Patchwork-Family I :
Wenn mich jemand fragen würde, woher die ganze Scherben kommen. Ich könnte lediglich eine Grimasse schneiden und sagen:
„Diese kläglichen Reste hier sind mein Leben!“
Und wieso? Weil meine liebestolle Mutter, nebenbei gesagt - sie ist 36 – beschlossen hat ihren Freund zu heiraten. Und ja, ich weiß, dass dies eigentlich ein Grund zur Freude sein sollte, aber nicht wenn man ihn und seinen dreiköpfigen Anhang kennt. Auch bekannt unter Yasmine, Levi und Alejandro.
Aber bevor ich über meine baldigen Stiefgeschwister herziehe, sollte ich zumindest erst einmal erklären wer ich bin.
Mein Name ist Nele, genauer gesagt Nele Winter. Ich bin 16 Jahre alt und werde genau eine Woche nach der geplanten Hochzeit 17. Mein Vater hat sich davon gemacht, als er erfahren hat, dass meine Ma schwanger war. Ich habe in bisher erst einmal gesehen und das auch nur per Zufall. Meiner Meinung nach muss ich ihm auch nicht häufiger begegnen. Er schickt mir zwar immer wieder Karten und lädt mich auch zu sich ein, aber ich habe nun echt keine Lust seine „bessere Hälfte“ kennenzulernen. Nebenbei, mit ihr hat er zwei Kinder und er hat sich der Verantwortung gestellt –wieso also herein „schneien“? – wenn er das wahre Familienglück ohne mich hat.
Marie, meine Mutter, findet zwar, dass ich meine Beziehung zu ihm verbessern sollte, aber sie hat es sicherlich nur vorgeschlagen, damit es nicht wie eine Bombe einschlägt, wenn sie mir eröffnet, dass bald eine neue Vaterfigur in meinem Leben eine Konstante haben soll. Natürlich darf man nicht vergessen, dass ich ein Einzelkind bin und mir das Konzept einer Großfamilie, geschweige denn einer Multikulturellen, unbekannt ist.
Aber wie sagt Marie immer: „Ich soll toleranter gegenüber der Umwelt werden und doch bitte endlich lernen, dass andere Menschen auch positive Seiten haben können?“ Dann hat sie die liebenswerte Seite von Alejandro Sánchez, alias Stiefbruder in vier Wochen, irgendwie vor mir verstecken können.
Denn er war, ganz egal, was sein Vater sagte – er heißt Carlos- kein missverstandener Jugendlicher. Alejandro hat einfach ein Problem mit Autoritätspersonen und ist ein Macho. Auch denkt er, dass die einzige Arbeit, die eine Frau zu verrichten habe, sei, den Haushalt zu führen, also Kochen und so etwas und ihren Mann zu bedienen.
Ich will ja seine chauvinistische Traumwelt nicht zerstören, aber wenn er denkt, dass ich als seine neue „Schwester“ ihm, meine Mutter arbeitet Vollzeit,
dann hatte er noch keinen wirklichen Temperamentsausbruch von mir erlebt. Aber jetzt bin ich schon wieder vom eigentlichen Thema abgekommen. Dieser Idiot vermasselt aber auch alles.
Also, Carlos und Marie, synonym für die Familie Winter und Sánchez, würden sich in vier Wochen das Ja-Wort geben und dann heißt es: „Let the party start“
Denn schließlich war es dort noch nicht zu Ende, o nein! Das wäre zu einfach, wir ziehen auch noch um und zwar in das alte Viertel von Carlos und seinen Kindern. Kurzum, neue Schule für mich und zu allem Alten auch Adieu, denn als Teil der Patchwork-Famile Winter-Sánchez würde ich nun vollständig in ihre Strukturen integriert werden.
Und nein, es hatte nicht geholfen meiner Mutter die Vorteile einer Langfristigen Beziehung ohne Lebensgemeinschaft darzustellen. Sie hatte mir lediglich die Haare aus dem Gesicht gestrichen und gemurmelt: „Die Pubertät ist eine sehr schwere Phase für Teenager und natürlich verstehe ich, wenn deine Hormone momentan ein wenig durcheinander sind, aber Carlos und ich werde heiraten. Du wirst sehen, die Kinder und er freuen sich so sehr auf dich!“
Nun das erst Mal zur Vorgeschichte. Denn das eigentliche Chaos beginnt erst am 07.07.2011. Dem Tag der Hochzeit.
Kapitel 1 Brautalarm
„Ich pack das nicht Hase. Was wenn wir überhaupt nicht miteinander klar kommen? Was dann?“, meine Mutter schnäuzte sich die Nase und blickte mich unter ihrem Schleier traurig an. Wenn ich eine wirklich fiese und hinterhältige Tochter wäre, dann hätte ich sie in all ihren Zweifeln bestätigt und die Katastrophenhochzeit wäre zu Ende gewesen. Das Problem war nur, dass Carlos sie sicherlich nicht einfach aufgeben und er mein Mitwirken mit kriegen würde. Die Folge … lieber gar nicht erst ausmalen.
„Er liebt dich Mama. Und wenn du ihn liebst kann ich ihn und seinen Anhang sicherlich irgendwann und damit meine ich in langer, langer Ferne gern haben!“ Auf einmal sprang sie auf und drückte mich.
„Du bist so gut zu mir!“ – Ja klar, denn wenn sie genau zugehört hätte, wäre ihr aufgefallen, dass ich ihr geraden gesagt habe; ihr Freund und seine Kinder in meinem Herzen, niemals.
Ein Klopfen an der Tür ließ uns zusammenzucken. „Seid ihr beide fertig, oder wollt ihr noch einmal den Zimmerspringbrunnen starten lassen?“, riss mich Alejandros Stimme aus den Gedanken.
Marie fuhr sich fahrig durch die Haare - dafür hatte sie bei der Friseuse nun auch noch Geld gelassen? - und öffnete die Tür. Zum Glück konnte Alejandro ihre rotumrandeten Augen unter dem langen Schleier nicht sehen, höchstens leichte rote Wangen, die wir beide bekamen, wenn wir aufgeregt waren. Sehr peinlich, vor allem total unattraktiv und wenn es auch nur Alejandro war, der mich hier sehen konnte . Er selbst trug einen Anzug und natürlich, wie ich mit einem Grinsen feststellte auch passende Lackschuhe. „Sehr witzig, du überdimensionaler Pinguin! Gab es die Schuhe auch in zart rosé?“
Ich konnte genau sehen, wann er seine Beherrschung verlor. Seine rechte Augenbraue zuckte dann leicht und er spannte seine Muskeln an. Seine dunkel braunen Augen durchbohrten mich fast, dann zuckte Alejandro jedoch mit seinen Schultern und trat einen Schritt näher:
„Wir würden auch mit rosa Lackschuhen wissen, wer die Hosen anhat, oder?“, dabei warf er einen Blick auf mein kurzes Kleid, „Du wärst es nämlich sicherlich nicht!“
Und bevor ich etwas erwidern konnte – und mit so etwas würde ich für unabsehbare Zeit leben müssen – hatte er sich wieder meiner Mutter zugedreht und führte sie am Arm heraus. Und wie aufs Stichwort schauten Yasmin und Levi herein.
„Kommst du etwa nicht? Willst du nicht, dass papá und Marie heiraten?“
Sie konnten beide so niedlich sein. Vor allem Yasmin mit ihren riesigen, braunen Kulleraugen und den Unmengen an Locken auf dem Kopf, doch wenn sie etwas unbedingt wollten, dann kannten die beiden Quälgeister kein Pardon. Das schlimmste war aber ihre Angewohnheit immer diese niedlichen, spanischen Wörter einzubauen und dann einfach deine Hände zu greifen, sodass du bevor du es realisierst zwischen den beiden eingeengt irgendwo festsaßest. In diesem Fall die Kirchenbank in vorderster Reihe.
„Ihr beide wisst aber, dass ich gleich neben meiner Mama stehen muss, damit die zwei auch ihre Ringe haben, oder?“, flüsterte ich ihnen zu. Ihre Antwort war genauso laut, hatte aber eine deutlich stärkere Wirkung auf mich.
„Alejandro holt dich ab, er ist schon auf dem Weg!“, Yasmine drückte gegen meine Wange, in Richtung Tür. „Er sorgt dafür, dass alles geht bien!“
- Na toll. Ich kann es kaum erwarten.
Und obwohl mich Levi mit seinem Gequietschte vorwarnte, das Alejandro mittlerweile bei uns angelangt war, zuckte ich zusammen als er mir die Finger auf die Schulter legte.
„Griffel weg!“
Sein Blick war unleserlich, als er lediglich antwortete: „Nach der Hochzeit müssen wir uns mal über deine Kleiderwahl unterhalten und deinem Benehmen deiner neuen Familie gegenüber!“
Mit einem Ruck war ich aufgestanden und fauchte: „ Alejandro Sánchez, du wirst mir gar nichts sagen. Dich ginge es noch nicht einmal etwas an, wenn ich lediglich in einem Bikini hergekommen wäre. Auch finde ich mein Benehmen sehr gerechtfertigt und verständlich, du müsstest nur von deinem Egotrip herunterkommen und vielleicht einsehen, dass Frauen mittlerweile nicht mehr von euch Männern abhängig sind und somit selber klar kommen.“ Dann zauberte ich ein Lächeln auf meine Lippen und löste seine Finger.
„Aber keine Sorge, irgendwann wirst auch du die großen Fächer von richtigen Benehmen bis hin zu Frauenkunde verinnerlicht haben!“, und mit einem leichten Klopfer auf seine Schulter flüsterte ich;“ Bloß nur die Hoffnung nicht verlieren!“
- Eins zu null für die Familie Winter. Leider wurden meine triumphalen Gedankengänge von dem Orgelspieler jedoch übertönt und zwar als dieser mit Elan den Hochzeitsmarsch anspielte. Und wie in einem Amy-Film drehten sich die Gäste - mit meiner neuen Stieffamilie waren es beinahe 100 Gäste, denn auf meiner Seite gab es nur mich und nun ja, meine Ma – um, und verfolgten wie in Trance dem Traum in Weiß alias Marie Winter.
Und nicht nur die Gäste, sondern auch Carlos, sahen verzückt aus. Und dabei waren sie überhaupt nicht begeistert davon gewesen, dass er eine Deutsche heiratet, die ein uneheliches Kind hat und noch Vollzeit arbeitet. Vor allem das uneheliche Kind, also ich, passten gar nicht in ihre Welt. Denn leider hatte ich weder ausgezeichnete Manieren, noch brachte ich ihnen den gebürtigen Respekt entgegen. Meiner Meinung nach haben sie von mir an jenem Tag sogar die wirklich guterzogene Nele gesehen, aber was kann man machen. In ihren Augen war ich nun einmal das Kind Satans persönlich.
Schneller als gedacht stand meine Mutter nun neben mir und drückte meine Hand. Ihr Schleier versteckte zwar einen Großteil des Gesichtes, aber ich konnte sehen, dass sie wieder strahlte. Hätte sie es nicht getan, dann wäre es später ziemlich interessant geworden. Und zwar an der Stelle, wo der Priester fragt, ob es Einwände gegen diese Eheschließung gibt. Erst das Zischen meiner Mutter brachte mich wieder richtig auf den Boden der Tatsachen zurück. „Nele, ich weiß ja, dass du nicht unbedingt begeistert warst, aber dennoch hätte ich jetzt gerne den Ring!“
Ich blinzelte und öffnete automatisch das kleine, schwarze Kästchen. Die ganze Gesellschaft starrte mich mittlerweile an. – Ach du meine Güte, das war mal wieder typisch Nele und verdammt peinlich. Kein Wunder das die Sánchez mich als Kind Satans bezeichnen. „Sorry, Ma!“, sie lächelte leicht, drehte sich jedoch sogleich mit dem Ring in der Hand um und steckte ihn Carlos über den Finger.
- Und das war es dann, der glorreiche Untergang einer emanzipierten Frau. In den Klauen der Ehe gefangen.
Wie von selbst steckte ich das Kästchen zurück in meine Tasche und verfolgte den Rest der Zeremonie. Der Priester redete noch eine Zeitlang von dem wichtigen Bund der Ehe und der Bedeutsamkeit an Züchtigkeit, dabei blickte er mir prüfend ins Gesicht, bevor er schließlich mit dem Satz endete: „Sie dürfen die Braut nun küssen!“
Sein sehnsüchtiger Blick, als die beiden es dann auch taten, verriet mir nur eins. Das Zölibat war einfach nur sinnlos. Schließlich stand doch in der Bibel selbst ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘, wie soll das denn funktionieren, wenn die Kirchenoberhäupter selbst keinen Nachwuchs erzeugen? Und wieder ein Beweis, warum ich dieser Vereinigung und dann noch im Namen der römisch katholischen Kirche nicht zustimmen sollte. Ihre und meine Glaubensbilder liefen eindeutig nicht konform.
Ich kicherte, als ich dann den wütenden Blick des Priesters auf mir registrierte, denn auch wenn er es gewollt hätte, die Frauenwelt wäre ihm sicherlich aus dem Weg gegangen. Seine Nasenhaare waren dem Wort ,Kosmetik‘ wohl nie begegnet und eine Zahnbürste war anscheinend auch das Handwerk des Teufels. Die Farbe gelb bekam bei seinem Lächeln eine ganz neue Bedeutung. Aber genug von ihm, meine Familie und insbesondere das glückliche Pärchen hatten Vorrang. Eigentlich war ich nur neugierig auf die baldige Hochzeitstorte, einer von Ma’s Kollegen hatte sie gefertigt, denn ganz egal was noch auf mich zukommen würde, eines dieser Torten Stücke schrie förmlich danach in meinem Bauch zu landen.
„Du hast anscheinend nicht vor diesen Platz in naher Zeit zu verlassen?“, ich zuckte zusammen und blickte in das Gesicht von Aleta José Alfaro. Von all meinen „neuen“ Verwandten erschien sie mir die sympathischste zu sein. Bei unserer ersten offiziellen Familienzusammenkunft war sie nicht dabei gewesen, ich war ihr lediglich heute Morgen über den Weg gelaufen und dann auch noch genau in dem Moment, wo sie Cristobal, ihren Zwillingsbruder, fertig gemacht hatte.
Ihr genauer Wortlaut, und sie hatte eine wirklich durchdringende Stimme, klang in etwa so: „Cristobal José Alfaro, wenn du mir nicht sofort meine Tasche und vor allem mein Handy wiedergibst, dann kannst du was erleben. Und wenn ich Mamá sehe, dann glaub ja nicht, dass ich ihr nicht die Geschichte von deiner letzten Fiesta en casa erzähle!“
- Und da hat man sich immer Geschwister gewünscht. Ich glaube als Einzelkind hat man es deutlich einfacher und wenn es lediglich aus dem Grund wäre, dass mich dann keiner meiner Geschwister aus Wut verpfeifen könnte.
„Doch, doch. Ich hab mich nur gerade an unsere erste Begegnung erinnert!“, dabei grinste ich sie an und folgte ihr ein paar Stufen hinab auf den Kirchenboden. „Ich liebe meine Familie wirklich, aber leider hat mein Bruder den Charakter eines Idioten, der dann auch noch zu chauvinistischen Tendenzen neigt.“
„Das ist nicht nur dein Bruder!“, versicherte ich ihr, „leider scheint ein sehr großer Teil deiner Familie diese Eigenschaft inne zu haben!“ Aleta kicherte und stupste mich an. „Wenn du Alejandro meinst, dann hast du Recht, die anderen folgen lediglich seiner Verhaltensweise, wie blinde Lämmer.“
„Du willst mir also gerade mitteilen, dass er der Boss in einem Stall voller Schafe ist?“, irgendwie mochte ich den Vergleich. Schafe waren so flauschig und niedlich. Und Alejandro war, wenn auch nicht unbedingt im Sinne von weicher Wolle, niedlich.
- Wow, stopp Nele, diese Gedanken werden dich lediglich in noch tieferes Chaos stürzen. Außerdem war er garantiert nicht niedlich, höchstens verdammt attraktiv. Mist!
„Dios mío! Lass sie das nie hören, vor allem Alejandro nicht. Denn wenn er das mitkriegt, dann zeigt er dir sicherlich, warum man ihn so leicht nicht verarscht.“, sie blickte über ihre Schulter und vergrub ihr Gesicht in ihren dunklen Locken, als wolle sie nicht, dass die anderen unsere Unterhaltung mitkriegen. „Und das hat er bis jetzt noch nicht getan?“, verdutzt blickte ich sie an. „Ganz gewiss nicht. Bis jetzt hast du ihn nur genervt, aber gegenüber Familienmitgliedern, vor allem uns Mädchen reagiert er eh anders. Ich würde mit ihm niemals in einen Konflikt geraten wollen.“
Während sich meine Gedanken nun also um besagten Jungen drehten waren wir beiden an den großen Eichenflügeltüren der Kirche angekommen. Marie und Carlos saßen schon in ihrem Auto, ganz klassisch in schwarz mit Schleifen und Dosen verziert. Und sogar die Heckscheibe barg die Aufschrift „Frisch verheiratet“. - Ich glaub ich überlebe es doch nicht. Wie konnte man auf solchen Kitsch stehen oder viel eher, wie konnte meine Mutter von mir verlangen, dass ich nicht kreischend die Flucht ergriff? Und dann auch noch der ganze Reis, der ihnen zugeschmissen worden war? Stand dieser nicht für Fruchtbarkeit? Ich würde es nicht überleben, wenn in neun Monaten ein kleiner, zweiter Alejandro in meinem Leben existierte, oder noch schlimmer, Zwillinge!
Als meine Mutter mir zuwinkte, hob ich linkisch den Arm und zwang mich wenigstens den momentanen Anschein an Gelassenheit zu wahren. Und mit einem Blick auf Yamin, Levi und Alejandro, die mich zu sich winkten, wobei letzterer schadenfroh lachte, war mir eins gewiss:
Dies würde die schrecklichste netteste Großfamilie werden, die die Welt je erlebt hatte.
Die Fahrt zum Restaurant verlief schweigend. Nachdem Marie mit Carlos unter Ohrenbetäubenden Lärm losgefahren waren, hatten Yasmine und Levi mich so schnell in Beschlag genommen und zu Alejandros Wagen gezerrt, dass eine Flucht unmöglich war. Somit saß ich nun gefangen unter seinen Argusaugen auf dem Beifahrersitz und versuchte ihn davon zu überzeugen, dass Rap und Co. Nichts für zwei kleine Geschwister waren und ich diese Art ebenfalls verabscheute.
Seine Reaktion war ein gekonntes Heben der Augenbraue – verdammt, wieso können das eigentlich alle außer mir? – und dann drehte er erst auf.
Ich verachte ihn, nein ich hasse ihn!
Aus reinem Protest packte ich dann mein Handy aus und versuchte ihn zu ignorieren.
„Nele?“, Yasmin beugte sich aus ihrem Kindersitz nach vorne, nun immerhin hielt er sich puncto dieser Vorschrift an die Regeln, und zog an einer Strähne. „Wieso magst du Alejandro nicht?“ Mir entfuhr ein kleiner überraschter Laut. Dann klappte ich das Handy zu und während ich mich zu Yasmin umdrehte konnte ich Alejandros Blick auf mir spüren.
„Aber ich habe nichts gegen ihn. Er konkurriert auf meiner Beliebtheitsskala nur leider nicht so weit oben!“ Ihrem verwirrten Gesichtsausdruck nach hatte sie die Worte nicht verstanden, ihr großer Bruder hingegen umso deutlicher. Seine Finger schlossen sich fester um das Lenkrad und ich konnte sein Mantra förmlich bis zu mir hinüber hören.
- Ich schlage keine Mädchen. Ich schlage sie nicht, schreie sie nicht an und tue ihr nicht weh…
Ich hatte gerade angesetzt, um ihm meine großartige Hypothese des Schafstalles zu erklären, mit ihm als Leitbock, da hielt er abrupt an. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass wir angekommen waren. Ma und Carlos hatten beschlossen ihre Feier in eben jenem Restaurant zu feiern, in welchem sie sich kennen gelernt hatten. Wohl gemerkt nicht als Verabredete, nein, sie waren mit einer anderen Person da gewesen und sind am Ende des abends gemeinsame Wege gegangen.
Alejandro hatte scheinbar genug von meiner Anwesenheit, denn er war mit dem Stopp seines Autos rausgesprungen und hatte mir seine kleinen Geschwister überlassen, während er am Restauranteingang eine rauchte.
Wahrhaftig, welch ein gutes Vorbild für seine Familie, mich würde es nicht wundern, wenn Levis nächste Worte, „Nele tu das!“, lauten würden. Mit einem Seufzer verließ auch ich das Auto, öffnete jedoch vorerst die Beifahrertür und schnallte Levi ab, der seine Patschehände sofort nach mir ausstreckte, dann Yasmin. Beide hingen fortan wie kleine Affen an mir und ich wankte langsam in Richtung Restaurant.
„Vielen Dank auch, Idiot!“, zischte ich Alejandro zu, „Soweit ich weiß solltest du auch auf deine Geschwister Acht geben. Ich bin doch keine Dienerin!“
Er beugte sich langsam runter und pustete mir den Rauch ins Gesicht, jedoch, auch wenn ich es hasste zugeben zu müssen, darauf achtend weder Levi noch Yasmin zu treffen. Mit einem Husten nahm ich meine freie Hand und schubste ihn, oder eher versuchte es; er rührte sich keinen Zentimeter.
Dabei musste mein von Hormonen überschwemmter Geist natürlich registrieren, dass sie angenehm warm und fest war. Blöde Teenager Hormone.
„Ich habe euch hierher gefahren. Somit ist deine Pflicht das Aufpassen auf die niños, comprende?“, damit drückte er die Zigarette aus und stapfte davon.
- Arschloch.
Mehrere Minuten vergingen, Levi hatte es sich mittlerweile auf meinen Rücken bequem gemacht und zog mir ab und an, an meinen Haaren, in denen Yasmin um mich herum tollte und versuchte einen Schmetterling zu fangen. Dieser jedoch flatterte immer wieder aus ihrer Reichweite und schließlich gab sie mit einem kleinen Wutanfall auf. Ihre Locken wippten dabei jedoch so goldig, dass ich sie ihr automatisch zur Seite strich und flüsterte: „Yasmin, er will nur seine Freiheit!“
„Aber ich will ihn doch so gerne haben!“ „Das weiß ich doch, aber siehst du nicht, wie viel Spaß es ihm macht hier durch die Luft zu fliegen?“
Yasmin berücksichtigte diesen Einwurf, dann grinste sie mich an. Ihre Antwort ging jedoch im Lärm der nahenden Hochzeitsgesellschaft unter. Levi, aufgeschreckt von diesem Lärm, fing leise an zu wimmern und ich zog Yasmin mit ihm und mir ins Restaurant. Neben uns dreien und Alejandro, der zufrieden auf einem der Stühle saß, war noch keiner da. Er blickte nicht einmal auf, als ich mich ihm näherte.
Und es schien mir, dass nicht nur meine Mutter heute die Emanzipation zurück gelassen hatte. Vom vermeintlich verwöhnten Einzelkind zum vollständig integrierten Familienmitglied binnen zweier Stunden, dass musste ein Rekord sein. Schon jetzt war meine Frisur gänzlich zerzaust, ich hatte mehrere klebrige Abdrücke von Levi an der Wange und mein Kleid zierten mehrere Erdflecken.
„Was hast du denn gemacht? Dich in der Erde verbuddelt?“, Alejandro musterte mich unter gesenkten Liedern interessiert.
Fortsetzung folgt...
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2013
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