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Ich hatte unzählige Ratgeber für werdende Mütter gelesen und noch mehr für gewordene Mütter. Sogar einige für engagierte Väter. Aber auf die Realität konnte mich keines dieser Bücher vorbereiten.

Gemäß den Ratgebern schleppte ich meinen Mann und mein fünfjähriges Kind in die freie Natur, oder besser gesagt in das, was meine beiden „Stadtpflanzen“ darunter verstanden. Wir durchschritten also die Tore des Parks und schlossen diese brav hinter uns. Hier sollte es ja auch Rehe in dem dahinter liegenden Wald geben. Weite Wiesen dehnten sich aus, durchschnitten von kleinen Wegen. Der Wind blies den harzigen Geruch von Föhren vorbei und ich atmete bewusst tief durch. Nach fünf Schritten zupfte mich meine Tochter am Ärmel.
„Mir tun meine Füßchen weh!“ und sie sah mich treuherzig aus riesigen blauen Augen an.
Mein Mann preschte schnell vor und rief begeistert: „Schau, da vorne sind große Steine, die drehen wir um. Wer weiß was darunter ist!“ Beide huschten davon. Weitere fünf Schritte geschafft.
„Uh, lauter kleine Käfer!“ Mann und Kind standen mit großen Augen davor und beobachteten, wie die Asseln sich wuselnd davon machten.

Gute Taktik, dachte ich mir. „Schaut, dort ist eine Schnecke!“ Und wieder trabten wir los.
„Darf ich Schnecki mitnehmen? Darf ich sie füttern?“ Bevor ich noch antworten konnte, hatte meine Kleine ein Bonbon aus der Jackentasche geholt und hielt es Schnecki hin. Doch aus einem unerfindlichen Grund mochte diese Schnecke kein Zuckerl und zog sich noch weiter in das Schneckenhaus zurück.
„Vielleicht ist sie satt.“ versuchte ich mein Kind zu trösten. Da sah meine Tochter ein kleines Rinnsal und sprintete los.
„Sie ist ganz klebrig, ich muss sie waschen.“ Schnecki war noch beleidigter und versuchte noch das letzte Zipfelchen ihrer Selbst in das Schneckenhaus zu ziehen. Yoga für Schnecken, schoss es mir durch den Kopf.
„Vielleicht legst du Schnecki in die Wiese. Die wohnt ja hier und ist sicher ganz traurig, wenn sie nicht mehr zu ihrer Familie kann.“ versuchte ich das arme Tier zu retten.
„Schnecken sind eigentlich Hermaphroditen.“ warf mein Mann ob meines naturwissenschaftlichen Unverstandes ein. Ich sah in böse an. Maja legte traurigen Herzens die Schnecke in die Wiese. „Was ist ein Hermadit?“ fragte sie beim weitergehen.
„Das erklärt dir dein Papa!“ brummte ich.

„Oh, schaut mal ein Regenwurm. Mitten auf dem Weg. Der Arme!“ rettete sich mein Mann aus der Schlinge. Im nächsten Moment und weiteren gezählten sieben Schritten hatte meine Tochter einen sich ringelnden Regenwurm in der Hand.
„Der ist ja gar nicht schleimig!“ fasziniert beobachtete sie den kleinen Wurm.
„Los wir legen ihn in die Wiese, dann hast du ihn gerettet!“ Gesagt getan und das kleine Wesen machte sich ebenso schnell aus dem Staub wie Schnecki.

Dann sah Maja die erste Parkbank und schon saß sie darauf. „Ich muss jetzt nachdenken!“ verkündete sie. Wir plumpsten ermattet ebenfalls auf die Bank und mein Blick wanderte zurück zum Tor, das wir vor Ewigkeiten durchschritten hatten.
„Weit sind wir ja nicht gekommen.“ flüsterte mein Mann.
„Es fühlt sich aber so an.“ grummelte ich.
Irgendwann hatte Maja die Gedankengänge eines fünfjähirgen Kindes auch ausgedacht und wir wanderten weiter. Bis zur nächsten Parkbank.
„Mama, setzten wir uns hin. Wir reden so wenig miteinander.“ Und schon saßen wir wieder auf der Parkbank. Mein Blick schweifte zurück und ich sah das Tor immer noch.
„Meinst du, ein Parktor kann uns verfolgen?“ fragte ich leise meinen Mann.
„Gleich kommt eine Biegung, dann sehen wir es nicht mehr.“ beruhigte er mich.
Ich dachte verzweifelt nach, was die Ratgeber in einer solchen Situation empfohlen hatten, mir fiel aber beim besten Willen nichts mehr ein.
„Gehen wir weiter.“ diskutierte ich also mit meinem Kind.
„Okay.“ meinte Maja. Wir hatten uns ausgesprochen.

Nach der Biegung sahen wir den Wald und über den Kronen der Bäume ragte ein etwas wackeliger Hochstand hervor. Mein Mann sah mich an und wir verstanden uns wortlos.
„Los, wir klettern da rauf. Ein Abenteuer!“ und wir rannten los und irgendwie schafften wir es ohne weitere Einwände unserer Tochter zu der Leiter zu kommen. Ein Rekord!
Mein Mann kletterte vor und öffnete uns die Tür, dann kam Maja hinter her und ich sicherte quasi den spontanen als auch den gewollten Rückzug. Meine Finger umklammerten das glatte Holz der Sprossen, aber wir kamen alle heil nach oben.
„Boa, hier sieht man aber weit!“ endlich war auch meine Tochter begeistert. Vor uns breitete sich ein Teppich aus Blättern in alle Variationen des grünen Lichtspektrums aus.
Vollkommen ermattet quetschte ich mich auf die kleine Holzbank zu meinem Mann.
„Irgendwie habe ich mir alles leichter vorgestellt. Was ist wenn sie ein Stubenhocker wird und frische Luft nur ein Fremdwort für sie ist?“
Ich sah ihn an und hatte das Gefühl, das er gleich einschlafen würde. Mein Ellbogen schnellte vor und landete in seinen Rippen.
„Aua. Zuviel frische Luft macht müde!“ beschwerte er sich.
„Was soll nur aus ihr werden, wenn sie keine Natur mag?“ wiederholte ich die Frage in gekürzter Form. Mir stieg die ungute Vorahnung auf, dass ich hier mit dem Falschen sprach. Ich kratze etwas Harz von der Holzwand des Hochstandes und rollte es zu einer duftenden Kugel. Meine weibliche Intuition bestätigte sich schlagartig.
„Präsidentin der Marskolonie.“ brummte mein Mann schlaftrunken.
„Was?“ wunderte ich mich laut.
„Dort gibt es keine frische Luft und keine Parkbänke.“ erklärte er mir.
„Gehen wir endlich nach Hause?“ quengelte Maja. Und das erste Mal an diesem Tag war ich froh über einen Vorschlag meiner Tochter.

Wir kletterten vorsichtig hinunter und machten uns auf den Heimweg. Die Kleine setzte ich vorsichtig in den Kindersitz und innerhalb von Sekunden fielen ihre Äuglein zu.
„Ich sag's ja, frische Luft macht müde!“ betonte mein Mann genüsslich. Mir schwirrten die Gedanken umher und bei jeder roten Ampel musste ich an den roten Planten denken. Präsidentin der Marskolonie! Dabei gab es ja noch nicht einmal eine Kolonie am Mond, geschweige denn am Mars.

„Zumindest können wir jetzt in Ruhe einen Kaffee trinken.“ meinte mein Mann während er die schlafende Maja aus dem Auto hob. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihr seidiges Haar hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und fiel wie ein Fächer über den Rücken. Schon gingen die kleinen Augen auf und schnell wieder zu. Geduldig lauschte meine Kleine den Geräuschen und als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte und sicher war, keinen weiteren Schritt gehen zu müssen, ruckte ihr Kopf hoch und rief erfreut:„ Kann ich Geschwisterchen haben? Einen Bruder, eine Schwester und ein Baby.“
„Wie kommst Du denn auf diese Idee?“ fragte ich überrascht.
„Weil es lustig wäre!“ Ich sah in das erwartungsvolle Gesicht meiner Tochter und atmete tief durch.
„Maja, setzten wir uns hin. Wir reden so wenig miteinander.“ sagte ich schließlich.

Schuhe, Jacken und unsere Rucksäcke endeten im heillosen Durcheinander in der Garderobe und wir saßen uns zu einem ernsten Mutter-Tochter-Gespräch zusammen, während mein Mann einen starken Kaffee braute.
„Weißt du mein Kind. Das mit den Geschwisterchen ist nicht so leicht. Der Merkur ist zu nahe an der Sonne. Die Venus hat eine Ammoniakhülle, da ist es zu stinkig, auf der Erde sind schon wir und der Mars ist für dich reserviert. Und der Rest sind Gasplaneten. Da kann man nicht darauf wohnen.“ erklärte ich.

Ich weiß nicht, ob ich meine Tochter restlos verwirrt habe, aber das Thema kam nicht mehr so schnell zur Sprache. Mit einem Kaffeebecher in der Hand ließ ich mich auf dem Sofa nieder und rutsche immer tiefer in die weiche Polsterung. Gemütlich nippte ich am Kaffeebecher und dachte nur kurz an die harte Holzbank im Hochsitz. Vielleicht war die Marskolonie ja doch keine so üble Idee. Ob es darüber wohl auch Ratgeber gab?

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Tag der Veröffentlichung: 11.02.2012

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