Vor langer Zeit herrschte in einem weit entfernten Land ein grausamer und eisig kalter Winter. So viel Schnee war gefallen, dass alle Zäune unter der weißen Pracht begraben waren und die Menschen kleine Schluchten aushoben, um von einem Haus zum nächsten zu gelangen. Nur im Wald, geschützt von den vielen Bäumen, breitete sich die Schneedecke erträglich aus. In jenem Wald lebte eine alte Hexe, vor der sich die Bewohner des Dorfes sehr fürchteten. Die Alte sah nicht nur abgrundtief hässlich aus sondern war auch noch so unfreundlich, dass man bei jedem Wort von ihr eine Gänsehaut bekam.
Eines Tages wachte die alte Hexe auf und überlegte sich, ob sie aufstehen und ihre letzten Kräuter zu einem Tee brauen sollte. Da hörte sie Schritte im knirschenden Schnee vor ihrer Hütte. Sie zog widerwillige die warme Decke weg und beobachtete einen Augenblick die kleine Dampfwolke, die ihr Atem bildete. Sie hievte sich aus dem Bett und ging zu ihrer Waschschüssel, doch das Waschwasser war gefroren. Die Schritte kamen näher und hielten abrupt vor der Tür. Das Klopfen dröhnte in der kleinen Hütte.
Die Alte bewegte sich mühsam zur Tür. Als sie öffnete, erstarrte sie. Träumte sie vielleicht noch? Vor der Tür stand ein Ritter in glänzender Rüstung. Die Sonne stand schon höher am Himmel, als sie gedacht hatte und lies das Metall des Kettenhemds hell schimmern, wie viele kleine Sterne, die vom Himmel gefallen waren.
„Ihr seid zu spät!“ sagte die Hexe. Ganze 50 Jahre, dachte sie. Als Mädchen hatte sie von einem Ritter geträumt, der sie von ihrem elenden Dasein befreien würde. Aber jetzt mit fast 70 Jahren, was sollte sie da mit dem edlen Herrn anfangen? Sie drehte sich um und ging wieder in die Hütte.
Der Ritter blieb einen Moment verwundert stehen und folgte der alten Frau.
„Kennen wir uns?“ fragte er verblüfft. Er hatte von der alten Hexe gehört und war gekommen um Rat zu erbitten.
„Tee?“ die alte Frau sah den Ritter fragend an.
„Gerne.“ freute sich der Mann und wollte sich schon setzten.
„Dann holt Holz!“ meinte die Alte und setzte sich an den wackeligen Holztisch, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Der Ritter drehte sich also um und ging wieder hinaus. Es dauerte eine Weile bis die Hexe seine Schritte wieder kommen hörte. Im Schnee Holz zu finden war nicht so leicht. Noch dazu sollte es ja halbwegs trocken sein, damit es brannte. Das Brennmaterial, dass die Hexe im Herbst gesammelt hatte, war schon längst aufgebraucht.
Der Ritter schlichtete das Holz vor den Kamin und machte sich gleich daran ein paar Scheite in die Feuerstelle zu schichten und bald brannte ein warmes Feuer und wärmte den Kessel darüber. Endlich stand auch die alte Hexe auf und streute Salbei und Thymianblätter hinein und wohliger Geruch nach Kräutern breitete sich in der Hütte aus.
„Warum seid ihr gekommen?“ fragte die Alte, als sie ihm eine Tasse mit dampfenden Tee reichte.
Und so trug es sich zu, dass der Ritter zu erzählen begann: „Ich habe von Euch gehört und brauche Rat. Es ist nämlich so. Jeder sieht in mir nur den strahlenden Ritter, die glänzende Rüstung und niemand sieht mich, den Menschen. Keinen interessiert es wer ich bin, oder was ich fühle. Niemanden interessiert mein Herz. Was soll ich nur tun? Ich wünsche mir so sehr eine Familie, eine Frau, die mich liebt und Kinder, die mich mögen. Aber überall habe ich das Gefühl, dass man nur meine strahlendes Äußeres sieht und nicht den Mann, der in der Rüstung steckt.“
Die alte Frau starrte ihn an und sah ihm eine Weile zu, wie er die letzten Reste ihres Tees weg trank. Solche Probleme hätte sie auch gerne gehabt. Sie war mit einem Buckel geboren worden und niemand hätte sie auch nur annähernd als schön bezeichnet. Der letzte Schluck ihres warmen Tees rann ihre Kehle hinab und sie dachte nach.
„Dann müsst ihr Euer goldenes Herz zeigen.“ sagte sie schließlich.
Der Ritter sah sie nachdenklich an und nickte schließlich. „Ich werde darüber nachdenken. Ich danke Euch für Euren Rat.“ meinte er und stand auf.
„Ein Dank in Form von etwas Essbaren wäre mir lieber gewesen!“ brummte die Alte und rückte näher zum Feuer und hielt ihre Hände den Flammen entgegen. Immerhin hatte sie es nun schön warm.
„Kommt am Abend wieder.“ rief sie dem Ritter hinterher, bevor die Tür ins Schloss fiel und der Ritter verschwand.
Ihr war noch nicht einmal warm geworden, da hörte sie wieder das Knirschen des Schnees und sich nähernde Schritte.
Sie wunderte sich über diesen seltsamen Tag und ging zur Tür. Vor ihrer Hütte stand ein kleiner Junge und zitterte wie Espenlaub.
„Was willst Du hier?“ fragte sie schließlich. Normalerweise kamen die Kinder als Mutprobe her und liefen um so schneller wieder weg, sobald sie sie sahen. Es war gar nicht so einfach die Kinder so zu erschrecken, dass sie in Richtung Dorf zurück liefen und sich nicht im Wald verirrten. Aber dieser kleiner Bursche blieb einfach stehen und rührte sich nicht.
„Ich, ich suche meinen Vater!“ stammelte der kleine Junge.
„Ich habe ihn nicht!“ meinte sie und wollte schon die Türe zu machen. Doch der Kleine sah so traurig aus, dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn in der Kälte stehen zu lassen.
„Komm schon rein!“ sagte sie schließlich und wollte sich schon umdrehen und zurück zu ihrem Feuer gehen. Doch der kleine Junge rührte sich nicht und zitterte nur um so mehr.
„Ich werde dich schon nicht essen, versprochen!“ meinte sie und kehrte dem Jungen den Rücken zu. Sie hatte keine Ahnung, warum die Menschen dachten, dass sie selbige aß. Ihr Magen begann zu knurren und sie hoffte, dass der Kleine dieses Geräusch nicht gehört hatte. Sie hatte seit Tagen kaum etwas gegessen. Der Winter war lange und hart und so schneereich wie lange schon nicht mehr und ihre Vorräte waren schon fast alle aufgebraucht.
Sie hörte die Tür knarren und der Junge stand in der Hütte.
„Komm und setz Dich. Erzähl mir deine Geschichte.“ meine die alte Frau so freundlich wie sie es schaffte. Sie hatte so selten Besuch, weshalb sie sich nicht sicher war, wie sie mit einem Gast umgehen sollte. Der Junge hinkte herbei und setzte sich ebenfalls ans Feuer. Er rieb seine Hände und bewegte seine Füßchen um das unangenehme Gefühl von tausenden kribbelnden Ameisen in den auftauenden Gliedmaßen zu mindern.
„Mein Vater ist vor langer Zeit in den Krieg gezogen und nie wieder gekommen. Und Mutter ist seit dem traurig und allein. Und niemand will uns helfen. Meinetwegen.“ Die dünne zittrige Stimme versagte und der Junge starrte nur noch in das Feuer.
Der Hexe war das Hinken aufgefallen und sie fragte vorsichtig: „Wegen deinem lahmen Bein?“
Der Junge nickte und sah weiter in das Feuer.
„Alle lachen mich aus und niemand mag Mutter heiraten, weil sie dann mich auch nehmen müssten. Keiner mag mich“ Der Junge kämpfte tapfer die Tränen zurück.
„Du bist sehr mutig, die anderen Kinder rennen immer weg wenn sie mich sehen. Du bist der einzige, der je zu mir herein gekommen ist. Jeder sollte froh sein, einen Sohn wie dich zu haben.“ Die Alte kam sich unbeholfen vor und wusste nicht recht was sie sagen sollte.
„Gib mir Deine Hand.“, meinte sie schließlich.
„Warum?“ fragte er sofort zurück.
„Deinen Teesatz kann ich nicht lesen, ich habe nämlich keinen Tee mehr!“ brummte sie. Es war das erste Mal, dass der Junge den Kopf hob und der alten Frau ins Gesicht blickte und alle Runzeln vergaß sowie auch ihre große Nase. Er sah nur ihre warmen Augen. Und er reichte ihr die Hand. Die Hexe nahm die zarte Kinderhand und fuhr die Lebenslinie mit ihren schwieligen Fingern entlang.
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Dein leiblicher Vater wird nicht wiederkehren. Es tut mir Leid. Aber ich sehe viel Liebe und Geborgenheit in deinem Leben. Du hast dein Schicksal selbst angepackt und ich sehe dadurch eine starke Figur in dein Leben treten.“
„Ein neuer Vater?“ fragte der Junge hoffnungsvoll.
„Nein, ein Regenwurm!“ knurrte die Alte. Einen Moment sah er die Hexe erstaunt an und begann dann zu lachen. „Ein Vater, ein Vater! Nicht wahr?“, versicherte er sich.
„Wer sonst!“ grummelte die Frau. Sie stand auf und sah in ihren Töpfen und Krügen nach. Eine Mahlzeit würde sich noch ausgehen. Frustriert atmete sie laut aus. Sie nahm die letzten Gemüseteile und warf sie in den Topf.
„Noch etwas Warmes zu Essen, dann musst du gehen. Der Wald ist gefährlich, vor allem, wenn es dunkel ist.“
„Woher hast du eigentlich deinen Buckel?“ fragte der Kleine plötzlich, während er die wärmende Suppe löffelte.
Die Alte sah ihn erstaunt an und nun blickte sie voll Wehmut ins Feuer.
„Den habe ich von Geburt an.“, brachte sie schließlich heraus. Traurig starrte sie vor sich her. Wahrscheinlich war sie deshalb ausgesetzt worden. Sie hatte ihre Eltern nie kennen gelernt. Sie schöpfte die letzten Reste der Suppe in die Schüssel des Jungen. „Da iss!“ Mit vollem Mund konnte er nicht weiter fragen.
Eine weitere Portion des Essens verschwand im Mund des Jungen, als die Hexe heute zum dritten mal Schritte vor der Tür hörte. Es klopfte und der Ritter kam herein. Der Junge bekam große Augen und verschluckte sich glatt am allerletzten Schluck Suppe.
„Guten Abend.“ sagte der Ritter. „Und wer ist das?“ fragte er als er den Knaben sah.
Die alte Hexe war müde und der Großteil der Suppe war in den fast noch größeren Magen des Jungen verschwunden.
„Mein Abendessen!“ meinte sie verärgert.
Der Junge kicherte und der Ritter war erneut irritiert.
„Holz?“ fragte er lakonisch.
Die Alte nickte nur und meinte noch: „Aber lasst die Rüstung da, die ist unpraktisch.“ Und der Ritter schälte sich umständlich aus all dem Blech und verschwand im nahen Wald. Der Junge begutachtete die Rüstung und strich sanft über das kalte Metall, das so wundervoll die orangen Lichtpunkte des Feuers reflektierte.
Da drang flackerndes Licht durch das Fenster herein und die Alte fuhr erschrocken auf und bemühte sich zur Tür. Vor ihrer Hütte standen eine Menge Leute mit Fackeln in der Hand.
„Wo ist mein Junge! Gib mir meinen Jungen, Du Hexe!“ rief ein Frau und trat ein paar Schritte hervor. Der Knabe schluckte noch schnell und wollte hinaus eilen. Doch die Alte griff erstaunlich stark nach seinem Arm und hielt ihn fest.
Die Menge kam näher und sie schwenkte die Fackeln bedrohlich in Richtung der Hexe.
In dem Moment sah die Alte den Ritter, der nun gar nicht glänzend und schimmernd aussah, um die Ecke biegen. Vor Schreck lies er das ganze Holz fallen.
„Ich gebe ihn nicht her. Er ist mein Abendessen!“ rief sie in die Menge.
Der Ritter kam näher.
„Was tust du da?“ flüsterte der Junge erschrocken.
„Spiel einfach mit!“ flüsterte sie zurück.
So ganz war dem Jungen nicht klar, was er zu tun hatte, aber er wollte zu seiner Mutter. Er versuchte sich aus der Hand der Alte zu entwinden.
„Gut so!“ lobte die Hexe ihn leise.
Der Ritte trat vor sie hin. „Was macht ihr da?“ fragte auch er.
„Spielt mit!“ flüsterte sie ihm zu.
„Das ist mein Abendessen. Er gehört mir!“ rief sie noch einmal laut.
Der Ritter wirkte erstaunt und blieb unschlüssig stehen.
„Ich bin eine mächtige Hexe und niemand kann mir den Jungen entreißen!“ rief die Alte theatralisch in die Menge.
Dem Ritter dämmerte es langsam und er machte einen Schritt auf den Jungen zu.
„Gib ihn mir!“ befahl er laut.
„Nur jemand mit goldenem Herzen kann das Kind retten.“ rief die Alte schon langsam verzweifelt. Wie lange sollte sie noch in dieser Kälte stehen und das zappelnde Kind festhalten? Ihre Hand tat schon weh, von ihren alten Knochen ganz zu schweigen.
Der Ritter packte den Jungen am Arm und entzog ihm der Hexe. Diese taumelte zurück und vor Hunger und Entkräftung sank sie auf die Stufe vor ihrer Hütte. Sie sah noch wie eine junge Frau auf den Jungen stürzte und ihn herzte und umarmte und sich dann beim Ritter ohne Rüstung bedankte. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Als sie wieder aufwachte, war es schon dunkel und ihr ganzer Körper schmerzte vor Kälte und der harten Stufe auf der sie lag. Mühsam rappelte sie sich auf und wankte zu ihrem Bett. Das Feuer brannte nur noch schwach. Aber sie war zu müde um nachzulegen. Mitsamt dem Gewand fiel sie ins Bett und deckte sich mit ihrer löchrigen Decke zu. Die Zähne klapperten vor Kälte und ihre Glieder schlotterten schmerzlich und der Magen knurrte erbärmlich. Nur langsam sank sie in den erlösenden Schlaf.
Schon wieder Schritte. Die Hexe wachte verwirrt auf und taumelte zur Tür. Eine Horde Menschen stand vor ihrer Hütte. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Die Hexe schluckte, als sie in die Gesichter der Menschen sah. Und ihr Herz sank zu Boden als der kleine Junge vortrat, gefolgt von dem Ritter ohne Rüstung und einer hübschen jungen Frau. Wollten sie sie davon jagen? Hatte sie gestern übertrieben und nun war das Fass übergelaufen und die Dorfbewohner wollten sie los werden?
„Der Winter will dieses Jahr einfach nicht aufhören. Als mächtige Hexe hättest du schon längst den Frühling herbei zaubern sollen.“ Die Stimme des Jungen klang laut und kalt in der Winterluft. Die Hexe sah wie der Ritter stolz die Hand auf die Schulter des kleinen Jungen legte. Der Junge zwinkerte ihr zu und sprach leise: „Spiel mit!“
Nun war es an ihr verwirrt drein zu blicken. „Oja, der Frühling!“ sagte sie um einfach etwas zu sagen.
„Ich habe den Dorfbewohnern erzählt, dass du mir dein letztes Essen gegeben hast.“ erklärte der Junge weiter.
„Und mir Deinen letzten Tee!“ ergänzte der Ritter.
„Deshalb wollten wir dich fragen, ob du nicht mit zu uns ins Dorf kommen willst. Wir haben auch nicht mehr allzu viel, aber es wird schon für uns alle reichen. Und dann kannst du für uns den Frühling herbei zaubern, wenn du nicht mehr so schwach bist.“ fuhr der Junge fort.
Der alten Frau traten Tränen in die Augen und ein Kloß saß ihr im Hals. Sie nickte nur, da sie kein Wort hervor brachte und ging mit den Dorfbewohnern mit.
Und innerhalb kürzester Zeit wich der harte Winter einer zauberhaft lauen Luft und die Vögel begannen wieder zu zwitschern und der geschmolzene Schnee rann in kleinen Rinnsalen die Wege entlang. Der Ritter nahm die Mutter des Jungen zur Frau und den Buben als sein eigenes Kind an. Sogar seine Rüstung holte er sich wieder, denn nun kannte ja jeder sein goldenes Herz. Die alte Hexe wurde aber nur noch Großmutter genannte und musste nie wieder Hunger leiden. Und von diesem Zeitpunkt an kam der Frühling jedes Jahr pünktlich und der Sommer lies besonders Thymian und Salbei für den geliebten Tee der alten Großmutter gedeihen.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2012
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