Adda meine Ahnfrau schenkte sie mir. Vor langer Zeit pflegte Addas Mutter einen jungen Mann gesund, der den gleichen Namen trug, wie dein Vater. Er war von Räubern überfallen worden, die ihn schwer verletzt hatten. Als Dank erhielt Adda vom Vater des jungen Mannes diese Zaubernadel. Er war der Elbenkönig Zeno.”
Marco schaute Lisa erstaunt an. „Das war mein Großvater. Er lebt nicht mehr. Mein Vater war der junge Mann, den die arme Näherin gesund gepflegt hat. Doch das ist schon eine Ewigkeit her. Und nicht diese alte Verwundung macht meinem Vater zu schaffen. Es geschah bei unserem letzten Kampf gegen die boshaften Erdgnome.” Marco schwieg betroffen, denn wer erzählt schon gerne von einer Niederlage? Aber genau die hatten sein Vater und seine Krieger erlitten.
„Erzähl doch”, bat Lisa und schaute den jungen Mann erwartungsvoll an.
Marco zögerte, dann sprach er weiter. „Mein Vater wurde schwer verwundet. Seither sind auch schon wieder einige Jahre vergangen. Seine Verletzung bricht immer wieder auf und will nicht verheilen.” Seine Stimme klang sehr traurig. „Er war so ein kühner, beherzter Mann gewesen, gelehrt und klug, doch niemals verwegen, sondern besonnen in seinen Handlungen. Das Volk verehrte und liebte ihn sehr. Doch danach war alles nur noch traurig und hoffnungslos.” Marco senkte seinen Kopf. Es schmerzte ihn, wenn er an seinen kranken Vater dachte.
„Wenn du mir schwörst mich freizulassen, werde ich versuchen ihn zu heilen.”
Marco trat dicht vor Lisa hin, legte den Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, worauf sich ihre Augen begegneten. Er küsste sie zärtlich auf den Mund und sprach: „Mit diesem Kuss besiegle ich mein Versprechen, dich zurückzubringen. Außerdem erkläre ich feierlich meine Vermählung mit dir, Prinzessin.”
Lisa wurde es abwechselnd kalt und heiß. Sie konnte nicht widersprechen, ohne ihren Plan zu gefährden. Zurückhaltend sagte sie: „Führe mich nun bitte zu deinen Vater.”
Sie wandte sich zur Tür, doch Marco hielt sie am Arm fest. „Ich habe dir mein Versprechen gegeben. Nun erwarte ich das Gleiche von dir.”
Lisa erschrak. Sie konnte doch einem Mann kein Eheversprechen geben, den sie kaum kannte. Sie befand sich in einer Zwickmühle. Leichtfertig etwas zu versprechen, das sie vielleicht nie erfüllen würde, war ihr unangenehm. „Wir kennen uns doch kaum”, widersprach sie schnell.
„Oh, das wird sich sicher bald ändern, sehr bald”, unterbrach sie Marco. Er zog einen breiten, goldenen Ring aus seiner Tasche und streifte ihn über Lisas Finger. Mit einem kleinen Dolch, den er an seinem Gürtel trug, schnitt er Lisa eine Locke ab und verbarg sie in einem ledernen Beutel. Er legte die Hand auf seine Brust. „Das soll dein Versprechen sein, meine Frau zu werden”, sagte er feierlich.
Lisa brachte vor lauter Verlegenheit, kein einziges Wort heraus.
„So und nun wollen wir zu meinem Vater gehen.” Er nahm Lisa bei der Hand. Auf dem Weg zu dem Kranken fragte sie, warum sein Land, das Land der Palmenhaine genannt wird, wenn doch kein einziger Grashalm hier wuchs?
„Es wurde vom Zauberer Zottaka auf Hoglas Geheiß verflucht. Binnen Kurzem verbrannte die ganze Vegetation zu Asche. Wir versuchten neu zu säen und zu pflanzen, doch vergebens. Die Saat ging zwar auf, aber die zarten Pflanzen verkümmerten. Das Volk am Meer, das an unserer Westgrenze lebt, versorgt uns seit damals mit der nötigen Nahrung. Gegen Gold, versteht sich. So wurde unser Land ausgebeutet. Die Burg, einst stolz und schön, ausgestattet mit Gold und wertvollen Gegenständen, ist, wie du siehst, heute grau, kahl und öde. Mein Vater musste sich sogar schon von seiner goldenen Krone trennen. Aus Mitleid schmiedete ihm ein Diener eine Krone aus Eisen.” Marco senkte traurig den Kopf. Die Demütigung, die sein Vater erleiden musste, lag wie eine schwere Last auf seinen Schultern. „Es tut mir weh, wenn ich sehe wie schlecht es ihm geht. Oft hat er unerträgliche Schmerzen.”
Marco seufzte laut. „Ich leide mit meinem Vater, denn ich liebe ihn sehr”, bekannte er leise.
Lisa drückte seine Hand und nickte. „Ich verstehe dich gut.”
Wenig später betraten sie das Schlafgemach des Königs. Der alte Mann lächelte matt, als er das junge Paar sah.
„Vater!” Marco kniete sich vor das Bett und streichelte die schlaffe Hand des Königs. „Stell’ dir vor, was Lisa besitzt. Du wirst es kaum glauben.”
Während er von der Zaubernadel erzählte, hellte sich das Gesicht des Kranken auf. Dann kullerten Tränen aus seinen Augen. „Komm’ her, meine Tochter. Dich hat eine gute Fee zu uns geschickt.” Lisa kniete sich neben den Prinzen.
Der König nahm das Gesicht des Mädchens in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. „Ich hoffe, ihr beide werdet sehr glücklich miteinander.”
Peinlich berührt, stand Lisa auf. Verlegen lenkte sie ab: „Du musst deine Wunde freilegen.”
Der alte Mann nickte und Marco half seinem Vater das Nachtgewand zu öffnen. Um die Schulter lag ein dicker Verband, den Lisa vorsichtig löste. Sie erschrak fürchterlich, als sie die Wunde sah, die von der Brust bis zur Schulter reichte und weit auseinanderklaffte. König Konja wimmerte leise. Sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft.
Lisa nahm die Nadel, schloss ihre Augen und sagte laut und deutlich: „Nadel geschwind, näh wie der Wind, die Wunde des Königs.”
Hurtig sprang die Nadel aus dem Kästchen und fuhr über die Verletzung.
Als Lisa ihre Augen wieder öffnete, war die Wunde genäht und abgeheilt. Die Nadel sprang wieder in ihr Kästchen zurück und Lisa versteckte sie in ihrer Manteltasche.
Der König war überglücklich. Er sprang aus dem Bett und umarmte das Mädchen. „Danke Prinzessin, danke.” Er wollte sie gar nicht mehr loslassen, bis Marco ihn am Arm zupfte. „Sie ist meine Braut, Vater.”
Alle drei tanzten ausgelassen im Zimmer herum, lachten und weinten vor Freude.
Von dem Lärm angelockt, kam Citta ins Zimmer gestürzt. „Was geht hier vor? Was soll das Theater?” Sie blickte argwöhnisch zu Lisa und dann zu ihrem Bruder.
„Schau nur Citta, ich bin wieder gesund. Prinzessin Lisa hat das Wunder vollbracht.”
Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie die geheilte Wunde an. „Sie ist wohl auch noch eine Zauberin?” fragte sie verächtlich. Der Ausdruck in ihrem Gesicht und der Ton in ihrer Stimme, ließ Lisa eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Die Frau versprühte abgrundtiefen Hass gegen sie. Oder war es nur Neid und Eifersucht, weil Lisa hier im Mittelpunkt stand?
„Aber nein”, erklärte Marco. Dann erzählte er die Geschichte von der Zaubernadel.
Statt sich über die Genesung ihres Bruders zu freuen, verfinsterte sich das Gesicht der Frau zusehends.
„Bring’ mich bitte hier weg”, flüsterte Lisa Marco zu. Sie wollte keine Minute mehr mit dieser Frau unter einem Dach verweilen.
„Sie muss die Nadel zurückgeben. Sie gehört ihr nicht”, keifte Citta von Bosheit erfüllt.
„Schweig’ still, Schwester”, schalt sie der König, während Marco Lisa aus dem Zimmer brachte. Noch draußen auf dem Gang konnte man die Frau zetern hören.
„Sie hasst mich”, sagte Lisa traurig.
„Aber nein Prinzessin, sie ist nur eine alte, verbitterte Frau, aber sonst ganz in Ordnung.”
Lisa schaute in das ernste Gesicht des jungen Mannes. Glaubte er eigentlich selbst, was er da von sich gab? Wahrscheinlich nicht.
„Verstehst du Lisa”, erklärte Marco. „Meine Tante Citta hat ihren Mann und ihre beiden Söhne verloren. Es war der gleiche Kampf, bei dem auch mein Vater so schwer verwundet wurde. Seit der Zeit lebt sie bei uns und pflegt meinen Vater aufopferungsvoll. Sie hat niemanden auf der Welt. Nur uns.
‘Deshalb braucht man doch andere Menschen nicht ungerecht behandeln’, dachte Lisa. Sie hatte auch ihre Mutter verloren und war oft traurig. Doch kam ihr nie in den Sinn, ihre Verbitterung an anderen auszulassen.
„Außerdem hat sie viele Pflichten übernommen, seit Vater krank war”, fuhr Marco fort. „Ein Netz von Aufgaben, die sie sich selbst aufgehalst hat. Niemand hat sie dazu gezwungen.” Marco schaute Lisa nachdenklich an. „Wenn ich mir das recht überlege, dann muss ich zugeben, dass Citta ein strenges Regiment auf der Burg führt. Vielleicht hat gerade diese Macht ihren Verstand vernebelt und sie hat Angst, ihre Stellung an dich zu verlieren.”
„Ich habe nicht die Absicht ihren Platz einzunehmen”, stieß Lisa hervor.
„Ich weiß, Prinzessin. Du bist ein wunderbarer Mensch. Deshalb liebe ich dich und kann mich nur schwer von dir trennen. Doch morgen früh werde ich dich zurückbringen, wenn du es wünscht. Versprochen.”
„Warum nicht schon heute?” wandte Lisa ein.
„Schenke mir bitte noch diesen einen Tag, Prinzessin.” Er schaute Lisa bittend an.
Schweren Herzens nickte Lisa und Marco brachte sie wieder in ihr Zimmer. Sie blieben noch lange zusammen und schmiedeten Pläne. Doch war es hauptsächlich Marco, der schwärmerisch von ihrer gemeinsamen Zukunft sprach. Lisa hörte meist zu und bezweifelte, dass sich Marcos Träume tatsächlich erfüllen würden.
Der Tag ging zur Neige. Erst am Abend verließ Marco seine Braut, um nach seinem Vater zu sehen.
Als Lisa allein war, lief sie nervös im Zimmer auf und ab. Ihr gefiel das alles nicht. Sie blickte aus dem Fenster.
Pipo kam aus der Manteltasche und gähnte laut. „Du bist so traurig, Prinzessin. Bedrückt dich etwas?”
„Ich weiß nicht Pipo, dieses graue, unwirtliche Land und diese Menschen machen mir Angst.”
„Aber Marco und sein Vater sind doch gute Menschen, oder?”
Bevor Lisa antworten konnte, kam ein Diener herein und bat sie in den Speiseraum. Die Königsfamilie saß bereits an einem langen Tisch. Ein anderer Diener brachte das Essen in einer großen Schüssel. Mit einer Schöpfkelle tat er Suppe in die einzelnen Teller. Ein dritter Diener stellte einen Korb mit Brot auf den Tisch, auf dem schon einige Krüge und Becher aus Ton standen.
Pipo saß auf Lisas Arm und sprang mit einem Satz auf den Tisch.
Citta, der Ohnmacht nahe, keifte: „Seit wann dürfen diese ekelhaften Tiere an unserm Tisch sitzen.”
„Das ist mein Freund Pipo. Er hat mir schon mehrmals das Leben gerettet. Falls er das Zimmer verlassen muss, werde ich es vorziehen in meiner Kammer zu speisen.” Sie nahm den Mäuserich auf den Arm und stand auf.
Der König hielt sie zurück. „Pipo darf selbstverständlich bleiben. Deine Freunde sind auch unsere Freunde.” Er wandte sich an seine Schwester und fragte lächelnd. „Du bist doch unserer Meinung und möchtest auch, dass Pipo bleibt?”
Die Frau warf ihrem Bruder einen giftigen Blick zu. „Nur unter Protest”, zeterte sie.
„Zur Kenntnis genommen”, erwiederte der König freundlich.
Pipo stellte sich auf die Hinterbeine und stemmte seine Vorderkrallen an die Hüfte. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er die boshafte Frau an und zischte: „Hexe.”
Lisa legte den Finger auf den Mund. „Psst Pipo, wir wollen doch keinen Streit.”
Steif und zurückhaltend saß sie mit ernster Miene am Tisch und starrte auf ihren Teller. Obwohl die Suppe sehr köstlich roch, war ihr der Appetit vergangen.
„Warum isst du denn nicht Lisa?” fragte der König. „Du wirst sehen, das Essen schmeckt sehr gut.”
Nur zögernd nahm Lisa einen Löffel von der Brühe und kostete. Der König hatte recht, die Suppe war wirklich köstlich und Lisa aß, bis auf einen Rest, alles auf. Dann schob sie den Teller Pipo hin. „Komm’ Pipo, du wirst auch Hunger haben.
Der Mäuserich nickte: „Ich könnte heute sogar eine doppelte Portion verdrücken.” Er schlapperte und schmatzte laut, ohne auf Cittas verbissenes Gesicht zu achten.
Lisa kramte in ihrer Manteltasche und holte eine rotbackige Frucht hervor. Es war die letzte, die sie noch besaß. Sie nahm ein Messer und schnitt sie in vier Teile. Davon legte sie Marco und seinem Vater je ein Stück neben ihren Teller. Nur widerwillig gab sie auch Citta einen Teil, den die Frau aber sofort beiseiteschob. Erst als ihr Bruder sie streng anblickte, nahm sie die Frucht und legte sie auf den Teller, ohne sie anzurühren.
Der König nahm sein Stück in die Hand und roch daran. „Woher hast du die Frucht, Lisa? Ich weiß genau, dass solche Früchte, bevor unser Land verflucht wurde, auch bei uns wuchsen.”
„Sie ist von Adda. Sie erhielt seinerzeit mit der Zaubernadel auch einen Spross eines Fruchtbaumes. Er trägt heute noch Früchte, Sommer wie Winter, obwohl er schon viele Jahrzehnte alt ist.”
„Aber ja”, rief der König. „Ich erinnere mich gut.” Er fing an die Samenkerne aus der Frucht zu puhlen und forderte die anderen auf, es ebenso zu tun. Lisa und Marco taten das sofort. Nur Citta saß stocksteif und rührte keinen Finger. Erst als der König sie freundlich aufforderte auch aus ihrem Stück den Samen zu entfernen, bequemte sie sich mit verbitterter Miene die Kerne zu lösen und schob sie ihrem Bruder hin.
„Welch eine Fügung des Himmels, dass mein Sohn gerade Lisa zu seiner Frau erwählt hat,” stieß der König entzückt aus. Er betrachtete die Samenkörner, dann schaute er Lisa voll Liebe in die Augen. „Du hast uns großes Glück gebracht”, meinte er ergriffen: „Wir werden versuchen, den Samen zu säen, vielleicht gelingt es ja, unser unfruchtbares Land endlich wieder in den blühenden Garten zu verwandeln, der er früher einmal war.” Er rief einen Diener und bat ihn, außerhalb der Burg, einen Garten anzulegen und die Samenkerne zu stecken.
„Und nun müssen wir die Frucht essen”, erklärte Lisa. „Sie ist etwas ganz Besonderes.”
Ohne zu zögern, steckte der König das ganze Stück auf einmal in den Mund. Lisa und Marco taten ebenso, nur Citta aß nicht. Mit beleidigter Miene starrte sie auf ihre Hände, die zu Fäusten geballt, in ihrem Schoß lagen.
„Mm, jetzt erkenne ich sogar den Geschmack”, meinte der König. „Es ist tatsächlich eine Frucht aus unserem Land.” Er stand auf und küsste Lisa auf beide Wangen. Er war außer sich vor Freude und bestätigte wiederholt: „Heute ist unser Glückstag. Danke Prinzessin, wir werden nie vergessen, was du für uns getan hast. Ich fühle mich wunderbar, wie schon lange nicht mehr.” Sein Gesicht nahm eine gesunde Farbe an und selbst die Kummerfalten schienen nicht mehr so tief. Er lachte und tanzte ausgelassen wie ein kleines Kind.
Lisa kannte die Wirkung der Frucht und wusste, dass man sich nach ihrem Genuss besonders wohl fühlte.
Citta lief mit zorngerötetem Gesicht aus dem Zimmer, nicht ohne Lisa einen bösen Blick zuzuwerfen. „So ein Affentheater”, hörte Lisa sie murmeln. Ihr Fruchtstückchen lag immer noch unberührt auf dem Teller.
„Nun, wenn meine Schwester darauf verzichtet, werde ich es eben essen.” Ohne zu zögern aß der König auch noch Cittas Viertel.
***
Bis in die späte Nacht saßen der König, sein Sohn und Lisa am Kamin und unterhielten sich.
Die Prinzessin musste ausführlich aus ihrem Leben erzählen. Von Schloss Schönblick und dem wunderbaren Land Thalmoor. Als sie von Julias Unglück sprach, hörten die beiden Männer besonders aufmerksam zu.
„Du hast sicher großes Heimweh, Lisa?” fragte der König.
„Ja, besonders nach meinem Vater. Er ist so einsam, seit meine Mutter tot ist.” Sie seufzte laut.
Konja nahm ihre Hand und streichelte sie zärtlich. "Du wirst bald wieder zu Hause sein", versprach er. Dann erzählte der König, wie ihr schönes Land verflucht wurde. „Zottaka der große Zauberer ist schuld an diesem Unglück. Du hast ja gesehen Lisa, wie unfruchtbar unsere Erde ist. Sie besteht hauptsächlich aus Staub und grauer Asche. Es war ein großes Feuer, das alles verbrannte. Alle Bewohner des Landes flüchteten in unsere Burg. Dank der dreifachen Mauer waren wir hier gut geschützt. Leider wurden im Kampf, bevor das große Feuer ausbrach, viele Krieger getötet oder schwer verwundet.” Der König senkte traurig seinen Kopf. Doch wenig später lächelte er schon wieder. „Ich hoffe, dass sich in unserem Land bald etwas ändern wird. Dank deines Fruchtsamens.” Da griff auch der Prinz nach Lisas Hand. Nun hielten beide Männer Lisas Hände.
Verlegen schaute das Mädchen zum Fenster hinaus. Tiefe Dunkelheit umhüllte die Burg. Das war die Gelegenheit, sich zu verabschieden. „Ich bin müde und möchte mich gerne schlafen legen, wenn ihr nichts dagegen habt.”
Sofort standen die beiden Männer auf. „Marco kann dich in dein Zimmer begleiten,” sagte der König und umarmte Lisa liebevoll. „Gute Nacht meine Tochter, willkommen in unserer Familie.”
Lisa bedankte sich. Der alte Mann war ihr sehr sympathisch. Vom ersten Augenblick an hatte sie ihn in ihr Herz geschlossen.
Als sie im Bett lag, kroch Pipo auf ihre Brust und schaute sie lange an. „Das sind gute Menschen, Prinzessin. Bis auf die Hexe natürlich. Mich würde nur interessieren, warum die uns nicht leiden mag. Wir haben ihr doch nichts Böses getan.”
Lisa zuckte resigniert die Schultern. „Ich weiß es nicht Pipo, ich weiß es wirklich nicht.”
Um Mitternacht wurde Lisa von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Als sie sich aufsetzte, stand Citta und einer der Wächter neben ihrem Bett. Gelähmt vor Schreck stieß sie hervor: „Was wollt ihr hier?” Sie wollte schreien, aber der Mann hielt ihr den Mund zu.
„Du wirst sofort die Burg verlassen”, zischte die Frau hinterhältig. „Zieh’ deine schmutzigen Klamotten an und verhalte dich still, dann wird dir nichts passieren. Doch bevor du verschwindest, gibst du mir die goldene Nadel.”
„Warum tust du das?” fragte Lisa zaghaft.
„Hast du kleine Närrin gedacht hier die Herrin zu spielen?” entgegnete die Frau und lachte spöttisch.
„Aber nein”, protestierte Lisa. „Das ist ganz und gar nicht meine Absicht.”
„Schweig still, du dumme Göre. Ich habe selbst gesehen, wie du Marco schöne Augen gemacht hast und er sich von dir betören ließ.”
„Das stimmt doch gar nicht”, wehrte das Mädchen ab. Leider hatte sie gegen diese boshafte Frau keine Chance. Schweigend zog sie ihre Kleider an.
Als sie ihr Säckchen umschnallte, schrie Citta sie an: „Die Nadel, aber sofort.” Sie streckte Lisa die Hand entgegen.
Was blieb dem Mädchen anderes übrig, als der bösen Frau die Nadel zu geben.
Citta öffnete mit gierigen Augen das Schmuckkästchen. „Was soll das?” zeterte sie. „Das ist nicht die goldene Nadel. Wo hast du sie versteckt?”
Lisa schaute nun auch in das Kästchen. Citta hatte recht. In dem Samtkissen steckte eine Nadel aus rostigem Eisen. Die Zaubernadel hatte ihre Zauberkraft verloren. Genau wie Adda sagte.
„Wo ist die Nadel?” fing die Frau an zu toben. Sie packte Lisa an der Schulter und schüttelte sie.
„Das ist die Nadel”, fing das Mädchen an zu weinen.
„Du lügst”, schrie Citta und warf Lisa das Schmuckkästchen vor die Füße.
„Nein, nein”, erwiderte die Prinzessin, während sie sich bückte und das Kästchen in ihre Manteltasche steckte.
Citta gab dem Mann einen Wink. Der packte Lisa am Arm und schubste sie aus dem Zimmer. Bis zum äußersten Burghof begegneten sie keinem einzigen Mensch. Ein gesatteltes Pferd wartete bereits. Lisa drehte sich hilfesuchend um. Wo waren die Wächter? Der Mann schwang sich auf das Ross und zog Lisa hoch.
„Bringe sie möglichst weit weg”, befahl Citta. „Ich will sie hier nicht mehr sehen.” Ein verzerrtes, schadenfrohes Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
„Wird gemacht, Herrin”, sagte der Mann untertänigst. Dann schrie er: „Hü, ho” und das Pferd raste durch die offene Pforte. Wie ein Sturmwind galoppierte es, kaum die Erde berührend, hügelauf, hügelab, durch die dunkle Nacht.
***
Wie lange sie unterwegs waren konnte Lisa nur erahnen. Der Morgen dämmerte bereits als der Reiter in einer Talmulde abrupt stehen blieb und das Mädchen einfach vom Pferd stieß. Unsanft landete sie auf der Erde. Mit einem höhnischen Gelächter ritt der Mann davon.
Völlig benommen saß Lisa in der Asche und konnte nicht begreifen, was das alles bedeuten sollte. Mühsam rappelte sie sich hoch und schrie nach ihrem Freund Pipo. Sie griff in ihre Manteltasche, aber der Mäuserich war nicht da. Oh Gott, sie hatte ihn in der Burg vergessen.
„Wie konnte ich nur so leichtfertig sein”, jammerte sie.
Durch einen Tränenschleier blickte sie sich um. Im Osten ging gerade die Sonne auf. Doch soweit sie schauen konnte war das Land öde und grau. In welche Richtung sollte sie gehen? Nach Osten? Sie erinnerte sich, dass Marco und die Reiter sie nach Westen gebracht hatten. Sie zögerte nicht lange und lief der Sonne entgegen. Nach endlos langer Zeit erkannte sie im leichten Dunst eine Bergkette. Waren das die mächtigen Berge, die Marco überquert hatte, bevor sie in dieses unwirtliche Land kamen?
Lisa fing an zu laufen, aber die Berge waren in so unendlicher Ferne und schienen sich nicht zu nähern. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, sie rückten von ihr ab. ‘Sicher werde ich bis dorthin, mehrere Tage brauchen’, dachte sie resigniert.
Lang streckte sich der Abendschatten über das Land. Lisa war völlig ausgelaugt. Erschöpft ließ sie sich zur Erde gleiten und schlief sofort ein.
***
Am nächsten Tag hatte sie das Gebirge fast erreicht. Es war doch nicht so weit, wie sie gedacht hatte. Sie konnte schon ganz deutlich die Felsspalten erkennen. Wind kam auf, wurde immer stärker und steigerte sich in ein lautes Tosen, das die ganze Luft erfüllte. Sturmböen erfassten die Asche und wirbelten sie über das Land. Inmitten der grauen Asche fiel Lisa das Atmen schwer. Mit einem Taschentuch bedeckte sie Mund und Nase. Sie konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Blind wie ein Maulwurf tastete sie sich weiter voran. Das Gebirge konnte nicht mehr weit sein. Dort hoffte sie etwas Schutz vor dem Sturm zu finden.
Da endlich, tauchte schemenhaft eine Felsenwand vor ihr auf. Mit letzter Kraft kämpfte Lisa gegen den Sturm. Im Schutz der Felsen schleppte sie sich am Fuße der Berge entlang. Irgendwo hoffte sie einen Weg zu finden, der sie auf die andere Seite brachte. Vielleicht gab es dort auch eine Quelle, denn ihre Kehle war ausgetrocknet. Ihre Hoffnung schwand allmählich dahin, denn die Felsen bildeten eine geschlossene Front. Es gab keinen Weg hindurch. Und drüber zu klettern, brauchte sie gar nicht erst zu versuchen. Sie waren viel zu steil. Der Sturm ließ nach und machte einer unheimlichen Stille Platz. Nichts als ihre eigenen Schritte hörte sie noch auf dem felsigen Boden.
***
Wieder lag eine Nacht vor ihr. Sie hatte keinen Pass über die Berge gefunden. Der Hunger nagte an ihr. Viel schlimmer war der Durst. In der Frühe hatte sich etwas Tau im Fels verfangen, den sie mit rauher Zunge abgeleckt hatte.
Pipo fehlte ihr so sehr. Mit seinem unerschütterlichen Humor hatte er sie immer aufzumuntern gewusst. Ermattet kroch sie unter einen Felsvorsprung.
„Ach hätte ich doch noch eine Frucht von Adda”, flüsterte sie.
Grauer Schatten kroch über die Erde und senkte sich wie eine bleierne Decke auf ihre Brust. Die Angst sterben zu müssen, bevor sie Julia erlösen konnte, drückte ihre trockene Kehle zu. Gedanken an ihre Erlebnisse huschten durch ihren Sinn. Das fürchterliche Tal der Vögel, denen sie, dank ihres lieben Freundes Pipo, nur mit knapper Not entkommen war. Sie dachte an Serena, der Nixe und Josi. Ob sie wohl Freunde geworden sind? Mit dankbaren Herzen musste sie an ihren lieben Weggefährten Gänseblümchen denken, der sie mit seinen flinken Beinen, vor den hungrigen Wölfen gerettet hatte, denen sie um Haaresbreite zur Beute geworden wären. Nicht zu vergessen, der liebenswürdige, alte Bärenvater, der so stark und trotzdem so ängstlich war. Und was wird aus Schlehenfeuer, wenn sie nicht in der Lage ist, ihre Aufgabe zu erfüllen? Wird sie bald sterben? Und was soll aus ihrem geliebten Vater und ihrer Schwester Julia werden? Die Angst versagt zu haben drückte auf Lisas Herz, denn sie befürchtete, dass die Erfüllung ihrer Mission hier in diesem fürchterlichen Land gescheitert war. Lisa weinte leise. Sie hatte den Wunsch zu fliehen, aber ihr Körper war keiner Bewegung mehr fähig.
„Oh Gott, hilf mir”, schluchzte sie. Verzweifelt schloss sie ihre Augen.
Kaum wahrnehmbar meinte sie, von weither, dumpfe Pferdehufe zu hören. Und waren da nicht auch leise Stimmen, die wie aus einem Nebel zu ihr drangen und als Echo von den Felsen widerhallten? Doch dann verlor sie das Bewusstsein.
***
Pipo saß auf dem Bett und hatte beobachtet, was mit Lisa geschah. Vor lauter Schreck konnte er sich nicht bewegen. Als sich die Tür hinter dem Mädchen schloss, erwachte er aus seiner Starre.
Er wartete den Morgen ab. Sobald es hell wurde, machte er sich auf die Suche nach Marco. Er irrte durch die Gänge der mächtigen Burg, bis er aus einer angelehnten Tür Stimmen hörte. Marco, Konja und Citta sassen am Tisch.
„Wo ist Lisa?” hörte er Marco fragen.
Citta, die stocksteif am Tisch saß, meinte gleichgültig: „Sie hat heute Nacht die Burg verlassen.”
„Das ist doch nicht dein Ernst?” schrie Marco und sprang auf.
„Sie wollte es so”, erwiderte die Frau gereizt.
Pipo rannte wie ein geölter Blitz zu Marco und sprang auf seinen Arm. „Lüge, Lüge”, rief er. Er deutete mit der Kralle auf Citta. „Sie und ein Wächter haben Lisa entführt. Ich bin Zeuge.” Er hob seine Kralle zum Schwur.
„Ist das wahr?” fragte Marco streng.
„Nein, nein, diese ekelhafte Maus lügt.” Sie wandte sich an ihren Bruder. „Du glaubst doch diesem nichtsnutzigen Ungeziefer nicht mehr als mir?” Entrüstet sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer.
Marco rief seinen Diener. „Forsche bitte nach, wer Lisa weggebracht hat.”
Der Diener verließ das Zimmer, um wenig später zurückzukehren. „Es tut mir leid, aber keiner will es gewesen sein.”
„Lasst alle Wächter im großen Thronsaal zusammenkommen, aber schnell”, befahl der König.
„Wird sofort gemacht, Herr.”
Wenig später gingen Konja und sein Sohn, der Pipo auf der Schulter trug, in den Saal.
Eine ganze Reihe Wächter hatten sich versammelt, aber alle beteuerten ihre Unschuld.
Der König zog aus seinem Umhang einen Beutel mit Goldstücken hervor. „Derjenige, der mir über Lisas Verschwinden Auskunft erteilt, erhält eine Belohnung.” Er hielt den Beutel in die Höhe.
Das Gold tat seine Wirkung.
Ein Wächter trat vor und erzählte mit niedergeschlagene Blick: „Citta befahl mir, das Mädchen wegzubringen. Sie drohte mir, mich in den Kerker zu werfen, wenn ich nicht gehorche.”
„Das darf doch nicht wahr sein”, schrie der Marco außer sich vor Entsetzen.
„Holt sofort meine Schwester”, befahl der König einem Diener.
Der Mann kam zurück. „Sie weigert sich, mein Herr.”
Voll Zorn sprang der König auf und eilte in Cittas Gemach.
Die Frau saß auf einem Stuhl und blickte aus dem Fenster.
„Was hast du getan, Citta? Wie konntest du nur so herzlos sein”, schrie der König sie an. „Ist das der Dank für Lisas Güte?”
„Ich werde nicht dulden, dass Marco diese Bettelprinzessin heiratet und hier das Sagen hat. Wo bleibe dann ich?” Ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze.
Der König schüttelte ungläubig den Kopf. Nur um ihre Stellung zu bewahren, setzte sie das Leben eines unschuldigen Menschen aufs Spiel. „Falls wir Lisa nicht finden, dann Gnade dir Gott”, drohte Konja. „Dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass dir das Gleiche geschieht wie Lisa. Wir setzten dich in die entfernteste Gegend aus, ohne Brot und ohne Wasser.”
„Das solltest du dir erlauben”, schrie die Frau aufmüpfig. „Ich bin deine Schwester. Ich bin keine dahergelaufene Zigeunerin wie Lisa.”
„Das werden wir ja sehen.” Zornig verließ der König das Zimmer und begab sich wieder in den Thronsaal. „Wir werden einen Suchtrupp aufstellen”, sagte er zu seinem Sohn. „Und du wirst uns genau zeigen, wo du Lisa hingebracht hast”, wandte er sich an den Wächter.
Schnell wurde eine Gruppe Männer zusammengetrommelt. Der König, mit Marco an der Spitze, verließ die Burg.
***
Den ganze Tag waren sie schon unterwegs, doch ohne Erfolg. Am Abend kehrten sie müde und enttäuscht in die Burg zurück. Auch am zweiten Tag suchten sie vergeblich. Nur ein paarmal entdeckten sie leichte Spuren in der Asche, die aber schnell endeten.
Pipo saß auf Marcos Arm. Sein Herz war schwer und er weinte leise. „Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich sie nicht beschützen konnte”, schluchzte er. „Hoffentlich ist sie noch am Leben.”
„Sag’ bitte so etwas nicht, Pipo. Wir müssen sie finden.”
„Bedenke doch Marco, dass sie nichts zum Trinken dabei hat. In dieser staubigen, fruchtlosen Gegend wird sie verdursten.” Er faltete seine Kralle zum Gebet. „Lieber Gott, lass’ sie uns finden.”
Aus Marcos Augen flossen Tränen.
Pipo war erstaunt über diesen stolzen, edlen Mann, der vor Verzweiflung so niedergedrückt war, dass er seinen Tränen freien Lauf ließ.
Der Mäuserich kraxelte auf seine Schulter und drückte sein Köpfchen an Marcos Wange. „Wir werden sie finden”, tröstete er den traurigen Mann.
***
Am nächsten Tag zogen sie im Morgengrauen los. Am Tag zuvor hatte ein fürchterlicher Sturm gewütet.
„Wir müssen ein weiteres Gebiet absuchen”, befahl der König seinen Männern. „Ich schlage vor, bis zum Gebirge zu reiten.”
„Bis zum Gebirge?” fragte Pipo ungläubig. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bereits so weit gekommen ist.”
„Wir dürfen nichts unversucht lassen”, erwiderte Marco. Leider war nicht ein einziger Fußabdruck zu entdecken. Der Sturm hatte alle Spuren verweht.
Als sie die Berge erreichten, schickte Marco seine Leute in alle Richtungen aus. Es war bereits finster und er wollte schon auf seinem Horn zur Rückkehr blasen, als ein lauter Schrei ertönte. „Hier ist sie Herr. Komm’ bitte schnell.”
Marco ritt zu der Stelle unter dem Felsvorsprung, unter dem sich Lisa verkrochen hatte und sprang aus dem Sattel. Seine Augen, vor Kummer und Entsetzten geweitet, erblickten ein dunkles Bündel, das am Boden lag. Er kniete vor der zusammengekrümmten, leblosen Gestalt nieder. Ein tiefer Schmerz durchfuhr ihn, als hätte jemand sein Herz mit einem Pfeil durchbohrt. Erschüttert sah er in Lisas regloses, staubiges Gesicht. „Lisa, Lisa”, schrie er verzweifelt. Doch konnte sie ihn nicht hören. Er versuchte ihr aus seinem Wasserschlauch Wasser einzuflößen, aber es floss aus ihren Mundwinkeln wieder heraus.
Der König und einige seiner Gefolgsleute kamen angaloppiert. Als er Lisas verschmutztes, graues Gesicht sah, rannen Tränen aus seinen Augen. Unbändiger Zorn über seine lieblose Schwester überkam ihn. „Dafür wirst du bezahlen”, flüsterte er wütend.
„Wir müssen sie sofort nach Hause bringen.” Marco sprang auf sein Pferd. Sein Diener reichte ihm das Mädchen hoch. In seinen Armen, bedeckt mit seinem Umhang, preschte er mit Lisa zur Burg zurück. Schon am äußerem Tor schrie er: „Wir brauchen sofort einen Heiler.” Er lief mit Lisa auf den Armen die Treppe nach oben. In ihrer Kammer legte er sie behutsam auf das Bett.
Kurz darauf erschien ein ehrwürdiger, älterer Herr, mit langen, weißen Haaren. Er untersuchte Lisa gründlich. Bedenklich schüttelte er seinen Kopf.
„Was ist?” fragte Marco. „Wird sie wieder gesund?”
„Ihr Herz schlägt sehr schwach. Sie muss unbedingt etwas trinken. Ihr Körper ist völlig ausgetrocknet.” Aus seinem weiten Umhang holte er ein kleines Fläschchen. Mit einer stark riechenden Flüssigkeit rieb er Lisas Stirn, Brust und Rücken ein.
Als der Mann gegangen war, versuchte Marco immer wieder Lisa Wasser einzuflößen. Doch war sie ohnmächtig und nicht in der Lage, das Wasser zu schlucken.
Marco hielt sie im Arm und wiegte sie wie ein kleines Kind. „Bitte Lisa, du darfst nicht sterben”, flüsterte er. „Komm’ zurück aus dem Schattenreich. Ich liebe dich, meine Kleine.” Er streichelte über ihre Haare und drückte sie an sein Herz. Immer wieder benetzte er ihre spröden Lippen mit einem feuchten Tuch. Doch waren seine Bemühungen umsonst. Lisa gab kein Lebenszeichen von sich. Ihr weißes Gesicht war starr. Ihre Arme lagen kraftlos auf der Bettdecke.
Marco stand auf und trat an das offene Fenster. Tieftraurig starrte er in die sternklare Nacht. Eine besonders helle Sternschnuppe zog seine Bahn über den Himmel. Er trat zurück zu Lisas Bett und wünschte, dass sie wieder gesund wird.
Pipo saß neben Lisa auf dem Kopfkissen und sah in Marcos Gesicht, das von Kummer und Angst gezeichnet war. Der junge Mann hielt seine Tränen nicht zurück, als er die leblose Gestalt liegen sah, genau wie Pipo, der schon ganz rote, verschwollene Augen hatte.
Marcos Tränen benetzten Lisas Antlitz. Da schlug sie die Augen auf und seufzte leise.
Pipo schrie wie am Spieß: „Marco, schau nur, sie ist aufgewacht.”
Durch den Lärm kam der König ins Zimmer gestürzt. Als er in Lisas Augen blickte, fasste er nach ihrer Hand. „Gott sei Dank, du lebst.” Nun weinten alle drei vor Freude.
„Jetzt wird alles wieder gut”, stieß Marco hervor.
Lisas Erinnerung kehrte langsam zurück. Sie war von diesem grässlichen Reiter verschleppt worden und drei Tage in der öden Gegend umher geirrt. Das Letzte was sie wusste, war, dass sie vor dem Sturm unter einem Felsvorsprung Schutz gesucht hatte.
Marco und Pipo erzählten ihr von der Suchaktion.
„Das wäre beinahe schief gelaufen”, flüsterte sie. „Arme Julia, wer hätte dich dann gerettet?” Sie dachte schon wieder nur an Andere. Dass sie beinahe ihr eigenes Leben eingebüßt hätte, stellte sie in den Hintergrund.
Alle kümmerten sich rührend um die Prinzessin. Aber besonders Marcos und Pipos Fürsorge war es zu verdanken, dass Lisa nach ein paar Tagen wieder auf den Beinen war.
***
„Morgen muss ich weiter”, sagte sie mit Bestimmtheit.
„Du willst uns wirklich schon verlassen?” fragte der König bedauernd.
„Ja, ich muss. Ich habe schon viel zu viel Zeit verloren”, erwiderte sie.
Als alle beim Abendessen zusammensaßen, wandte sich Konja an Citta. Er musterte sie mit seinen grauen Augen sehr streng. „Was mach’ ich bloß mit dir? Durch deine Schuld wäre Lisa fast gestorben. Ich werde mir eine Strafe ausdenken, die du dein ganzes Leben nicht vergessen wirst."
Es war das erste Mal, dass die Frau Regung zeigte. Starr wie eine Mumie saß sie am Tisch und quetschte eine Träne aus ihrem Auge. Ja, wenn es um ihr eigenes Schicksal ging, hatte sie Mitleid, aber nur mit sich selbst.
„Du wirst die Burg verlassen”, beschloss der König. „Ab morgen will ich mit dir nicht mehr an einem Tisch sitzen.”
Lisa hob ihre Hand. „Nein, nein, ich möchte nicht, dass sie bestraft wird. Mir ist ja nichts passiert. Außerdem fühle ich mich schuldig.”
„Nein”, widersprach Marco. „Die Schuld trifft ganz allein mich. Ich habe mich in Lisa verliebt und sie in unser Land gebracht. Ich wusste ja nicht, dass Citta mir meine Liebe missgönnt.”
Citta verzog ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Ich wollte doch nur, dass du ein Mädchen aus unserem Land heiratest und nicht so eine Bettel... .” Sie hielt inne und schwieg.
Der König ließ sich nicht beirren. Dass die beiden die ganze Schuld auf sich nehmen wollten, akzeptierte er nicht. „Strafe muss sein”, sagte er streng. „Citta wird ab sofort in der Küche helfen und mit den Mägden die Burg schrubben. Außerdem wird sie im Gesindehaus schlafen und essen. Und das so lange, bis Marco und Lisa verheiratet sind.”
„Was”, schrie Citta unbeherrscht. „Du willst deine eigene Schwester zu einer Dienstmagd machen?”
Sie schaute Marco herausfordernd an. „Wolltest du die Zigeuner..., ich meine Lisa nicht sofort heiraten?”
„Ich schon, aber Lisa hat vorher noch eine Aufgabe zu erfüllen. Es dauert also noch, bis du wieder in die Familie aufgenommen wirst. Und selbst dann muss Lisa damit einverstanden sein.”
Citta verzog ihr Gesicht, schwieg aber. Es war ein mildes Urteil. Trotzdem fühlte sie sich gedemütigt. Hätte sie ihr Bruder ganz aus der Familie ausgestoßen, müsste sie in völliger Armut, in irgendeiner kargen Hütte ihr Leben fristen. Eigentlich sollte sie Lisa dankbar sein. Aber es fiel der stolzen Frau schwer, sich bei dem Mädchen zu entschuldigen, dessen Leben sie so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte.
Lisa lächelte die Frau an, denn irgendwie tat sie ihr leid. Hass, Neid und Eifersucht können einen Menschen innerlich zerstören. Sie stand auf und legte Citta die Arme um den Hals. Sie wollte die Frau nicht als Feindin, sondern deren Freundschaft gewinnen. Deshalb sagte sie: „Es tut mir so leid.”
Die völlig verdatterte Frau verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. Konja schüttelte den Kopf. „Du bist ein gutes Mädchen. Ich wünsche mir nichts sehnlichster, als dich bald als meine Schwiegertochter willkommen zu heißen.”
Lisa stand auf. „Darf ich mich bitte zurückziehen? Ich bin müde und möchte morgen zeitig aufbrechen.”
„Geh’ nur meine Tochter”, sagte der König und lächelte sie liebevoll an. „Ich hoffe, du kehrst schon bald zu uns zurück.” Er umarmte sie noch einmal.
Marco begleitet Lisa auf ihr Zimmer. Er entschuldigte sich immer wieder für das Leid, das ihr hier widerfahren war. Ich werde alles wieder gutmachen, das schwör ich.” Zärtlich nahm er sie in die Arme. Sie setzten sich auf Lisas Bett. Marco nahm ihre Hände in die Seinen.
„Warum wartest du nicht noch einen Tag? Wir könnten Morgen Hochzeit feiern”, drängelte er.
„Das geht nicht. Ich muss zu Julia.”
„Du bist schon solange unterwegs. Wie kommst du darauf, dass ein Tag etwas ändern würde?”
„Vor der Felswand, als ich dem Sterben nahe war, da war mir Julia so nah. Ich spürte, wie auch sie immer schwächer wurde und nicht mehr lange durchhalten kann, vor allem jetzt, da auch ich keine Kraft mehr hatte. So sind eben Zwillinge. Immer im Wissen um den Anderen. Ich muss zu ihr. Es ist höchste Zeit.”
„Was willst du allein gegen Hogla und seine Horde ausrichten? Das ist töricht. Er beherscht die Berge.”
„Ich muss es probieren. Ich kann nicht warten. Sonst wird es zu spät sein. Vielleicht kann ich mich ja vorbeischleichen.”
„Das schaffst du nicht. Wenn dich Zotaka nicht bemerkt, so werden dich seine Höllenviecher aufspüren.”
Lisa lief es kalt den Rücken hinunter. „Was für Höllenviecher?”
„Es sind nur Gerüchte, die aus den Bergen berichtet werden. Niemand hat je eins gesehen und es überlebt. Man hört nur von gerissenem Vieh und von Spuren, die kein Fährtenleser deuten kann.”
Lisa schluckte. „Nenn mich ruhig töricht. Trotzdem muss ich es versuchen. Mir bleibt keine Wahl.”
„Selbst mit allen meinen Mannen kann ich Hogla nicht bezwingen. Aber ich könnte versuchen, die Bergkobolde gegen Hogla aufzubringen. Zusammen mit ihnen haben wir vielleicht eine Chance.”
„Ja, mach das. Und dann folgst du mir nach. Falls sie mich erwischen, werde ich dir am Eingang ein Zeichen hinterlassen.”
„Gut. So machen wir das. Gute Nacht, Prinzessin.”
***
Im Morgengrauen stand Lisa auf und packte ihre Habseligkeiten zusammen. Mit Pipo auf den Arm lief sie zu den Stallungen. Marco wartete bereits auf sie. Er nahm ihre Hand und schaute ihr in die Augen. „Ich hoffe Prinzessin, du vergisst dein Versprechen nicht.” Er holte die Locke aus seinen Brustbeutel und hauchte einen zarten Kuss darauf.
Lisa war tief berührt und nickte verlegen.
Der Stallknecht brachte ein silbergraues Ross. Sehr groß und stolz war das Tier. Marco half Lisa aufsitzen, bevor er sich hinter sie auf das Pferd schwang.
Als sie durch das eiserne Tor der äußeren Mauer ritten, traute Lisa ihren Augen kaum. Vor der Burg in dem frisch angelegten Garten sah man grüne Triebe aus der verbrannten Erde wachsen.
„Schau’ nur Marco”, rief sie und deutete auf die zarten Pflänzchen.
Außer sich vor Freude drückte der junge Mann Lisa an sein Herz.
„Mit dir ist das Glück zu uns zurückgekehrt, meine kleine Braut. Nun weiß ich, dass sich von nun an alles zum Guten wenden und unser Land wieder in seiner einstigen Schönheit erblühen wird.”
Von der Zinne der Stadtmauer erscholl eine Fanfare. Lisa drehte sich um und sah den König am Fenster stehen. Er winkte mit beiden Armen.
Lisa winkte zurück und deutete auf die jungen Triebe.
Der König nickte und warf ihr eine Kusshand zu. „Komm’ bald zurück, meine Tochter”, rief er ihr zu.
„Er hat dich in sein Herz geschlossen”, meinte Marco glücklich lächelnd. „Das ist auch kein Wunder. Du bist das hübscheste Mädchen das ich kenne, schöner als eine Rosenknospe und schöner als ein strahlender Stern und du bist meine Braut.” Er legte die Arme um Lisa und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Nacken. Dann rief er: „Silberwolke geschwind, bring uns zurück in den Wald.” Das Ross hob sich in die Lüfte. Rasend schnell zog die graue Landschaft unter ihnen vorbei. Als sie das Gebirge überflogen, sah Lisa schon von Weitem die mächtige Eiche stehen. Genau davor landete das Pferd. Marco sprang aus dem Sattel und half Lisa absteigen.
„Danke, dass du mich wieder zurückgebracht hast”, sagte Lisa und reichte ihm die Hand.
Er wehrte mit einer Geste ab. „Ich habe dir zu danken. Dass du meinen geliebten Vater wieder gesund gemacht hast, kann ich dir niemals vergelten.”
„Darf ich dich noch etwas fragen, Marco?”
Der junge Mann nickte.
„Wo ist eigentlich deine Mutter?”
Ein schmerzlicher Zug trat auf Marcos Gesicht. „Das ist eine traurige Geschichte, die ich dir später einmal erzählen werde. Außerdem möchte ich dich nicht mit meinem Kummer belasten.”
Doch Lisa ließ nicht locker. Sie wollte unbedingt wissen, warum Marco plötzlich so traurig war. „Bitte Marco, erzähl’ schon.”
Der junge Mann schwieg eine ganze Zeit, bevor er zögernd antwortete. „Sie wurde verschleppt.”
„Verschleppt?” fragte Lisa, „Von wem?”
„Von Hogla, als er unser Land zerstörte.”
„Wie konnte das nur passieren? War sie nicht sicher in eurer Burg?”
„Sie befand sich nicht in der Burg, sondern war mit einer Hofdame ausgeritten. Hoglas Überfall kam so plötzlich, dass sie die rettende Burg nicht mehr erreichen konnten. Als der Kampf zu Ende war und sich der Bösewicht zurück zog, kamen das Pferd meiner Mutter und das ihrer Begleiterin allein nach Hause. Wir ahnten Fürchterliches, was sich wenig später auch bestätigte. Die Hofdame fand man erschlagen unter einem Baum liegen. Von meiner Mutter fehlte jede Spur. Wir haben das ganze Land durchforscht, leider vergebens.”
„Das ist ja schrecklich.” Lisa war erschüttert und hoffte, diesem Mörder nie begegnen zu müssen.
„Ja Lisa, aber das ist nun schon viele Jahre her. Wir haben versucht in Hoglas unterirdisches Reich einzudringen, leider ohne Erfolg. Wir fanden nicht einmal einen Eingang.” Marco seufzte laut. Ihm fiel es schwer, von der Niederlage zu sprechen, die sein Vater erlitten hatte. „Ich möchte das alles schnell vergessen, obwohl ich meine Mutter sehr geliebt habe. Sie war eine wunderbare Frau. Damals zog Citta zu uns und kümmerte sich um meinen Vater, den die Trauer um seine geliebte Frau zu einem gebrochenen Mann machte”. Marcos Stimme wurde immer leiser. Doch dann straffte er sich und hob den Kopf. Er deutete auf den Ring an Lisas Finger und erinnerte sie erneut an das Versprechen. „Ich werde auf dich warten.” Er umarmte sie zum Abschied und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen. Man sah ihm an, wie unglücklich er war, sich von dem Mädchen zu trennen, das er sehr liebte und dem er viel zu verdanken hatte. Als er auf dem Pferd saß, sah Lisa eine Träne aus seinem Auge fließen. Marco flüsterte dem Tier etwas ins Ohr. Daraufhin hob sich Silberwolke in die Lüfte und war bald hinter den Bergen verschwunden.
Lisa stand noch eine ganze Weile und starrte in die Luft, bis Pipo sie anstieß. „Träumst du, Prinzessin?”
„Nein, ich überlege gerade, ob ich jemals in diese düstere Burg zurückkehren werde.” Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, eines Tages in diesem grauen Land zu wohnen. Während sie noch sprach, fingen ihre Lippen an zu glühen. Sie spürte ganz deutlich den Kuss, den Marco ihr als Versprechen abnahm. Hastig wischte sie über ihren Mund und nahm sich vor, nicht mehr an Marco zu denken, was ihr ehrlich gesagt, gar nicht leicht fiel.
Der Pfad führte nach Norden über eine Bergwiese und wand sich wie eine Schlange nach oben. Die Berge kamen näher und waren bestimmt mehrere tausend Fuß hoch.
Je höher Lisa kam, desto heftiger blies der kalte Wind und schob dicke, graue Wolken vor sich her, die die Sonne völlig umhüllten.
Pipo saß auf Lisas Schulter und fror so fürchterlich, dass seine Haare zu Berge standen. Er hatte sich zu einer Kugel aufgeplustert.
„Brrrr”, piepste er. „Die Kälte ist ja kaum zu ertragen.” Seine Lippen waren blau gefroren, sein ganzer Körper bibberte.
„Komm’ in die Manteltasche, da ist es schön warm.”
Das tat er ohne zu zögern. Lisa hörte noch eine ganze Weile seine Zähne klappern.
Auf der Kuppe angelangt, blickte Lisa in einen tiefen Abgrund. Ihn musste sie überwinden, um in das schwarze Gebirge zu gelangen, das an der gegenüberliegenden Seite steil emporragte. Die steilen, kahlen Felsen wirkten wie eine undurchdringliche Steinmauer. Der eisige Wind biss in ihr Gesicht. Um sich wenigstens etwas vor der Kälte zu schützen, kramte Lisa mit steifen Händen ihre Mütze und Handschuhe aus dem Säckchen hervor. Den Schal band sie um den Hals. Als Pipo den Kopf aus seiner warmen Behausung herausstreckte, winkte Lisa ab. „Bleib’ wo du bist, Pipo, sonst erfrierst du mir noch.”
Der Abstieg in die tief eingeschnittene, schmale Schlucht, war eine lebensgefährliche Klettertour. Der Steig war nicht nur steil und steinig, sondern auch noch glitschig. Außerdem lag leichter Nebel über dem Abgrund und behinderte ihre Sicht. Immer wieder rutschte sie aus, drohte abzustürzen, konnte sich aber gerade noch an einem dürren Grasbüschel oder einem Felszacken festklammern. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, auf einer Seite die gähnende Tiefe, auf der anderen Seite die felsige Steilwand vor Augen. Dann endlich konnte sie den Grund der Schlucht erkennen. Der Steig wurde etwas flacher und führte um einen Bergvorsprung zur Talsohle. Hier unten wuchs nur niederes Buschwerk und verkrüppeltes Nadelgehölz. Von Zeit zu Zeit schneite es leicht. Die schroffen, schwarzen Felsen ragten bedrohlich, wie stumme Riesen vor ihr auf und warfen dunkle Schatten über das Land. Ein Adler kreiste mit weit ausgebreiteten Schwingen über sie hinweg. Mit einem kreischenden Schrei ließ er sich auf einem Felsvorsprung nieder.
Von weitem war ein leises Rauschen zu hören. Sie kam an einen Wasserfall, der über ausgewaschene Felsen in die Tiefe, und unten in einen kleinen See stürzte. Das Wasser rauschte unaufhaltsam wie eine eintönige Melodie und floss aus dem See in einen schmalen Bach, der sich durch die Felsenschlucht schlängelte. Am Ufer war das Wasser zu gezackten Eiskristallen gefroren. Lisa wusch sich das Gesicht. Fröstelnd schöpfte sie das eiskalte Wasser mit der Hand und trank ein paar Schlucke.
Mit einem Satz sprang sie über das Bächlein und lief suchend an der steilen Felswand entlang. Standen dort nicht die zwei jungen Eichen, die Tako der Bär ihr beschrieben hatte? Tatsächlich, die Stämme der Bäume kreuzten sich. Jetzt musste sie nur noch den Eingang zu diesem mächtigen Gebirge finden. Mühsam zwängte sie sich zwischen die Stämme. Dahinter lag der Eingang in eine dunkle Höhle. Sie zündete die Laterne an. Dann hielt sie das Zündholz an einen der Baumstämme. Als sei er mit Öl getränkt, flammte der Stamm heftig auf und schoss in die Höhe. Lisa machte einen Satz rückwärts. Mit so einer heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Das Feuer breitete sich aus und die Stämme brannten lichterloh. Das sollte als Zeichen für Marco genügen.
Ein holpriger Weg führte in das Innere der Berge. Doch nur ein kleines Stück, dann kam sie von der Höhle in eine schmale Schlucht, die seitlich von hohen Felsen begrenzt war. Trotzdem ging es nur sehr langsam voran, denn oft versperrten ihr Felsbrocken den Weg, die sie überwinden musste. Immer wieder blieb sie stehen, um in das vor ihr liegende Labyrinth zu lauschen. Doch alles war still, bis auf den Wind, der durch die enge, finstere Schlucht heulte. Ein wildes Gebirge, das kein Ende zu nehmen schien. Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war, als ein schmaler Lichtstreifen zwischen zwei Felsen schimmerte. So schnell sie ihre Füße trugen, hetzte sie auf das Licht zu.
Als sie ins Freie trat, bot sich ihr ein faszinierender Anblick. Lisa stieß einen Schrei aus. Sie stand auf einem grossen Erdhügel, von dem aus sie auf ein weites Plateau blicken konnte. Das Plateau war von hohen, steilen Felswänden umrahmt. Vor dem Erdhügel war die Ebene noch von Gras bedeckt. Der Rest lag unter Eis begraben. In der Mitte des Eisfeldes stand, auf einer Anhöhe, ein Schloss, völlig mit Eis überzogen. Es glitzerte wie ein riesiger, weißer Edelstein.
Lisa lief den Erdhügel hinunter und durchquerte die Grasfläche. Nur noch das weite Schneefeld trennte sie vom Schloss. Endlich war sie am Ziel.
Struppige Büsche und kahle Bäume ragten aus dem Schnee. Klirrende Kälte biss in ihre Haut. Sie bedeckte mit dem Schal Mund und Nase. Nur noch ihre Augen waren zu sehen. Trotz der strengen Kälte machte sie sich freudig auf den Weg. Mit klopfendem Herzen setzte sie ihren Fuß auf die unberührte Schneedecke, die leider nur an der Oberfläche hart gefroren war. Immer wieder brach sie ein und versank bis zu den Knien im Schnee. So kam sie nur mühsam vorwärts. Da kam auch noch Wind auf, der immer heftiger wehte. Dicke, graue Wolken brauten sich zusammen. Nebel hüllte sie ein. Mit furchtbarem Getöse fuhr ein gewaltiger Sturm durch die kahlen Bäume, die geisterhaft ihre dürren Arme nach Lisa ausstreckten. Die schneidende Kälte griff wie eine eiskalte Hand nach ihr und trieb Tränen in ihre Augen. Doch sie kämpfte sich weiter durch das Eis.
Waren da nicht dunkle Gestalten, die ihr zuwinkten. Sie verschwanden im Nebel, um kurz darauf erneut aufzutauchen. Wie durch einen Zwang folgte Lisa den kleinen, buckligen Männlein.
Ängstlich schaute sie sich um. Das Schloss lag weit hinter ihr. Sie konnte es nur noch schemenhaft durch den Nebel ausmachen. Neben ihr blies der Wind den Nebel auseinander, und gab den Blick auf zwei kleine Kerle frei. Entsetzt taumelte sie einige Schritte zurück und blieb wie gelähmt stehen. Es mussten Erdgnome sein, denn sie sahen genauso aus, wie die kleinen Leute bei der Nixe.
Sie sprangen auf Lisa zu. Mit ihren kräftigen Armen packten sie das Mädchen und zerrten sie mit sich. Die Schneefläche wurde dünner. Rechts neben dem Erdhügel hielten die Gnome vor der Felswand an. Nachdem ein Gnom einige beschwörenden Gesten in der Luft machte, tat sich knirschend ein verborgenes Tor auf. Dann schubsten sie die Prinzessin unsanft in einen Höhlengang. Lisa schlug abwehrend mit den Armen um sich und schrie verzweifelt um Hilfe. Doch die Bösewichte lachten gehässig und fassten nur noch fester zu. Als Zeichen für Marco ließ Lisa heimlich einen Handschuh fallen. Leicht bergab liefen sie in einen Gang, der nur spärlich durch ein paar Fackeln erhellt wurde.
Endlich ließen die boshaften Kerle das Mädchen los und trieben sie weiter vor sich her. Eine Eisentür versperrte ihren Weg, die einer der Gnome mit einem Fußtritt aufstieß. Lisa blieb wie erstarrt stehen, ließ abermals einen Handschuh fallen, bevor sie aus dem Gang trat. Wo befand sie sich? Was war das für eine seltsame, düstere Gegend?
„Lauf weiter!” herrschte sie einer der kleinen Kerle unwirsch an und gab ihr einen Stoß in den Rücken.
Lisa erkannte in weiter Ferne ein düsteres Schloss, das hoch oben auf einem schroffen Felsen ruhte. Ein schmaler Weg führte durch eine mit bizarren Steinen übersäte Ebene. Auf einigen der Steine saßen große, schwarze Vögel. Zwischendurch konnte man Krater sehen, die Rauch und Feuer spieen. Sprudelnd und brodelnd stieg glühende Lava hoch, verschwand wieder im Schlund und wurde erneut herausgeschleudert. Dürre Bäume standen reglos in der Gegend herum und reckten ihre blattlosen Äste gespenstisch in die Luft. Es roch nach Schwefel und fauligem Holz. Hier wuchs keine Vegetation, nichts Grünes weit und breit. Der kupferrote Himmel, der über diesem düsteren Land lag, verstärkte noch die bedrückende Stille. Doch es war kein Himmel, der sich über die unheimliche Gegend wölbte. Es sah eher wie ein rotes Tuch aus, das dieses beängstigende Land überspannte. Nur die feuerspeienden Kamine erhellten es.
Lisa konnte nur schwer atmen. Die Luft war stickig und stieg beißend in ihre Nase.
Da drang ein gellender Schrei durch die Luft. Lisa zuckte zusammen. Ein großer, schwarzer Vogel flog über ihre Köpfe hinweg. Seine glühenden Augen starrten das Mädchen böse an. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Vögel im Tal des Todes.
„Bring König Hogla die Nachricht, dass wir auf dem Weg zu ihm sind”, sagte einer der Erdgnome zu dem Vogel, der eilig davon flog. Hämisch grinsend gab der kleine Unhold Lisa wieder einen Schubs in den Rücken.
„Du wirst sehen, bei uns wird es dir gefallen”, sagte der zweite Bösewicht spöttisch. Sein schallendes Gelächter gellte wie ein Echo vielfach von den Kratern zurück.
Pipo schaute aus der Manteltasche. „Was ist denn los? Wo sind wir eigentlich?”
Lisa legte ihre Hand über seinen Kopf und flüsterte: „Verkriech’ dich wieder. Es ist besser sie wissen nichts von dir.”
Ein Gnom trat neben sie. „Mit wem sprichst du?” herrschte er sie an.
„Mit mir selbst. Ich führe Selbstgespräche, wenn du nichts dagegen hast.”
„Los, weiter!” grunzte der Gnom.
***
Der Weg war mit unzähligen spitzen Steinen gespickt und sie kamen dem Schloss nur langsam näher. Lisa stolperte mehr, als sie lief. Außerdem war es so furchtbar heiß, dass Lisa Schweiß von ihrer Stirn tropfte. Abgekämpft schleppte sie sich dahin, bis sie vor Erschöpfung einfach stehen blieb. Und das Schloss lag immer noch in weiter Ferne.
„Ich kann nicht mehr weiter.” Ihre Stimme versagte. „Ich werde keinen Schritt mehr laufen.” Trotzig schob sie ihre Unterlippe vor und ließ sich auf die Knie sinken.
Doch hatte sie nicht mit der Boshaftigkeit der kleinen Kerle gerechnet. Mit wütenden Gesichtern zerrten sie das Mädchen an den Haaren hoch. Einer steckte seinen Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff ertönen. Der schwarze Vogel erschien wieder am Himmel. Mit lautem Gekreische setzte er sich vor Lisa auf den Weg.
„Sie weigert sich weiterzulaufen”, zeterte einer der Gnome und deutete mit seinen kleinen, dürren Fingern auf Lisa. Sein verschrumpeltes Gesicht verzog sich zu einer bösen Fratze.
Rücksichtslos packte der Vogel mit seinen starken Krallen Lisas Zopf und flog mit ihr davon.
In der Luft hin- und her baumelnd, schrie sie den Vogel an: „Du tust mir weh, lass mich sofort los.” Tränen liefen über ihre Wangen.
„Ha, ha, ha, ich lach’ mich kaputt. Willst du wirklich, dass ich dich loslasse?” krächzte der Vogel spöttisch: „Das würde dir aber schlecht bekommen.” Er flog gerade über eine Sumpflandschaft. Brodelnd stiegen Blasen an die Oberfläche und zerplatzten blubbernd.
Lisa musste ihm recht geben. Sie befanden sich schon viel zu hoch in der Luft. Hätte er sie losgelassen, wäre sie mit Sicherheit in dem Morast versunken.
Das unheimliche Schloss, mit seinen zahlreichen, spitzen Türmchen kam schnell näher und wurde größer und größer. Gewaltig und finster zeichnete es sich wie ein riesiges Monstrum vom roten Horizont ab.
Der Vogel flog auf den Vorhof des Schlosses. Vor einem großen, eisernen Tor setzte er das Mädchen unsanft ab. Mühsam rappelte sich Lisa hoch und schaute in die Tiefe. Von hier oben konnte sie eine Treppe sehen, die in den Felsen gehauen, sehr steil nach oben führte. Vom Fuße des Berges, bis zur Plattform, auf der sie stand. Auch einen Fluss mit schwarzem, aufgewühltem Wasser machte sie aus. Er schlängelte sich durch die ausgebrannte Landschaft. Lisa hatte gar nicht gemerkt, dass der Vogel ihn überflogen hatte.
Es dauerte nicht lange und die beiden Erdgnome kamen wild schnaufend über die schmalen, steilen Stufen hochgerannt. Noch außer Atem trommelte einer der beiden mit seinen Fäusten an die Tür. „Wächter öffne das Tor”, schrie er lauthals.
Lisa erschrak fürchterlich, als die Tür laut knarrend aufging. Ein grässliches Wesen kam dahinter zum Vorschein. Lange, graue Zottelhaare hingen von seinem Kopf bis über die Schultern. Es war mit einem langen Speer bewaffnet. Seine Kleidung bestand aus einer silberglänzenden, enganliegenden Hose und einem Kettenhemd, das bei jeder Bewegung laut klirrte. Wilde, schwarze Augen saßen tief in den Augenhöhlen. Statt Finger hatte dieses Ungetüm scharfe, gebogene Krallen wie ein Raubvogel. Dieses Geschöpf sah gefährlich aus. Und mit Sicherheit war es das auch.
Die Worte des alten Kräuterweibleins kamen Lisa in den Sinn. „Deine Kette bringe ich König Hogla.”
Wenn das stimmte, würde es wohl aussichtslos sein, je wieder in den Besitz ihres Schmucks zu gelangen, oder gar von hier zu fliehen. Ihre Hoffnung schwand dahin.
Durch einen Gang gelangten sie in eine ausgedehnte, runde Halle. Die Kuppel und die Wände waren aus schwarzglänzendem Marmor. Dicke goldene Säulen trugen die gewölbte Decke. Dutzende Fackeln steckten in goldenen Fassungen, die an den Wänden angebracht waren, und die den gespenstischen Raum in flackerndes Licht tauchten. Auf einem Podest stand im hinteren Teil der Halle ein pompöser, goldener Thron. Auf ihm hockte ein dickbauchiger Erdgnom. Seinen mächtigen Kopf zierte eine goldene, edelsteinbesetzte Krone. Nur die übergroßen, spitzen Ohren ragten darüber hinaus. An seinem Hals baumelten unzählige, goldene Ketten und an jedem Finger steckten gleich mehrere wertvolle Ringe. Ein schwarzer Umhang hing lässig über seinen Schultern. In seinem faltigen Gesicht saßen zwei grausame, schwarze Augen, die voll Hass auf das Mädchen gerichtet waren. Seine dichten, struppigen Augenbrauen zog er ärgerlich in die Höhe. Das ließ sein Gesicht noch finsterer erscheinen.
Seitlich, neben dem Thron standen bewegungslos zwei seltsame, zottelige Statuen mit langen Hälsen. Im flackernden Licht sahen sie aus, als würden sie leben. Aus ihrem halboffenen Maul ragten gelbe Zähne hervor. Auf dem Rücken hatten diese seltsamen Figuren einen Kamm aus spitzen Zacken. So wie Drachen ihn haben. Ihre Augen glühten wie feurige Kohlen. Jede Bewegung schienen sie zu verfolgen. Doch ihr dichtbehaarter Körper war starr wie Stein. Waren sie aus Stein oder lebten sie? Lisa war sich nicht sicher.
Sie wurde vor den Thron gestoßen. Der Erdgnom hob seine beringte Hand, dass die Edelsteine im Licht der vielen Kerzen nur so funkelten.
„So so, du bist also die reine Jungfrau, die den Eisprinz erlösen will?” Er schürzte verächtlich seine wulstigen Lippen. Dann lachte er so laut, dass es durch die ganze Halle dröhnte.
„Was meint ihr?” Er richtete das Wort an die beiden Gnome, die Lisa hergeschleppt hatten. „Wird sie es schaffen, von hier zu entkommen?”
Die Angesprochenen schüttelten den Kopf und lachten höhnisch. „Nein, niemals Majestät”, erwiderten sie.
„Hast du das gehört, Prinzessin? Du wirst also Dauergast bei mir sein, bis du im Kerker verfault bist. Du dumme Göre, hast du wirklich geglaubt, du könntest meine Pläne durchkreuzen?” Er lachte spöttisch. „Bald, sehr bald, werde ich König über das ganze Land sein. Niemand wird das verhindern.” Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. „Niemand”, brüllte er.
Die beiden Gnome zuckten zusammen. „Du bist der Größte, König Hogla”, katzbuckelten sie unterwürfig.
Lisa schaute Hogla fest in die Augen. Nur nicht zeigen wie schwach sie sich in diesem Augenblick fühlte.
„Warum glotzt du denn so, du kleiner Wurm?” herrschte er sie zornig an. „Hast du noch nie einen Erdgnomen gesehen? Dazu wirst du nun ausreichend Gelegenheit erhalten.”
Lisa schwieg. Was für einen Zweck hätte es, sich mit diesem miesen Kerl anzulegen?
„Um sicher zu gehen, dass du keine Zicken machst”, erhob Hogla erneut seine Stimme, „werden wir dir ein besonders tiefes, finsteres Verlies aussuchen.” Er stand auf und ballte drohend seine Faust. Seine kleine, untersetzte Gestalt bebte, als er schrie: „Schafft sie fort, in das unterste Erdloch.” Er deutete mit seinen beringten Wurstfingern auf Lisas Gesicht. „Ihr sorgt dafür, dass mir diese hässliche Visage nicht mehr vor meine Augen kommt.” Seine Stimme überschlug sich vor Wut.
Die Gnome senkten demütig ihre Köpfte. „Wie ihr befehlt, Herr.”
Hogla ließ sich auf seinen Thron zurückfallen und trommelten wütend mit seinen Fingern auf seinen dicken Wanst.
Die beiden Gnome trieben Lisa aus dem Saal, einen langen Gang entlang, bis zu einer Treppe. Unzählige Stufen führten in die Tiefe, die schier kein Ende nehmen wollten. Endlich erreichten sie einen großen Höhlenraum, von dem beiderseits mehrere vergitterte Türen abgingen. Einige Fackeln erhellten nur dürftig das finstere Gewölbe. Einer der beiden Gnome stieß mit dem Fuß eine schwere Eisengittertür auf und schubste das Mädchen hinein. Ein Schlüssel wurde von außen herumgedreht. Der fensterlose, stockfinstere Raum roch unangenehm und stickig. Außerdem war es sehr kalt hier. Eine Chance zu entkommen, schien es nicht zu geben.
Lisa brauchte erst einmal etwas Licht und kramte aus ihrem Säckchen die Laterne hervor. Zum Glück war sie sparsam mit dem Öl umgegangen. Der Behälter war noch Dreiviertel voll und würde sicher noch einige Zeit Licht und Wärme spenden. Nachdem sie den Docht angezündet hatte, schaute sie sich erst einmal in ihrem Gefängnis um. Was sie sah, war alles andere als einladend. Der Raum war kahl, bis auf einen kleinen Holzschemel, der als einziges Möbelstück, neben einem Haufen Stroh stand. Als Lisa sich mit einem tiefen Seufzer auf das Stroh fallen ließ, hörte sie ein lautes „Aua”. Erschreckt sprang sie wieder auf ihre Beine und hielt die Laterne hoch. Ein kleiner Kopf mit riesigen Ohren erschien. Zwei hagere Ärmchen folgten. Ein Männlein rangelte sich aus dem Stroh heraus und blickte völlig verdattert auf das Mädchen.
„Du willst mich wohl umbringen”, stieß es aufgeregt hervor. „Was machst du überhaupt hier? Du bist doch ein Menschenkind, oder?”
Lisa nickte und nannte ihren Namen. Dann erklärte sie, dass seine Brüder sie hierher verschleppt hatten.
„Meine Brüder?” Der kleine Kerl lachte laut auf. Aber es war ein schmerzhaftes, trauriges Lachen. „Ha, ich habe keine Brüder hier.”
„Bist du nicht auch ein Erdgnom?” fragte Lisa neugierig, während sie den kleinen Kerl musterte.
„Ja, ich bin auch ein Gnom, aber ein Entführter.”
„Entführter, wie soll ich das verstehen?”
„Das ist eine lange Geschichte.” Plötzlich fing er bitterlich an zu weinen.
„Wie heißt du denn?” fragte Lisa mitleidig.
„Tori”, erwiderte er schluchzend.
Lisa griff nach seiner Hand. Die Finger waren dünn und eiskalt. Er hatte nur ein einfaches Hemdchen und eine zerschlissene Hose an, aus der nackte Füße hervorschauten. Um ihn zu wärmen, schlang sie ihre Arme um seine schmalen Schultern und drückte ihn fest an sich. Mit einem tiefen Seufzer legte er seinen Kopf in ihren Schoß, und war auch schon eingeschlafen. Sie deckte ihre Felldecke über den ausgemergelten, zitternden Körper.
Doch nur kurz währte sein Schlaf und er richtete sich wieder auf. Lange schaute er das Mädchen mit seinen großen, traurigen Augen an. „Jetzt weiß ich, wer du bist”, rief er. „Du bist das Menschenkind, das den Eisprinzen erlösen will.”
„Woher weißt du das?” fragte Lisa.
„Ich hörte wie sich zwei Erdgnome unterhielten. Das war, bevor ich in dieses Loch geworfen wurde.” Tori schüttelte bedenklich den Kopf. „Da gibt es leider ein Problem”, sagte er betrübt.
„Ein Problem, wie meinst du das?”
„Du sitzt genau wie ich hinter Schloss und Riegel, und aus dem Gefängnis der Erdgnome ist noch nie jemand entkommen.”
Tori hatte leider Recht. Lisa befürchtete, dass hier ihre Reise zu Ende war. Den Kopf zwischen den Knien, die Arme schlaff herunterhängend, dachte sie nach, wie es weitergehen sollte. Wenn sie doch wenigstens ihre Kette hätte.
Pipo kam aus der Manteltasche und sprang auf Lisas Schoß.
„Eine Maus, eine Maus”, schrie der kleine Gnom und hechtete mit einem Sprung in den Strohhaufen.
Pipo war entrüstet. Er war doch nur ein kleiner, harmloser Mäuserich und kein Ungeheuer. Es war ihm schleierhaft, dass alle so viel Angst vor ihm hatten.
„Komm’ wieder raus Tori”, sagte Lisa. „Pipo tut keiner Fliege was zu Leide. Er ist mein allerbester Freund.”
Der Gnom steckte seinen Kopf aus dem Stroh und schaute mit weitaufgerissenen, ängstlichen Augen auf Pipo. Als er sah, wie Lisa die Maus in der Hand hielt, kam er langsam aus seinem Versteck hervorgekrabbelt. Er kratzte sich ausgiebig am Kopf, starrte auf Pipo und schwieg. Eine steile Falte erschien zwischen seiner Nasenwurzel. Man konnte förmlich sehen, dass hinter seiner gefurchten Stirn, seine kleinen, grauen, Zellen angestrengt arbeiteten. Lisa und Pipo warteten gespannt.
Nach einer ganzen Weile nickte Tori mehrmals. „Vielleicht ist er ja doch zu etwas nützlich.”
Pipo stellte sich breitbeinig vor den Gnom hin und brummte verdrossen. „Meinst du etwa mich?”
Als Tori bejahte, sagte Pipo mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme: „Was willst du denn damit sagen? Dass ich eine nichtsnutzige Maus bin, die aber vielleicht doch noch zu etwas taugt?”
„Halt, halt Pipo”, griff Lisa ein. „Niemand behauptet das. Tori wollte dich bestimmt nicht beleidigen. Ich kann bestätigen wie tapfer du schon warst. Denk’ nur an Takos Frau. Wenn du nicht so furchtlos eingegriffen hättest, wäre ich vielleicht jetzt schon tot, oder zumindest schwer verletzt.” Sie nahm Pipo in die Hand und drückte ihn liebevoll an ihre Wange. Zu Tori gewandt, meinte sie: „Er ist ein sehr mutiger Mäuserich und hat mir schon mehrmals das Leben gerettet, das werde ich nie vergessen.” Zärtlich küsste sie ihren kleinen Freund auf seine zarte Schnauze.
Tori beobachtete Pipo, der sich mit schmachtenden Augen von seiner großen Freundin abschmatzen ließ. „So so”, meinte er. „Du bist also nicht nur klein, sondern auch mutig. Dann könnte mein Plan klappen.”
Lisa mit Pipo auf der Schulter, setzte sich auf den Hocker. „Ich höre Tori. Wenn du einen Ausweg aus unserer misslichen Lage weißt, wäre ich dir sehr dankbar.”
„Ja vielleicht. Ich möchte nämlich auch hier raus, und so schnell es geht, nach Hause zu meiner Familie.”
„Wie kommst du eigentlich hierher? Und warum hat man dich eingesperrt?” fragte Lisa.
Tori holte mehrmals tief Luft bevor er antwortete. „Ich bin zwar auch ein Gnom, aber ein friedlicher. Auch wenn ich hier im Gefängnis sitze, bin ich noch lange kein Verbrecher.”
„Das habe ich keinen Moment geglaubt”, tröstete ihn Lisa. „Du hast so ein ehrliches Gesicht.”
„Wirklich?” Tori hob stolz seinen Kopf. Für Komplimente war er sehr empfänglich. „Eigentlich bin ich kein Erdgnom, sondern ein Berggnom. Aber wir gehören zu demselben Geschlecht wie die da oben.” Er streckte verächtlich seinen Daumen in die Luft. „Der einzige Unterschied ist, wir leben in den Bergen und die leben unter der Erde.”
Lisa schaute Tori entsetzt an. „Willst du damit sagen, dass dieses Land im Inneren der Erde liegt?”
„Aber ja doch. Wusstest du das nicht? Ist dir nicht aufgefallen, wie dunkel es hier ist, dass weder Sonne, Mond noch Sterne zu sehen sind?”
„Jetzt verstehe ich”, sagte Lisa. „Deshalb wächst hier keine einzige Pflanze. Die Bäume sind kahl und blattlos. Die Erde ist verbrannt.”
„Das sind keine Bäume die du sahst Lisa, das sind bizarre Gebilde aus kalter Lava. Hast du nicht die feuerspeienden Krater gesehen? Sie werfen Lava und Gestein heraus und so entstehen die vermeintlichen Bäume.”
„Oh Gott Pipo, wo sind wir da nur hingeraten?” rief das Mädchen außer sich.” Trübe Gedanken der Hoffnungslosigkeit überschatteten sie. Traurig senkte sie den Kopf und weinte leise.
Pipo schmiegte sich an ihre Wange. „Na, na Prinzessin, wer wird denn gleich weinen. Es wird bestimmt alles wieder gut”, tröstete er sie, obwohl er das eigentlich selbst bezweifelte. Trotzdem bemühte er sich, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben.
„Du hast mir immer noch nicht erzählt wie du hierher gekommen bist, Tori.”
Der Gnom seufzte laut. „Bei einem ihrer Überfälle haben mich die Schufte dort oben entführt. Hogla meinte wahrscheinlich, wenn er eine Geisel in der Hand hat, würde mein Vater nichts gegen ihn unternehmen. Und er hatte recht, der Gauner. Mein Vater wollte mein Leben nicht gefährden, deshalb hielt er sich bis jetzt zurück.”
„Wie lange bist du schon hier gefangen?”
„Ich weiß es nicht so genau, aber es sind schon viele Tage.” Er blickte traurig auf seine Hände. Doch dann hob er den Kopf. „Das Jammern hilft jetzt auch nichts. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.” Tori sprang wild entschlossen auf.
„Wie stellst du dir das vor? Wir sind eingesperrt und werden, wie du selbst sagtest, von hier nie entkommen.”
„Vielleicht doch. Deswegen sagte ich vorhin, die Maus könnte uns unter Umständen nützlich sein.”
„Ich verstehe nicht, was du meinst Tori”, unterbrach Lisa den Gnom.
„Sieh’ nur wie klein sie ist.” Tori deutete mit seinen Fingern eine kleine Spanne an. Dann zeigte er auf die Gittertür. „Na, verstehst du jetzt was ich meine?”
Das Mädchen nickte. „Du meinst Pipo könnte durch die Gitter der Tür schlüpfen. Aber wozu sollte das gut sein?”
Pipo, der dem Gespräch der beiden aufmerksam gelauscht hatte, machte erst einmal ein ziemlich entsetztes Gesicht. Doch dann straffte sich seine Brust. Er lächelte, machte eine Verbeugung und sagte untertänig: „Immer zu Diensten Prinzessin, genau wie ihr befielt.” Sein Gesicht war erfüllt von grimmiger Entschlossenheit.
Tori überhörte das großspurige Gehabe. „Lasst mich nachdenken”, brummte er. Er legte die Hände an seine Stirn und schwieg mit geschlossenen Augen.
Lisa und Pipo setzten sich ins Stroh und warteten.
***
Es dauerte schon eine Ewigkeit und Lisa vermutete, Tori wäre eingeschlafen, genau wie Pipo, der auf ihrem Schoß leise schnarchte.
Doch Tori schlief nicht, denn er bewegte sich ab und zu. Jetzt öffnete er seine Augen. „Hat irgend jemand Pipo gesehen, als du ins unterirdische Land kamst?”
„Nein, ich glaube nicht. Pipo war immer in meiner Manteltasche.” Lisa schüttelte den Kopf. „Ich bin sicher, niemand weiß von ihm.”
„Das ist gut”, nickte der Gnom erleichtert. „Dann könnte mein Plan klappen. Wir schicken die Maus los.”
„Mäuserich”, kam von Lisas Schoß Pipos verschlafene Stimme.
„In Ordnung. Wir schicken also den Mäuserich los, denn er ist der einzige, der durch die Gittertür passt. Er soll sich erst einmal umschauen. Vielleicht erfährt er ja, was Hogla überhaupt mit uns vorhat. Dann werden wir weiter sehen.”
„Ich soll also spionieren, Detektiv spielen?”
„Ja, Herr Detektiv”, bestätigte Tori lächelnd.
Als Herr angesprochen zu werden, erfüllte den Mäuserich mit Stolz und dass er in seiner Aufgabe als Detektiv, der einzige war, der sie vielleicht aus dieser misslichen Lage zu befreien vermochte, hob sein Selbstvertrauen ganz erheblich. „Ich werde mein Bestes tun”, versprach er feierlich.
Lisa lächelte über so viel Mut. Er war ein pfiffiges Kerlchen und sie hatte großes Vertrauen zu ihrem kleinen Freund. Zuversichtlich strich sie über sein weiches Fell.
„Hör’ zu Pipo”, erklärte Tori. „Du solltest dich aber erst einmal in unserer Nähe aufhalten. Das Schloss hat mehrere Stockwerke, noch mehr Räume und unzählige Gänge. Da kann man sich leicht verirren. Wir befinden uns im untersten Bereich, sozusagen im Keller.”
„Das weiß ich doch”, unterbrach ihn Pipo. „Du musst also die Treppen nach oben steigen. Das wird für eine kleine Maus sehr schwierig, glaube ich.”
Pipo schaute Tori sehr streng an. „Ich bin stark.” Er stellte sich auf seine Hinterbeine und zeigte großspurig seine Muckis.
„Entschuldige Pipo, das war nicht böse gemeint. Sei aber vorsichtig und auf der Hut. Doch gibt es viele Schlupflöcher, wohin du dich bei Gefahr verstecken kannst. Sei niemals leichtsinnig oder zu mutig, das würde dir schlecht bekommen. Handle überlegt und gebrauche deinen Verstand. Und komme bitte von Zeit zu Zeit zurück, um uns Bericht zu erstatten. Bleibe nicht zu lange weg und lass dich nicht von Hoglas Schätzen blenden.”
„Ich bin eine Maus, ach was ein Mäuserich natürlich”, verbesserte sich Pipo. „Keine Sorge, ich begehre kein Gold und Edelsteine sind nur ein unnützer Ballast für mich.”
„Darüber bin ich sehr froh Pipo, ich wollte dich nur warnen. Es sind schon andere auf diesen Glitzerkram hereingefallen.”
„Ich doch nicht”, erwiderte er mit Bestimmtheit. „Wann soll ich aufbrechen?” fragte der Mäuserich unternehmungslustig.
„Am besten gleich”, erwiderte Tori.
„Du meinst sofort?” Das kam doch sehr überraschend für Pipo, doch ließ er sich nicht anmerken, dass er mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Bauch Detektiv spielte, noch dazu in dieser Räuberhöhle. „Nun dann will ich mich auf die Socken machen”, meinte er leichthin. Er küsste Lisa auf die Wange und winkte zum Abschied mit der Pfote. Vorsichtig lugte er durch die Gittertür. Dann schob er seinen Körper durch die Stäbe. Er schaute noch einmal zurück und sagte mit rauer Stimme: „Bis später ihr Beiden.”
„Hoffentlich geht alles gut, Tori. Ich habe furchtbare Angst um ihn”, bekannte Lisa, als Pipo weg war.
„Ich auch”, sagte der Gnom. „Aber ich glaube, er ist ein cleveres Bürschchen und lässt sich so leicht nicht unterkriegen.”
‘Glaubte er das wirklich, oder wollte er sie nur trösten?’ dachte Lisa.
***
Das Warten auf Pipo Rückkehr, war eine schwere Geduldsprobe für die beiden. Lisa lief nervös auf und ab und Tori kratzte sich wiederholt den Kopf.
Um die Wartezeit zu überbrücken, meinte Lisa: „Erzählst du mir etwas von deiner Familie?”
„Wenn dich das interessiert, gerne”, erwiderte Tori.
„Aber ja”, nickte Lisa.
„Wir wohnen zwar in den Bergen, haben aber in einem äußerst fruchtbaren Tal, haben wir Felder, Wiesen und Weinberge angelegt. Wir waren ein sehr glückliches Volk. Das missgönnte uns Hogla, der Erdgnomenkönig. König, bah, er ist eigentlich kein König. Er hat sich selbst zum König gekrönt. Weißt du, dass er ein Onkel von mir ist?” Als Lisa ungläubig den Kopf schüttelte, fuhr Tori fort: „Ja, er ist der Bruder meines Vaters. Früher lebte er sogar bei uns in den Bergen. Doch wollte er reich sein und Macht besitzen. Als er hörte, dass in der Erde unermessliche Schätze liegen, ist er sofort dorthin aufgebrochen. Er hat viele unserer Brüder überredet, mit ihm zu gehen, indem er ihnen Reichtum und Ansehen versprach. Hier leben alle bösen Geschöpfe, die nichts Gutes im Schilde führen. Hogla zieht sie wie ein Magnet an und bildet sie zu Räubern und Dieben aus. Er ist ihr großes Vorbild im Bösestun. Einmal in seinen Klauen, lässt er sie nie wieder los. Sie sind seine Sklaven bis an ihr Lebensende. Als er sich noch mit den Wesen der Finsternis verbündete, war seine Macht ungebrochen.”
„Meinst du die seltsamen Geschöpfe, die ich im Schloss gesehen habe? Die starr sind, wie Statuen?”
„Lass dich nicht täuschen, Lisa. Sie sind alles andere, als leblose Statuen. Und sie sind schnell. Mit diesen grässlichen Tiermenschen tyrannisiert er die ganze Erde. Er bedient sich ihrer Bosheit, um seine scheusslichen Pläne durchzuführen. Hogla beneidete uns, um unser schönes, fruchtbares Tal. Um in den Besitz unserer Heimat zu gelangen, hatte er vor, uns zu vernichten. Stell’ dir nur vor Lisa, er wollte seine eigenen Verwandten ausrotten. Seine Mutter, meine Großmutter, starb aus Gram über seine Untaten. Aber das ließ den Bösewicht kalt.” Tori ballte die Fäuste. Zornesröte stieg in sein Gesicht. „Eines Tages werde ich es ihm heimzahlen.”
Lisa strich tröstend über seine zerzausten Haare, als Tori fortfuhr: „Schlehenfeuer, die gute Feenkönigin kam uns mehrmals zu Hilfe und vertrieb die Galgenvögel. Doch dann holte sich Hogla den mächtigen Zauberer Zottaka in sein Reich. So nahm das Unglück seinen Lauf. Wenig später war Schlehenfeuer spurlos verschwunden. Obwohl wir sie wochenlang suchten, konnten wir sie nirgends finden. Auch ihr wunderschönes Schloss im Feenwald war nicht mehr da. Von einer alten Frau, die in der Nähe des Waldes in einer kleinen Hütte wohnt, erfuhren wir das ganze Drama um die Feenkönigin.”
„Die alte Frau?” fragte Lisa. „Wusstest du nicht, dass sie die verzauberte Schlehenfeuer ist?”
Tori schaute Lisa überrascht an. „Was sagst du da? Das ist ja ein dickes Ding. Davon hat sie uns nichts erzählt.” Er schüttelte ungläubig seinen Kopf.
„Denk’ dir nur, Zottaka hat sie in einen sterblichen Mensch verwandelt.”
„Das ist ja schrecklich”, rief der Gnom entsetzt. „Oh Gott, ich glaube das nicht, unsere gute Schlehenfeuer, ein Mensch.” Ganz verzweifelt über diese Nachricht, hielt er die Hände vor sein Gesicht und schluchzte.
Lisa nickte. „Es ist auch deswegen so schmerzlich Tori, weil Schlehenfeuer auch noch ihre Kinder verloren hat.”
Der Gnom hob den Kopf und schaute Lisa fragend an.
„Sie wurden durch diesen Bösewicht in sterbliche Silberbäumchen verzaubert.” Lisa seufzte bekümmert. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden auch sie, wie ihre Mutter unweigerlich zugrunde gehen. Hätte ich nur meine Kette, ich könnte vielleicht mit der Zauberblume sprechen. Sie wüsste bestimmt Rat. Ich glaube, wir sitzen ganz schön in der Patsche”, stammelte sie verzagt. Sie kniff die Augen zusammen und starrte durch das Gitter. „Wo bleibt nur Pipo? Er sollte doch nicht so lange fortbleiben.”
„Mm”, seufzte Tori. „Vielleicht hat man ihn ja geschnappt.”
Lisa lief eine Gänsehaut über den Rücken. Nervös lief sie im Kerker auf und ab. Sie befürchtete, Tori könnte Recht haben.
„Ich will dir ja keine Angst einjagen, aber das wäre eine Erklärung für sein langes Ausbleiben”, meinte Tori leise. „Eine andere wäre: Er ist zu waghalsig und will gleich das ganze Schoss auskundschaften.”
„Hoffentlich kommt das letzte in Frage”, murmelte Lisa und setzte sich auf den Schemel.
***
Sie fuhr hoch, als sie ein scharrendes Geräusch an der Tür vernahm. Pipo schob sich durch das Gitter. Was hing da Glänzendes um seinen Hals? Als er keuchend näher kam, erkannte Lisa einen goldenen Reif, den er über seinen Kopf gestülpt hatte.
„Pipo”, rief Lisa aufgebracht. „Was ist passiert?”
Der Mäuserich winkte ab. „Nichts weiter.”
„Wo warst du bloß so lange? Wir haben uns große Sorgen gemacht. Du solltest doch in der Nähe bleiben. Und woher hast du den goldenen Reif um deinen Hals? Erzähl’ schon!”
„Langsam, langsam Prinzessin”, unterbrach er Lisas Redeschwall. „Immer schön der Reihe nach.” Er sprang auf ihre Schulter. Das fiel ihm nicht leicht, weil der schwere Goldreif ihm hinderlich war. Deshalb streifte er ihn mit seiner Vorderkralle einfach ab und ließ ihn in Lisas Schoß fallen.
Lisa schaute sich das Schmuckstück genauer an. Es war aus dickem Gold, mit einigen weißen und roten Steinen besetzt und sicher sehr wertvoll. „Was ist, wenn die Erdgnome den Ring vermissen?”
Pipo lachte laut auf. „Das kann ich mir nicht vorstellen.”
„Warum nicht?”
„Das erfährst du später, denn ich möchte euch erst einmal erzählen, was ich alles gehört und gesehen habe.” Pipo holte tief Luft und erzählte sehr ausführlich. „Als ich das Gefängnis verließ, war es anfangs nicht so leicht, mich durch das Gewirr von Gängen und Räumen zurechtzufinden. Doch nach einiger Zeit ging es ganz gut. Ich sagte zu mir, ‘Pipo fang ganz oben an und arbeite dich nach unten durch.’ Gesagt, getan. Und so krakzelte ich erst einmal die Treppen bis zu den Türmen hoch. Ich fing an zu zählen, doch bei Siebzig ließ ich es bleiben. Glaubt mir, das war Schwerstarbeit.” Pipo kratzte sich am Kopf, bevor er weitersprach. „Oben angelangt, brauchte ich erst einmal eine Verschnaufpause. Ich versteckte mich in einer Nische und wartete. Fast wäre ich eingenickt, wenn mich nicht so ein merkwürdiges Geplärr, wie von kleinen Kindern, aufgescheucht hätte.”
„Hier in diesem finsteren Schloss leben Kinder? Das ist unvorstellbar, Pipo. Da müssen sich deine Lauscher bestimmt getäuscht haben.”
„Nein ganz sicher nicht. Als eine Tür geöffnet wurde, hörte ich wiederholt ein weinendes Kind. Um mir das näher anzusehen, wartete ich, bis abermals die Tür aufging. Mit einem Satz sprang ich ins Zimmer. Stellt euch nur vor, es war wirklich eine richtige Kinderstube, mit schreienden Babys, Winzlinge von Erdgnomen mit riesigen Ohrwascheln. Die Kleinen waren nicht größer als so.” Er zeigte mit den Krallen eine Spanne an. „Nun ja,” er streckte seine Vorderbeine weit auseinander, „oder so. Aber eigentlich interessierte ich mich nicht für den Nachwuchs dieser Fiesslinge und so machte ich mich bei der nächsten Gelegenheit aus dem Staub. In den darunter liegenden zwei Stockwerken gab es sehr vornehm eingerichtete Räume, doch schienen sie unbewohnt. Jedenfalls hielt sich dort kein einziges Wesen auf.”
„Ich schätze, es sind Hoglas persönliche Gemächer”, meinte Tori.
„Da kannst du Recht haben”, stimmte ihm Pipo zu. Er holte tief Luft, bevor er weiter erzählte. „In der Etage darunter, herrschte schon sehr viel mehr Betrieb. Erdgnome liefen emsig durch die Gänge, schleppten schwere Säcke auf den Schultern und verschwanden in verschiedenen Räumen. Ich schlüpfte mit einem der Gnome durch die Tür in einen großen Saal. Eine ganze Meute dieser fürchterlichen Kerle hielten sich dort auf. Während sie ihre Säcke ausleerten, belauschte ich ihr Gespräch. Was meint ihr, was sich in den Säcken befand?”
Lisa und Tori schauten sich an. Dann schüttelten sie den Kopf.
„Du wirst uns das sicher gleich verraten, oder?” meinte Lisa und kräuselte die Stirn.
„Ihr werdet es nicht glauben, aber die Säcke waren voll Diebesgut. Die Gnome kamen gerade von einem Beutefeldzug. Und was sie alles gestohlen hatten. Teller, Schüsseln und Leuchter aus Silber, aber auch kostbare Kleider, Schuhe und vieles mehr. Die Räume in diesem Stockwerk waren angefüllt mit allem möglichen Zeug. Ein Gnom sagte hämisch: „Diesmal hat es sich aber gelohnt.” Er schlug sich auf den Bauch vor Lachen, der gemeine Kerl.
Ich hatte genug gesehen. Als die Tür aufging, schlüpfte ich wieder aus der Kammer.” Pipo schwieg und starrte auf seine Füße.
„Was ist mit dir, Pipo? An was denkst du gerade?”
„Ich weiß nicht, Prinzessin. Es kommt mir immer noch unwirklich vor, was ich jetzt zu Gesicht bekam.” Er schüttelte den Kopf. „Stell’ dir vor, in einem Zimmer im zweiten Stock, sah ich eine Frau, eine Menschenfrau. Sie trug ein langes, weißes Gewand und saß in einem Lehnstuhl am Fenster. Es war eine sehr große Frau. Die blonden Haare, reichten bis zu ihrer Hüfte. Ihr blasses Gesicht sah sehr traurig aus. Ich konnte nur deshalb einen Blick in das Zimmer werfen, weil ein Gnom mit einem Tablett den Raum betrat.” Der Mäuserich schwieg und Lisa erinnerte sich an Marcos Erzählung über seine Mutter. Eine Vermutung schoss ihr durch den Kopf. „Pipo”, rief sie erregt. „Könnte es Marcos Mutter sein?”
„Marcos Mutter? Ich weiß es nicht. Doch möglich wäre das schon.”
„Es war ein glücklicher Zufall, dass du sie sehen konntest. Was machen wir nur? Wir müssen ihr unbedingt helfen.”
„Das wird nicht einfach sein. Ich sah, dass ihre Tür wieder verschlossen wurde. Aber ich habe mir das Gesicht des kleinen Unholden genau angeschaut, als er den Schlüssel in seine Jackentasche verschwinden ließ. Ihn erkenne ich unter Tausenden wieder.”
„Wie das, wo sich doch alle Erdgnome so ähnlich sehen.”
„Er hatte eine riesige schwarze Warze auf seiner Knollennase sitzen.”
„Aha”, erwiderte Lisa. Nach einer Weile meinte sie: „Wenn es uns gelingt zu entkommen, werden wir die Frau auf alle Fälle mitnehmen. Koste es, was es wolle.”
„Das ist leichter gesagt, als getan”, murmelte der Mäuserich.
„Was hast du gesagt, Pipo?”
„Ich meinte, dazu brauchen wir erst einmal den Schlüssel für das Zimmer der Frau.” Pipo kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Vielleicht kann ich ihn ja stibitzen, wenn alle schlafen.”
„Mmm”, gab Lisa zu bedenken. „Ist das nicht zu gefährlich?”
Pipo zuckte mit den Schultern. „Probieren werde ich es auf jeden Fall. Wenn es mir nicht gelingt, müssen wir halt die Tür aufbrechen.”
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich begab mich nun ins Erdgeschoss. Hier spielte sich das eigentliche Leben ab. Das geschäftige Gerenne war für mich nicht ungefährlich. Ich musste ganz schön aufpassen, dass mich keiner zertrat. Vorsichtig schlich ich mich, immer an der Wand entlang, in eine Nische, von der ich eine gute Übersicht hatte, sodass ich ausweichen konnte, wenn mir einer zu nahe kam. Zum Glück steckten überall Fackeln, die den Raum erhellten. Übrigens wird das ganze Schloss damit beleuchtet. Es gibt auch Fenster, aber durch sie fällt nur das spärliche, rote Licht der feuerspeienden Schlote. Der Saal war riesig, und vollgestopft von diesen Unholden. Hogla saß an einem langen Tisch, und mit ihm eine ganze Reihe vornehm gekleideter Artgenossen. Sie aßen aus Silbertellern und tranken aus goldenen Bechern. Einfach gekleidete Gnome servierten von großen, silbernen Tabletts, die köstlichsten Speisen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, beim Anblick der duftenden Braten, feinem Gemüse und erlesenem Obst.”
„Hier wächst doch nicht einmal ein Grashalm, geschweige denn Obst und Gemüse. Woher haben sie all die Köstlichkeiten?” unterbrach ihn Lisa.
„Natürlich alles gestohlen”, erwiderte Tori. „Diese Bande lebt ausschließlich von Diebesgut.”
„Stellt euch vor, wen ich noch dort wieder sah. Die scheusslichen, behaarten Steinwesen. An jeder Ecke findest du sie. Und alle Türen werden von den hässlichen Kreaturen mit den Krallenfingern bewacht. Brrrrr, mich graust es jetzt noch.” Pipo schüttelte sich angeekelt.
„Hast du gehört, was die Erdgnome sprachen?” fragte Lisa neugierig.
„Erst einmal haben sie nur geschmatzt, geschlürft und gerülpst. Ich dachte schon, ich wäre in einem Schweinestall. Kein bisschen Anstand haben diese Burschen. Hier hätte ich getrost meine gute Kinderstube vergessen können.” Er hielt inne. „Was meinst du Lisa, wer neben Hogla am Tisch saß?”
„Ich habe keine Ahnung, Pipo.”
„Unsere alte Freundin aus dem Wald, mit ihrem hässlichen Hündchen.”
Als Lisa nickte, erzählte Pipo weiter: „Da war noch ein anderer komischer Kauz. Sehr groß, bestimmt dreimal so groß wie Hogla. Sein hartes Gesicht sah so dürr und verhungert aus, als hätte er schon Wochen nichts mehr zwischen seine gelben Zähne gekriegt. Seine Kleider schlotterten nur so an seinem Leib. Du meine Güte, war dieser Kerl dürr. Dürr und furchterregend. Seine dunklen Augen stachen, wie Blitze. Böse, sehr böse. Mit seiner langen, spitzen Nase könnte er glatt jemanden aufspießen. Sein schwarzer Umhang reichte bis zur Erde und war mit so seltsamen Schriftzeichen bestickt. Auf seinem Kopf saß ein komischer schwarzer Spitzhut. Graue Zottelhaare quollen darunter hervor, die weit über seine Schultern reichten.”
„Das ist Zottaka, der große Zauberer”, schrie Tori aufgeregt. „Oh, oh, oh, das bedeutet nichts Gutes.”
„Was hat Hogla gesprochen?”, drängte Lisa. Doch der Mäuserich schwieg und verzog sein Gesicht. „Es wird dir nicht gefallen Prinzessin”, verkündete er nach einer Weile leis. „Ich fürchte, sie haben eine große Schweinerei vor.”
„Was meinst du damit, Pipo?”
„Hogla beabsichtigt einen Großangriff auf das Eisschloss. Er will unbedingt den Kristall der Kobolde. Dadurch erhofft er sich die Macht über das ganze Land.”
Lisa schlug die Hände zusammen. „Wie können wir das nur verhindern?”
Tori rannte aufgeregt im Kerker umher. „Dieser Stein darf niemals in die Hand des Bösen fallen. Das wäre unser Untergang. Hoffentlich”...
„Na ja”, unterbrach ihn Pipo. „Zum Glück gibt es für Hogla auch einige Schwierigkeiten.”
„Schwierigkeiten? Was für Schwierigkeiten sollte dieser Unhold noch haben, wenn er doch schon den mächtigen Zauberer Zottaka auf seiner Seite hat?”, meinte Tori resigniert.
„Mächtig ja, aber nicht allmächtig. Die Sache ist die: Zottaka braucht, den Samen einer Zauberblume für sein Vorhaben.”
„Was?” fiel Lisa ihm ins Wort. „Was hat die Zauberblume mit diesem Kerl zu tun?”
„Ich weiß das auch nicht, Prinzessin. Ich hörte nur, als sich zwei Gnome unterhielten, dass Zottaka eine Blüte der Zauberblume benötigt. Bei meiner Detektivarbeit, kam ich später auch in einen Raum, in dem eine Zauberblume wuchs.”
„Nein”, schrie Lisa und hielt sich erschrocken den Mund zu.
„Doch Prinzessin, da stand tatsächlich eine Zauberblume, die von einigen Gnomen eifrig begossen wurde. Unzählige Fackeln strahlten die Blume an. Ein Grom schrie zornig: „Willst du wohl endlich deine Knospe aufmachen.” Er schüttelte sie am Stiel, aber die Blume stand mit hängendem Kopf da und wollte ihre Blütenblätter nicht öffnen. Aus dem Gespräch der Gnome entnahm ich, dass sie den Samen vom Garten des Eisprinzen gestohlen hatten. Seitdem gibt es im ganzen Land keine einzige Zauberblume mehr. Alle sind verwelkt, abgestorben, verdorrt.”
„Ja, da hat Hogla wohl ein Problem”, sagte Pipo schadenfroh.
„Das er sicher mit Hilfe des Zauberers irgendwie lösen wird, fürchte ich.” Lisa war nicht so optimistisch wie ihr kleiner Freund.
„Ich verließ den Saal und begab mich in die oberen Kellerräume. Was ich hier vorfand, kann man mit Worten kaum beschreiben. Es übertraf alle meine Erwartungen.” Schwärmerisch verdrehte er seine Knopfaugen. „Eine Schatzkammer reiht sich an die andere. Soviel Gold, Silber, Edelsteine und Schmuck, hab’ ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Riesige Truhen und Kisten waren voll davon. Unvorstellbar, was dieser Mann besitzt. Er dürfte der reichste Gnom im ganzen Land sein, nein”, verbesserte er sich, „auf der ganzen Welt. Deswegen sagte ich auch vorhin, dass es ganz bestimmt niemandem auffällt, wenn ein Schmuckstück fehlt.”
„Hast du irgendwo meine Kette gesehen, Pipo?” Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. Wir brauchen auch die Kette von Schlehenfeuer und Silbertau. Nur so kann der Fluch, der auf dem Land liegt, abgewendet werden.“
„Das ist ja schön und gut. Doch wie soll ich in der kurzen Zeit, in den unzähligen Truhen die Schmuckstücke finden. Nein, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn du die Schätze dieses Bösewichts gesehen hättest. Einfach Wahnsinn!” Er machte eine Pause. „Ich frage mich nur, was dieser Kerl mit all’ dem Glitzerkram will?”
„Ich schätze, dadurch will er seine Macht präsentieren”, erwiderte Lisa nachdenklich.
Tori bestätigte das. Er kannte seinen Onkel.
„Es ist äußerst schwierig in den Schatzkammern herumzulaufen um nach deiner Kette zu suchen. Überall stehen diese scheusslichen Wächter mit den Krallenfingern. In deren Krallen zu fallen, wäre sicher mein Ende. Die würden mich zerquetschen, wie eine heiße Kartoffel.” Er ballte seinen Vorderfuß zu einer Faust und grinste.
„Was machen wir nur, ich muss unbedingt die Kette wieder haben”, jammerte Lisa.
„Tja”, seufzte Pipo laut. „Da muss ich wohl noch einmal als Schnüffler tätig werden. Oder habt ihr einen besseren Vorschlag?”
Als die beiden den Kopf schüttelten, meinte er: „Ich bin ziemlich kaputt von meiner Entdeckungstour. Es war ein hartes Stück Arbeit und es wird sicher nicht leichter werden.” Der Mäuserich gähnte laut. „Ich bin erschöpft. Bevor ich aufbreche, muss ich erst einmal eine kleine Pause einlegen. Ihr habt sicher nichts einzuwenden, oder Prinzessin?” Ohne eine Antwort abzuwarten, kuschelte er sich in Lisas Schoß und schon bald hörte man ihn leise schnarchen.
Um Pipo nicht zu wecken, unterhielten sich Lisa und Tori im Flüsterton.
***
Pipo schlug die Augen auf. Er reckte und streckte sich. „Das tat gut! Jetzt kann ich meinen nächsten Erkundungsgang antreten” Er sprang auf den Boden.
„Warte Pipo.” Lisa kramte in ihrem Säckchen und holte ein Stückchen Brot und Speck heraus. Auch eine kleine Ecke Käse war noch da. „Stärke dich erst einmal, bevor du aufbrichst.”
„Du hast recht, Prinzessin. Ein Happen zu essen, wäre nicht schlecht.” Er stopfte seine Backen voll. Doch dann hielt er inne. „Ein voller Bauch macht träge, das kann ich mir nicht leisten.” Er gab Lisa die Reste zurück. „Also, auf zur nächsten Runde. Doch bevor ich die Kette hole, werde ich mich erst auf die Suche nach dem Schlüssel machen.” Ohne sich diesmal groß zu verabschieden, sprang er auf und rannte zu der Gittertür. Horchend steckte er seine Ohrwascheln durch das Gitter.” Er nickte Lisa zu. „Es ist alles ruhig. Ich glaube die Zeit ist günstig.” Eilig schlüpfte er durch das Gitter und schlich sich davon. Er hatte bei seinem Erkundungsrundgang herausgefunden, wo die ganze Bande schlief. Es war ein großer Saal im ersten Stock. Die Gnome lagen, mindestens Fünfzig an der Zahl, in Dreierreihen, nebeneinander auf dem Boden. Es war eine große Herausforderung, den richtigen so schnell zu finden, denn der Raum war nur dürftig beleuchtet.
Pipo lief durch die Reihen und schaute nur auf die Nasen der Kerle. Es musste schon der Fünfunddreißigste sein, den er begutachtete. Knollennasen hatten alle, aber ihnen fehlte die Warze. Dann endlich fand er den Gnom mit dem besagten Gewächs auf seinem Zinken. Er lag auf der Seite, so dass Pipo nur eine Tasche untersuchen konnte. Leider befand sich dort kein Schlüssel. Also setzte er sich hin und wartete, bis der Kerl seine Lage verändert. Das konnte allerdings lange dauern. Aber Zeit hatte Pipo leider nicht. ‘Da muss ich wohl etwas nachhelfen’, überlegte er. Er krallte sich ins Haar des kleinen Mannes und zog so heftig wie er konnte. Und siehe da, der Gnom schrie laut „Aua” und drehte sich um.
Pipo konnte gerade noch zur Seite springen, sonst hätte der Bösewicht ihn unter seinem Körper begraben. Er wartete eine Weile, bis er ein leisen Schnarchen vernahm. Dann schlich er sich von hinten an den Schläfer und griff in die Tasche. „Na wer sagt's denn”, flüsterte er, als er den Schlüssel spürte. Behutsam zog er ihn mit seiner Kralle heraus.
Der Gnom wandte sich abermals um. Hatte er etwas gemerkt? Pipo verhielt sich mäuschenstill, was ihm als Mäuserich nicht schwer fiel. Dann zog er sich mit angehaltenem Atem ganz leise zurück. Der Schlüssel war aus Eisen und nicht leicht. Mit der Kralle verhakte er sich am Schlüsselbart und zog ihn hinter sich her. Das kostete seine ganze Kraft. Doch wusste er, was auf dem Spiel stand. Langsam näherte er sich dem Kerker, immer auf der Hut, nicht zu viel Krach zu machen.
Lisa war heilfroh, den mutigen, kleinen Kerl wieder zu sehen. „Jetzt brauche ich nur noch meine Kette”, meinte sie, nachdem sich Pipo von der Schinderei erholt hatte.
„Ich geh’ ja schon, obwohl ich ganz schön geschafft bin.”
Er wollte gerade zur Tür, als sie im gleichen Moment von außen aufgesperrt wurde. Pipo machte einen Satz rückwärts und versteckte sich im Stroh. Eine ganze Reihe Gnome betraten den Kerker. Auf ihren Schultern trugen sie schwere Stoffballen, die sie Lisa vor die Füsse warfen. Zwei der Männer schleppten eine Kiste mit Nadeln, Nähgarn, Bänder und Litzen aus golddurchwirktem Stoff, so wie Goldpaletten, Knöpfe und Edelsteine. Einer der Erdgnome stellte sich breitbeinig vor Lisa und sagte spöttisch: „König Hogla wünscht sich bis morgen früh neue Kleider. Mit deiner Zaubernadel wirst du das sicher schaffen”. lachte er hämisch.
„Eine Zaubernadel?” fragte Tori überrascht, als die Gnome den Kerker verlassen hatte. „Du kannst doch nicht etwa zaubern?”
„Aber nein, natürlich nicht. Meine Ahnfrau schenkte sie mir, als ich von zu Hause aufbrach. Aber sie ist nutzlos, denn sie hat ihre Zauberkraft verloren.”
„Wie kam das?” fragte Tori neugierig.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil sie in falsche Hände geriet.” Von Marco, seinem Vater und dem Land der grauen Erde erwähnte sie nichts. Marco! Es war das erstemal, dass sie wieder an ihn dachte. Was würde er sagen, wenn er wüsste, in welchem Dilemma sie sich befand. Sie schaute auf den Verlobungsring an ihrer Hand. „Ach wärst du doch jetzt hier”, seufzte sie leise.
„Und woher weiß Hogla überhaupt, dass du diese Zaubernadel besitzt?” hörte sie Tori fragen.
„Natürlich von der alten Frau”, schimpfte Pipo. „Du hättest der alten, undankbaren Hexe nicht helfen dürfen. Das war ein Riesenfehler.”
Lisa nickte, während Pipo von einem Ballen zum anderen sprang und zählte. „Sechs Ballen, wie sollst du das je in einer Nacht schaffen, Prinzessin?”
„Ach”, seufzte sie. „Mit der Zaubernadel wäre es kein Problem gewesen, doch ohne sie ist es unmöglich sechs Ballen Stoff zu verarbeiten.”
„Ich kann leider nicht nähen”, meinte Tori niedergeschlagen.
„Ich auch nicht”, echote Pipo und wandte sich zur Tür. "Ich mach mich jetzt auf die Socken und suche die Ketten."
„Viel Glück!”, wünschten Tori und Lisa fast gleichzeitig.
Der Mäuserich verschwand hinter der Gittertür.
„Ich kann schon nähen, aber das schaffe ich niemals in einer Nacht.” Lisa stützte den Kopf in die Hände und weinte. Dann stand sie auf, nahm eine Nadel aus dem Kasten und nähte und stickte die ganze Nacht, bis ihre Finger wund waren und ihre Augen brannten. Sie hatte gerade einmal ein Beinkleid fertig, als sie sich erschöpft neben Tori ins Stroh sinken ließ und sofort einschlief.
Vom Schlüsselgerassel wurden die Gefangenen geweckt. Mehrere Gnome stürzten in den Kerker. Als ihr Blick auf die Stoffballen fiel, zeterten sie. „Du faules Menschenkind, hast noch nicht einen einzigen Gehrock genäht.” Sie nahmen das fertige Beinkleid und schrien Lisa wütend an: „Du kommst hier nicht eher raus, bis du den Stoff aufgebraucht hast.”
Lisa setzte sich ins Stroh und weinte. „Dazu brauche ich ganz sicher Wochen, wenn nicht gar Monate.”
Tori nahm das Mädchen in den Arm und tröstete sie.
***
Eine Ewigkeit schien vergangen, als Pipos Kopf endlich durch die Gitterstäbe schaute. Um seinen Hals hatte er ein paarmal die goldenen Ketten geschlungen. Der Mäuserich hatte auch die Kette von Silbertau und Schlehenfeuer gefunden. Die Anhänger trug er auf seinem Rücken. Pipo schnaufte und hustete. Humpelnd kam er auf Lisa zugelaufen und sank kraftlos auf den Boden.
Lisa starrte mit Entsetzen auf den kleinen Kerl und schrie verzweifelt auf: „Was ist mit dir Pipo, bist du verletzt?”
Er nickte stumm. Sein Gesicht verzog sich schmerzlich.
Lisa hob ihn auf, um seine Beinchen zu untersuchen. Das eine Hinterbein war eingeknickt und hing schlaff nach unten. Es sah so merkwürdig verdreht aus und war wohl gebrochen.
„Ich habe es geschafft.” Er holte tief Luft und wiederholte: „Ich habe es geschafft.”
Lisa drückte den kleinen Kerl sanft an ihre Brust und flüsterte: „Mein liebster Freund, ich bin dir ja so dankbar.” Sie weinte vor Glück. Erst befreite sie den Mäuserich von den schweren Ketten, dann wandte sie sich an Tori: „Such’ bitte einen kräftigen Strohhalm. Wir müssen das Bein schienen.”
Sofort hechtete der Gnom in den Strohhaufen. Ein paar Sekunden später, hielt er einen dicken Strohhalm hoch. „Ich glaube Lisa, der ist dafür geeignet.”
„Danke Tori.” Sie brach ein passendes Stück davon ab und schob es über Pipos Bein. Dann riss sie noch einen Streifen von einem Stoffballen ab und verband das Bein, während Pipo bereits erschöpft eingeschlafen war.
Lisa betrachtete die Ketten. Die Steine waren zum Glück heil und strahlten wie eh’ und je.
Als Pipo aufwachte, schaute er auf sein eingebundenes Bein und fragte sich, ob er nun tatsächlich sein ganzes Mäuseleben humpeln würde. So behindert wie er nun war, würde er seiner Freundin keine große Hilfe mehr sein. „Bis das verheilt ist, wirst du mich wohl tragen müssen, und meinen Beruf als Detektiv werde ich leider auch an den Nagel hängen.” Er war frustriert. Er hätte besser aufpassen müssen. Doch war er nicht leichtsinnig gewesen. Wer konnte auch ahnen, dass dieser Tollpatsch mit seinen großen Latschen ihn treten würde. Nein, ihn traf keine Schuld.
„Nun erzähl schon Pipo, wie ist das passiert?” unterbrach Lisa seine Gedanken und deutete auf seine Pfote.
„Also, ich hatte bereits alle Schatzkammern durchstöbert. Enttäuscht wollte ich schon aufgeben, als ich ein schmuckloses, altes Holzkästchen sah. Aus purer Neugier hob ich den Deckel an und hätte fast einen Schrei losgelassen. Nie im Leben hätte ich dort deine wunderschöne Kette vermutet. Und dass Silbertaus und Schlehenfeuers Kette auch dort lagen, das war mehr als Glück. Vorwitzig wie ich nun einmal bin”... . Er hielt inne und schmunzelte. „Naja, du kennst mich ja, Lisa.”
Das Mädchen nickte und strich über sein weiches Fell. „Ich rühme deine Neugier”, sagte sie feierlich. „Aber erzähl doch weiter, wie du zu deiner Verletzung kamst.”
„Damit ich besser laufen konnte, schlang ich mir die Ketten mehrmals um den Hals. Sagte ich schon, dass dort an jeder Ecke eine Wache steht? Wie auch immer, an denen musste ich mich unbemerkt vorbeischleichen. Als ich die letzte Kammer verließ, stand plötzlich einer dieser Tolpatsche vor mir und hätte mich um ein Haar mit seinen übergroßen Latschen zertreten. Ich versuchte noch zur Seite zu springen, doch war ich viel zu langsam, mit den schweren Ketten am Hals. Der Kerl erwischte noch mein Hinterbein und krach, war es gebrochen. Mit letzter Kraft humpelte ich hierher zurück.”
„Mein armer Liebling”, sagte Lisa mitfühlend und legte ihn behutsam auf ihre Hand. „Ich stehe tief in deiner Schuld.”
„Aber nicht doch Prinzessin. Für dich tu’ ich doch alles”, erwiderte der Mäuserich verschämt.
„Ich weiß Pipo. Du bist ein wunderbarer Kamerad.”
Lisa legte die Ketten um ihren Hals und drückte die Steine an ihre Brust. Ein Strahl trat aus dem rosa Edelstein. Er sprang auf den Boden und lief bis zur Tür. Lodernde Flammen ließen die Eisengitter schmelzen. Die Stäbe glühten noch, als das Feuer schon erloschen war. Lisa erinnerte sich an Schlehenfeuer. Sie nannte den rosa Stein: Stein des Feuers.
Erschreckt und freudig zugleich, schauten sich Lisa und Tori an. Dann trat der Gnom mit den Fuß an die Tür, die krachend zusammenstürzte.
„Aua”, schrie er und hüpfte von einem Bein auf das andere. „Das war ganz schön heiß. Nun aber raus hier”, flüsterte er und fasste nach Lisas Hand. Sie hasteten die Treppe nach oben. Keiner der Schlossbewohner ließ sich blicken. Wahrscheinlich war es Nacht und sie schliefen alle.
„Das nennt man Glück”, stieß Tori aufgeregt hervor.
„Wir müssen erst die Frau holen”, flüsterte Lisa. „Ihr wartet hier. Ich bin ohne euch schneller. Pipo braucht mir nur zu sagen, wo ich sie finde.”
„Im zweiten Stock”, erklärte der Mäuserich. „Die dritte Tür links. Hast du den Schlüssel?”
„Ja, in meiner Tasche.” Schnell rannte sie die Stufen nach oben. Die dritte Tür links war verschlossen. Hier war sie richtig. Sie steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und sperrte auf.
In einem großen Bett lag die Frau und schlief.
Lisa fasste nach ihrem Arm und rüttelte sie. „Aufwachen, bitte”, flehte sie mit leiser Stimme.
Die Frau schien sehr krank zu sein. Nur mühsam öffnete sie ihre Augen und starrte Lisa ungläubig an.
„Bitte nicht erschrecken”, flüsterte das Mädchen. „Ich möchte dich befreien.”
„Wer bist du Kind?” fragte die Frau schwach.
„Frag’ jetzt nicht, wir haben keine Zeit”, stieß Lisa hervor. Hastig nahm sie die Pantoffeln, die neben dem Bett standen und streifte sie über die Füsse der Kranken.
„Wir müssen eilen, bevor wir entdeckt werden.”
Lisa zog die geschwächte Frau hinter sich her. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie im Erdgeschoss ankamen. An der Treppe, versteckt in einer Nische warteten Tori und Pipo. Lisa hob den Mäuserich auf und legte ihn in ihre Manteltasche. Dann liefen sie zum Ausgang.
Was für ein Pech, hier stand ein Torhüter und der schien äußerst wachsam. Für einen kurzen Moment starrte er die Ausreißer verblüfft an. Dann griff er zu einem gebogenen Horn, das über seiner Schulter hing und blies hinein. Ein ohrenbetäubender, dumpfer Ton kam hervor und dröhnte als Echo durch das ganze Schloss.
Unterdessen griff Lisa nach der Kette und hielt den rosa Stein hoch. Der Strahl traf den Wächter direkt in die Augen. Geblendet schrie er auf und plumpste wie tot zu Boden.
Lisa und Tori zogen mit aller Kraft an dem schweren Tor, das sich nur mit äußerster Anstrengung öffnen ließ. Das gelang ihnen, wenn auch mühsam. Doch genügte ein schmaler Spalt um ihre dünnen Körper durchzuschieben. Sie rannten, was ihre Beine hergaben, zu der in den Felsen gehauenen Treppe, die nach unten führte. Leider war die Frau sehr schwach und konnte kaum folgen. Lisa versuchte sie auf ihrem Rücken zu tragen. Es ging besser als erwartet, denn die Frau war so leicht wie eine Elfe. So ging es die Treppe hinunter.
***
Das Schloss lag bereits ein ganzes Stück hinter ihnen, als sie das Rasseln von Ketten und Säbeln vernahmen. Hörner wurden geblasen. Ein Gewirr von aufgeregten Stimmen schallte vom Schloss herüber. Sämtliche Bewohner mussten auf den Beinen sein.
Lisa drehte sich um. Nur schemenhaft konnte sie in dem düsterem Land Einzelheiten erkennen. Doch war die große Gestalt des Zauberers Zottaka nicht zu übersehen. Neben ihm lief Hogla, gefolgt von einer ganzen Meute Gnome. Die grässlichen Wesen mit den Krallenfingern und die haarigen Steinfiguren waren ebenfalls auf den Beinen. Und sie waren nicht nur lebendig, sondern auch sehr flink. Ihre Augen glühten wie brennende Kohlen. Die ganze Horde schwang ihre Waffen, wie zum Kampf gerüstete Krieger. Und sie kamen beängstigend schnell die Treppe herunter. Nach einer Weile hatten sie die Flüchtenden fast eingeholt.
„Wir sind verloren”, schrie Lisa verzweifelt. Schnell drehte sie sich um und hielt das Amulett der Meute entgegen. Doch kein greller Blitz fuhr aus dem Stein, sondern eine Welle blauer Nebel strömte auf die Verfolger. Die zitterten wie Espenlaub und purzelten betäubt durcheinander. Lisa hatte in der Eile den Wasserstein der Nixe erwischt.
„Kommt schnell”, drängte Tori. „Wir müssen den Vorsprung nutzen.”
Eine unheimliche Gegend lag vor ihnen. Das rote Erdreich war weich und staubig. Zischend schoss glühende Lava aus den Kratern. Es brodelte und dampfte unaufhörlich. Der Schwefelgeruch brannte in Lisas Kehle.
„Ich glaube, hier geht es lang”, bestimmte Tori und deutete zwischen zwei feuerspeiende Bergkegel. „Habt keine Angst”, vernahm Lisa Toris zuversichtliche Stimme.
Mit sicheren Schritten, lief der Gnom voraus, über Lavagestein und roter Erde. Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Ein Teich aus moorigem Schlamm versperrte ihren Weg. An der Oberfläche blubberte es. Blasen stiegen hoch. Der Schlamm schien zu kochen. Der einzige Weg, den Teich zu überqueren, schienen große Steinbrocken zu sein, die in Abständen aus dem Sumpf ragten.
„Ich gehe voraus”, sagte Tori und sprang auf den ersten Stein.
Lisa hielt den Atem an. „Meinst du, dass das gut geht?”
Leichtfüßig hüpfte der Gnom von Stein zu Stein, verfehlte nie sein Ziel.
Lisa setzte die Frau am Ufer ab. „Schaffst du es allein? Ich kann dich nicht tragen und über die Steine springen.”
„Geh nur Kind”, meinte die Frau. „Ich komm schon zurecht.”
Lisa sprang auf den ersten Stein. Sie schlitterte und wäre um ein Haar auf dem glitschigen Stein ausgerutscht. Wie erstarrt blieb sie stehen.
„Nun komm’ schon”, rief Tori von der anderen Seite.
„Ich kann nicht”, jammerte das Mädchen und rührte sich nicht von der Stelle.
Tori schaute ihr fest in die Augen. „Zieh deine Schuhe aus. Dann hast du besseren Halt. Nur Mut. Du schaffst das.”
Sie zog ihre Schuhe aus und mit den nackten Füßen gelang es ihr ganz gut über die Steine zu springen.
Pipo lugte mit seinem Kopf aus der Manteltasche und hielt sich mit beiden Krallen die Augen zu. „Wenn das mal gut geht”, flüsterte er ängstlich.
Tori wartete geduldig auf der anderen Seite des Moorsees. Als Lisa schnaufend ankam, stand die Frau immer noch am gegenüberliegenden Ufer. Ihre Augen glänzten. Ihr weißes Gewand leuchtete. Sie streckte ihre Arme aus und schwebte, wie eine Elfe, kaum die Steine berührend, über das Moor hinweg. Doch als sie den festen Boden berührte, sank sie kraftlos zu Boden.
Lisa und Tori schauten sich irritiert an.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren”, mahnte der Gnom, heilfroh, diese Gefahr ohne Schaden überstanden zu haben.
Es ging nur langsam voran. Lisa half der Frau auf die Beine und trug sie wieder auf ihrem Rücken. Nun überquerten sie eine mit feuerspeienden Kratern übersäte Ebene und standen vor dem reißenden, schwarzen Fluss.
Lisa griff nach Silbertaus Wasserstein. Vielleicht bewirkte er hier was. Die Oberfläche des Wassers wurde langsam fest.
„Bleibt dicht hinter mir. Ich weiss nicht, wie lange das hält”
Die Fläche war gewellt, aber nicht hart, und keineswegs kalt. Vorsichtig, immer dicht nebeneinander, überquerten sie den Fluss.
Auf der anderen Seite riskierte Lisa einen Blick zurück und erschrak fürchterlich. Hogla und seine Meute wurden von den schwarzen Vögeln getragen und sie kamen immer näher.
"Schnell! Weiter!", schrie Lisa und lief auf die schwarze Felsenwand zu. Von Weitem konnten sie eine dunkle Stelle erkennen. Hoffentlich war das der Weg nach draußen und nicht nur ein Schatten.
Die schwarzen Vögel setzten erschöpft ihre Last ab. Sie waren schon so nah, dass man ihre bösen, weit aufgerissenen Augen erkennen konnte. Lisa nahn den Stein ihrer Mutter und hielt ihn hoch. Ein riesiger Orkan brauste über die Unholde, der in seiner Wucht alle umriß. Wie betäubt blieben die Verfolger liegen.
„Bloß weg hier”, schrie Lisa verzweifelt und nahm die Frau wieder auf ihren Rücken.
Endlich sahen sie die rostige Tür in der rotschimmernden Steinwand. Sie war offen. Zum Glück. Hogla und seine Meute kamen wieder auf die Beine und verfolgten sie unerbittlich. „Jetzt ist es zu Ende, kleines Mädchen”, brüllte er.
Da tauchte im Tunnel eine ganze Schar grauer Pferde auf. Dunkel gekleidete Männer mit markanten Gesichtszügen saßen darauf. Ein silbergraues, sehr großes Ross ritt an der Spitze. Darauf saß ein stolzer Reiter in einem hell glänzenden Gewand. Sein schönes Gesicht war sehr ernst. Das Zaumzeug der Pferde glänzte und auf der Stirn trugen die Tiere ein silbernes Palmblatt.
„Ich werd’ verrückt, Prinzessin. Es ist dein Bräutigam”, rief der Mäuserich erregt.
„Marco”, flüsterte Lisa erleichtert. "Offensichtlich hat er ihre Zeichen gefunden.
Hinter den Reitern folgten unzählige Kobolde. Ihre grimmigen Gesichter konnten einem Furcht einflössen. Die gedrungenen Gestalten waren in grüne Kapuzenmäntel gehüllt. In ihren Händen hielten sie Äxte und lange Messer.
Als Hogla die Reiter erblickte, blieb er wie angewurzelt stehen. Doch dann schrie er: "Folgt mir!" Er war wild entschlossen nicht aufzugeben. Laut fluchend, mit erhobenen Speeren, rannte er und seine Bande Marco und seinen Begleitern entgegen.
In einer geschlossenen Front, stand der Prinz und seine Mannen vor Hogla.
Die Gnome fühlten sich siegessicher und lachten hämisch.
Doch als Marco sein Schwert aus der Scheide zog, blieb ihnen das Lachen im Halse stecken.
„Zottaka”, schrie Hogla wie am Spieß. „Tu doch etwas, du Missgeburt eines Zauberers.”
Der Zauberer stand mit erhobenem Zauberstab in ihrer Mitte und murmelte beschwörende Worte. Doch es passierte nichts. Seine Zauberformel schien nicht zu funktionieren. Er zuckte mit seinen dürren Schultern, senkte seinen Stab und rannte davon. So schnell hatte ihn noch keiner laufen sehen.
„Du Feigling”, schrie Hogla wutentbrannt hinter ihm her.
Marco hob das Schwert und richtete es gegen Hogla, der gerade im Begriff war, im Mut der Verzweiflung wieder anzugreifen. Mit lauter Stimme, die als Echo von den kahlen Bergen widerhallte, schrie Marco: „Im Namen des großen Elbenkönigs Zeno, fordere ich Gerechtigkeit.” Das silberglänzende Schwert fing an zu strahlen. Funken sprühten aus der Schneide und setzten sich auf jeden einzelnen Angreifer. Wie vom Blitz getroffen, verharrten die Unholde und konnten sich nicht mehr bewegen. Augenblicke später verwandelten sie sich in kalte, graue Steine. Ihre toten Augen starrten nur noch ins Leere.
Marco stieß mit dem Schwert gegen die Steinfiguren, die leblos zur Seite kippten.
Der junge Mann wendete sein Pferd und kam auf Lisa zugeritten. Schwungvoll sprang er auf die Erde und nahm Lisa in die Arme. Er wirbelte sie im Kreis und lachte und weinte vor Freude. „Auf diesen Tag habe ich sehr lange gewartet. Danke Prinzessin. Endlich konnte ich mich rächen, für die vielen Schmerzen meines Vaters und den leidvollen Tod meiner geliebten Mutter.”
Lisa deutet auf die Frau. „Kennst du sie?”
„Nein, ich glaube nicht”, erwiderte der junge Mann und musterte die zarte Gestalt von Kopf bis Fuß. „Woher kommt sie?” fragte er.
„Sie war eine Gefangene in Hoglas Schloss. Pipo hat sie gefunden.”
Marco wandte sich wiederholt der Frau zu. „Wie ist dein Name?”
Die Frau schloss ihre Augen. Es schien als horchte sie in ihr Inneres. Oh Gott, hatte sie etwa ihren Namen vergessen? „Ich weiß es nicht”, sagte sie leise. Ihre Stimme war sehr zart.
„Du bist doch ein Mensch? Wie kommst du in Hoglas Schloss?” fragte Marco.
Wieder schwieg die Frau, in sich gekehrt. Grübelnd runzelte sie die Stirn. Dann sagte sie kaum hörbar: „Einst lebte ich in einem Palmengarten. Das ist schon viele Jahre her.”
„Palmengarten?” stieß Marco hervor. „Heißt du etwa Eina?”
„Eina?” wiederholte die Frau und strich nachdenklich über ihre Stirn. „Ja, das ist mein Name.”
„Sie ist meine Mutter”, schrie der junge Mann und umarmte die Frau. „Erkennst du mich nicht? Ich bin dein Sohn Marco.”
Eina schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern.”
Lisa, die neben Marco stand, nahm seine Hand. „Wie sollte sie sich an dich erinnern? Warst du nicht ein kleiner Junge, als sie verschleppt wurde?”
„Du hast Recht Lisa. Vielleicht kommt ihr Gedächtnis zurück, wenn sie auf die Burg kommt.” Der Prinz war außer sich vor Freude. Liebevoll umarmte er das Mädchen. „Oh Gott, du hast uns Glück gebracht, meine kleine Prinzessin. Ich stehe tief in deiner Schuld.”
Pipo schaute aus der Manteltasche. „Gibt es nun endlich eine Hochzeit?” Er grinste breit und zwinkerte Marco zu, während Lisa einen roten Kopf bekam.
„Davon bin ich überzeugt”, erwiderte der junge Mann und lächelte Lisa an, die verlegen die Augen niederschlug.
Marco fasste nach ihrer Hand. „Hast du vergessen, was du mir versprochen hast, Prinzessin?”
„Nein, doch brauche ich noch etwas Zeit”, warf Lisa ein.
„Zeit, wozu? Wir gehören zusammen.” Er ließ Lisas Hand los. „Ich werde meine Mutter nach Hause bringen und meinem Vater vom Ausgang des Kampfes berichten. Ich hoffe, du kommst bald nach, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast.”
„Nein, nein, das geht nicht”, unterbrach ihn Lisa. „Wenn meine Aufgabe hier erfüllt ist, muss ich erst nach Hause zu meinen Vater. Er wird sich sicher große Sorgen machen.”
„Das verstehe ich gut. Dann werde ich dir später auf Schloss Schönblick nachfolgen. Bist du einverstanden Prinzessin?”
„Ich weiß nicht”, stotterte Lisa verwirrt und schaute zu Eina, die schweigend da stand und auf ihre Füße starrte.
„Ein Stück des Weges werde ich dich begleiten”, sagte Marco. Er griff zu einem kleinen Horn, das über seiner Schulter hing und blies dreimal hinein.
Alle seine Mannen und die Kobolde sammelten sich. Dann half er seiner Mutter auf das Pferd und setzte sich hinter sie. Die anderen Männer schwangen sich ebenfalls auf ihre Gäule.
„Halt Marco!” schrie Pipo. Ihm fielen Hoglas Schätze ein. Es wäre ein Jammer sie hier zurück zu lassen.
Der junge Mann schaute den Mäuserich fragend an. „Was gibt es Pipo?”
„Im Keller des Schlosses, liegen eine Unmenge Schätze. Alle aus Hoglas Raubzüge. Die solltest du mitnehmen und ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgeben. Außerdem steht eine Zauberblume dort. Sie ist die letzte ihrer Art. Nehme auch sie mit.”
„Ist das wahr, Lisa?” wandte sich Marco an die Prinzessin.
Als das Mädchen nickte, wendete er sein Pferd. „Geht schon voraus, wir kommen in Kürze nach.” Dann hob er sein Schwert und schrie mit lauter Stimme: „Mir nach.”
Jeder der Reiter hob einen Kobold auf sein Pferd. Mit einem lauten „Hü, ho”, setzten sich die Pferde in Bewegung und galoppierten, kaum den Boden berührend auf das düstere Schloß zu.
In einiger Entfernung sahen sie das Eisschloss, das eingebettet zwischen steilen Felsen stand. Im fahlen Mondlicht glänzte es wie ein kostbares Juwel.
„Schaut nur wie schön es ist”, flüsterte Lisa andächtig. „Tori, komm’ bitte, wir müssen gehen.”
„Ich werde dich nicht begleiten Lisa”, sagte der Gnom mit trauriger Stimme.
„Wohin willst du denn so allein?” fragte Lisa.
„Ich muss so schnell es geht zu meiner Familie. Sie lebt ungefähr zwei Tagesreisen von hier, gen Osten.”
„Möchtest du nicht mit auf Schloss Schönblick kommen?” Lisa mochte den kleinen Kerl. Er hatte so viel Schlimmes durchgemacht und es tat ihr von ganzem Herzen leid, sich von ihm zu trennen.
„Das geht nicht Lisa, ich bin ein Gnom und gehöre zu meiner Familie. Außerdem kann ich nicht unter Menschen leben, die sich sicher lustig über mich machen würden. Nein Lisa, das wäre kein Leben für mich.”
Lisa nickte. „Du hast recht. Menschen können mitunter sehr grausam sein. Warte noch einen Moment. Es müsste eigentlich noch etwas Brot da sein.” Sie kramte in ihrem Säckchen. In einer Papiertüte waren, wie vermutet, noch ein kleines Stück und eine dünne Scheibe Räucherfleisch. Lisa wollte das Brot auseinanderbrechen. Leider war es steinhart. Sie vermochte es nicht zu teilen, so sehr sie sich auch anstrengte.
„Gib her”, sagte Tori, der schon eine Weile zugeschaut hatte, wie sie sich abmühte. Er war zwar nur ein Knirps, aber für ihn war es ein Kinderspiel. Mit Leichtigkeit und wenig Kraft, brach er das Brot in zwei Teile.
„Du meine Güte, bist du aber stark”, rief Lisa bewundernd aus.
„Na ja.” Tori wurde rot und kratzte sich verlegen am Ohr. „Es gibt Stärkere. Du zum Beispiel, und dein Stein.”
Lisa schaute auf ihren Anhänger. Es schien, als wäre der Stein viel blasser geworden. Sie wollte ihn gerade in die Manteltasche stecken, da schaute Pipos Kopf heraus und gähnte. Er war immer müde, seit er das gebrochene Bein hatte.
„Was ist denn hier los?” Er schaute sich um. „Wo sind wir überhaupt? Hab’ ich was verpasst?”
Ein ziemlich starker, eisiger Wind kam auf und schob graue Wolken über das Land. Leichter Schnee rieselte auf die Erde.
Lisa setzte den Mäuserich auf ihre Hand und hauchte warme Luft auf sein Näschen. Sein geschientes Bein hing steif an seinem Körper. „Aber nein Pipo, bloß, dass wir wieder auf der Erdoberfläche sind.”
„Gott bin ich froh.” Er zitterte am ganzen Körper „Das Wetter ist ja grässlich. Brrr, nichts für einen Mäuserich. Ich werde mich lieber wieder verkriechen.”
„Und ich will mich auf die Socken machen”, erklärte Tori. Der Abschied fiel ihm sichtlich schwer. „Leb wohl Prinzessin und viel Glück.”
Das Mädchen streichelte über seinen Kopf. Noch einmal schaute er Lisa mit seinen großen, traurigen Augen an, dann wandte er sich ab und eilte mit schnellen Schritten davon.
„Warte bitte einem Moment.” Lisa rannte ihm hinterher und legte ihre Felldecke über seine Schultern. „Damit du unterwegs nicht erfrierst.”
„Danke”, sagte Tori und zog die Decke über seinen Kopf. Tränen rannen aus seinen Augen.
„Ich werde dich nie vergessen.” Lisa schaute ihm nach, bis ihn der Nebel verschluckte. Dann lief sie zum Schloss. Der Sturm verebbte so schnell, wie er gekommen war und die Wolken verzogen sich. Dichter Dunst umhüllte den Eispalast. Doch wie merkwürdig, der Nebel bewegte sich langsam auf sie zu. Jasmina schwebte zur Erde. Lisa lief ihr freudestrahlend entgegen.
„Wie bin ich froh dich zu sehen, Jasmina.”
„Ich auch, Lisa.”
Sie standen vor dem riesigen Eiskoloss, der sich hoch vor ihnen auftürmte. Durch das Eis konnte man deutlich das große Portal erkennen.
„Wie sollen wir in das Innere des Schlosses gelangen?” fragte Lisa und schaute Jasmina erwartungsvoll an.
Jasmina Blick fiel auf die drei Ketten an Lisas Hals. Hocherfreut erkannte sie die Kette ihrer Mutter. „Schlehenfeuers Stein wird das Eis zum Schmelzen bringen.”
Lisas Hände krampften sich um den rosa Anhänger. Ein haardünner Lichtstreifen löste sich, wurde breiter und fraß sich durch das Eis, das allmählich Risse bekam. Ein dumpfes Dröhnen zerfetzte die Luft. Wie bei einem Erdbeben begann der Boden unter Lisas Füßen zu zittern. Mit einem ohrenbetäubenden Knall flog der Eispanzer auseinander und schmolz mit lautem Zischen dahin.
Aus Lisa war alle Kraft gewichen. Sie sank auf die Knie. Zaubern war sehr anstrengend.
„Gut gemacht, Lisa”, hörte sie, wie aus weiter Ferne, Jasminas Stimme. Dann schwanden ihr die Sinne.
***
Wie betäubt, lag sie auf den Boden. Jemand zerrte sie am Ärmel. „Lisa, Lisa wach’ bitte auf.” Es war Pipo, der auf ihrer Brust saß und lauthals piepste. Sie schlug die Augen auf und starrte in die Luft. Dann richtete sie sich auf. Der Schnee war geschmolzen. Nur in den Rillen der Erdkrumen, konnte man noch vereinzelt weiße Flecken erkennen. „Was ist geschehen?”
„Der äußere Bann ist gebrochen”, meinte die Elfe zufrieden.
Lisa blickte zum Schloss. „Herrlich”, stieß sie begeistert hervor.
Das mit schwarzem Schiefer gedeckte Dach schimmerte silbern im Mondlicht. In der Mitte ragte ein steiler Turm in die dunkle Nacht. An den Ecken des Gebäudes waren mehrere kleine, zierliche Türmchen angeordnet, an deren Spitzen bunte Fahnen wehten. Die großen gebogenen Sprossenfenster waren dunkel. Außerdem war das Mauerwerk mit dichtem Efeu bewachsen. Jetzt, vom Eis befreit, konnte man erst die ganze Schönheit dieses Schlosses erkennen. Lisa war begeistert und konnte noch gar nicht fassen, was sie eben erlebt hatte. Genau wie Pipo, der mit offenem Mund fasziniert auf das Schloss starrte.
Jasmina nahm Lisas Hand. „Wir können jetzt hineingehen.”
Das Eingangstor sah groß und schwer aus. Lisa drückte den Türgriff nach unten und stieß mit aller Kraft dagegen. Nur langsam bewegte es sich nach innen. Lisa, mit Pipo auf dem Arm, betrat, gefolgt von der Elfe, eine große Halle. Auf einem weißen Marmorboden lagen kostbare Teppiche. Wertvolle Gemälde, in schweren Goldrahmen, hingen an den Wänden. Es waren Porträts von Männern und Frauen in prachtvollen Kleidern.
Eine breite Marmortreppe führte in das erste Stockwerk. Am Fuß der Treppe standen Rüstungen, die sie mit hohlen Augen anstarrten. Lisa gruselte es. Überall standen Männer- und Frauengestalten herum. Mitten in der Bewegung waren sie zu Eis erstarrt. Ihre leblosen, weißen Gesichter schauten ins Leere.
Am Ende eines breiten Ganges prangte eine große, mit Ornamenten geschmückte Flügeltür, die direkt in den Thronsaal führte. Der riesige Raum war wertvoll eingerichtet. Doch Lisa hatte nur Augen für die zwei goldenen Throne, die dick mit Eis überzogen waren. Auf einem saß der junge Prinz und auf dem anderen Julia, völlig bewegungslos, mit geschlossenen Augen. Sie hielt krampfhaft die Kette ihrer Mutter in der Hand.
„Der Zauber hat hier nicht gewirkt”, wandte sich die Prinzessin an die Elfe. „Was tun wir jetzt?” fragte sie verzweifelt.
„Der Stein meiner Mutter hat schon zu viel an Zauberkraft verloren. Das kannst du an seiner Farbe erkennen. Schau’ ihn dir an, er ist schon deutlich blasser geworden, deshalb konnte er nur den äußeren Eismantel schmelzen.”
Mit gesenkten Köpfen saßen sie traurig und enttäuscht, auf der untersten Stufe vor den Thronen und starrten schweigend vor sich hin. Sollte alles umsonst gewesen sein?
Lisa machte sich Vorwürfe. Sie hätte den Stein nicht so oft benutzen sollen. Sie starrte auf ihren Verlobungsring. Marco... . Er wüsste sicher eine Lösung.
Pipo schaute aus seinem Versteck und pfiff durch die Zähne. „Schau Lisa, wer da kommt.”
Lisa hob den Kopf und sah den jungen Mann an der Tür stehen. Es war schon merkwürdig. Immer wenn sie mit ganzem Herzen an ihn dachte, war er zur Stelle. Wie strahlend schön er aussah in seinem hellblauen Gewand.
Marco lief zu ihr und fasste nach ihrer Hand. „Du hast mich gerufen, Prinzessin.”
„Ich kann das Eis nicht aufbrechen. Mein Stein hat zu viel Macht verloren”, klagte sie.
Der Prinz schob sie sanft zur Seite. Dann zog er sein Schwert. Die Klinge fing an zu glühen. Nacheinander berührte er mit der Spitze die Throne.
Da erinnerte sich Lisa an den Ausspruch der Zauberblume: ‘Es ist das Schwert, das die Aufgabe zur Vollendung bringt.’ Die Zauberblume hat es also gewusst.
„Es ist vollbracht”, sagt der jjunge Mann feierlich und wandte sich an Lisa. „Doch muss ich dich jetzt verlassen und meine Mutter nach Hause bringen.”
„Wie geht es ihr?”
„Sie ist sehr schwach und braucht dringend einen Heiler. Sie kann sich kaum noch an das Land der Palmenhaine erinnern.”
Lisa nickte bedauernd. „Ich wünsche ihr alles Gute und viel Glück.”
Marco bedankte sich. „Wenn du einverstanden bist, komme ich zum zweiten Vollmond auf Schloss Schönblick.” Als Lisa nickte, hob er zum Abschied die Hand und verließ eilig den Thronsaal.
„Auf bald”, schrie Pipo ihm nach.
Langsam schmolz das Eis von den Thronen und floss wie ein Rinnsal über die Stufen.
Das geschmolzene Wasser verdunstete und füllte den Raum mit dichtem Nebel, der sich nur sehr langsam auflöste.
Erschreckt stellte Lisa fest, dass Julia völlig entkräftet ihren Kopf und die Arme hängen ließ. Sie rannte zu ihr und fing die leblose Gestalt auf, die im Begriff war vom Thron zu stürzen.
„Oh Gott”, schrie sie verzweifelt: „Sie ist tot.”
Prinz Aiko hatte sich inzwischen schon etwas erholt. Er lief zu den Schwestern und half Julia auf ein breites Ruhesofa zu legen.
Lisa fing an Julias eiskalte Arme und Beine zu massieren, bis sie ganz langsam warm wurden.
Währenddessen befahl Aiko der Dienerschaft warme Wolldecken heran zu schaffen. Lisa wickelte ihre Schwester darin ein. Allmählich bekam Julias Gesicht eine rosige Farbe. Doch dauerte es eine Ewigkeit bis sie ihre Augen öffnen konnte. Ihr erster Blick fiel auf Lisa, die immer noch ihre Hand hielt.
„Lisa”, flüsterte sie erleichtert. „Du bist gekommen.” Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Fast wäre es zu spät gewesen.” Glücklich fielen sich die Schwestern in die Arme.
Prinz Aiko nahm Lisas Hände. „Du hast uns gerettet. Ohne deine Hilfe, wären wir mit Sicherheit bald erfroren.”
Frohen Herzens führte der Prinz die Prinzessinnen und die Elfe in einen gemütlichen Salon. Julia war noch sehr schwach und stützte sich auf Aikos Arm. In einem Kamin knisterten dicke Holzscheite, die eine mollige Wärme ausstrahlten. Sie setzten sich auf ein bequemes Sofa vor das Feuer. Es gab so viel zu erzählen.
„Eines interessiert mich noch Julia”, wandte sich Lisa an ihre Schwester. „Wie kamst du eigentlich in das Eisschloss hinein?”
„Das Amulett unserer Mutter half mir dabei. Es fraß in den Eispanzer ein schmales Loch und ich gelangte ins Innere des Schlosses. Leider verschloss sich das Eis wieder hinter mir. Und mein Stein hatte so viel Kraft verloren, dass es kein Zurück mehr für mich gab. Ich begann nach Prinz Aiko zu suchen. Im Thronsaal fand ich ihn, zu Eis erstarrt auf dem Thron sitzen. Ich setzte mich neben ihn und schlief ein. Über Nacht legte sich ein Eismantel um mich. Und ich war gefangen.”
„Wie schrecklich”, stieß Lisa hervor.
Julia nickte. „Ich wollte den Prinzen erlösen und wurde selbst zum Opfer.” Leise fügte sie hinzu: „Obwohl ich von der Zauberblume wusste, dass du dazu auserkoren warst, habe ich euch alle getäuscht.” Sie hielt inne und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Alles war meine Schuld. Es tut mir so leid.”
„Es ist ja noch einmal gut gegangen”, tröstete sie Lisa. „Gräme dich bitte nicht mehr.”
Jasmina hatte dem Gespräch der Schwestern aufmerksam gelauscht. „Meine Mutter und ich haben getan, was in unserer Macht stand, euch zu helfen. Seid ihr jetzt bereit auch uns zu helfen?”
„Aber ja doch. Was sollen wir tun?” riefen die Prinzessinnen fast gleichzeitig.
„Meine Mutter braucht die drei Edelsteine, um wieder zur Feenkönigin zu werden.”
Lisa fiel die Prophezeiung der weisen Männer ein. Wenn Schlehenfeuer die Steine braucht, welchen Nutzen sollten sie dann für Schloss Schönblick haben? Etwas zögernd überreichte sie der Elfe ihre Kette und die von der Nixe Silbertau und der Elfe Schlehenfeuer. Jasmina hängte sich die Ketten um den Hals.
Julia, die eigentlich gar nicht wusste um was es ging, nahm ebenfalls ihre Kette vom Hals und legte sie Lisa in die Hand.
Jasmina nahm Lisas Stein in die rechte Hand. „So, nun gib mir noch den zweiten Stein deiner Mutter, Lisa.”
Lisa reichte der Elfe auch Julias Kette. Jasmina nahm den Stein in die linke Hand. Mit kreisenden Armen murmelte sie einige Sprüche und brachte die Steine zusammen. Als sich die beiden Steine der Prinzessinnen berührten, begannen sie zu glühen und in einem Blitz zerschmolzen sie wieder zu einem Stein. Die Elfe legte auch diese Kette um ihren Hals und die drei Steine waren wieder vereint.
Jasmina umarmte die Mädchen. „Hab’ Vertrauen, es wird alles wieder gut. Wir sehen uns bald wieder.” Dann schwebte sie leicht wie ein Windhauch von dannen.
***
Im Schloss brach reges Treiben aus. Die Diener, wieder zum Leben erwacht, liefen wie aufgescheuchte Hühner, durch das Schloss. Leider konnte man in dem Tumult kaum sein eigenes Wort verstehen. Mit lauter Stimme setzte Prinz Aiko dem Treiben ein Ende. Er erklärte den Leuten was geschehen war, und dass nun alles wieder seinen gewohnten Gang gehen kann. Zufrieden, über das gute Ende, stoben die Menschen auseinander, und begaben sich an ihre tägliche Arbeit.
„Ich muss zu meinem Vater”, sagte der Prinz zu den Schwestern. „Möchtet ihr mich begleiten?”
Gemeinsam liefen sie ins Schlafzimmer des Königs, der reglos in seinem Bett lag. Der Prinz nahm seine eiskalte Hand. „Vater”, rief er leise. „Ich habe den Zauberkristall der Kobolde.”
„Danke mein Sohn”, flüsterte der König mit schwacher Stimme. „Lege ihn bitte auf meine Stirn.”
Der Prinz griff in seine Jackentasche und legte den Stein zwischen die Augen seines Vaters. Kleine Funken sprühten daraus hervor. Heller und heller begann der Kristall zu strahlen.
Schlagartig kehrte das Leben in den Körper des Mannes zurück. Er sprang aus dem Bett. Laut lachend tanzte er wie wild im Kreis herum und machte sogar einige Sprünge. „Ach, wie herrlich”, jubelte er, „ich fühle mich, wie in meinen besten Tagen. Diener”, schrie er. „Diener. Schnell. Bringt mir meine Rüstung. Wo sind meine Mannen? Wir werden es diesem König so richtig zeigen.”
„Halt Vater, halt ein”, beschwichtigte ihn sein Sohn. „Es ist inzwischen viel geschehen.”
Doch war der König so in seinem Element, dass er Aikos Einwand völlig überhörte. „Wir werden uns erst einmal einen Überblick über die derzeitige Lage verschaffen. Dann müssen wir ein neues Heer aufstellen und ausrüsten, die Männer trainieren und, und, und … .”
Kopfschüttelnd schauten sich die beiden Mädchen an. Diese Menschen haben nichts aus ihren Fehlern gelernt. Traurig über so viel Unverstand, verließen sie das Zimmer.
Der Prinz und sein Vater waren so sehr mit ihren Kriegsplänen beschäftigt, dass sie gar nicht merkten, wie die Mädchen das Zimmer verließen.
„Lass’ uns nach Hause gehen, Julia”, sagte Lisa enttäuscht. „Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun.”
Sie liefen ins Tal. Der Blumengarten des Prinzen stand wieder in voller Blüte. Wunderschöne, exotische Blumen zeigten sich in bunter Farbenpracht. In der Mitte des Gartens stand auf einem Beet eine einzelne Blume, die genau so aussah, wie ihre Zauberblume aus Vaters Garten.
„Vielleicht kann uns die Blume helfen, wieder nach Thalmoor zu kommen”, sagte Lisa zu ihrer Schwester. Dann wandte sie sich an die Blume. „Bist du es, Zauberblume?”
Die Blume schüttelte den Kopf. „Ich bin eine Zauberblume, aber nicht die, die du kennst.”
„Ich verstehe nicht”, erwiderte die Prinzessin.
„Ich bin aus dem Samen der Zauberblume aus deines Vaters Garten.”
„Aha”, sagte Lisa. „Und wie kommst du hierher?”
„Auf Geheiß meiner Mutter.” ...
„Deiner Mutter?” unterbrach sie Lisa erstaunt.
„Ja, die Zauberblume ist meine Mutter. Sie beauftragte den starken Südwind, mich auf seinen Schwingen hierher in Prinz Aikos Garten zu bringen. Meine Mutter schickt mich, um dir zu helfen, in deine Heimat zurückzukehren.”
Lisas Herz war mit Freude und Dankbarkeit erfüllt. Die Zauberblume hatte sie nicht vergessen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Und wie soll das geschehen?” Schluchzend wischte sie über ihre Augen.
„Nimm deine Schwester bei der Hand und schließt eure Augen. Und öffnet sie erst, wenn ihr festen Boden unter den Füßen spürt.”
Die Mädchen taten, wie die Blume ihnen geheißen hatte. Die Welt begann sich um sie zu drehen. Es schien als schwebten sie auf einer Windwolke. Als ihre Füße den Boden berührten, öffneten sie ihre Augen und standen im Garten von Schloss Schönblick.
Von Weitem schon sahen sie ihren Vater, unter einer dicken Eiche, auf einer Bank sitzen. Der Kopf des Mannes war müde auf seine Brust gesunken. Der Verlust seiner Kinder hatte ihn schwer getroffen. Selbst die Liebe zu seinen Blumen war erloschen, so dass der einst gepflegte Garten ganz mit Unkraut überwuchert war.
Tiefes Mitleid empfanden die Zwillinge, als sie ihren einsamen, traurigen Vater erblickten. Um ihn nicht zu erschrecken, zupfte Lisa sanft an seinem Arm. Schwerfällig öffnete der König seine Augenlider. Träumte er, oder standen tatsächlich seine beiden Töchter vor ihm. Ungläubig wischte er sich über die Augen.
„Wir sind es wirklich Vater”, sagte Lisa leise und streichelte sanft seine Hand.
Tränen rannen aus den Augen des Mannes und liefen wie Bächlein über seine welken Wangen. „Endlich seid ihr wieder zu Hause. Wo wart ihr nur so lange? Ich habe euch so sehr vermisst, meine Kinder.”
Glücklich umarmten sich die drei.
Es war eine lange Geschichte, die die Prinzessinnen zu erzählen hatten.
„Wusstest du Vater, dass Mutter einst eine wunderschöne Fee war?” fragte Lisa. „Die Schwester der Feenkönigin Schlehenfeuer.”
Der König schüttelte den Kopf. „Isella eine Fee?” Ungläubig schaute er seine Tochter an.
Nun erzählte Lisa, was sie von Schlehenfeuer erfahren hatte.
Der Vater konnte nicht fassen, dass seine geliebte Frau ihr Feendasein aufgegeben hatte, um mit ihm als sterblichen Menschen zu leben.
„Ja Vater, leider musste sie deswegen sterben”, erklärte Lisa, „weil sie Kinder geboren hat.”
Der König seufzte laut. „Ich bin schuld an ihrem Tod, denn ich wünschte mir so sehr ein Kind.”
„Mach dir keine Vorwürfe, Vater. Mutter wusste das von Anfang an.”
Julia, die Lisas Erzählung aufmerksam gelauscht hatte, flüsterte: „Arme Mutter.”
Pipo kraxelte aus der Manteltasche, gähnte und streckte sich ausgiebig. „Wo sind wir? Habe ich etwas versäumt?”
Der König lächelte zum ersten Mal. „Du bist also der mutige Mäuserich, der Lisa so tatkräftig zur Seite stand?”
Als Pipo ihn fragend ansah, meinte der König: „Lisa hat uns alles erzählt.” Er nahm Pipos Kralle in seine Hand. „Ich danke dir, Pipo. Danke für alles.”
„Immer zu Diensten, Majestät”, erwiderte er untertänigst und verbeugte sich tief. Fast wäre er umgekippt, weil sein verbundenes Bein ihn immer noch stark behinderte. Schmerzen verspürte er keine mehr, deshalb grinste er breit.
Es begann bereits zu dämmern, als die drei Hand in Hand das Schloss betraten. Pipo durfte natürlich nicht fehlen. Um alles besser sehen zu können, bekam er einen Ehrenplatz auf Lisas Schulter.
Die Dienerschaft war nicht schlecht erstaunt, als sie die beiden Prinzessinnen sahen. Voll Freude liefen die Mädchen durch das ganze Schloss und begrüßten jeden einzelnen der Bediensteten. Erstaunt schauten die Menschen auf Pipo, der immer und überall dabei war.
Am nächsten Tag wurde ein großes Fest veranstaltet. Das ganze Volk feierte mit. Die Menschen lachten und tanzten vor Freude, über die glückliche Rückkehr der Prinzessinnen.
Als Lisa Adda im Turm besuchen wollte, schüttelte König Carlo traurig den Kopf. „Adda ist gestorben, als du weg warst, mein Kind.”
„Sie ist tot? Oh Gott, das tut mir so leid.” Doch dann erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch bei Adda. Die alte Frau sprach die bedeutsamen Worte: „Wir werden uns vielleicht nicht mehr wiedersehen.”
Hatte womöglich die Zaubernadel ihre Kraft verloren, als Adda starb?
***
Der Alltag kehrte zurück und allmählich wurde es wieder ruhig im Schloss.
Lisa lief in den Blumengarten, um nach der Zauberblume Ausschau zu halten. Wie traurig sie aussah. Mit gesenktem Kopf stand sie hinter der Mauer, die König Carlo errichtet hatte. Stunden brauchte die Prinzessin, um das Unkraut wegzuräumen, das der Blume kaum Luft zum Atmen ließ. Endlich konnten Sonne und Luft die Blume wieder beleben.
„Danke Lisa, das Unkraut hätte mich fast erdrückt. Wie bin ich froh, dass du wieder zu Hause bist, Prinzessin.” Die Blume hob ihr Haupt.
„Ich bin auch sehr glücklich wieder bei meinem Vater zu sein.”
„Ach ja, dein Vater”, seufzte die Blume. „Er hat mich und die anderen Blumen sehr vernachlässigt, vor lauter Kummer und Sorgen um dich und deine Schwester.”
„Ich verspreche dir, dass ich mich ab sofort selbst um den Blumengarten kümmern werde. Und die Mauer wird auch wieder abgerissen. Noch heute werde ich das veranlassen.”
Schon am Nachmittag kamen die Handwerker und rissen die Mauer ein.
Lisa trommelte einige Diener zusammen, um gemeinsam den Blumengarten vom Unkraut zu befreien. Zwei volle Tage verbrachten sie mit Umgraben, Jäten und Begießen. Bald erstrahlte alles wieder in neuem Glanz. Stolz stand Lisa neben der Zauberblume und blickte über das Meer von Blüten.
***
Am Abend saß Lisa in ihrem Zimmer am Fenster und machte sich so ihre Gedanken. Würde Marco wirklich nach Schloss Schönblick kommen, oder hatte er sie bereits vergessen? Ihr Herz tat weh bei dem Gedanken. Dann fiel ihr Aiko und sein kampflustiger Vater ein. Sollten sie tatsächlich wieder einen neuen Krieg angezettelt haben?
Lisa war müde von der harten Arbeit im Garten. Sie schaute aus dem Fenster und winkte der Zauberblume zu, die leicht ihren Kopf neigte. Das tat sie jeden Abend bevor sie sich schlafen legte.
***
Ein Mondmonat war bereits vergangen. Die Zwillinge verbrachten die meiste Zeit mit ihrem Vater. Wie jeden Abend saßen sie vor dem Kamin im Blauen Salon der verstorbenen Königin. Die meisten Kerzen waren erloschen, nur das Feuer im Kamin warf bizarre Schatten an die Wände. Sie wollten sich gerade zur Ruhe begeben, als ein greller Blitz mitten durch den Raum fuhr. Der König und seine Töchter erschraken fürchterlich. In einer Lichtsäule erschien eine wunderschöne Frau. An der Hand hielt sie den Prinzen Aiko.
„Sei gegrüßt, mein tapferes Mädchen”, wandte sie sich an Lisa. „Erkennst du mich nicht mehr?”
Sie lachte. Es klang wie der Anschlag auf einer Harfe.
„Schlehenfeuer!” Lisa rannte zu der Fee, die sie mit ausgebreiteten Armen empfing. „Das ist Schlehenfeuer, die Feenkönigin, die Schwester unserer Mutter”, stellte sie den Anwesenden die Fee vor.
Der König war tief beeindruckt von der schönen Frau. Besonders überwältigt war er, als er die große Ähnlichkeit mit seiner geliebten Frau feststellte. Er stand auf und verbeugte sich tief: „Willkommen in meinem Reich. Darf ich dich umarmen und dir danken, was du alles für Lisa getan hast.” Er legte seine Arme um die Elfe und drückte sie fest an sein Herz.
Schlehenfeuer wehrte ab. „Den glücklichen Ausgang haben wir hauptsächlich Lisa zu verdanken.”
Lisa schüttelte den Kopf. „Der Zauberblume gebührt der Dank.”
Der König seufzte laut. „Wie traurig, dass Isella das nicht miterleben kann.”
Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf dem schönen Antlitz der Fee. Sie warf ihren schneeweißen Umhang zurück. An ihrem Hals hing an einer schweren Goldkette ein leuchtender, blutroter Stein. „Das waren einmal mein Stein und die meiner beiden Schwestern Wolkenwind und Silbertau”, erklärte sie. „Damit der Zauber wirken konnte, musste ich sie zu Einem verschmelzen. Lisa hat gesehen, wie alt und gebrechlich ich schon war. Vielleicht wäre ich sogar bereits tot. Dieser Stein hat mich im letzten Moment gerettet. Mit seiner Zauberkraft wurde ich wieder zur Feenkönigin.” Schlehenfeuer legte ihre Hand auf den Stein. „Niemals darf ich ihn ablegen, sonst werde ich wieder zu einem sterblichen Menschen.”
Der König erinnerte sich an die Prophezeiung der weisen Männer. Drei Steine sollten zu einem Ganzen verschmolzen werden, dann würde das Unglück von seiner Familie weichen. Neue Hoffnung keimte in ihm auf.
Neben Schlehenfeuer stand schweigend Prinz Aiko. Irgendwie wirkte er verlegen, denn er starrte ununterbrochen auf seine Füße.
„Was ist?” fragte Lisa. Ihre Augen taxierten den jungen Mann etwas spöttisch. „Hat es dir die Sprache verschlagen?”
Der Prinz hob seine Augen. Mit einem zaghaften Lächeln begrüßte er die Prinzessinnen. „Hallo Lisa! Hallo Julia!” Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er schluckte ein paarmal.
„Warum so schüchtern, großer Feldherr. Wolltest du nicht mit deinem Vater in den Krieg ziehen?”
Das Gesicht des Prinzen verzog sich zu einer Grimasse, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Das sah so komisch aus, dass alle herzlich lachen mussten.
„Nun erzähl' schon”, spornte Lisa ihn etwas milder an. „Was ist geschehen?”
„Es gibt keinen Krieg mehr in unserem Land”, fing der Prinz an zu reden. „Wir haben eingesehen, dass Kriege keine Konflikte lösen können. Deswegen schlossen wir einen Dreierbund mit König Konja und dem Koboldkönig Odo. Er erhielt seinen Kristall zurück und wurde wieder von seinem Volk als König eingesetzt. Seitdem sind wir gute Freunde. Außerdem hat Schlehenfeuer versprochen, als gute Fee wieder über unser Land zu wachen. Es wird allerdings noch einige Zeit dauern bis alle Narben des Krieges verheilt sind.”
„Hast du Marco gesehen?” fragte Lisa leise.
„Er wird demnächst zum König gekrönt. Sein Vater will sich zur Ruhe setzen.”
„Ich verstehe”, sagte Lisa enttäuscht. „Deswegen ist er nicht mitgekommen.
„Nein Lisa, es geht seiner Mutter noch sehr schlecht. Sie hat die bösen Erlebnisse mit Hogla noch nicht verwunden. Sobald es ihr besser geht, wird Marco nachkommen.”
„Nun hab' ich nur noch einen Wunsch”, verkündete Aiko und verbeugte sich vor dem König. „Ich möchte dich um die Hand deiner Tochter bitten.” Erst schaute er Lisa an, doch dann lief er zu Julia, die neben ihrem Vater stand. Er fasste nach ihrer Hand und wandte sich an den König.
Gespannt warteten alle Anwesenden auf Julias Antwort. Wie wird sie sich entscheiden? Die Prinzessin schwieg eine Weile, bis sie antwortete: „Ich will versuchen dir eine gute Frau zu sein”, sagte sie schließlich.
Liebevoll schloss Prinz Aiko sie in seine Arme.
Bis Mitternacht saßen sie noch im Blauen Salon vor dem Kamin und schmiedeten Pläne für ihre Zukunft.
Als die Uhr auf dem Kamin die Mitternachtsstunde schlug, erhob sich Schlehenfeuer und sagte zu König Carlo: „Bring’ mich bitte zu meiner Schwester Wolkenwind.”
Der König zögerte. Niemand hatte bisher die Gruft betreten dürfen.
„Ich möchte meine Schwester sehen”, wiederholte Schlehenfeuer mit Nachdruck.
„Isella ist tot”, sagte der König traurig.
Die Fee ließ sich nicht beirren. „Führe mich bitte zu ihr.”
Der König gehorchte schweren Herzens. Schweigend stiegen die beiden über eine breite Steintreppe in das finstere Gewölbe. Vor einer großen schweren Eisentür blieb der König stehen.
„Warte bitte hier, ich möchte allein hineingehen”, meinte Schlehenfeuer ernst.
König Carlo nahm den Schlüssel, der an einer goldenen Kette hing, aus seiner Jackentasche. Seufzend öffnete er das Schloss und ließ Schlehenfeuer eintreten.
Die Gruft war geräumig. Die Wände, die gewölbte Decke und der Fußboden waren aus schimmerndem weißem Marmor. Auf einem Podest stand ein gläserner Sarg, der von zwei Fackeln beleuchtet wurde.
Schlehenfeuer trat an den Sarg und öffnete den Deckel. Lange schaute sie in das bleiche Gesicht ihrer Schwester. Dann ergriff sie ihre Hand, die sich eiskalt, doch merkwürdigerweise weich anfühlte. Sanft streichelte sie über die Finger ihrer Schwester. Dann beugte sich Schlehenfeuer über die Tote, und legte den roten Rubin, erst auf Isellas Stirn, dann auf ihr Herz. Der Stein fing an zu glühen. Die Strahlen erhellten die ganze Gruft.
„Wolkenwind wach’ auf. Du bist nicht tot, du schläfst nur tief und fest. Wach bitte auf.”
War da ein leichtes Zucken der Augenlieder? Schlehenfeuer hielt immer noch den Stein an Isellas Herz.
Endlich schlug die Königin die Augen auf und schaute erstaunt auf ihre Schwester. „Schlehenfeuer du hier?” Ihre Stimme war leise. „Oh Gott nein. Du darfst nicht hierher ins Reich der Menschen kommen. Was machst du hier?” Sie richtete sich auf.
„Ich bin nur gekommen, dich aus deinem tiefen Schlaf aufzuwecken”, erwiderte sie glücklich lächelnd, und reichte Isella die Hand, um ihr aus dem Sarg zu helfen. Freudig umarmten sich die Schwestern.
„Wo ist mein Gemahl und meine kleinen Mädchen?”
„Kleine Mädchen? Weißt du, wie viel Zeit du verschlafen hast?” fragte Schlehenfeuer.
Isella schüttelte den Kopf.
„Du liegst bereits zwölf Jahre hier. Aus deinen kleinen Mädchen sind inzwischen junge Damen geworden.”
„Wirklich? Ach wie bin ich glücklich”, wiederholte die Königin mehrere Male. „Danke Schlehenfeuer.”
„Der Dank gebührt ganz allein deiner Tochter Lisa und der Zauberblume.”
„Lisa?” fragte Isella verwundert. „Und welche Blume meinst du, Schwester?”
Schlehenfeuer erzählte ihrer Schwester was passiert war, während sie schlief. „Deine Tochter Lisa ist ein mutiges Mädchen. Mit Hilfe der Zauberblume, die du bald kennenlernen wirst, wurden wir vom bösen Erdgnomen Hogla und seiner Bande befreit. Seitdem ist der Frieden in unserem Land wieder hergestellt. Schon bald werden die Narben des Krieges beseitigt sein und das Land wird wieder in seiner alten Schönheit erblühen. Wir sind sehr stolz auf Lisa. Und nun komm’ Isella, komm’ zu deiner Familie.”
***
Vor der Gruft lief König Carlo nervös auf und ab und fragte sich, warum sich Schlehenfeuer so lange in der Gruft aufhielt. Als endlich die Tür aufging und er die beiden Frauen erblickte, weiteten sich seine Augen ungläubig. „Nein, das kann nicht sein”, flüsterte er ergriffen. Doch dann stürzte er in die ausgebreiteten Arme seiner geliebten Frau. Keiner brachte ein Wort hervor, nur die Tränen liefen über ihre glücklichen Gesichter.
Schlehenfeuer war die einzige, die die Ruhe bewahrte, das haben Feen so an sich. „Möchtet ihr nicht zu euren Töchtern gehen? Sie warten sicher schon voll Ungeduld.”
Hand in Hand liefen der König und seine Gemahlin die Treppe nach oben. Als sie den Salon betraten, herrschte eine unheimliche Stille. Keiner wollte glauben, was sie sahen.
„Meine Töchter”, rief Isella bewegt und streckte die Arme nach ihren Kindern aus. „Wie hübsch ihr geworden seid.”
Die Zwillinge schauten sich verblüfft an. Dann stürzten sie gleichzeitig in die Arme ihrer Mutter.
Ergriffen wischte sich der König die Tränen aus seinen Augen.
Lisa kniete sich vor Schlehenfeuer nieder, küsste ihre Hand und sagte ergriffen. „Ich danke dir, dass du meine Mutter wieder lebendig gemacht hast”, schluchzte sie.
Die Fee strich über Lisas Haare. „Sie war nicht tot, Lisa. Sie lag nur in einem todesähnlichen Schlaf. Ich habe sie nur aufgeweckt.”
Unbeschreiblich, was sich nun im Schloss abspielte. Die Nachricht von Isellas Erwachen, verbreitet sich wie ein Lauffeuer und erreichte in Windeseile das ganze Land. Die Menschen jubelten und weinten vor Freude, dass man es bis an die Grenzen des Königreiches vernehmen konnte.
Das hörten auch die sieben weisen Männer. Sie enthüllten ihre Häupter und verließen ihre Höhlen. Als ihre Blicke auf die Kastanienbäume fielen, stießen sie verwunderte Rufe aus. Die Bäume, die viele Jahre kahl gewesen waren, hatten wieder ein üppiges, grünes Blätterkleid angezogen und standen in voller Blüte. Auch die Vögel, die fluchtartig die Bäume verlassen hatten, waren zurückgekehrt und trillerten aus voller Kehle ihre lieblichen Lieder in die Luft. Freudestrahlend liefen die sieben Weisen zum König, um ihm die frohe Kunde zu überbringen. Das ganze Schloss war auf den Beinen. Ein Gewimmel von Menschen, wie in einem Ameisenhaufen.
Als die sieben Männer, in ihren langen wallenden Gewändern, den Thronsaal betraten und das Königspaar freudestrahlend auf den Thronen sitzen sahen, wussten sie, dass das Unglück von dem kleinen Königreich gewichen war.
Am nächsten Tag traf man Vorbereitungen für Julias und Aikos Hochzeit. Der Festsaal wurde mit Blumen und Girlanden geschmückt. Die besten Köche des Landes bereiteten die köstlichsten Delikatessen. Die Festtafeln bogen sich förmlich von den erlesensten Speisen.
Vom ganzen Land kamen die Menschen zum Schloss und brachten dem Brautpaar kostbare Geschenke.
Schlehenfeuer unterhielt die Gäste bis zum Morgen mit neckischen Zaubereien. Und alle staunten über ihre anmutige Schönheit.
„Was ist eigentlich aus den Silberbäumchen geworden”, wollte Lisa von Schlehenfeuer wissen. „Konntest du auch deine verzauberten Kinder erlösen?”
Dankbar nahm die Fee Lisa bei der Hand. „Ja, Prinzessin. Dass wir wieder eine glückliche Familie sind, und in unser Elfenschloss zurückkehren konnten, haben wir nur dir zu verdanken.”
Um Mitternacht öffnete sich die Tür. Jasmina und eine ganze Anzahl Elfen schwebten herein. Freudig begrüßten sich Lisa und die Elfe.
Schlehenfeuer und ihre Kinder tanzten einen Reigen, so anmutig und schön, dass darüber noch nach vielen Generationen gesprochen wurde.
Bevor das Hochzeitsfest zu Ende ging, verabschiedeten sich die Feenkönigin und ihre Kinder von den Gästen. „Die Zeit ist abgelaufen. Noch heute Nacht müssen wir in unser Reich zurückkehren.”
Als Schlehenfeuer ihre menschliche Schwester umarmte, flüsterte sie Isella ins Ohr. „Leb’ wohl kleine Schwester. Und bitte keine Babys mehr. Sonst bist du unweigerlich verloren.”
Isella nickte. „Ich weiß, Schlehenfeuer.”
„Wir werden uns nie mehr wiedersehen, denn nur einmal darf ich das Reich der Menschen betreten”, sagte Schlehenfeuer traurig. „Ich wünsche dir viel Glück und hoffe du bereust es nicht ein Mensch zu sein.”
Isella schüttelte den Kopf. „Ich liebe meinen Mann und meine Töchter so sehr, dass ich ohne sie nicht mehr leben kann.”
„Ich verstehe dich gut Schwester. Du hast einen liebenswerten Mann und wunderschöne Kinder.”
Die Hochzeitsgäste begleiteten die Feenkönigin und ihre Elfenkinder noch bis in den Schlosshof, wo sich die luftigen Wesen leicht wie Federn erhoben und in den sternklaren Himmel schwebten. Wie kleine, tanzende Nebelfetzen, entschwanden sie ihren Blicken. Glücklich und traurig zugleich löste sich die Hochzeitsgesellschaft auf. Jeder kehrte in seinen Heimatort zurück.
***
Und wieder war ein Monat vergangen. Lisa war niedergedrückt. Sie wollte allein sein und streifte mit ihrem Freund Pipo durch den Blumengarten. Auf einer Bank in der Nähe der Zauberblume ließen sie sich nieder.
„Wie schön es hier wieder ist”, schwärmte der Mäuserich.
Lisa nickte. „Nie wieder werde ich mein Land verlassen.”
„Oh doch Lisa und das sehr bald”, hörte sie die Zauberblume sprechen.
„Wie meinst du das, Zauberblume?”
„Hab’ Geduld. Das wirst du noch in dieser Nacht erfahren.” Die Blume schloss ihre Blüte und schwieg.
Lisa verließ den Blumengarten und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Sie setzte sich noch eine Weile ans offene Fenster und schaute in die sternklare Nacht. Traurig dachte sie an Marco. Würde er sein Versprechen einlösen? Die Prinzessin blickte zur Zauberblume und war sich sicher, dass sie mehr über den Prinzen wusste.
Der Vollmond wanderte über den Himmel. Es war der zweite Vollmond, seit Lisa wieder zu Hause war.
„Sei nicht traurig, Prinzessin.” Pipo saß auf ihrem Arm und beobachtete schon eine ganze Weile ihr bekümmertes Gesicht. „Ich bin überzeugt, Marco kommt wie versprochen.”
Lisa war da nicht so optimistisch. Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht hat ja Citta für Marco bereits eine Braut ausgesucht. Sicher gibt es dort auch schöne Mädchen.”
„Nein Lisa, das kann ich mir nicht vorstellen. Erstens kenne ich kein schöneres Mädchen als dich und zweitens ist Marco in dich verknallt. Er würde niemals so eine dahergelaufene Maid nehmen.”
„Ich glaube nicht, dass Marco das Problem ist, sondern Citta. Du hast ja auch miterlebt, wie sehr sie mich hasst. Sie wird mit Sicherheit alles unternehmen, um Marcos Liebe zu mir zu zerstören.”
„Das stimmt schon”, erwiderte Pipo, „aber der Prinz ist ein starker, junger Mann. Ich glaube nicht, dass er sich von der Hexe unterbuttern lässt.” Er schüttelte den Kopf und sagte mit voller Überzeugung: „Du musst nur fest daran glauben, dass er zu dir kommt.”
Lisa schaute wieder aus dem Fenster und drehte spielerisch den Verlobungsring an ihrem Finger. Der Mond stand voll und kugelrund direkt über Schloss Schönblick.
„Hörst du was, Lisa?” Pipo legte seinen Kopf zur Seite und lauschte in die Nacht.
„Nein Pipo. Ich kann nichts hören.” Sie stand auf und lehnte sich zum Fenster hinaus.
Nach einer Weile fragte Pipo erneut. „Hörst du wirklich nichts, Prinzessin?”
Lisa verneinte abermals, obwohl sie angestrengt in die stille Nacht lauschte.
Pipo sprang auf den Fenstersims. „Das musst du doch hören.” Er schüttelte den Kopf. „Menschen haben schlechte Ohren. Ich vernehme ganz deutlich galoppierende Pferde.”
„Pferde?” fragte Lisa und schaute zum Vollmond. „Meinst du, es ist Marco?” Ihr Herz machte einen freudigen Sprung.
„Aber ja Lisa. Im Gegensatz zu dir, habe ich nie an seinem Versprechen gezweifelt. Er ist ein Ehrenmann und sooooo schön.” Pipo schnalzte mit der Zunge und verdrehte seine Augen.
Lisa konnte nun auch, erst ganz leise und dann immer deutlicher, das Schnauben von Pferden hören. „Komm, Pipo”, schrie sie, packte den Mäuserich und stürzte über die Treppe in den Schlosshof. Aber es war nur ein Pferd, das auf den Hof galoppiert kam. Einer der weisen Männer saß darauf. „König Carlo”, schrie er. „Majestät!”
Der König und seine Frau kamen aus dem Schloss gestürzt „Was gibt es? Was ist passiert?” fragte der König aufgeregt.
„Ein junger Mann namens Marco und seine Begleiter begehren Einlass.”
Der König schaute zu Lisa, die glücklich lächelte. „Lasst sie eintreten”, befahl er dem weisen Mann. „Und auch zukünftig dürfen sich die Menschen vom Land der Palmenhaine bei uns frei bewegen.”
Der weise Mann nickte. „Ja, Majestät.” Nach einer tiefen Verbeugung schwang er sich auf sein Pferd und ritt davon.
Wenig später konnte man das Stampfen vieler Pferdehufe hören. Marco an der Spitze, galoppierte mit einigen Männern auf den Hof. Lisa lief ihnen entgegen.
Der junge Mann sprang von seinem Ross und breitete die Arme aus. Seine Umarmung war so stürmisch, dass Lisa die Luft wegblieb.
„Meine süße Braut”, flüsterte er in ihr Ohr. „Wie habe ich mich nach dir gesehnt.”
Gerührt schluchzte Lisa. „Dass du doch gekommen bist. Ich kann es immer noch nicht glauben.”
„Ich habe es doch versprochen”, erwiderte der junge Mann. Dann küsste er sie zärtlich. „Ohne dich war mein Leben nichtig und leer.” Er strich über ihre silberblonden Haare.
Der Lärm hatte auch die anderen Schlossbewohner geweckt. Aus dem Gesindehaus kam die Dienerschaft gelaufen und beobachteten neugierig die großen, fremden Männer, mit ihren schweren, schwarzen Mänteln und den dunklen Hüten, die sie tief in die Stirn gezogen hatten.
„Komm’ Marco, ich will dich meiner Familie vorstellen.” Lisa nahm ihn bei der Hand.
König Carlo und seine Frau Isella standen an der Tür, während Julia und Aiko, angelockt von dem Lärm, gerade die Treppe herunter gelaufen kamen.
Julia war ganz angetan, als sie den schönen, stattlichen Mann sah. Die Begrüßung fiel überaus herzlich aus. König Carlo hieß den jungen Mann willkommen. Bevor er die Gäste ins Schloss bat, gab er den Stallknechten Anweisung die Pferde zu versorgen.
„Nein, nein, das machen meine Männer selbst”, wehrte Marco ab. „Die Tiere lassen sich nicht von fremden Menschen anfassen.”
Der König schaute sich die Rösser genauer an, die unruhig hin und her tänzelten. Er staunte nicht schlecht, über die stolze Haltung und die Größe der Tiere. Ihre schlanken Fesseln und der schmale, aber muskulöse Körperbau deuteten auf ihre Schnelligkeit hin.
„Ich züchte selbst Pferde”, erklärte er dem jungen Mann, während Marcos Männer die Pferde in den Stall brachten. „Aber solch’ edle Rösser, habe ich noch nicht gesehen. Sie übertreffen bei Weitem, an Schönheit, Körperbau und Temperament, meine Tiere.”
Marco musste ihm recht geben. „Diese Pferde sind einmalig in der Welt und sie gibt es nur im Land der Palmenhaine.”
Sie warteten noch bis die Männer zurückkamen. Dann bat König Carlo seine Gäste in den kleinen Speisesaal. „Ihr werdet bestimmt hungrig sein. Unsere Küche hat sicher noch etwas zu bieten.”
Als sie Platz genommen hatten, klingelte er dem Koch und gab einige Anweisungen.
Wenig später betraten etliche Diener mit Tabletts das Zimmer. Erstaunlich, was der Koch in so kurzer Zeit zubereitet hatte. Gebratene Wachteln, kalter Braten und feines Gemüse wurden serviert. Als Nachtisch brachte der Koch persönlich eine riesige Torte.
Marco saß neben Lisa und streichelte ihre Hand. „Ich bin so unendlich glücklich”, flüsterte er ihr zu.
Die Prinzessin nickte gerührt. „Mein Herz gehört dir, Marco.”
Nach dem Essen bat der König seine Gäste in den blauen Salon.
Marcos Männer verabschiedeten sich. Sie wollten bei ihren Pferden in den Stallungen schlafen.
Im Blauen Salon brannte ein lustiges Feuer im Kamin. Es gab so viel zu erzählen. Bis zum Morgengrauen saßen sie beisammen und Marco musste von seiner Heimat berichten.
„Wie geht es deiner Mutter?” fragte Lisa.
„Am Anfang waren wir sehr besorgt, aber mit der Zeit konnte sie sich wieder an ihr früheres Leben erinnern. Mein Vater ist überglücklich und macht mit ihr lange Spaziergänge durch die Palmenhaine.”
„Palmenhaine?” fragte Lisa verwundert. „Das Land ist kahl und öde.”
„Du wirst staunen Lisa, wie schön unser Land geworden ist. Es ist erblüht wie eine Narzisse. Seit es Hogla und den Zauberer Zottaka nicht mehr gibt, hat sich das Land über Nacht wieder in einen Palmengarten verwandelt.”
Citta, schoss es durch Lisas Sinn. „Wo ist deine Tante Citta?” fragte sie etwas ängstlich.
Der junge Prinz beruhigte sie. „Sie wohnt nicht mehr auf der Burg. Vater ließ ihr ein hübsches Haus errichten, mit einer Dienerschaft versteht sich. Dank den erbeuteten Schätzen aus Hoglas Schloss, konnte mein Vater ihr eine angemessene Summe Goldmünzen zahlen. Sie hat also keine Gelegenheit mehr Unfrieden zu stiften.”
Lisa war erleichtert über diese Nachricht.
Der Prinz stand plötzlich auf und kniete sich vor Carlo und Isella nieder. „Ich bitte euch um Lisas Hand. Ich liebe sie über alles und werde sie sehr glücklich machen.”
Das Königspaar nickte gleichzeitig.
„Wenn Lisa möchte, sind wir einverstanden”, sagte König Carlo feierlich.
Marco schaute zu Lisa, die ihm mit einem strahlenden Lächeln zunickte.
Pipo der alles schweigend mit großem Interesse beobachtet hatte, sprang auf Marcos Arm und verkündete laut: „Ich nehme dich auch.” Er grinste breit und schmatzte dem jungen Mann einen Kuss auf die Wange.
„Das ist doch selbstverständlich Pipo. Ohne dich geht gar nichts. Wir haben dir so viel zu verdanken. Auch das Leben meiner Mutter. Ich weiß nicht, was wir ohne deinen Mut getan hätten. Vielleicht säßen wir heute gar nicht hier.”
Pipo senkte verschämt den Kopf. Diese Lobeshymne war ihm etwas peinlich. „Werdet ihr nun endlich heiraten?” lenkte er vom Thema ab.
„Wenn es nach mir geht, gleich morgen”, erwiderte Marco.
„Hat jemand etwas einzuwenden?” fragte König Carlo.
Keiner widersprach.
„Dann werden wir nur im engsten Familienkreis eine Hochzeit ausrichten.”
So geschah es auch. Die Dienerschaft wurde angewiesen für den nächsten Tag den Thronsaal zu schmücken und ein Festmahl zuzubereiten.
Königin Isella wollte, dass Lisa ihr Brautkleid anlegt, das einst Adda die Ahnfrau genäht hatte. Es war ein elfenbeinfarbiges Seidenkleid mit einer langen Spitzenschleppe.
Marco war entzückt von seiner strahlenden Braut. Er konnte seine Blicke nicht von ihr abwenden. Vor der Trauungszeremonie holte der Prinz aus seinem schneeweißen Wams ein schmales, goldenes Diadem heraus und setzte es auf Lisas Haar. „Es ist von meiner Mutter. Sie freut sich sehr auf dein Kommen. Sie konnte dir noch nicht dafür danken, was du für sie getan hast. Ohne dich wäre sie dem unterirdischen Reich der Erdgnome niemals entkommen.”
Lisa wehrte ab. „Das hätte jeder andere auch getan. Außerdem hat Pipo den größten Teil dazu beigetragen. Er ist der große Held. Er hat sie entdeckt. Nicht auszudenken wenn er nicht den Mut gehabt hätte das Schloss auszuspionieren.”
Der Mäuserich saß auf Lisas Arm und grinste breit. Sein kleines Mäuseherz floss über vor Glück. Er kraxelte auf Lisas Schulter und knutschte und knutsche sie so lange, bis ihm die Luft wegblieb. Dann flüsterte er gerührt: „Ich liebe dich Prinzessin.”
„Ich liebe dich auch, Pipo.”
Der Mäuserich wich keine Sekunde von Lisas Seite. Und die wenigen Hochzeitsgäste staunten über diese Freundschaft, obwohl es sich bereits herumgesprochen hatte, wie tapfer der kleine Kerl war.
Sein Beinbruch war auch ziemlich gut verheilt. Nur manchmal humpelte er noch ein bisschen. „Das Wetter”, sagte er dann entschuldigend, „das spüre ich in meinen Knochen.”
Alle lachten über seine Späße. Er benahm sich sehr menschlich. Ist ja auch kein Wunder, er lebte ja schon so lange Zeit unter Menschen.
***
Nach den Feierlichkeiten wollte Marco mit seiner jungen Frau in seine Heimat aufbrechen.
„Entschuldigt einen Moment”, sagte Lisa und lief in den Blumengarten. Die Zauberblume wartete bereits. Die Prinzessin wollte sich von ihr verabschieden und noch einmal für ihre Hilfe danken.
Die Blume winkte ab und senkte traurig ihr Haupt.
Lisa spürte sofort, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Sie berührte sanft ihren Stiel. „Hast du Kummer?” fragte sie.
„Erfüllst du mir eine Bitte, Lisa?”
„Alles was du dir wünschst”, erwiderte die Prinzessin eifrig.
Nimm bitte ein Samenkorn mit in deine neue Heimat. Dann bin ich immer in deiner Nähe."
Die Blume neigte ihr Haupt und Lisa zupfte der Blume ein Samenkorn aus. In ein Tüchlein gewickelt, steckte sie es in ihre Manteltasche. Sie setzte sich auf das Pferd, das Marco eigens für sie mitgebracht hatte.
„Was hast du da, Lisa?” wollte Marco wissen.
"Ein Samenkorn der Zauberblume."
Der junge Mann nickte, ohne weiter in sie zu dringen.
Wenig später verließen Lisa, Marco und seine Mannen Schloss Schönblick. Ihre Eltern zurückzulassen, fiel der Prinzessin sehr schwer. Doch versprachen sie, sich so oft es ging, zu besuchen.
Pipo reiste natürlich mit. „Du brauchst doch einen Freund und Beschützer.” Er gähnte laut und verschwand wie üblich in Lisas Manteltasche.
Texte: Constance Minera
Bildmaterialien: Sina Katzlach
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2015
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