Cover




„Ich suche jemanden, der mich durch die Eiswüste bringt.“ Der junge Mann sah erwartungsvoll den Wirt hinter der Theke an. Dieser blickte milde verwundert seinen Gast an und staunte gleich noch mehr als er die hochwertige Ausrüstung sah, die so gar nicht in das etwas herunter gekommene Wirsthaus am Ende der Welt passte.
Ich lehnte mich soweit nach hinten wie möglich und hoffte inständig im Schatten der Wand unerkannt zu bleiben. Doch der Wirt wusste natürlich, dass ich da war und zeigte zu mir herüber. Ich atmete tief durch und hört die gefürchteten Worte.
„Sie werden niemand besseren finden als Lena.“ Der Fremde in der seltsamen Ausrüstung drehte sich um und blickte zu mir herüber.
„Was? Eine Frau?“ fragte er entsetzt.
„Gut erkannt.“ meinte der Wirt gelangweilt und wischte weiter seinen Krug trocken.
Der Fremde wartete noch eine Weile in der Hoffnung, dass der Wirt sich doch noch entschließen würde, jemand anderes zu empfehlen, doch dieser war plötzlich sehr mit seinem einzelnen Krug beschäftigt.

Die gut ausgerüstete Gestalt kam auf mich zu und blieb vor meinem Tisch stehen. „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Konstantinus Werinus der Dritte. Man hat sie mir empfohlen.“ Erwartungsvoll sah er mich an. Ich konnte mein Staunen allerdings kaum verbergen. „Der Dritte?“ fragte ich ohne nachzudenken.
Offensichtlich hatte er etwas Anderes erwartet. „Darf ich mich vielleicht setzten?“ half er mir auf die Sprünge. „Dann erkläre ich dir gerne was ein Stammbaum ist.“ Ohne weiter abzuwarten setzt er sich hin und nach zwei ganzen Sätzen waren meine Gedanken schon meilenweit entfernt. Leider brauchte ich Geld und so blieb ich sitzen. Allerdings fand ich es bewundernswert, wie lange er über Ahnentafeln reden konnte.

„Verstanden?“ fragte er schließlich. Ich weiß nicht, ob ich einfach nur so müde war und mein Kopf nach vorne sackte, oder ich wirklich aktiv nickte. Jedenfalls empfand mein Gegenüber dies als Aufforderung und sprach weiter.
„Warum ich eigentlich gekommen bin: Ich muss in die Eiswüste und brauche einen Scout. Der Wirt hat dich mir empfohlen. Du bist nicht zufällig mit ihm verwandt?“ fragte er mit abschätzigen Blick. Dieses mal machte ich mir nicht einmal die Mühe irgendeine Regung zu zeigen und starrte ihn einfach an.
„Naja, auf jeden Fall will ich in die Eiswüste. Ich suche dort einen Stamm. Den Stamm der Olinos. Dort soll der beste Schwertkämpfer weit und breit wohnen. Aber davon wirst du wohl noch nichts gehört haben.“ endete mein Gegenüber seinen Monolog.
Verzweifelt dachte ich darüber nach, wie ich sonst zu Geld kommen könnte, um meine kleine Hütte zumindest notdürftig zu reparieren. Mir viel nichts ein.

„Und was kann ich für dich tun?“ fragte ich tapfer.
Zuerst sah er mich entsetzt an. „Mich hat noch nie jemand jemand gedutzt, der nicht von meinen Stand war. Aber hier in der Wildnis ist das wohl üblich. Also nehme ich das so hin.“
Der Wirt bediente gerade in unerhört langsamem Tempo am Nachbartisch.
„Du sollst mich hinbringen. Führen. Verstehst du? Du bist doch schon dort gewesen?“ hakte er nach.
Geld. Ich musste nur ans Geld denken. Und ich würde meine dickste Wollmütze heraus suchen. Das würde die Geräusche dämpfen.
„Ja, ich war schon dort. Wenn du mich als Scout willst, dann treffen wir uns morgen bei Sonnenaufgang. Du hast genug Proviant für zwei Wochen mit und warme Kleidung sowie zwei dicke Wolldecken. Den Rest besorge ich. Und zehn Goldstücke im Vorhinein.“ Ich stand auf und flüchtete aus der Taverne. Ich hörte noch den Wirt flüstern, als ich an ihm vorbei hastete: „Und ich bekomme ein Goldstück davon, weil ich dir Charmebolzen den Dritte vermittelt habe.“

Die Reise in die klirrende Kälte wurde leider genauso wie ich es befürchtet hatte. Die dicke Wollmütze nutzte besser gegen die erbärmlichen Temperaturen als gegen das ständige Gerede. Geld! war mein Mantra und leises Gebet. Stunde um Stunde.
“Tritt mit dem ganzen Fuß auf, dann rutscht du nicht so.” Ich sah zu Konstantinus hinüber und blickte in sein verbissenes Gesicht.
“Den ganzen Fuß? Das ist doch lächerlich. Da schaue ich ja aus, als hätte ich die Hose voll.” brummte der große Mann an meiner Seite.
“Geld, Geld, Geld” murmelte ich und fühlte die Goldstücke in meiner Tasche, trotz der dicken Handschuhe.

„Und warum wurde mir empfohlen, einen Scout über das Eis zu nehmen? Wir gehen ja doch nur gerade aus!“ beschwerte sich Konstantinus. „Und was redest du da die ganze Zeit? Du hörst mir nicht zu! Ich habe dich schon drei mal gefragt, wann wir denn bei den Olinos ankommen.” mein Reisegefährte war hartnäckig.
„Eine gute Woche, vielleicht mehr, vielleicht weniger.“ Ich versuchte meinen Hals wie eine Schildkröte einzuziehen und überlegte ob dies auch mit den Ohren möglich wäre.
„Warum, mal mehr mal weniger? Wenn wir mit konstanten Schritten gehen, dann brauchen wir genau eine Woche.“ rechnete Konstantinus mir vor.

Ich überlegte ernsthaft eine Antwort, als ich endlich die einzige windgeschützte Stelle weit und breit sah. Schon hielt ich darauf zu und meine Begleitung trottete hinter mir her. Ich lies mich auf einen Stein nieder und packte meine erste Ration aus. Mich starrten zwei himmelblaue Augen an.
„Was tust du da?“
„Essen?“ Ich sah auf mein Brot und dann zu Charmebolzen dem Dritten hoch.
„Warum jetzt? Es ist noch nicht Mittag und wenn wir uns immer nur eine halbe Stunde Pause gönnen oder sogar im Gehen essen, dann können wir schneller bei den Olinos sein.“ dozierte Konstantinus.
Deshalb war ich damals regelrecht aus der Stadt geflohen. Alles war geregelt. Jede Minute meines Lebens. Da war kein Platz mehr für mein Ich. Irgendwann zwischen den Terminen hatte ich mich selbst verloren.
„Das ist der einzige geschützte Platz. Deshalb mache ich hier immer Pause.“ versuchte ich es mit Argumenten.
Konstantinus war das erste Mal sprachlos. Vielleicht auch nur darüber, dass ich zwei zusammenhängende Sätze sprechen konnte.

Langsam begann er sein Brot zu kauen und schaffte es dabei weiter zu reden. „Du weißt ja nicht wie das ist. Aber ich möchte unbedingt ein guter Schwertkämpfer werden. Ich möchte etwas erreichen. Wer sein. Nicht nur der dritte Sohn eines Landadeligen. Deshalb muss ich die Olinos finden. Verstehst du das vielleicht ansatzweise?“ Er schaute mich voller Hoffnung an.
Ich schluckte meinen letzten Bissen runter. Während seiner Rede war er mir fast sympathisch geworden. Warum konnte er nie aufhören, wenn ich ihn gerade zu mögen begann?
„Ansatzweise, ja“ bestätigte ich deshalb kurz. Es entsprach sogar der Wahrheit. Warum fühlte ich mich soviel älter als er? Einmal war ich auch so voller Pläne und Hoffnungen gewesen. Jetzt war ich leer und innerlich müde.

Zu Ehren von Konstantinus Werinus dem Dritten muss ich sagen, die Woche wurde nicht ganz so schlimm, wie ich es befürchtet habe. Vielleicht sieht man es aber im nach hinein aber immer etwas rosiger. Oder vielleicht habe ich es nur gelernt meine Ohren auf Durchzug zu schalten. Ich muss gestehen, ich kann die letzten paar Tage nicht mehr so recht nachvollziehen. Der einzige Zwischenfall ereignete sich als der lernwütige Schwertkämpfer unser erstes Nachtlager wahrnahm.

Wider aller Erwartungen hatte Konstantinus eine Schneemauer zu bauen begonnen, genau in Windrichtung, wie ich es ihm aufgetragen hatte. Und ich konnte es kaum glauben: er hatte Spaß daran. Adelige bauen wohl keine Schneeburgen. Oder vielleicht nicht im ausreichend entspannenden Ausmaß. Jedenfalls glänzten seine Augen vor Freude. Bis er unser Zelt sah.
„Was um Himmels willen ist denn das?“ entfuhr es ihm.
„Unser Zelt.“ erklärte ich bereitwillig.
„Und wo ist das zweite Zelt? Da können wir doch wohl nicht beide drinnen schlafen?“ begehrte er wie üblich auf.
„Du kannst gerne draußen bleiben.“ versuchte ich mein Glück. Vielleicht hatte ich wenigstens in der Nacht Ruhe.
„Du bist eine Frau!“ schleuderte er mir entgegen, als würde dieser Sachverhalt mir jetzt all seine Zweifel erklären.
„Echt? Danke für den Hinweis. Das erklärt so einiges.“ Irgendwie fand er mein Kommentar nicht witzig und funkelte mich böse an.
„Du weißt schon was ich meine!“ knurrte er.

„Ich gehe davon aus, dass du ein Gentleman bist.“ meinte ich, doch leider schien ihm das noch nicht zu reichen. Zwei zusammenhängende Sätze. Ich brauchte zwei Sätze. Das schien ihn letztes Mal eine gewisse Zufriedenheit verschafft zu haben. Ich versuchte mein Glück: „Sieh mal, dieses Zelt stammt direkt von den Olinos. Es ist windabweißend und leicht auf und ab zu bauen. Nur leider gibt es sie nur in dieser Größe. Quasi Einheitsgröße.“ Wow, das waren sogar 4 Sätze. So gut wie. Er musste zufrieden sein. Erwartungsvoll sah ich den großen Mann vor mir an. Konstantinus schien wirklich nach zu denken.
„Von den Olinos? Und du vertraust mir soweit? Das ist wirklich eine Ehre und ich werde mich würdig erweisen“ meinte schließlich Konstantinus.
Ruhig wäre mir lieber, ich schob aber tapfer diesen Gedanken zur Seite. Ich hätte es ahnen sollen. Als wir endlich schliefen, oder ich es zumindest versuchte, stellte ich fest, dass mein Gentleman selbst im Schlaf sprach. Gut, das konnte ich ihm nicht vorwerfen. Dafür konnte er ja nichts. Aber am nächsten Tag beschleunigte ich den Schritt und hoffte die Olinos in Rekordzeit zu erreichen.

Und ich hatte unsagbares Glück. Am sechsten Tag sahen wir eine Rauchsäule über die weite Eisfläche. „Wir schaffen es heute noch.“ erklärte ich schließlich. Wider Erwarten war kein Schneesturm aufgetreten, der heimliche Alp meiner Träume, der mich vielleicht tagelang im Zelt mit Konstantinus gefesselt hätte. Keine tiefe Spalte im Eis, die es zu umschiffen gab, nur Schnee und Eis, klamme Finger und ein paar aufgeschürfte Knie. Und Konstantinus trat mit dem ganzen Fuß auf den glatten Untergrund auf. Ich nahm es optimistisch als einen Fortschritt in unserer Beziehung auf.

Es dämmerte bereits als wir das Lager der Olinos erreichten. Ich schaffte es gerade ein paar der üblichen Begrüßungsfloskeln los zu werden, als Konstantinus mir wie üblich ins Wort fiel und sich sofort nach dem Schwertmeiseter erkundigte.
Der Älteste der Olinos, der uns begrüßte nickte nur und richtete ein paar Worte an einen Jungen, der hinweg stürmte. Kurze Zeit später kam ein Mann herein, der durchschnittlicher nicht ausschauen konnte. Konstantnus blieb der Mund offen. Ich weiß nicht was er erwartet hatte, aber offensichtlich nicht einen schmächtigen Mann mittleren Alters in abgetragenem Gewand.
„Ich danke Euch Meister, dass ihr uns mit eurer Gegenwart beehrt.“ einmal schaffte ich es Konstantinus ins Wort zufallen. Ein kleiner Triumph für mich.
„Ihr seid den ganzen Weg gekommen und mich zu sehen?“ fragte er verwundert. „Naja, gut Ding braucht Eile.“
„Gut Ding braucht Weile!“ korrigierte Konstantinus sofort.

Den Schwertmeister schien das überhaupt nicht zu stören. Er lächelte sogar erfreut. „Lena, du warst ja schon öfter hier, also nehme ich an, der junge Mann will an seiner Schwertkunst arbeiten. Eine wunderbare Idee. Übung macht den Könner. Los gehen wir gleich raus und trainieren zusammen.“
„Übung macht den Meister.“ brummte Konstantinus vernehmlich. Die Laune des Schwertmeisters schien sich von Sekunde zu Sekunde zu bessern. Auf dem freien Platz zwischen den Hütten nahmen beide Männer Aufstellung. Und ich traute meinen Augen nicht. Konstantinus stand missmutig und enttäuscht vor dem Olinos-Schwertmeister. Und Onos, der Schwertmeister wirkte wie sein Spiegelbild. Zaghaft griff Konstantinus an und versuchte ein paar Anfängerroutineübungen, die ebenso vorsichtig von Onos beantwortet wurden. Einige müde Schlagabtäusche und Hiebe und Paraden wechselten hin und her und mir tat Konstantinus fast Leid, als er sich zurückzog.
„Es tut mir Leid, Junge, dass du mehr erwartet hast.“ sagte Onos besänftigend, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. „Aber leider, Hoffnung kommt oft vor dem Fall.“
„Hochmut!“ knurrte Konstantinus und ich hätte schwören können, dass Tränen der Enttäuschung in seinen Augen glänzten. Doch es dämmerte bereits, und ich bin mir bis heute nicht sicher ob ich es richtig gesehen hatte. Konstantinus verkroch sich im Gästehaus und kam bis zum Morgen nicht mehr zum Vorschein.

Ich saß noch lange mit dem angeblichen Schwertmeister und dem Stammesältesten zusammen und kam endlich dazu die traditionellen Geschenke zu überreichen und ein paar Sachen zu tauschen. Zumindest für mich hatte sich die Reise ausgezahlt.
„Lena, du wirst es kaum glauben, aber dieses Gerücht vom sagenhaften Schwertmeister beschert uns immer wieder ganz seltsame Leute.“ meinte der Dorfälteste.
„Wenn sie überhaupt bis zu uns kommen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele es nicht durch das Eis schaffen. Bei jedem Jagdausflug finden wir Leichen. Deiner war wenigstens klug genug, dich zu engagieren. Vorsicht ist eben doch die Mutter der Porzellankiste.“ fuhr Onos fort. Ich sah ihn erstaunt an, aber nach dem vierten Glas Schnaps zum Aufwärmen merkte er meine eigentümlichen Blicke gar nicht mehr.

Am nächsten Tag waren wir beim Dorfältesten und Onos zum Frühstück eingeladen. Der mitgebrachte Schnaps war eine Seltenheit in einem Land aus Schnee und Eis, wo Kartoffeln und Korn eine Rarität waren. Und dementsprechend war uns der Stamm der Olinos wohlgesonnen. „Brechen wir bald auf?“ fragte Konstantinus ungewohnt wortkarg.
„Ich werde hier bleiben.“ antwortete ich.
„Was?“ schrie der enttäuschte Landadelige. „Auch egal. Aber wie soll ich nach Hause finden?“ fragte er gereizt.
„Immer gerade aus?“ schlug ich vor. Noch immer keine Spur Humor erkennbar. So tat ich etwas, was ich mir bis heute kaum erklären kann. Vielleicht war es die bittere Enttäuschung in seinen Augen, die mehr schmerzen konnte, als die sagenhafte Kälte draußen. Vielleicht war es auch der Keim an Hoffnung, den er mir ungewollt eingepflanzt hatte. Ich wusste nur zu gut, wie es in der Schwertakademie zuging. Ich war lange genug dort gewesen. Und keiner wusste besser wie trostlos die Hoffnungen der Kindheit werden konnten, wenn man älter wurde und sich keiner der lang gehegten Träume erfüllte.

Ich sank mit einem Knie zu Boden und hielt mein Schwert in beiden ausgestreckten Händen dem Schwertmeister entgegen.
„Bitte nehmt mich – äh uns als Schüler an.“ Onos starrte mich entgeistert an.
„Was zum Henker tust du da?“ erklang Konstantinus Stimme hinter mir. Nicht nur der Schwertmeister war entsetzt.
„Bitte nehmt uns als Schüler an, Meister Onos.“ wiederholte ich.
Der Dorfälteste grinste plötzlich. „Du hast gestern zu viel getrunken. Lena hat dich durchschaut. Jetzt musst du die beiden als Schüler annehmen, die Tradition verlangt es, denn sie hat in aller Form gefragt.“
„Dumm stellen hat bis jetzt immer geholfen. Dieses mal hätte ich wohl gerade heraus nein sagen sollen.“ brummte Onos.
Das Training wurde hart und ich hatte genauso häufig Muskelkater, wie mein Kopf und meine Ohren dröhnten. Aber das verblüffte Gesicht von Konstantinus Werinus dem Dritten, als er die Finte von Onos, dem besten Schwertmeister weit und breit, verstand, wird ewig in meiner Erinnerung leuchten. Und etwas von dem Gefühl als Mensch und Schwertkämpfer versagt zu haben, verschwand bei mir mit jeder schmerzenden Muskelbewegung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch nimmt an der Charity Aktion: Klirrende Kälte teil.

Nächste Seite
Seite 1 /