Prolog
So viele Leute auf einem Fleck, hatte sie bisher noch nie gesehen. Sicher, große Menschenansammlungen waren nichts seltenes, aber das übertraf alles bisher.
Der Flughafen war voll – mehr als das sogar. Jeder drängte zu den Schaltern um ein Ticket zu bekommen, nach egal wohin. Die meisten wollten einfach nur weg.
Danja stand beim Geländer des ersten Stocks und blickte hinunter zu der Masse, die sich dort sammelte. Für ihre feine Nase war es hier eine Qual, die Luft war durchtränkt mit so vielen verschiedenen Gerüchen.
Ihre Katze konnte das nicht leiden, doch um die ging es hier nicht. Sie musste nun schauen, dass sie aus dem Krisengebiet herauskam, bevor noch Schlimmeres passierte.
Janka, ihre beste Freundin, müsste ebenfalls bald am Flughafen eintreffen, sie hatten gerade noch vor einer Viertelstunde telefoniert, bevor es hier so voll geworden war.
Viele Leute mochten es für dumm halten, dass sie nich zusah, dass sie so schnell wie möglich weg von hier kam, aber sie würde nicht einfach abhauen und Janka hier lassen.
Doch sie sollte schon längst hier sein, und das bereitete Danja Sorgen. Draußen war es gefährlich, man konnte es schon fast Kriegsgebiet nennen.
Eine Gruppe Terroristen bekriegte eine andere, und die kleine Stadt, in der hauptsächlich Gestaltwandler lebten, befand sich genau mittendrin.
Schon seit zwei Tagen fielen Bomben in der Nähe nieder und kaum jemand traute sich noch auf die Straße, nachdem drei Attentate verübt worden waren.
Jetzt wollten alle von hier fort – verständlicherweise, gerade weil sich die Lage heute Morgen so zugespitzt hatte.
Die WFU war eingetroffen um den Bewohnern des Städtchens zu helfen und die Lage zu beruhigen.
Doch Danja hatte nie geglaubt, dass es so einfach werden würde. Natürlich sahen die Terroristen in der Einheit einen weiteren Feind, der ihrer Macht im Weg stand und gingen jetzt auf offensivere Angriffe über.
Menschen würden es nicht hören, aber Danja hatte die Ohren eines Schneeleoparden. Sie konnte selbst in der völlig überfüllten Flughalle die Schüsse der Maschinengewehre hören.
Und Janka war immer noch nicht da.
Nervös trat Danja von einem Fuß auf den anderen. Janka war die einzige Freundin, die sie hatte, die einzige, die ihr Halt gab und umgekehrt war es genauso. Als Kinder hatten sie einen Pakt geschlossen, alles für die andere zu tun.
10 Minuten. Wenn Janka in 10 Minuten nicht da war, würde sie sie suchen gehen, ganz egal wie gefährlich es auch sein würde.
Autos standen am Parkplatz ja genug, das einzige Problem dürften die WFU Agenten sein, die an den Eingängen postiert waren.
WFU bedeutete soviel wie Were Force Unit und war eine Einheit, die aus Gestaltwandlern bestand, gegründet zwei Jahre nachdem sie an die Öffentlichkeit getreten waren.
Die Einheit war Teil des Abkommens mit den Menschen, dass sie in Ruhe und außerhalb von Laboren leben konnten, als gleichberechtigte Spezies. Solange die WFU für Frieden und Gerechtigkeit und andere wichtige Dinge sorgte, war alles gut.
Außerdem wurden viele Gestaltwandler, besonders die Frauen, für andere Jobs verpflichtet. Viele arbeiteten in Labors und Universitäten oder aber mit Tieren. Die Menschen nutzten die besonderen Fähigkeiten der Gestaltwandler in diesen Gebieten. Tatsächlich waren die besten Biologen und Forscher Gestaltwandler.
Danja seufzte.
Sie selbst war noch zu jung um einen konkreten Beruf in Erwägung zu ziehen, aber schon alt genug um sich bestimmte Möglichkeiten angesehen zu haben.
Mit ihren 17 Jahren würde sie bald etwas wählen müssen, am besten etwas, das den Menschen nutzte oder aber ihrer eigenen Rasse. Sie mochte es nicht, wenn sie etwas total eigennütziges oder langweiliges tun musste, wie im Büro sitzen oder bei der Bank zu arbeiten.
Ihre Eltern waren Lehrer gewesen, bevor sie vor drei Jahren gestorben waren. Vielleicht würde sie auch in diese Richtung gehen…
Danja schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick ein letztes Mal suchend über die Menge gleiten, auf der Suche nach den kastanienroten Locken ihrer Freundin.
Aber sie war nicht unter den unzähligen anderen Leuten, das wusste sie innerlich.
Ihr Verstand sagte ihr, sie solle sich ein Ticket kaufen und weg fliegen, nach Amerika vielleicht, dorthin, woher Jankas Eltern gekommen waren, bevor sie in das Land ihrer Vorfahren, Bulgarien, zurückgekehrt waren.
Aber ihr Herz… Sie konnte das nicht tun, sie musste zurückgehen und Janka suchen. Vielleicht war sie verletzt oder hatte Angst.
Danja bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge die Treppen hinunter und durch die Haupthalle.
Am Haupteingang waren gleich vier bewaffnete Männer postiert, und soweit Danja riechen konnte, waren drei von ihnen Wölfe und einer eine Raubkatze.
Hier würde sie nicht rauskommen, gegen vier Agenten hatte sie nicht die leiseste Chance, nicht einmal als Schneeleopardin.
Also der Personalausgang, dachte Danja bestimmt und machte sich auf den Weg in den hinteren Bereich der Schalterhalle.
Soweit sie erkennen konnte, stand dort kein WFU Agent und auch von den herumstehenden Personen schien keiner auf sie zu achten.
So schnell, dass ein menschliches Auge es kaum wahrnehmen konnte, schlüpfte sie durch die Tür hinaus ins Freie.
Sobald die Tür hinter sie zuschlug, konnte sie das Trommelfeuer der Gewehre hören und das Explodieren einer Granate, vielleicht einen Kilometer von hier.
Die Kampfgeräusche kamen aus genau der Richtung, in die sie fahren musste, um Janka zu suchen.
Angst drängte sich in ihr hoch, doch sie kämpfte das lähmende Gefühl nieder und machte ein paar große Schritte Richtung Parkplatz.
Da roch sie ihn. Es war eindeutig ein Mann und er war ein Gestaltwandler. Bevor er sie aufhalten konnte, nahm Danja die Beine in die Hand und rannte mit unglaublicher Geschwindigkeit zu den parkenden Autos.
Leider nicht schnell genug. Ein paar Meter, bevor sie den Parkplatz erreichte, traf sie etwas hart von hinten auf den Rücken und sie fiel vornüber zu Boden.
Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen und ihre Knie taten weh, aber da sie eine Gestaltwandlerin war, heilten mögliche Wunden rascher und die Knochen waren robuster.
Keuchend versuchte sie sich freizukämpfen, doch als das nicht funktionierte, drehte sie sich sie, dass sie auf dem Rücken lag und der Mann auf ihr saß.
Als sie sein Gesicht sah, stockte ihr der Atem. Er war… umwerfend. Nicht älter als 20, keine einzige Falte zierte sein schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen.
Er hatte schwarzes Haar, vielleicht auch ein sehr dunkles braun, das vollkommen zerstrubbelt aussah, so als wäre er eben erst aus dem Bett gestiegen.
Aber es waren seine Augen, die sie in den Bann schlugen. Von eines eisigen, wunderschönen Gletscherblau.
„Sie können nicht da raus gehen, das wäre Selbstmord,“ erklärte er ihr und brach damit den Bann, in dem sie gefangen gewesen war.
„Das Sie können wir lassen, angesichts der Situation und der Tatsache, dass wir beide nicht über 20 sind.
Und ich bin keinesfalls lebensmüde, ich möchte lediglich meine beste Freundin da rausholen. Ich kann sie nicht zurücklassen und du wirst mich nicht aufhalten.“
Der Mann, der nach wie vor auf ihr saß und sie am Boden hielt, fluchte leise vor sich hin. „Okay, hör zu, du wirst sterben, wenn du da raus gehst, hast du verstanden?“
Danja schüttelte energisch den Kopf. „Verstehen und befolgen sind zwei verschiedene Dinge. Ich gehe, und du tätest gut daran mich zu lassen.“
Der dunkelhaarige Agent seufzte und richtete sich auf. Dankbar nahm Danja die Hand an, die er ihr hinhielt und erhob sich wieder auf die Beine.
„Ich kann dich nicht einfach alleine da raus gehen lassen. Du wärst in ein paar Minuten tot. Also werde ich mit dir gehen und deine Freundin finden!“
Danja starrte den jungen Mann überrascht an. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie mit Gewalt zurück in die Halle brachte, aber dass er ihr anbot mit ihr zu gehen, dass kam tatsächlich überraschend.
„Klar… okay, also gehen wir.“
Der Mann nickte und trat einen Schritt zurück. „Ich habe kein Auto hier, wir müssen uns also eines… borgen.
Na komm, bevor es noch gefährlicher wird.“
Danja nickte und steuerte auf das größte Auto, das hier herumstand, zu, eine Art Geländewagen mit getönten Scheiben.
„Was mache ich bloß?“ murmelte der Mann vor sich hin, als er um den Wagen herumging und sich auf den Fahrersitz schwang.
Das Auto war nicht abgeschlossen worden und der Schlüssel steckte noch, was vermutlich daran lag, dass die Besitzer es eilig gehabt hatten, so schnell wie möglich von hier wegzukommen.
Er ließ den Wagen an und steuerte ihn auf die Straße, die durch den dichten Nadelwald direkt zur Stadt führte.
„Wie heißt du?“ fragte er und warf ihr einen raschen Seitenblick zu, ehe er ihn wieder auf die Straße vor ihm richtete.
Er roch nach Raubkatze, was nicht weiter verwunderlich war, da die meisten WFU Agenten Raubtiere waren, viele davon Katzen.
„Danja. Mein Name ist Danja.
Wie lautet deiner? Du bist noch sehr jung, wie kommt es dass du hier bist, in Russland, bei einem so gefährlichen Außenauftrag?“
Danja konnte ihre Neugier kaum zügeln, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass es ziemlich unhöflich war solche privaten Fragen zu stellen.
„Ich bin Tay.
Man kommt in das WFU wenn man 18 ist, danach erfolgt eine Ausbildung die circa zwei Jahre dauert.
Aber ich hatte Kriterien, die die Ausbilder besonders interessant fanden. Ich war immer stärker und schneller als die anderen in meiner Stadt, deswegen kam ich schon mit 16 in das Programm. Jetzt bin ich 19 und das hier ist mein erster Auftrag.“
Den sie gerade möglicherweise versaute. Es war sicher nicht erlaubt sich von dem Posten zu entfernen, schon gar nicht wenn man noch ein so junges und relativ neues Mitglied war.
Danja konnte die Gewissensbisse, die sie plagten, nicht einfach ignorieren, schließlich war sie doch gerade dabei seine Karriere zu ruinieren, bevor sie richtig angefangen hatte.
Und wäre es nicht gerade Janka, die da draußen in Gefahr schwebte, würde sie Tay auch bitten umzudrehen.
„Wolltest du das? Agent werden, meine ich.“
Tay zuckte mit den Schultern. „Eigentlich schon. Forschung ist nichts für mich und ich hatte die Wahl – Forscher auf der DNA Basis oder Agent der WFU. Die Entscheidung war nicht allzu schwer.“
Danja wusste, dass viele Gestaltwandler dazu gezwungen wurden, in einem Bereich zu arbeiten, in dem die Menschen sie brauchten oder haben wollten.
Es wurde immer eine bestimmte Anzahl von Kindern errechnet, dann wurden bestimmte Kinder ausgesucht, die dann für die Menschen im Dienst stehen mussten.
Danja hatte Glück gehabt, sie hatte weder als Agentin antreten müssen, noch als Forscherin. Man hatte ihr gesagt, sie könne wählen, solle aber unbedingt einen Beruf ergreifen, der anderen nützte, das müssten allerdings nicht unbedingt Menschen sein.
Auch wenn es nach außenhin hieß, dass Gestaltwandler gleichberechtigt mit den Menschen waren, so war die Realität eine andere.
Sie mussten tun, was der Rat, der für sie zuständig war, von ihnen verlangte und es stand nicht in ihrer Macht, sich dagegen zu wehren.
Es war barbarisch, dass nur wenige Wandler ihren Beruf völlig frei wählen konnten, aber darüber wollte sich Danja jetzt keine Gedanken machen.
„Wo wohnt deine Freundin?“ fragte Tay sie. „Ich muss wissen, wie nah wir mit dem Auto heranfahren können, ohne dass wir die Aufmerksamkeit der Terroristen auf ns ziehen.“
Danja nickte und strich sich eine Haarsträhne zurück. „Ihr Haus liegt wie meines etwas abgelegen von der Stadt. Im Wald, nur eine schmale Schotterstraße führt zu ihr. Wir sind Nachbarn, wir beide lieben die Freiheit und den Wald, in der Stadt fühlten wir uns eingesperrt.“
„Nördlich oder westlich von der Stadt?“
„Nordwestlich, etwa einen Kilometer von dem letzten Haus der Stadt entfernt.“
Tay nickte, dann breitete sich Schweigen aus, als er vollkommen konzentriert die Gegend sondierte. Danja musste nicht fragen, um zu wissen, dass er nach feindlichen Attentätern Ausschau hielt.
Schüsse hallten durch den Wald, aber sie waren weit genug entfernt, sodass sie mit dem Auto tiefer in das Gebiet eindringen konnten.
Sie kamen etwa drei Kilometer weit, bis Tay leise fluchend den Wagen an den Rand lenkte.
„Verdammt. Etwa einen halben Kilometer von hier befindet sich eine feindliche Truppe, genau auf der Straße. Ich kann sie hören. Wir müssen zu Fuß weiter und am besten, wir laufen quer durch den Wald.“
Das Gefühl der Panik wurde in Danja immer größer, aber sie konnte sich jetzt keine Panikattacke bekommen, das konnte sie sich einfach nicht leisten.
Sie schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte, zumindest halbwegs.
„Dann los,“ meinte sie und sprang rasch aus dem Wagen.
Jetzt konnte auch sie die Terroristen hören. Man konnte sie gar nicht überhören, sie waren wirklich nahe. Danja ärgerte sich, dass sie nicht besser aufgepasst hatte, denn Tay hatte es bemerkt, sie hingegen wäre direkt in die Truppe gefahren.
Tay erwartete sie schon am Waldrand und war gerade dabei, sich das schwarze T-Shirt von Laib zu reißen.
Danja erstarrte. Sie konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Sein Oberkörper… Er war verdammt gut durchtrainiert, jeder Muskel war perfekt.
Bei jeder Bewegung spielten sie geschmeidig unter der Haut, und er sah so sehr nach Katze aus, dass man es unmöglich übersehen konnte, dass er eine Raubkatze war. Spätestens jetzt hätte Danja es gewusst.
„Was tust du da?“ brachte sie endlich über die Lippen.
Tay sah sie lange und intensiv an und in ihrer Magengegend breitete sich ein Kribbeln aus, so als flatterten tausend kleine Schmetterlinge darin herum. Wenn sie in seine Augen sah, wurde sie nervös, er brachte sie durcheinander.
Sie mochte die Art, wie er redete, wie er alles um sich herum sondierte.
„So sind wir schneller und fallen weniger auf. Stört es dich?
Ich weiß, dass du eine Gestaltwandlerraubkatze bist.“
Danja bemerkte, wie sie den Kopf schüttelte. „Nein, schon okay.“
Tay nickte und fuhr damit fort sich auszuziehen. Auch Danja begann sich von den störenden Kleidern zu befreien und als sie nur noch in Unterwäsche da stand, leitete sie ihre Verwandlung ein.
In gleißend hellem Licht reckten sich ihre Glieder und veränderten sich ihre Knochen. Fell spross aus ihrer Haut und in weniger als einer Minute, stand dort, wo sie eben noch gestanden hatte, ein Schneeleopard.
Danja streckte ihren muskulösen Körper und schlug die Krallen in den Waldboden.
Es war schon eine Weile her, seit die Leopardin das letzte Mal an die Oberfläche gekommen war. In letzter Zeit war es zu gefährlich gewesen, im Wald herumzulaufen.
Danja hatte diesen Zustand vermisst.
Nachdem sie sich ausgiebig gestreckt und ihre ungenutzten Muskeln aufgewärmt hatte, blickte sie erst zu Tay.
Auch er hatte die Verwandlung bereits abgeschlossen und Danja hatte recht behalten: Auch er war eine Raubkatze. Ein schwarzer Jaguar, wenn sie sich nicht täuschte. Oder Leopard. Nein, eher ein Jaguar.
Tay trat einen Schritt auf sie zu und ließ seine beeindruckenden, fließenden Muskeln unter seinem schwarzen Pelz spielen.
Er sah wunderschön aus, gefährlich, aber wunderschön.
Seine grünen Augen blickten in ihre, und Danja wünschte, dieser Augenblick würde ewig andauern.
Doch das war natürlich unmöglich. Sie mussten Janka finden und dabei wäre es gut, wenn sie nicht sterben würden.
Tay bedeutete ihr ihm zu folgen und verschwand in den Büschen des Waldes.
Im Wald war es ungewöhnlich leise, kein einziger Vogel zwitscherte in den Bäumen, es war überhaupt kein Tier an der Oberfläche, alle hatten sich versteckt. Aber die zwei Raubkatzen, die durch den Wald strichen, waren nicht der Grund dafür.
Es waren die Schüsse, die durch den Wald hallten, die Menschen, die durch die Gegend brüllten und die Aura von Gefahr, die von hier ausging.
Sie liefen fast eine Stunde, gingen der Straße dabei aus dem Weg und machten einen großen Umweg. Danja kannte den Waldweg zu Janka fast auswendig und sie wusste, dass es nicht mehr allzu weit war.
Aber es wurde Nacht, was bedeutete, dass die Terroristen bald den Wald durchkämmen würden. Sie mussten sich einen Unterschlupf suchen.
Tay schien das genauso zu sehen wie sie, denn er führte sie einen Abhang hinunter, zwischen Dornenbüschen durch zu einer kleinen Höhle, die aber dennoch groß genug wäre für zwei Menschen.
Kaum befanden sie sich im Schutz der Höhle, verwandelte Tay sich auch schon zurück in einen Menschen. Danja hätte zwar geglaubt, dass es sicherer wäre als Tier die Nacht zu verbringen, doch offenbar hatte er ihr etwas zu sagen, deswegen tat sie es ihm nach.
„Die Patrolien der Terroristen durchkämmt jede Nacht die Wälder, auf der Suche nach möglichen Aufständischen oder Gegnern, die sich im Schutz der Bäume verstecken. Hier werden sie uns nicht finden, aber wir können unmöglich noch heute Nacht weiter. ich hoffe für deine Freundin, dass es morgen noch nicht zu spät für sie ist.“
Daran hatte Danja noch gar nicht gedacht. Oh Gott, was, wenn Janka dann nicht mehr lebte? Wenn sie starb, gerade in diesem Augenblick? Das könnte sie sich nie verzeihen.
Aber Tay hatte recht. Wenn sie heute Nacht starben, half das Janka auch nicht.
Also mussten sie hier warten, machtlos, und das trieb Danja schier zum Wahnsinn.
Um sich abzulenken, wollte sie ein Gespräch mit Tay anfangen. Aus diesem, aber auch aus dem Grund, dass sie mehr von ihm erfahren wollte. Er hatte eine Anziehungskraft auf sie und sie spürte immer dieses nervöse Flattern in ihrem Magen, wenn er sie ansah.
Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, sie wäre in ihn verknallt.
Aber sie kannten sich nur ein paar Stunden und hatten kaum mehr als 5 Sätze miteinander gewechselt. Es war lächerlich.
Dennoch…
„Fällt es nicht auf, dass du einfach so verschwunden bist?
Es tut mir leid, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
Tay winkte ab. „Als Gestaltwandler muss ich Ausdauervermögen haben, vor allem als Agent. Ich werde erst morgen von meinem Posten abgezogen, bis dahin sollte keiner mein Fehlen bemerken und wenn, dann für einen kurzen Rundgang halten.
Mach dir keine Sorgen.“
Leichter gesagt als getan, aber ihr schlechtes Gewissen ließ sich nicht so einfach vertreiben.
„Magst du deinen Job? Was du tust?“
Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, so als müsste er darüber erst einmal nachdenken.
„Ich denke schon. Ja. Es ist das, was ich kann, weißt du?“
Danja nickte, sie verstand, was er meinte.
„Was machst du? Ich meine, du bist 17, da musst du dich bald entscheiden, was du machen wirst.“
„Ich weiß es nicht genau. Vielleicht etwas im sozialen Bereich. Forschung ist nichts für mich.“
Tay lächelte sie an – und was war das für ein Lächeln! Es ging Danja direkt ins Herz und ließ es wild flattern wie einen nervösen Schmetterling.
Sie redeten die ganze Nacht. Eigentlich wollte Tay, dass sie sich schlafen legte, aber Danja hatte zu viel Angst, um auch nur ein Auge zu zu tun.
Also unterhielten sie sich. Mit Tay konnte man sich wirklich wunderbar unterhalten. Er war ein guter Zuhörer und wenn er sprach, hing Danja an seinen Lippen.
Als die Sonne aufging, war sie fast enttäuscht, dass sie aufbrechen mussten, aber dieses Gefühl verschwand sofort, als sie an Janka dachte.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sie vergessen hatte, als sie mit Tay geredet hatte. Sie mussten sie einfach finden, Danja könnte nicht mit sich leben, wenn sie tot war.
Tay und Danja verwandelten sich zurück in Tiere, um so unauffälliger und leiser, aber vor allem schneller durch den Wald zu kommen.
Die Luft war durchtränkt vom Gestank des Pulvers und den Schüssen, die durch den Wald hallten. Danja zuckte jedes Mal zusammen, wenn eine Kugel durch die Luft brauste.
Nach einer Stunde spürte sie, dass sie ganz in der Nähe von Jankas Haus waren.
Auch Soldaten waren irgendwo in der Umgebung, was bedeutete, dass sie besonders vorsichtig vorgehen mussten.
Danja konnte den Schweiß der Männer um Jankas Haus herum riechen, aber er war nicht mehr frisch, was bedeutete, dass sie momentan allein hier waren.
Tay drängte sich in seiner beeindruckenden Jaguargestalt vor sie und schlich sie vor ihr durch die offenstehende Tür.
Danjas Herz setzte kurz aus, als sie die offene Tür bemerkte. Die Soldaten waren im Haus gewesen. Was, wenn sie ihr etwas angetan hatten?
Danjas Fell sträubte sich und sie mussten ein nervöses Fauchen krampfhaft unterdrücken.
In dem Haus war es fast unnatürlich still und der Geruch von Blut hing in der Luft. Es war nicht nur Jankas Blut, denn es war rein menschliches dabei.
Danja wollte ihren schlanken Laib an dem schwarzen Jaguar vorbeidrängen, doch das ließ dieser nicht zu. Stattdessen knurrte er sie warnend an und zeigte seine schönen, weißen Zähne, scharf wie Dolche.
Tay schlich nahezu lautlos durch die Vorderhalle. Der Raum sah aus, als wäre ein Hurrican hindurch gestürmt. Jacken und Schuhe lagen verstreut herum, Holzbretter und lose Splittern türmten sich an den Wänden und Jankas geliebte Blumen lagen in den Scherben der bunten Vasen, die sie über alles geliebt hatte.
Tay hob witternd seine Nase in die Luft und folgte dem Lufthauch, der aus dem oberen Stock kam und Jankas unverwechselbaren Geruch mit sich trug.
Janka gehörte zu einer der seltensten Tiergestaltwandler, die es auf der Welt gab. Als Florida Panther, eine seltene Unterart der Pumas oder Berglöwen, war sie etwas ganz besonderes, man konnte ihren einzigartigen Geruch mit keinem anderen Tier der Welt vergleichen.
Leider war diese Sorte der Gestaltwandler schon vor Jahren fast zur Gänze verschwunden. Die Menschen hatten nicht nut ihre tierischen Verwandten fast komplett ausgerottet, sondern auch die Gestalwandlerverwandtschaft dieser Spezies.
In seiner Ausbildung hatte Tay gelernt, alle Arten zu unterscheiden, zumindest bei den Raubtieren. Vögel waren schwieriger auseinander zu halten, denn Turmfalken rochen kaum anders als andere Falkenarten, dasselbe galt für Adler.
Aber bei den Raubtieren war er der beste, wenn es darum ging sie vom Geruch zu unterscheiden.
So war ihm durchaus klar, dass es hier mit zwei äußerst seltenen Formen in einem Haus war.
Wenn er ehrlich war, war das auch der Hauptgrund, warum er mit Danja gekommen war. So eine seltene Art wie ein Schneeleopard waren geschätzte und geschützte Gestaltwandler, sie waren das Schmuckstück der ganzen Spezies.
Tay hatte gelernt, alles zu tun, um diese seltenen Erscheinungen zu beschützen, und das nahm er sehr ernst.
Auch wenn es anfänglich der Grund gewesen war, so war es längst nicht mehr der elementarste und wichtigste.
Nein, er mochte Danja. Mochte ihren eigenen Geruch und die Art, wie sie sprach und ihn ansah. Und er mochte, wie sie aussah, sowohl in Menschen, als auch in Tiergestalt war sie schön und vollkommen in seinen Augen.
Ihr langes Haar war platinblond, heller als bei Menschen von Natur aus üblich und warf wunderschöne, große Locken bis zu ihrer Taille.
Die Schneeleopardin war schlank und muskulös, sie wirkte zäh und ihr Fell war genauso gepflegt wie das Haar der Frau.
Tay schüttelte den Kopf und richtete seine Ohren aufmerksam auf. Im Erdgeschoss war es vollkommen still, nicht einmal eine Maus schlich sich durch die Küche. Aber aus dem oberen Stockwerk… er hörte Atemgeräusche, die viel zu flach waren.
Sofort beschleunigte Tay seine Schritte und sprang förmlich auf allen Vieren die Treppe hinauf.
Das musste Janka sein. Verdammt sollte er sein, wenn er zuließ, dass die Gemeinschaft der Gestaltwandler ein so wichtiges und seltenes Mitglied verlor, vor allem, da einige Arten schon nahezu vom Aussterben bedroht waren. Sie konnten es sich nicht leisten, dass ganze Arten ausstarben, dadurch ging ihre Kultur verloren und wichtige Fähigkeiten.
Zu seinen Aufgaben als Agent der WFU zählte auch, die seltenen Arten zu schützen, es war sogar eine Hauptaufgabe.
Von den Löwen, Tigern, Jaguaren, Geparden, Leoparden und Pumas gab es genug, dass sie ihr Überleben selbst gewährleisten konnten, aber Nebelparder zum Beispiel waren so selten, dass der Verlust eines einzelnen ein riesig großer war.
Die Menschen hatten sie vor der Verhandlung und dem Arrangment gejagt und verfolgt wie wilde Tiere und sie getötet und als Ausstellungsstücke benutzt, sie in Zoos eingesperrt, wenn es ihnen Geld und Ansehen einbrachte.
Seit die Gestaltwandler Rechte hatten, hatte sich die Lage etwas gebessert, aber der Schaden war bereits angerichtet.
Tay folgte dem Geruch nach Blut und Florida Panther in ein großes, geräumiges Schlafzimmer, welches mit edlen hellen Holzmöbeln ausgestattet war.
Kleider waren aus dem Schrank gerissen worden, Bettwäsche lag auf dem Boden, und mitten all den Trümmern lag eine junge, hübsche Frau mit seidigem, glatten rotbraunem Haar, das wie ein Fächer um ihren Kopf herum lag.
Blut breitete sich unter ihrem großen, schlanken Körper aus, teilweise war es schon geronnen.
Wenn man sie so sah, wie sie so leblos da lag, konnte man meinen, dass sie tot war. Doch Tay konnte ihren Atem hören, und offenbar konnte Danja das auch, denn sie blieb wo sie war, auch wenn ihr ganzer Körper angespannt war.
Tay verwandelte sich in weniger als einer Minute zurück in einen Menschen, weil er sich so besser um die Frau, die wohl Janka war, kümmern konnte.
„Bleib, wie du bist. Falls nötig kannst du so schneller von hier verschwinden.“
Doch natürlich hörte sie nicht auf ihn – wenig später saß neben ihm die junge blonde Frau.
„Was ist mit ihr?“
„Das werden wir gleich herausfinden,“ murmelte Tay und kniete sich neben dem leblosen Körper Jankas.
Sachte legte er eine Hand an ihren Hals und atmete erleichtert auf, als er einen gleichmäßigen Puls fühlte.
„Sie lebt. Es dürfte kein Silber in ihrem Körper sein.“
Silber war das einzige, das für einen Gestaltwandler absolut tödlich war. Sie konnten auch so bei einer großen Wunde verbluten, allerdings war die Wahrscheinlichkeit nicht allzu groß, da Gestaltwandler eine rasche Wundheilung hatten und Verletzungen mit übermenschlicher Geschwindigkeit wieder verschließen konnten.
Vorsichtig drehte Tay Janka auf den Rücken und untersuchte ihren Körper nach Wunden, die schwerwiegender waren.
Er fand ein Einschussloch in ihrem rechten Oberschenkel, diese Verletzung war wohl die Ursache für den hohen Blutverlust und die darauf folgende Ohnmacht der Frau.
Allerdings war die Wunde schon halb verschlossen und die Blutung hatte aufgehört, war also nicht mehr akut und lebensbedrohlich.
„Sie wird sich erholen, gib ihr ein paar Minuten und hol etwas Wasser. Sie wird es brauchen, wenn sie wach wird.“
Danja zögerte, wollte ihre Freundin nicht verlassen, aber Tay war da und er würde bei Janka bleiben und auf sie aufpassen.
Also erhob sie sich schließlich und verließ das Schlafzimmer, um das Badezimmer aufzusuchen.
Die Soldaten waren also in das Haus eingedrungen, doch sie hatten Janka nicht getötet. Vielleicht war es einfach Glück gewesen oder sie hatten sie zum Sterben liegen lassen. So oder so, sie lebte, und das war das einzige, was zählte.
Als Danja wieder zurück ins Schlafzimmer kam, saß Janka schon aufrecht und war wieder bei Bewusstsein.
„Oh Gott sei Dank!“ rief sie erleichtert auf und warf sich in die Arme ihrer geschwächten besten Freundin.
„Geht es dir gut? Was ist passiert?“
„Beruhige dich, sie wird es dir schon erzählen.“ beruhigte Tay sie ein wenig. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und drückte es Janka in die Hand, die es mit einem schwachen und etwas zittrigen Lächeln annahm und vorsichtig daran nippte.
„Ich wollte das Haus gerade verlassen und dich am Flughafen treffen, als ich hörte, wie sich jemand dem Haus näherte.
Ich lief hinauf in mein Zimmer und habe mich versteckt. Hier, in meinem Schrank. Ich weiß, das war feige, aber ich wollte nicht sterben.
Aber sie haben mich gefunden. Ich habe sie angefleht und geweint, ich tat einfach alles, was nötig war, damit sie mir nicht in den Kopf schossen.
Das taten sie auch nicht, sie schossen mir ins Bein und ließen mich zum Sterben da.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier gelegen habe, aber irgendwann verlor ich das Bewusstsein.“
Janka schluchzte auf und wischte sich eine Träne von der Wange.
„Ich bin so froh, dass ihr hier seid!“
Danja umarmte Janka ganz fest und sah dabei über ihre Schulter hinweg Tay an. Dankend neigte sie den Kopf, er erwiderte diese Geste.
Sie waren noch vor Einbruch der Nacht wieder am Flughafen. Sie hatten es geschafft ungesehen den Wald hinter sich zu lassen und noch ehe die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwunden war, befanden sie sich wieder in der Flughalle.
Janka war es so weit wieder gut gegangen, dass sie ihre tierische Gestalt hatte annehmen können. Sie war schon immer zäh und stark gewesen, das hatte sie heute bewiesen.
Tay hatte Janka Mut zugeredet, also hatte er mehr als nur ein bisschen dazu beigetragen, dass sie sicher wieder hier waren.
Soeben hatte er zwei Tickets in die USA gekauft – für sie und Janka.
Für ihn selbst ging der Auftrag weiter, er musste hier bleiben.
Das wusste Danja natürlich, aber trotzdem… sie wollte, dass er mit ihnen kam, aber das war natürlich unmöglich.
Ein wenig traurig sah sie zu dem gutaussehenden jungen Mann hinüber, für den sie etwas zu empfinden begann.
Er begleitete sie zum Terminal, von wo aus ihr Flug in einer halben Stunde starten würde.
Er sah so gut aus… geschmeidig und elegant, auf eine tödliche, bedrohliche Art und Weise.
Als sie den Gate erreicht hatten, blieben sie stehen.
Tay sah zuerst Janka an und fragte sie: „Geht es dir wieder etwas besser?“
Diese nickte ihm lächelnd zu und meinte: „Danke, dass ihr mich gerettet habt. Und dass du Danja nicht allein hast nach mir suchen lassen.“
Mit einem Seitenblick auf Danja fügte sie hinzu: „Ich warte im Flugzeug auf dich.“
Ihr waren die Blicke, die ihre beste Freundin dem Jaguar zugeworfen hatte, nicht entgangen.
Danja nickte abwesend, ihr Blick blieb auf Tay fokusiert.
„Danke. Ich… danke.“
Tay schüttelte den Kopf. „Du musst mir nicht danken.
Das war es dann also. Ich wünsche dir und Janka viel Glück. Wirklich, alles Gute.“
Danja nickte und wollte sich gerade abwenden, traurig, dass sie ihm nicht sagen konnte, wie sehr sie ihn mochte, als er sie am Arm packte und zu sich herumwirbelte.
Einen Moment später spürte sie seine Lippen auf den ihren. Trotz der Überraschung zögerte sie nicht lange und erwiderte den Kuss. Und was für ein Kuss das war! Noch nie hatte sich etwas so gut angefühlt.
Dennoch – es war viel zu schnell wieder vorbei.
Tay lächelte sie an und Danjas herz schmolz. „Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder.“
Dann drehte er sich um und stapfte davon, fort aus Danjas Leben.
Kapitel 1
4 Jahre später – in der Nähe von Canterbury, England
Regen prasselte unaufhörlich auf die grüne, hügelige Landschaft Südenglands nieder. Es war kalt für die Jahreszeit und stürmisch.
Keiner der Bewohner Black Hills war bei diesem Wetter draußen, und auch der Wald blieb diesen Tag vor den Gestaltwandlern unbetreten.
Nicht einmal die stärksten und robustesten Dorfbewohner würden ihr sicheres, warmes Haus verlassen für ein bisschen frische Luft.
Der kleine Rico war vermutlich das einzige Geschöpf, das verrückt genug war, in den Sturm hinaus zu wollen und sich von dem Wolkenbruch völlig durchnässen zu lassen.
Der kleine Löwe lief aufgeregt durch das Haus seiner Pflegemutter, Gummistiefel an den Füßen und eine dicke Jacke in den kleinen Händen.
„Ich will raus, Mami, bitte!“
Danja sah ihr Pflegekind, das wie ihres war, lächelnd an. Der kleine war so lebendig und fröhlich, schon als sie ihn vor zwei Jahren aufgenommen hatte.
Seine Eltern waren bei einem schrecklichen Ereignis ums Leben gekommen, da war der Kleine gerade einmal drei Jahre alt gewesen.
Danja, die Kinder über alles liebte und diese Liebe zu ihrem Beruf gemacht hatte, hatte spontan entschieden ihn zu sich zu nehmen.
Seit dem lebte Rico bei ihr und sie konnte ihn sich gar nicht mehr weg denken.
„Nein, mein Süßer, heute gehst du nicht raus. Du wirst sonst noch krank, und das willst du doch nicht, oder? Dann kannst du nicht mit Anna spielen, und du weißt, wie gern sie mit dir spielt.“
Sofort begannen Ricos Augen zu leuchten, als Danja seine beste Freundnin, eine Füchsin, erwähnte.
„Nein Mami, ich will mit Anna spielen!
Ich glaube, ich bleibe im Haus und geh ein anderes Mal in den Wald, okey?“
Danja nickte und hockte sich vor ihren Kleinen nieder. „Das ist eine sehr gute Entscheidung, mein Kleiner. Ich koche dir jetzt etwas zum Essen und danach werde ich dir aus deinem Buch vorlesen, ist das okay?“
Rico nickte und Danja küsste den Kleinen auf den Kopf und durchwuschelte seine strubbeligen braunen Haare.
„Dann ist ja gut.“
Rico rannte ins Vorhaus, um seine Kleidung wieder auszuziehen. Brav, so wie Danja es ihm beigebracht hatte, stellte er die Gummistiefel in den Schuhschrank und hängte die Jacke an den Hacken.
Derweil begab sich Danja in die Küche und hinter die Theke, wo bereits eine große Pfanne bereit stand.
Aus dem Kühlschrank holte sie das frische Steakfleisch, das sie am Morgen in dem Fleischerladen um die Ecke gekauft hatte.
Rico liebte Rindersteaks und heute hatte sie sich vorgenommen, ihm etwas Besonderes zu machen.
„Darf ich fernsehen?“
Danja warf einen raschen Blick nach draußen, wo das Unwetter tobte. Es regnete und stürmte zwar, aber immerhin war es kein Gewitter.
„Also gut, aber nur so lange, bis das Essen fertig ist!“
Eine halbe Stunde später war Danja mit dem Abendessen fertig und sie deckte den Tisch für zwei Personen.
Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster.
Seit sie ihre Beziehung zu Jason vor zwei Jahren wegen Rico beendet hatte, hatte sie keinen festen Freund mehr gehabt, nicht einmal ansatzweise.
Es hatte sie nicht gestört und das tat es auch jetzt nicht.
Denn ganz egal, was sie auch versuchte sich einzureden, es sei wegen Rico, das war nur zum Teil war.
Ab und zu, wenn sie am wenigsten damit rechnete, träumte sie von dem Tag, an dem sie ihre Heimat in Russland verlassen hatte.
Sie hatte Tay nie vergessen, diese Augen.
Danja hatte nie mit jemandem darüber geredet, nicht einmal mit Janka. Warum, wusste sie selbst nicht, und sie wollte auch gar nicht so genau darüber nachdenken.
Sie war damals erst 17 gewesen und das mit Tay nur ein Kuss, eine kleine Schwärmerei. Er war Agent der WFU und hatte viel zu tun, musste viel reisen und gefährliche Aufträge ausführen. Vielleicht war auch schon tot, vielleicht war er noch am selben Tag in Russland ums Leben gekommen.
Er könnte verheiratet sein und Kinder haben. Ihr Verstand wusste das, aber trotzdem dachte sie seit dem Augenblick, in dem sie in das Flugzeug gestiegen war und nach New York geflogen war, immer wieder an ihn.
Gott, das war lächerlich. Es war 4 Jahre her, er könnte hässlich geworden sein oder ein Arschloch höchsten Grades.
„Mami?“ Rico riss Danja aus den Gedanken. Der kleine Zwerg stand neben dem Esstisch und blickte sie aus großen, braunen Augen an.
„Ja, mein Großer, Essen ist fertig. Wasch dir die Hände und setz dich.“
Wie der Teufel flitzte er an ihr vorbei ins Bad und ließ seine Mutter lachend in der Küche stehen.
Als er wieder zurück kam, setzte er sich breit lächelnd an den Tisch. „Du, Mami, ich weiß, dass es heute Steaks gibt.
Ich liebe Steaks.
Darf ich jetzt essen?“
„Aber klar, mein Großer.
Na los, hau rein.“
Eine Weile war nur das Geklapper des Bestecks auf den Tellern zu hören. Es war ein angenehmes Schweigen und Danja genoss die gemeinsamen Abendessen mit ihrem Sohn.
Ihr Sohn. Sie hätte nicht gedacht, dass sie schon mit 19 Mutter werden würde, aber sie war froh, dass es so war.
Sie konnte sich Rico gar nicht mehr aus ihrem Leben wegdenken. Er war ihre Familie, und Janka auch. Mehr hatte sie nicht, sie brauchte die beiden.
„Du, Mami? Warum hast du eigentlich keinen Mann? Die in den Filmen sind doch auch alle verheiratet.“
Danja sah Rico überrascht an. Sie hatte nicht gedacht, dass sich der Kleine darüber Gedanken machte. Er war klug und aufmerksam für sein Alter.
„Weißt du, Mami hat den Richtigen einfach noch nicht getroffen. Das ist nicht so einfach, weißt du?“
Rico nickte verständnisvoll. „Dann suche ich dir einfach einen Mann.“
Danja lachte entzückt auf. Gott, sie hatte so ein Glück mit dem Jungen!
„Das ist süß von dir, mein Schatz.
Aber…“
Danja konnte den Satz nicht mehr beenden, denn da klopfte es an der Tür.
Stirnrunzelnd erhob sie sich und ging an die Tür. Draußen war es nach wie vor stürmisch und es regnete immer noch, als würde die Welt untergehen.
Wer konnte das sein?
Als Danja die Tür öffnete, hätte sie kaum überraschter sein können. Janka stand pudelnass vor ihrer Tür, ihr braunes Haar klebte eng an ihrem Kopf, das Wasser lief ihr über das Gesicht und ihre Kleidung war völlig durchweicht.
„Du lieber Himmel, was machst du denn hier?
Na los, komm rein!“
Zitternd vor Kälte trat Janka über die Schwelle in Danjas warmes Haus.
„Was machst du bei diesem Sauwetter da draußen? Du solltest in deinem Haus sein!“
Janka lächelte ihre Freundin schuldbewusst an und strich sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht.
„Marcus hat mich rausgeworfen.“
„Er hat was getan?“
Janka nickte „Er hat gesagt, er kenne da jemand anderes, ich wäre ihm zu langweilig und es wäre aus. Dann hat er mir gesagt, ich solle verschwinden.“
„Dann ist er ein Idiot“ Diesmal war es nicht Danja, die ihre Freundin das sagte. Der Satz kam von Rico, der immer noch brav an seinem Platz am Tisch saß.
Janka sah um Danja herum und lächelte den Kleinen an. „Hallo Rico.“
„Hallo Tante Jan.“
„Also, Marcus hat dich nicht verdient.
Du kannst so lange hier bleiben, bis der Sturm vorbei ist und du zurück in dein Haus kannst.“
„Danke, ich weiß nicht, was ich ohne dich machen sollte!“
„Dafür sind Freunde doch da.
Bleib du bei Rico und iss etwas, es müsste noch etwas in der Pfanne sein, ich hole dir schnell etwas Trockenes zum Anziehen.“
Janka nickte und nahm sich einen Teller, auf dem sie ein Steak platzierte, das unglaublich köstlich duftete.
Dann setzte sie sich auf den Stuhl neben Rico, der sich wieder über sein Essen hergemacht hatte.
„Danja kann wirklich ausgezeichnet kochen. Das konnte sie früher auch schon, aber seit wir hier in England sind, ist sie noch besser geworden.“
Rico nickte feierlich und setzte sein Glas Milch ab. „Sie ist die beste Köchin auf der ganzen Welt!“
Janka nickte und nahm einen Schluck von ihrem Wasser.
„Ist dir nicht kalt? Du bist ja ganz nass!“
„Doch, mir ist sogar eiskalt. Aber deswegen holt deine Mami mir ja auch ein paar Sachen.“
Wenig später kam Danja mit trockenen Kleidern wieder in die Küche.
„Hier, zieh dir das an, wenn du fertig bist.
Ich habe dir ein Bad eingelassen, vielleicht solltest du es vorher nehmen. Der Föhn liegt in der Schublade links.“
Janka aß ihr Steak fertig, dann nahm sie die Jogginghose, das T-Shirt und die Weste und verließ den Raum, um die Treppen hoch in den ersten Stock zu gehen.
„Geht es ihr gut?“
Danja blickte Rico an und seufzte. „Ich weiß es nicht. Sie zeigt nicht, was sie fühlt, weißt du?“
„Sie kann mein Zimmer haben, wenn sie will. Ich kann auf dem Sofa schlafen.“
Danja lachte und blickte ihren großartigen Sohn liebevoll an. „Das ist sehr lieb von dir, mein Großer, aber ich glaube nicht, dass das nötig ist.
Janka schläft in meinem Zimmer und ich werde dir Couch nehmen.“
Rico schüttelte den Kopf, sodass seine dunklen Locken um seinen Kopf flogen. „Nein Mami, du schläfst in meinem Bett, das ist groß genug für uns beide.“
„Ach mein Junge,“ meinte Danja und kniete sich neben ihrem Sohn nieder. „Hab ich dir schon gesagt, wie lieb ich dich habe?“
Ricos Augen leuchteten, als er seine dünnen Ärmchen um ihren Hals schlang. „Aber ja, Mami. Ich hab dich auch lieb.“
Nach ein paar Minuten löste sich der Kleine wieder von ihr uns setzte sich wieder in seinem Stuhl auf.
„Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett, Mami. Ich bin soooo müde.“
Danja erhob sich und begann den Tisch abzuräumen. „Dann geh.
Zähneputzen und Pyjama anziehen. Mami kommt später hoch.“
Danja begleitete Rico hoch in sein Zimmer, bevor sie in ihr eigenes ging und das Bett für Janka herrichtete.
Dann zog sie sich ihre Schlafsachen an und nahm Decke und Polster mit nach unten, wo sie ihre Couch auszog.
Sosehr sie Ricos Angebot auch zu schätzen wusste, das Bett war nicht annähernd groß genug, als dass sie gut hätte darin schlafen können.
Wenig später kam Janka wieder nach unten, in dem taubengrauen Jogginganzug, den Danja ihr geborgt hatte und die Haare getrocknet und zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Schläft der kleine Mann schon?“
Danja nickte und ließ sich auf das weiche Sofa sinken. „Ja, er ist vor 15 Minuten nach oben gegangen.
Geht es dir wirklich gut, Janka?“
„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Ich weiß nicht, was ich fühlen oder denken soll. Ich meine, ich weiß ja nicht einmal mehr, ob ich ihn überhaupt geliebt habe.“
Danja zog ihre beste Freundin neben sich und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Es ist noch ganz frisch. Natürlich bist du verwirrt. Das ist ganz normal.“
„Ach, ich weiß einfach nicht.“
„Schlaf eine Nacht darüber, morgen sieht alles ganz anders aus.
Ich weiß nicht, ob sich der Sturm bis dahin verzieht, aber wir können uns einen schönen Tag hier im Haus machen.
Rico hat sich so gefreut, dich zu sehen. Du weißt, er vergöttert dich.“
Endlich huschte ein kleines Lächeln über Jankas Gesicht.
„Ja, ich vergöttere den Kleinen auch. Er ist aber auch wirklich ein Charmeur, wie er die Leute um den Finger wickelt!“
Danja lachte. „Das liegt in seinem Blut. Man sieht, dass er Italiener ist.“
„Oh ja, er wird einmal hunderte Frauenherzen brechen.“
„Er ist wirklich ein guter Junge. Ich bin so dankbar, dass ich ihn habe, weißt du?“
„Ja, ich weiß. Ich sehe es in deinen Augen. Er ist dein Sohn. Er könnte nicht mehr dein Sohn sein, wenn er dein leiblicher wäre.“
„Er redet nie von früher und ich frage ihn nicht danach. Ich weiß nicht, ob er sich noch an etwas erinnert. Als er seine Eltern verloren hat, war er Gott sei Dank nicht dabei. Ich wollte ihn nie fragen, was er mitbekommen hat, wollte, dass er vergisst, was auch immer in jeder Nacht passiert ist.“
„Ja, ich erinnere mich. Wir waren gerade ein Jahr in Black Hill, als es geschah.
Kaum zu glauben dass zwei erwachsenen Löwen so etwas zustoßen konnte.“
Da musste Danja Janka recht geben. Der grausame Überfall und die Ermordung der Familie war ein Schock für die ganze Gemeinde gewesen, die vollkommen aus Gestaltwandlern und deren Menschlichen Partnern, Familienmitgliedern oder Freunden bestand.
Man hatte den Täter nie gefasst.
„Wie auch immer. Ich gehe jetzt schlafen.
Gute Nacht und… Danke. Für alles.“
Nachdem Janka schlafen gegangen war, ging Danja noch einmal in das Zimmer ihres Sohnes.
Rico schlief ruhig und friedlich in seinem Bett zusammengerollt.
Liebevoll beugte sie sich über ihn und hauchte einen sanften Kuss auf sein Haar.
Dann zog sie sich zurück und schaltete das Licht ab, legte sich auf das Sofa und schloss die Augen.
Ihr letzter Gedanke galt Tay.
Kapitel 2
Der Sturm verzog sich auch am nächsten Tag nicht und der Regen fiel weiter in Sturzbächen zur Erde.
Die Erde würde vollkommen aufgeweicht sein und die Straßen voller Schlamm. Überschwemmungen würden wohl auch nicht aus bleiben.
Es war Abend, und Danja saß mit Janka und Rico am Esstisch. Sie hatte das restliche Fleisch, das sie noch im Kühlschrank gehabt hatte, zu einem Eintopf verkocht, dazu hatte sie für Janka und sich eine Flasche Wein aufgemacht, den sie nun genossen.
„Marcus hätte wenigstens warten können, bis das Unwetter vorbei ist.
Wenn du nicht in der Nähe leben würdest, ich hätte durch das ganze Dorf laufen müssen.“
Danja legte ihre Hand auf den Arm ihrer besten Freundin. „Das musstest du aber nicht, also…“
„Ja, ich weiß. Es ist dumm, sich darüber Gedanken zu machen.“
„Tante Jan, liest du mir heute Abend etwas vor?“
Rico blickte hoffnungsvoll zu dem Florida Panther auf. Dieser lachte und durchwuschelte seine Haare.
„Natürlich. Was du willst. Such dir eine spannende Geschichte aus.“
„Oh ja!
Du kannst ruhig öfter bei uns vorbeikommen, Jan.“
Danja nickte und stimmte ihrem Sohn zu. „Das solltest du wirklich. In letzter Zeit haben wir uns nicht sehr oft gesehen, ich vermisse unsere Gespräche.“
„Ich weiß und es tut mir leid. Ich werde wieder öfter bei euch vorbeischauen, aber Marcus wollte nicht, dass ich allzu oft weg bin. Er wollte mich mit niemandem teilen müssen, weißt du?“
„Ich finde das aber gemein und dumm!“ kam es von Rico. „Ja, das ist es, mein Großer. Du wirst nie so sein zu Frauen, ja?“
„Nein Mami, ich verspreche es dir.“
„Dann ist ja gut.“
Janka lachte und Danja nippte an dem köstlichen Rotwein, den sie vor einer Woche in einem Laden in Canterbury gekauft hatte, als es an der Tür klopfte. Schon wieder, das wäre das zweite Mal in 24 Stunden, dass jemand bei diesem Wetter zu ihrem Haus kam.
Vermutlich war das kein Zufall, dieses war das erste Haus in Black Hill, wenn man der Straße von Canterbury folgte.
„Denkst du, es ist Marcus?“ fragte Janka und legte ihre Gabel bei Seite. Danja stand auf und ging an die Tür, es kam ihr vor wie ein Dejavu.
„Nein, ich denke nicht, dass er jetzt im Staub kriecht.
Falls ich es dir noch nie gesagt habe, ich habe ihn nie leiden können. Er hat nicht zu dir gepasst, weißt du? Er war gemein und egoistisch und er hatte keinen Sinn für Kinder.“
Da musste Janka ihr Recht geben. Er war ein Vollidiot gewesen, sie wusste gar nicht mehr, was sie damals so toll an ihm gefunden hatte? Seine schwarzen Haare oder sein durchtrainierter Körper?
Danja drehte den Schlüssel im Schloss um und zog die Holztür einen Spalt auf, nicht ganz, schließlich könnte jeder vor der Tür stehen und sie hatte ein Kind im Haus.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie in den Sturm hinaus, doch wenn die beiden Männer, die dort auf der Veranda standen, keine Gestaltwandler waren, würden sie sie nicht verstanden haben, denn der Wind trug ihre Worte mit sich fort.
Einer der beiden groß gewachsenen Herren, beide in dunkle Mäntel gehüllt, trat einen Schritt vor, bis er in greifbarer Entfernung war.
Dennoch, es war zu dunkel und zu stürmisch, als dass Danja die beiden Männer genauer sehen konnte.
Es hätten genauso gut Frauen sein können, wären sie nicht so groß und breitschultrig gewesen wären.
„WFU, wir ermitteln an einem Fall, der sich gestern Abend in Black Hill abgespielt hat.
Wir würden Sie gerne befragen.“
Die Männer zeigten ihr ihre Ausweise, aber Danja konnte sie nicht gut genug sehen, trotz ihrer Gestaltwandlersinne, um erkennen zu können, ob sie echt waren.
Trotzdem… Ihre Worte klangen ernst, also trat Danja zurück und öffnete die Türe ganz.
„Kommen Sie herein.“
Die beiden Männer traten über die Schwelle… und Danja stockte der Atem.
Der eine war groß, hatte breite Schultern und dunkelrotes Haar. Er sah gut aus mit seinen blauen Augen, die denen eines Wolfes glichen. Er roch auch nach einem.
Der andere… der andere war einfach umwerfend, breite Schultern, trainierter Körper, dunkles Haar und blaue Augen. Und Danja kannte ihn.
Das letzte Mal hatte sie ihn vor 4 Jahren gesehen, am Flughafen in Russland.
„Tay,“ Der Name rutschte ihr über die Lippen, bevor sie sich zurückhalten konnte.
Noch einmal ließ sie ihren Blick über den zweiten, größeren Mann gleiten. Er war muskulöser und erwachsener als vor 4 Jahren, aber es bestand kein Zweifel.
„Danja.
Es ist… lange her.“
Überraschung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Natürlich hatte er nicht gerechnet, sie zu treffen, vor allem nicht so.
„Ja, das ist es.
Du siehst gut aus, lebendig, meine ich. Du hast Russland also überlebt.“
Tay nickte. „Ja, hab ich.
Und du bist nicht mehr in den USA, wie ich sehe.“
Der Rothaarige räusperte sich und lenkte die Aufmerksamkeit so auf sich.
„Ich bin Agent Johnatan Mitchell und meinen Kollegen Tayron Cloud kennen Sie ja schon.“
An Janka und Danja gewandt fragte er: „Und Sie sind?“
„Janka Bethan.
Und das ist meine Freundin Danja Larovsky.
Auch ich kenne Tay. Er hat mich damals gerettet.“
Tay nickte ihr grüßend zu, was sie mit einem Lächeln erwiderte.
Danja nickte bestätigend und kehrte zum Tisch zurück.
„Mami, wer sind diese Leute?“
Sie wandte sich ihrem Sohn zu und hauchte ihm einen Kuss auf den Kopf und meinte liebevoll: „Das sind Agenten. Sie wollen mit Mami und Tante Janka reden. Geh schon mal nach oben, okay? Janka kommt gleich und lest dir etwas vor.“
Rico sah sie verwirrt an, tat aber was sie sagte und schlang seine dünnen Ärmchen um ihren Hals. „Gute Nacht, Mami.“
Als er verschwunden war, wandte sich Danja wieder den beiden Männern zu.
„Setzen Sie sich.
Ich mache einen Tee, Ihnen muss kalt sein.“
Danja durchstöberte ihren Schrank nach dem besten Tee, den sie hatte. Rico trank am liebsten Kirschtee, aber den wollte sie den Agenten nicht anbieten.
Sie fand noch Pfefferminztee, der musste genügen.
Während Danja das Wasser aufsetzte, setzten sich die beiden Männer zu Janke an den Tisch.
Sie zogen ihre Mäntel aus und enthüllten chice schwarze Anzüge. Nichts desto trotz, die Mäntel hatten nicht verhindern können, dass die Männer bis auf die Haut nass geworden waren.
„Ist Ihnen nicht kalt?“
Danja stellte diese Frage bewusst an den rothaarigen Agenten, Mitchell, nicht an Tay.
Es war schon lange her, sie waren erwachsen geworden. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte ihm gegenüber.
Er hatte offenbar eine hohe Stellung in der WFU, seinem Aufzug nach zu urteilen.
Außerdem… er hatte sie geküsst, ja, aber das war nur gewesen, weil sie geglaubt hatten sich nie wieder zu sehen.
Jetzt… keiner hatte erwartet, dass sie sich wieder sehen würden.
Davon abgesehen, er hatte Rico als ihren Sohn kennen gelernt und es war offensichtlich, dass er über vier Jahre alt war.
„Danja? Dan?“
Jankas Rufe rissen sie aus den Gedanken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass das Wasser schon fertig gekocht war.
„Oh, Entschuldigung.“
Sie setzte ein höfliches Lächeln auf und goss den Tee in eine Kanne. Tassen hatte Janka bereits auf den Tisch gestellt, und wie sie sah, auch das Feuer geschürt.
„Bitte sehr. Ich hoffe, das wärmt Sie auf.“
Danja setzte sich nun ebenfalls an den Tisch und schalt sich eine Idiotin, weil sie bisher nicht über den Grund nachgedacht hatte, warum diese Agenten hier waren.
„Was führt Sie bei diesem Wetter nach Black Hill?“
Es war dieser Mitchell, der das Wort erhob. „Gestern Abend wurde ein Ehepaar brutal ermordet aufgefunden, hier, in Black Hill. Man hat uns geschickt, um dieses Verbrechen aufzuklären.“
Danja runzelte die Stirn, entsetzt darüber, was sie hörte. „Ein Mord? Hier, in diesem Dorf?
Warum sollten sie dann euch holen? Die WFU kommt für gewöhnlich nicht wegen einem einzelnen Mord.
Das heißt, es hat mehrere gegeben, nicht wahr? Wo anders?“
Tay und Mitchell wechselten einen Blick als versuchten sie abzuwägen, wie viel sie verraten konnten.
Schließlich nickte Tay, Mitchell erwiderte diese Geste in stummem Einverständnis.
Tay erhob das Wort, sein Gesicht sah ernst aus und seine Augen funkelten wütend, doch dieses Gefühl galt nicht den Leuten, mit denen er sich im Raum befand.
„Ich erzähle euch das nur, weil wir diese Sache in Russland überlebt haben. Wir haben Janka gerettet und euch sicher zum Flughafen gebracht. Ich weiß, dass ihr stark seid und dass ihr das, was ich euch erzähle für euch behalten könnt.“
Es freute Danja, dass er ihnen offenbar genug vertraute, die Wahrheit zu erzählen. Er konnte es natürlich nicht wissen, aber es bedeutete ihr sehr viel.
Nun war es wieder Mitchell, der sprach. „Begonnen hat das ganze hier, vor 2 Jahren. Ein Ehepaar wurde grausam ermordet, zwei Schüsse in den Hals, einen in jedes Knie und das vor den Schüssen in den Hals.
Dasselbe wiederholte sich in Canterbury, in London, Cambridge, Manchester, Liverpool und Newcastle. Alles Gestaltwandler, alles Raubtiere. Und jede Familie hatte ein Kind, das zu dem jeweiligen Zeitpunkt nicht anwesend war und diese Sache überlebt hat.“
Seine Worte rasten in Danjas Gehirn, das die Informationen sofort verarbeitete. Es dauerte nicht lange und es machte „Klick.“
Familien mit einem Kind, brutal getötet. Ein Kind, das überlebte. Begonnen vor 2 Jahren, in Black Hill.
Rico.
Es fiel Danja wie Schuppen vor die Augen. Großer Gott, der Mörder von Ricos Eltern war nicht nur ein Schwein, sondern obendrein auch noch ein Serienkiller.
Danja warf einen Blick zu Janka, in der die Erkenntnis ebenfalls aufblitzte.
„Oh Gott,“ keuchte sie. Sie schlug sich die Hände vor den Mund und ihre Augen wurden groß. „Der arme Junge!“
Tay runzelte die Stirn und sah von einer Frau zur anderen. „Was ist los? Wisst ihr etwas?“
Danja schüttelte den Kopf, fassungslos obgleich ihrer Erkenntnis. „Nein, das nicht. Aber…
Der Junge, mein Sohn, Rico. Seine Eltern wurden vor 2 Jahren hier ermordet, Schusswunden an den Knien und am Hals. Das war eine Woche nach unserer Ankunft hier. Ich habe die Familie kaum gekannt, aber ich wusste wie sie hießen und natürlich wusste ich von Rico.
Deshalb habe ich ihn zu mir genommen.“
Tay sah auf und begegnete ihrem Blick. War das Überraschung oder Bewunderung in seinem Blick?
Gott, wie gerne wäre sie jetzt mit ihm alleine! Sie wollte ihn so viel fragen, aber nicht in Beisein seines Kollegen und Jankas.
„Man hat den Mörder nie gefasst, ist das richtig?“
Danja nickte. „Ja, das stimmt. Sie haben ihn gesucht, vor allem Arden Cole, der Polizeichef hier in Black Hill. Man hat ihn nie gefunden, nicht einmal Verdächtige hat es gegeben.
Er war das Phantom.
Rico hat mich oft nach ihm gefragt, aber nach einem Jahr hat er Gott sei Dank damit aufgehört.“
Janka seufzte und vergrub ihren Kopf in den Händen. „Damals, das war schrecklich. Der arme Junge hat nicht verstanden, was passiert war, aber er war klug genug gewesen um mitzubekommen, dass seine Eltern tot waren und dass es kein Unfall war.
Arden hat jemanden gesucht, der sich um den kleinen Waisen kümmern würde. Ins Heim schicken kam nicht in Frage, vor allem da das einzige, das zur Auswahl stand ein Menschenheim war.
Danja hat sich sofort in den Jungen verliebt und ihn zu sich genommen.“
Mitchell nickte anerkennend, sah dabei aber nicht Danja an, sondern Janka.
Seine blauen Augen funkelten interessiert und Danja musste sich ein Lächeln verkneifen.
„Das ist sehr bewundernswert.
Hat der Junge etwas gesehen, dass uns weiter hilft?“
Danja schüttelte den Kopf, ihre Haare flogen ihr über die Schultern und ins Gesicht. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und meinte: „Nein, ganz bestimmt nicht. Er war gar nicht im Haus, als es passiert war, sondern bei seiner Freundin Anna.“
Tay nickte und es wirkte so, als würde er etwas in seinem Hirn vermerken. Er war brillant, er musste es sein. Niemand wurde einfach so von einem normalen Agenten zu einem, der schwierige Mordfälle leitete und untersuchte. Dasselbe galt auch für seinen blonden Freund.
Die meisten Agenten saßen im Büro oder waren etwas Ähnliches wie Soldaten oder Politiker. Mordermittler gab es bei weitem nicht so viele, und die wenigen, die dazu auserkoren waren, diesen Beruf ausüben zu dürfen mussten kluge Köpfe sein mit einem scharfen Verstand.
„Na gut, dann haben wir vorerst keine weiteren Fragen mehr.
Sobald wir mehr wissen, werden wir Sie kontaktieren.“ Mitchell erhob sich und nickte ihnen freundlich zu, doch sein Blick verweilte an Janka länger als es üblich war.
„Ich habe da noch eine Frage, und ich habe Angst sie zu stellen.
Wissen Sie schon, wer die neuen Opfer sind? Ich meine… wer gestorben ist?“
Mitchell schüttelte den Kopf. „Nein, das hat man uns nicht gesagt. Ein anonymer Anruf ging in das Büro unseres Chefs ein und wir wurden hierher geschickt. Alles, was wir wussten, war dass es unser Serienkiller war.“
Danja nickte und sah dabei zu, wie die beiden Agenten zur Tür gingen und wieder in ihre ledernen Mäntel schlüpften.
Es regnete draußen noch immer und es Nacht. Hier in Black Hill gab es nur einen Ort, an dem Besucher bleiben konnten. Eine Pension, mit vielleicht 20 Zimmern. Sie war nicht gerade modern, aber es reichte. Und sie war am anderen Ende des Dorfes.
„Haben Sie vor, heute noch jemanden zu befragen?“
Mitchell schüttelte den Kopf. „Nein, dafür ist es schon zu spät. Morgen werden wir mit unseren Ermittlungen weiter machen.“
„Bleibt doch hier. Draußen ist es grässlich und die Pension kostet viel zu viel. Ihr könnt mein Zimmer haben und die Couch, ich schlafe bei meinem kleinen Jungen.“
Dass dadurch das Problem aufkam, wo Janka schlafen sollte, erwähnte sie nicht. Es war wirklich zu stürmisch draußen, um noch durch das ganze Dorf zu gehen, aber die wahren Gründe, warum Danja wollte, dass die beiden blieben, waren egoistischer Natur.
Erstens wollte Danja nicht, dass Tay schon wieder ging. Sie wollte mit ihm reden und mehr über ihn erfahren. Und dann war da noch die Sache mit den Morden. Indirekt oder nicht, es betraf auch sie, indem der Mörder die Eltern ihres Sohnes getötet hatte.
Und die beiden verschwiegen etwas vor ihr, die Frage war bloß, was.
Danja würde es herausfinden, sie hatte schließlich so lange Zeit, bis der Regen nachlassen würde und das dürfte noch eine Weile dauern.
Hinter der Sache steckte mehr, als die Agenten es ihr hatten sagen wollen und das machte ihr Angst.
Sie ahnte schon, dass es etwas mit diesem Dorf zu tun hatte, schließlich war er wieder hierher zurückgekehrt.
Und hier hatte alles angefangen.
Egal wer der Mann war, er hatte eine Verbindung zu diesem Dorf. Zu dieser Schlussfolgerung mussten auch die Agenten gekommen sein, sonst wären sie nicht persönlich hier.
„Das ist sehr freundlich, aber das können wir unmöglich annehmen.“
Doch bevor Danja dazu kommen konnte, ihm zu sagen, dass sie darauf bestand, kam ihr Janka zuvor.
Sie beugte sich über den Tisch zu Mitchell, der gesprochen hatte, hinüber und meinte: „Aber sicher! Vielleicht ist der Mörder ja noch in der Stadt und wenn er euch sehen und in dieser Nacht verschinden würde, würde ihn keiner sehen und ihr wärt umsonst hier.
Wenn ihr euch allerdings in der Öffentlichkeit zeigt, dann wird es keiner wagen überstürzt aufzubrechen und bei schönem Wetter kann er auch nicht ungesehen weg von hier. Jetzt schon.
Außerdem ist es kalt und nass und es ist mitten in der Nacht. Okay, es ist Abend, aber trotzdem.“
Mitchell lächelte Janka an und schüttelte amüsiert den Kopf.
„Also gut, dann danke ich für das Angebot. Wir bleiben.“
„Ich nehme die Couch, John, du kannst das Schlafzimmer nehmen.“
Dieser nickte und erhob sich. „Nun, da wir diese Nacht über wohl hier verbringen werden, würde ich sehr gerne eine Dusche nehmen, wenn es recht wäre.“
„Ich zeige sie dir!“ bot Janka an und sprang auf um den jungen Agenten die Treppen hoch in den ersten Stock zu führen. Auf der ersten Stufe wandte sie ihren Kopf noch einmal zu Danja um und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Die Pumadama hatte es wirklich geschickt eingefädelt, nun war Danja mit Tay alleine.
„Ich richte auch noch das Bett her und geh dann zu Rico, um uns dort noch etwas Platz zu machen.“
Dann waren sie und John weg und sie mit Tay allein.
Kapitel 3
Danja warf ihrem Gast einen nervösen Blick zu. Es war 4 Jahre her seit sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Was, wenn er eine Frau und Kinder hatte?
Sie war sich nicht sicher, ob sie das wissen wollte.
„Wie geht es dir?“
Da Danja zu feige war, das Gespräch anzufangen, hatte Tay das übernommen.
„Gut, es… geht mir gut.
Besser, seit ich Rico zu mir genommen habe. Ich werde ihn bald adoptieren.
Und dir?“
Tay lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich lebe, ich arbeite und ich jage diesen Gottverdammten Mörder. Ich tu, was ich tun muss.“
Das klang nicht gerade so, als wäre er glücklich… aber so, als lebte er nur dafür, diesen Mann zu fassen.
„Keine Freundin?“
Tay schüttelte den Kopf. „Nach Russland wollte ich eine Weile allein sein und mich nur meiner Arbeit widmen, damit ich nicht ständig an das denken musste, was nach deiner Abreise passiert ist.“
Gott… daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Nach ihrem Flug hatte sie sich nicht mehr über die Lage in Russland informiert, denn sie hatte versucht, Tay zu vergessen und diesen Ort verband sie mit ihm.
Aber jetzt, wo er es sagte… er hatte Leute sterben sehen, selbst vermutlich nur knapp überlebt und sie dummes Gör dachte nur an sich und den Kuss. Den hatte Tay bestimmt unter all dem vergessen und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln.
„Willst du mir davon erzählen?“
Tay fuhr sich durch die Haare. „Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber… vielleicht komme ich noch einmal auf dein Angebot zurück.“
„Warum ausgerechnet England? Warum… nicht USA oder Irland oder… was weiß ich, Russland oder Deutschland?“
„Man hat mich hierher beordert und ich bin den Befehlen meines Bosses nachgekommen. Sie wollten und brauchten mich hier, also bin ich hier.
Aber wieso bist du hier? Als wir uns das letzte Mal gesehen haben warst du auf dem Weg in die USA, New York, wenn ich mich richtig erinnere.
Du bist nicht dort geblieben.“
Danja schüttelte den Kopf und schenkte sich und ihrem Gesprächspartner ein Glas Mineralwasser ein.
„Nein. Ich hasste die Großstadt und Janka ging es nicht viel anderes. Wir zogen in einen kleinen Vorort, aber dort lebten ebenfalls fast ausschließlich Menschen, die uns immer misstrauisch beäugten.
Wir waren bereit wieder umzuziehen und einen Ort zu suchen, wo vielleicht mehr Gestaltwandler lebten als in New York und Umgebung, da hörten wir von Black Hill, einem Ort, in dem nur Gestaltwandler lebten. Wir wollten es uns ansehen und es hat uns sofort gefallen.
Nun, jetzt sind wir hier.“
Tay nickte nachdenklich. „Ich verstehe, was du meinst. Dieser Ort ist etwas Besonderes, solche Siedlungen sind nicht allzu weit verbreitet. Soweit ich weiß, gibt es ein paar in den USA, in Australien und Irland, aber in England, wenn man Schottland nicht dazu zählt, dort gibt es auch so ein Dorf, ist Black Hill das einzige im Land.
In Russland gibt es mehrere, soweit ich weiß.“
Danja schnaubte und strich sich die Haare zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren und ihre Nase gekitzelt hatten.
„Ich werde nie wieder zurück nach Russland gehen. Und ich nehme an, du auch nicht.“
Tay stimmte ihr mit dem Neigen seines Kopfes zu. Kurz blitzte etwas in seinen unglaublich blauen Augen auf, ein gehetzter Ausdruck, den Danja nicht ganz zuordnen konnte, doch er war fast so schnell wieder verschwunden wie er gekommen war.
„Was machst du beruflich? Ich meine, du wolltest immer etwas mit Kindern machen. Ist daraus etwas geworden?“
Er wechselte das Thema, aber das Thema Russland schien ihm schwer auf der Seele zu lasten, deswegen ging sie darauf ein, auch wenn sie gerne gewusst hätte, was damals vorgefallen war. Was auch immer es war, es musste traumatisierend gewesen sein.
„Nun, ja, ich arbeite mit Kindern. Mit Raubtiergestaltwandlerkindern im Alter von 3 bis 5. So eine Art Kindergarten, den ich betreue, da auch ich ein Raubtier bin.“
„Es klingt, als liebtest du deinen Job. Das ist gut.“
„Ja, das ist es.“ Stimmte sie ihm zu. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, füllte ihre Arbeit sie aus und half ihr, sich ein Stückchen glücklicher zu fühlen.
Schweigen breitete sich aus, das Danja nicht zu brechen wusste. Über was sollte sie reden? Nach seinem Job fragen würde sie ihn sicher nicht, das würde nur das vorherige Thema wieder aufwärmen und Tay redete sicher nicht so gern über das, was er tat, was er tun musste. Wozu die Menschen ihn zwangen zu tun.
Kurze Zeit einmal hatte sie die Menschen gehasst, sie für eine abscheuliche Gattung gehalten, aber mittlerweile war ihr klar, dass sie sie nicht alle in einen Topf werfen konnte, dass nicht alle gleich waren.
Nach einer Weile räusperte Tay sich und legte seine Arme auf den Tisch.
„Janka hat sich offenbar gut erholt. Lebt ihr zusammen hier?“
Danja lächelte, erleichtert, dass das unangenehme Schweigen gebrochen war. „Ja, ihr ist es schnell wieder gut gegangen. Aber sie war schon immer eine Frohnatur, der nicht viel etwas anhaben kann. Und wenn, dann steht sie immer wieder auf. Das habe ich schon immer an ihr bewundert.
Und zu deiner zweiten Frage: Nein, sie lebt nicht hier. Na ja, sie hatte da diesen Freund, Marcus, bei dem sie eingezogen ist, aber da das jetzt offenbar vorbei ist, könnte es sein dass ich demnächst wieder eine Mitbewohnerin habe.“
„Du und dieser Mitchell, seid ihr Freunde oder nur Kollegen?“
Gott, warum fragte sie so etwas? Davon abgesehen dass sie das nicht zu interessieren hatte und sie die Frage nur gestellt hatte, weil sie nicht wollte, dass sie sich wieder anschwiegen, war es doch lächerlich, so etwas zu fragen. Absolut peinlich.
„Ja, John und ich arbeiten schon eine Weile zusammen. Ich würde sogar sagen, dass er mein bester Freund ist.“
Danja seufzte. Es war doch offensichtlich, dass die um ein Thema die ganze Zeit herumredeten. Keiner traute es sich anzusprechen, aber beide dachten daran.
„Okay, ich spreche es jetzt einfach aus: Ich hatte nach unserem Kuss von damals keine ernsthafte Beziehung und ich habe es nicht vergessen. Wie könnte ich?“
Tay musterte sich lange, sein intensiver Blick jagte ihr wohlige Schauder über den Rücken. Nur zu gut konnte Danja sich an die letzten Momente vor ihrer Abreise erinnern. Jedes Detail war ihr im Gedächtnis haften geblieben. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, erinnerte sie sich, wenn sie am Tisch saß und Kaffee trank, erinnerte sie sich.
Und auch jetzt, wo er ihr gegenübersaß erinnerte sie sich.
Ob er es auch tat?
„Ich habe mich oft gefragt, o du es noch weißt,“ gestand er nach einigen Augenblicken. Er wandte seinen Blick nicht eine Sekunde von ihr ab. „Ich habe von dir geträumt. Als mir sonst nichts geholfen hat, habe ich mir diesen Augenblick ins Gedächtnis gerufen.“
„Ich habe oft an dich gedacht, und wie es dir geht. Ich bin froh, dich zu sehen.“
Tay lächelte sie an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Weißt du eigentlich wie groß der Zufall und wie gering die Wahrscheinlichkeit war, dich hier zu treffen? Dass es deine Tür war, an die wir geklopft haben?“
„Glaubst du, es war Schicksal?“
Tay zuckte lässig mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Vielleicht. Was auch immer der Grund dafür sein mag, ich bin froh darüber. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.“
„Das ging mir genauso.“
Danja bereitete das Sofa und bezog frische Bettwäsche für Tay, als Janka wieder hinunter kam. „Ich habe deinem Gast, Mitchell, gleich das Zimmer gezeigt und das Bett gemacht. Danach habe ich eine Matratze für mich in Ricos Zimmer gelegt, wenn dir das recht ist.“
Danja nickte, dasselbe hätte sie auch gemacht. Sie selbst würde im Bett Ricos schlafen, sie hatte keine zusätzliche Matratze mehr parat, also musste das schmale Bett ihres Sohnes auch reichen.
„Danke, Janka, aber das war doch nicht nötig.“
Ihre beste Freundin winkte mit einer Handbewegung ab. „Ach, keine Ursache. Du lässt mich hier schlafen, da ist das nur fair. Außerdem war ich gerade oben, und wenn ich schon einmal ehrlich bin, wollte ich euch ein bisschen Zeit alleine lassen.“
Tay ignorierte Janka und wandte sich wieder Danja zu. „Ich danke dir, dass wir die Nacht über hier bleiben dürfen, das ist nicht selbstverständlich. Als Gegenleistung werde ich dich und deine Freundin über die Ermittlungen am Laufenden halten.“
Das war ja schon einmal was, aber dennoch war sie nicht ganz zufrieden damit. Sie wollte nicht nur auf dem Laufenden gehalten werden, das war ihr zu wenig. Dieser Mistkerl von Mörder hatte ihrem kleinen, süßen und völlig unschuldigen Jungen weh getan und seine Eltern ermordet. Auch wenn sie die beiden nicht näher gekannt hatte, so war sie es doch Rico zumindest schuldig, dass sie bei der Ergreifung des Täters half. Sie wollte nicht nichts tun, während andere die Sache erledigten. Das konnte sie nicht.
„Danke für das Angebot, aber ich würde euch gerne helfen. Ich kenne die Leute aus dem Dorf persönlich, und zwar jeden einzelnen. Ihre Kinder sind in meiner Kindergartengruppe und bei ihnen gehe ich einkaufen.
Ihr werdet jemanden brauchen, der die Leute und die Gegend hier kennt, denn so schnell öffnen die Bewohner sich Fremden gegenüber sich nicht. Schon gar nicht, wenn diejenigen Agenten sind.“
So, über dieses Argument musste er nachdenken, denn was sie sagte entsprach der Wahrheit. Sicher kamen er und sein Freund auch alleine zurecht, aber warum es sich schwerer machen als nötig?
„Das mag ja sein, aber du musst bedenken, dass du nicht voreingenommen bist, gerade weil du diese Leute alle kennst und zum Teil auch ins Herz geschlossen hast. Die Ermittlung muss objektiv sein, du aber könntest das nicht sein, du wärst subjektiv. Was, wenn der Mörder jemand ist, den du kennst?“
Gut, da hatte er recht. Es tat weh, darüber nachzudenken, dass es jemand sein könnte, den sie mochte und kannte. Jemand, der eine Familie und Kinder hatte. Aber darüber war sie sich durchaus im Klaren, auch vor seinen Worten schon. Sie wusste, dass es für sie nicht einfach werden würde, aber sie würde sich bemühen, Tay zu helfen ohne ihm Steine in den Weg zu legen.
„Da hast du vielleicht recht, aber damals, vor 4 Jahren in Russland, da haben wir nur überlebt, weil wir uns gegenseitig vertraut haben. Wir haben uns gemeinsam durch den Wald gekämpft und wir haben überlebt.
Weil wir ein Team waren.
Am Anfang wolltest du nicht gehen, was auch völlig verständlich gewesen wäre. Ja, es wäre sogar nicht anders zu verlangen gewesen, du hast deine Karriere aufs Spiel gesetzt um mir zu helfen. Du bist trotzdem mit mir gegangen und jetzt gehe ich mit dir.
Dich nimmt der Fall sehr mit, das sehe ich. Meinen Rico hat das Schwein die Eltern genommen. Ich werde dir helfen und bevor zu mir wiedersprichst, ich sage dir gleich, dass ich kein Nein akzeptieren werde.“
Okay, das war vielleicht eine lange Rede gewesen und sie hatte möglicherweise zu viel von ihren Gefühlen preisgegeben, aber sie war fest entschlossen Tay zu helfen, auch wenn einer der Gründe, warum sie ihm helfen wollte der war, dass sie in seiner Nähe sein wollte.
Tay seufzte schwer. Sein Blick wanderte zwischen Danja und Janka hin und her, als hoffte er darauf, dass einer der beiden die Worte als Scherz abtun würden. Doch das geschah nicht.
Also fuhr er sich ergeben durch die Haare, die danach strubbelig nach allen Seiten wegstanden, sodass sie zum Durchfahren mit den Händen einluden.
Danja liebte sein Haar einfach.
„Ich nehme an, Janka will nicht ganz unbeteiligt bleiben?“
Janka schüttelte entschlossen den Kopf und entlockte dem großgewachsenen Agenten somit erneut einen ergebenen Seufzer.
„Also gut. Aber vorher muss ich noch mit John reden.
Morgen“ fügte er hinzu, als er Jankas erwartungsvollen Blick sah.
„Also gut, komm, lass uns schlafen gehen. Morgen wird noch aufregend genug.“
Damit hatte Janka vermutlich recht. Sie würde mit Tay mitgehen, wenn er die Leute verhörte. Sie wollte sehen und miterleben, wie er seine Arbeit machte, auch wenn sie fest davon überzeugt war, dass gut war, was er tat. Sie mochte ihn sozusagen in Aktion erleben, den Cop unter der Oberfläche sehen, erfahren, wie er war, wie er geworden war.
Damals war er gerade dem Jungenalter entwachsen gewesen, jetzt war er 23 und 4 Jahre älter, hatte mehr Erfahrung und vermutlich mehr schlimme Dinge gesehen, als sie sich vorstellen konnte.
Danja wollte, nein musste, wissen, wer dieser Mann nun war. Und ob sie immer noch in ihn verliebt war, wie damals.
Sie hatte nicht einmal Janka erzählt, dass er Abschied ihr schier das Herz gebrochen hatte. Schließlich hatte sie ihn kaum einen Tag gekannt. Doch das, was sie miteinander erlebt hatten, machte diese Tatsache wieder wett.
„Na dann… schlaf gut.“
„Ja, du auch.“
Danja folgte Janka die Treppen hoch. Das Licht am Gang brannte noch, aber die Tür zu ihrem Schlafzimmer war zu und unter dem Schlitz der Türe drang kein Licht hervor, was wohl bedeutete, dass der zweite Gast sich bereits schlafen gelegt hatte.
„Er ist heiß.“
„Wer? Tay?“
Janka warf den Kopf zurück und lachte leise, ihre Augen funkelten amüsiert.
„Du müsstest dich einmal hören, wie besitzergreifend du klingst.
Nein, ihn habe ich nicht gemeint, obwohl auch er nicht schlecht aussieht.
Dieser Johnatan Mitchell.“
Danja spürte, wie die Röte ihr ins Gesicht stieg, doch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Tut mir leid, aber wenn es um ihn geht, war ich schon immer etwas empfindlich.
Ich stimmte dir zu, Mitchell sieht wirklich nicht schlecht aus, mit deinen Worten heiß.
Na komm, lass uns schlafen. Über Männer können wir uns morgen immer noch unterhalten.
Aber lass mich dich noch einmal daran erinnern, dass du gestern erst mit Marcus Schluss gemacht hast.“
Janka winkte ab und schloss die Tür zu Ricos Zimmer hinter sich.
Der kleine Junge schlief schon zusammengerollt in seiner Löwengestalt auf seinem Bett mit der Spidermanbettwäsche, und wirkte dabei so friedlich, dass es Danja das Herz zerfloss. Er sah so süß und unschuldig aus. Wer konnte so einem Geschöpf nur so ein Leid zufügen und seine ganze Familie auslöschen? Sie würde es wohl nie verstehen können.
Sie musste aufpassen, dass sie sich nicht selber strafbar machte, wenn sie den Täter identifiziert hatten und den Mistkerl eigenhändig umbrachte.
Danja schüttelte den Kopf und schlüpfte aus ihren Sachen, um sich dann eine bequeme Jogginghose in taubengrau überzuziehen und ein roafarbenes Tanktop.
„Hier,“ flüsterte sie und warf Janka Sachen von sich zu, die sie tragen konnte, es war praktisch, dass die beiden die gleichen Größen hatten.
Danja erinnerte sich, dass sie immer Kleider getauscht hatten, wenn sie nichts passendes für ein Date gehabt hatten.
Das war noch in Russland gewesen, aber seitdem hatte sich nicht allzu viel geändert, nur dass sie nicht mehr allzu viele Dates hatten und sich selten mit Männern trafen.
Marcus war Jankas erste feste Beziehung gewesen seit sie ihr Zuhause verlassen hatten.
„Schlaf gut, Süße.“
„Ja, du auch.“
Kapitel 4
Tay starrte an die Decke, einen Arm unter den Kopf gelegt, den anderen auf seine Brust. Dieses Wiedersehen heute… das war das Letzte, was er erwartet hatte.
Gott, wie oft hatte er in den vergangenen Jahren von ihr geträumt? Es war lächerlich und er wusste das auch. Immerhin hatten sie sich nicht lange gekannt, dennoch war der Kuss der einzige gewesen, den er so tief in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte.
Er seufzte und wischte sich über das Gesicht.
Er war ein verdammter Idiot. Sollte er sich nicht lieber auf seinen Fall konzentrieren? Es ging um alles, wenn der Mörder ihm diesmal entkam… es könnte Jahre dauern, bis sie seine Spur wiederfanden und bis dahin könnte er noch so viele weitere Opfer gefordert haben.
Dies hier war ihre Chance, seine und die Johns. Das war die Heimat des Schweinehundes und hier würde er sich sicher fühlen, leitsinnig werden oder unachtsam. Es war die beste Gelegenheit, die sie bekommen würden, das spürte Tay. Er durfte sie sich nicht entgehen lassen, nein, er musste sie sich zu Nutze machen. Die Tatsache, dass Danja hier war erleichterte die Sache nicht gerade, aber er würde damit klar kommen müssen. Auch damit, dass sie an den Ermittlungen beteiligt sein würde, aber vielleicht war das gar nicht so schlimm, wie er anfangs gedacht hatte. Nein, vielleicht verschaffte es ihnen sogar einen gewissen Vorteil.
Die Leute vertrauten ihr wahrscheinlich und sie würden sich ihr gegenüber vielleicht mehr öffnen als ihm und John gegenüber.
Aber, natürlich, er konnte sich auch irren. Das allerdings würde er noch bald genug herausfinden.
Es war ein Wunder, dass er Danja ausgerechnet jetzt ausgerechnet hier wieder getroffen hatte. Sie hatte sich in den letzten Jahren nicht besonders viel geändert, weder war sie gewachsen, noch hatte sie zugenommen. Ihre Gestalt war nach wie vor schlank und ihr Gesicht schön und jung.
Tay stieß die angehaltene Luft aus.
Okay, er hatte genug über diese Frau nachgedacht, die ein so großes Herz hatte und diesen absolut niedlichen Jungen bei sich aufgenommen hatte. Er musste sich überlegen, wie er vorgehen wollte.
Der Killer war hier, dessen war er sich sicher. Und er hatte erneut zugeschlagen. Am nächsten Morgen würde er mit John, und wie es aussah auch mit den beiden Frauen, den Tatort aufsuchen. Er musste zuallererst herausfinden, wer die Opfer waren. Vielleicht hatte er diesmal Spuren hinterlassen, einen Fehler begangen.
Wenn der Mörder hier lebte, dürfte es nicht allzu schwierig sein die Verdächtigen einzugrenzen. Nicht alle Männer waren zu den jeweiligen Morden außerhalb des Dorfes gewesen, manche mochten Alibis haben, andere waren aus anderen Gründen auszuschließen. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass der Mörder eine Frau war, was das Ganze noch weiter eingrenzte.
Es gab nicht allzu viele Bewohner in diesem Dorf. Wenn alles gut ging würde der Täter bald hinter Gittern sitzen oder tot sein.
Er hatte gesehen, was dieses Monster den Leuten antat, hatte die Leichen gesehen und das Leid in ihren toten Gesichtern.
Nie wieder hatte er sich damals in Russland geschworen. Nie wieder würde er hilflos mitansehen, wie Leute, unschuldige Leute starben, nur weil es einem einzelnen kranken Individuum Spaß machte. Oder einer ganzen Armee.
Zuallererst würde er mit dem Inspector des Dorfes reden, dann mit dem Bürgermeister. Beide schloss er nicht im Vorhinein aus, das wäre leichtsinnig und dumm. Auch Männer in hohen Positionen waren fähig einen Mord zu begehen, er würde nicht den Fehler machen und sich von ihrer Position einschüchtern lassen.
Was die restlichen Befragungen betraf, so würde er sich an Danja und Janka halten, sie würden wissen wer am ehesten etwas gesehen hatte und er die Gerüchte zusammentrug. Vielleicht hatte ja jemand etwas gesehen oder mitbekommen.
Stöhnend wälzte sich Tay auf dem Sofa herum. Nicht dass es nicht bequem war, nein, das war es durchaus. Es war auch warm und gemütlich in dem Raum und er war müde.
Dennoch war er unruhig. Das war immer so, wenn er dem Mörder dicht auf den Fersen war. Oft konnte er wochenlang nicht richtig schlafen. Er wusste nicht, woran es lag und es war ihm grundsätzlich eigentlich auch vollkommen egal. Es war so und er wusste, dass es nicht mehr so sein würde, säße der Kerl einmal hinter Gittern und vorm Gericht.
Aber genauso wusste er auch, dass es danach einen anderen Fall geben würde, der ihm den Schlaf rauben würde. So würde es immer sein.
Vielleicht war er für diesen Job einfach nicht gemacht, aber die Menschen hatten ihm keine Wahl gelassen.
Tay spürte die Müdigkeit, die ihn niederdrückte und so schwer auf ihm lastete wie ein Stein.
Irgendwann schlief er dann ein.
Danja beobachtete Tay beim Schlafen. So sah er viel jünger aus, ohne die Schatten in seinen Augen. So erinnerte er sie noch mehr an den Jungen von damals. Es zuckte sie in den Fingern durch seine Haare zu streichen, aber so nah sie sich auch gewesen waren, das war nun eine Weile her.
Als sie nach dem Aufwachen am Morgen heruntergekommen war, um das Frühstück zu richten, hatte sie ihn auf der Couch liegen sehen. Die Decke war ihm bis auf die Hüften gerutscht und offenbarte einen muskulösen Oberkörper. Er hatte einen ausgeprägten Sixpack, was auf ein ausgedehntes Training hindeutete, trotzdem wirkte sein Körper eher ausdauernd als wuchtig und kräftig, wobei er sicherlich nicht schwach war.
Als Danja registrierte, dass sie Tay anstarrte wie ein Teenager wandte sie sich mit roten Wangen ab und ging zu der Küchentheke.
Rasch durchsuchte sie die Küchenschränke auf der Suche nach etwas Essbarem. Nach drei Tagen des Regens musste sie wirklich unbedingt wieder einkaufen gehen. Das hatte sie ohnehin vor gehabt, doch jetzt war es unvermeidlich.
Schließlich fand sie im Kühlschrank noch ein bisschen Wurst und Käse, aber die Milch würde nicht mehr für alle reichen. Dann mussten sie sich mit Wasser begnügen, die Milch würde Rico und vielleicht die beiden Männer bekommen. Janka würde das sicher nicht allzu sehr stören.
Mitchell war der erste, der wach wurde. Er kam die Treppen beinahe hinuntergeschlichen, ein Mensch hätte sein Kommen nicht gehört, aber Danjas Gehör war sehr ausgeprägt.
„Guten Morgen, Mr. Mitchell. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“
Agent Mitchell nickte und lehnte sich mit seiner Hüfte gegen die Theke. „Sehr gut, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir das Bett überlassen haben. Das ist sehr großzügig.
Ich denke, es wäre angebracht wenn Sie mich John nennen. Schließlich haben Sie mir ein Dach über dem Kopf gegeben anstatt mich durch das Dorf laufen zu lassen bei dem Regen. Außerdem scheinen Sie Tay sehr gut zu kennen und er Sie auch.“
Danja erwiderte Johns Lächeln und schüttelte die Hand, die er ihr reichte.
„Dann nennen Sie mich Danja, bitte.“
„Sie machen Frühstück?“ John sah sich in der Küche um und entdeckte den eher armseligen Bestand an Nahrung, den sie hervorgekramt hatte.
„Nun, vielleicht sollten wir im Dorf etwas essen. Ich lade Sie ein.“
„Das klingt nach einer guten Lösung. Vielen Dank.“
„Keine Ursache. Tay scheint Sie sehr gerne zu haben, Sie scheinen ihm etwas zu bedeuten. Er hat für gewöhnlich eine gute Menschenkenntnis, und wenn er Sie mag, werde ich es wohl auch tun.“
Danja spürte, wie seine zarte Röte ihr Gesicht überzog und sie wandte sich ab. Tay hatte mit ihm über sie gesprochen? Warum freute sie sich so darüber?
Janka kam in die Küche getanzt, Rico ging hinter ihr her.
„Guten Morgen Mami, guten Morgen Sir,“
Danja strahlte ihren Sohn voller Stolz an. Er hatte die besten Manieren, die man sich nur wünschen konnte.
„Hallo mein Schatz.“ murmelte sie und umarmte Rico zärtlich.
„Janka, John meint, wie sollen ins Dorf essen gehen. Ich muss ihm zustimmen, wir haben nicht viel zu Hause und wir sind mehr Leute, als ich gewohnt bin.“
„Das klingt gut, ja, machen wir das.“
„Morgen die Damen, Junge. Hey, John.“
Tay stapfte in die Küche, mit nichts weiter bekleidet als seiner Anzughose. Danja musste sich zusammenzureißen, um nicht rot anzulaufen und ihn anzustarren.
„Wir gehen in die Stadt,“ verkündete Rico und strahlte über das ganze Gesicht. Er liebte es, auswärts zu essen, deshalb ging Danja öfters mit ihm in das Cafe´.
Tay nickte und fuhr sich durch das ohnehin schon wild abstehende Haar. Langsam wurde es eng in der Küche, so groß war sie nun wirklich nicht.
„Ich bin gleich fertig.“ Meinte er und drehte sich um um zurück in das Wohnzimmer zu gehen und sich fertig anzuziehen.
Die anderen waren bereits fertig und warteten an der Haustüre. Danja zog Rico seine dicke Regenjacke an, da es immer noch nieselte und der Regen ja wieder stärker werden konnte.
Als Tay zu ihnen stieß, nur wenige Minuten später, traten sie aus dem Haus.
Die Luft roch nach Regen und der Boden war völlig nass und schlammig, riesige Pfützen säumten die Wiese und die Straße.
„Das war das schlimmste Unwetter seit Jahren,“ meinte Janka und hob Rico auf die Arme, damit er nicht auf die Idee kam er müsse durch die Pfützen hüpfen und sich und andere dabei nass machen.
Sie warf Danja einen Blick zu und zog John mit sich, als sie voranging und Tay und Danja hinter sich ließ, um ihnen ein wenig Zeit zu gönnen.
„Hast du gut geschlafen?“
Tay lächelte sie an – oh Gott, dieses Lächeln – und nickte. „Ja, als ich dann endlich eingeschlafen bin schon.“
„Du konntest nicht einschlafen? War die Couch zu hart? Oder war es im Raum zu kalt?“
Tay schüttelte den Kopf und winkte ab. „Nein und nein. Ich war nur zu tief in Gedanken.“
„Über was hast du nachgedacht?“
„Verschiedene Dinge. Über den Mord und den Fall im generellen.“ Er warf ihr einen bedeutungsschweren Blick zu. „Über dich.“
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2010
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