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Leseprobe

Head over Heels

Kein Cop für eine Nacht

Dana Summer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

 

So hatte sie sich ihren Start in Korit Valley nicht vorgestellt.

Ruby kniff die Augen zusammen, zog den Kopf ein und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein. Bei ihrer Aufmachung wäre allerdings selbst Harry Potters Tarnumhang überfordert.

Sie sah es bereits vor sich. Sobald sie die verflixte Turnhalle betrat, würden die ersten Blicke zu ihr schweifen und sich fassungslos an ihr festtackern. Einsetzendes Schweigen, Stöße in die Rippen und geflüsterte ›Guck dir das an‹ animierten dann auch die restlichen Gäste zum Hinsehen. Ihr zartrosafarbener Look würde alle zum Grinsen bringen, bis sich dieses Feixen zu einem lautstarken Lachen hinter vorgehaltener Hand entwickelte. Was Ruby ihnen nicht einmal übel nehmen könnte. Stünde sie auf der anderen Seite, würde sie vermutlich genau dasselbe tun.

Aber da stand sie nicht. Sie musste sich in dem Saal zum Affen machen. Was tat man nicht alles, um das fette rote Minus auf dem Bankkonto einzudämmen? Exakt. Alles. Na ja, zumindest fast. Nur gut, dass sie hier niemand kannte. Die einzigen Personen, die sie bisher in Korit Valley zu Gesicht bekommen hatte, waren ihre Cousine Lyra und deren Mutter Violet. Und genau wegen Ersterer steckte sie nun, kaum als neuer Bewohner in der Kleinstadt eingetroffen, in diesem abscheulichen Kostüm. Dabei hatte sie noch nicht einmal ihren Koffer ausgepackt.

Warum hatte Ruby auch nicht Nein gesagt? Was war an diesen vier Buchstaben so schwer auszusprechen? N. E. I. N. Nichts, oder?

Anstatt Lyras Bitte abzuschlagen, hatte Rubys Helfersyndrom einfach das Reden übernommen und zugestimmt. Das hatte sie jetzt davon. Sie steckte in diesem Ding, konnte sich kaum bewegen, geschweige denn, in dem engen Wulst aus Schaumstoff vernünftig atmen. Lediglich ihr Gesicht war frei. Ein paar vorwitzige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr nun ins Gesicht.

Watschelnd trat Ruby von den Spinden weg und versuchte, die Tür der Umkleidekabine zu erreichen. Dabei stolperte sie beinahe über ihre eigenen Beine, weil die zwei Kugeln, die direkt vor ihren Füßen hin- und herbaumelten, jeden Schritt erschwerten. Zu dem ohnehin schon superpeinlichen Outfit fehlte nur noch, dass sie sich auf die Nase legte. Mit Mühe und Not schaffte sie es zur Tür und öffnete diese, so gut es ihr sperriges Kostüm zuließ. Was für eine Herausforderung. Mühsam schob sie sich auf den Flur. Weil Ruby nicht schnell genug weiterging, versetzte ihr die selbstschließende Tür einen Stoß, ehe sie ins Schloss fiel.

Sie schwitzte, und ihr schwarzes Tanktop, das sie darunter trug, klebte unangenehm auf ihrer Haut.

»Du musst nur ein wenig im Saal auf- und abgehen«, hatte Lyra gesagt, als sie in deren Cabrio zu der Veranstaltung gefahren waren. Was sich vor knapp zwanzig Minuten angehört hatte wie ein Kinderspiel, entwickelte sich jetzt zur einem der beschämendsten Augenblicke ihres bisherigen Lebens. Vielleicht sollte sie kneifen. Sie könnte sich einfach umdrehen und gehen. Aber das brachte Ruby nicht übers Herz. Sie wusste, wie bedeutsam dieses Ereignis für ihre Cousine war. Wie viele Stunden sie mit der Planung zugebracht hatte. Umso ärgerlicher, dass ausgerechnet an diesem Tag einer der wichtigsten Akteure – der eigentliche Kostümträger – ausfiel. Würde Ruby nicht einspringen, wäre es eine Katastrophe.

Im Schneckentempo wackelte sie den langen Gang entlang. Ihre Sneaker quietschten auf dem grünen Linoleumboden. Sonst war nichts zu hören.

»Da steckst du ja.« Mit hochrotem Gesicht kam Lyra in ihrem schwarzen, engtaillierten Hosenanzug auf sie zugeeilt. »Es sind schon paar Besucher da und …« Ihre Cousine brach ab, und ein verkniffenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, was in keiner Weise zu Rubys Laune beitrug.

»Lach ruhig. Wenn ich gewusst hätte, dass du mich in das da«, Ruby machte eine nickende Bewegung an sich hinab, »steckst, hätte ich dir nicht aus der Patsche geholfen. Egal, wie viel Geld du mir angeboten hättest.«

Lyra konnte sich noch so sehr zusammenreißen, sie schaffte es nicht, nicht loszuprusten. »Sorry, ich … wusste nicht … Shit, das ist echt witzig.«

Kurzzeitig überlegte Ruby sich ernsthaft, sich auf Lyra zu stürzen und sie zu erwürgen. Nur bekam sie leider ihre Arme nicht nach vorn!

»Warte nur, bis ich aus diesem Teil rauskomme!«

Lyra wischte sich die Lachtränen aus den Augen und fächerte sich Luft zu. »Sorry. Du hast ja recht. Ich meine …« Erneut kicherte sie los. »Den Penisneid der Frauen lebst du heute in vollen Zügen aus. Man kriegt nicht alle Tage einen Penis dieser Größe zu Gesicht. Damit gewinnst du jeden Schwanzvergleich. Der Anblick ist –«

»Hahaha. Sehr witzig«, unterbrach Ruby sie. »Vergiss nicht, dass ich mich immer noch umdrehen und gehen kann.«

Schlagartig sah Lyra sie ernst an. »Bitte tu das nicht. Ich brauche das Kondom und den Penis. Was wäre eine Anti-Aids-Kampagne ohne diese zwei Dinge?«

»Mir völlig egal. Ich mach das hier nur dir zuliebe«, gab Ruby beleidigt zurück, »und als Dank muss ich mich von allen Leuten da drinnen auslachen lassen. Wenigstens du könntest fair sein und mich aufmuntern.«

Rubys Worte zeigten Wirkung.

»Du hast völlig recht. Entschuldige, Süße.« Lyra straffte ihre Schultern und strich ihre Handflächen an ihrem schwarzen Hosenanzug ab. »Ich schulde dir etwas, und damit meine ich nicht nur das Geld. Hör zu, wenn diese Veranstaltung zu Ende ist, lade ich dich ins Blues ein. Dort können wir was essen, ein Bier trinken und ein wenig Spaß haben. Okay?«

»Mal sehen, ob ich mich nach diesem Auftritt überhaupt noch in die Öffentlichkeit traue«, murrte Ruby und pustete sich eine ihrer hellblonden Locken aus dem Gesicht.

»Ach was«, Lyra winkte ab, »keiner wird dich in dem Kostüm erkennen. Die Kids da drinnen sind so damit beschäftigt, sich mit kostenlosen Kondomen einzudecken, da werden sie nicht sonderlich auf dich achten.«

»Die Kids vielleicht nicht, aber was ist mit deren Eltern und …«

»Mach dir keinen Kopf. In zwei Stunden hast du es überstanden, und jetzt komm mit, Elvis ist schon On Tour.«

»Wer ist Elvis?« Ruby hatte Mühe, Lyra zu folgen, die den Gang entlangmarschierte.

»Dein Gegenpart. Der Gummi.«

»Ah ja.« Der Geruch von Schweiß und Gummimatten hing in der Luft und weckte alte Erinnerungen an ihre Highschool-Zeit. Ruby stieß ein gequältes Lachen aus, als sie daran dachte, wie sie sich damals, mit knapp fünfzehn ausgemalt hatte, wo sie in zehn Jahren stehen würde. Naiv genug zu denken, mit Fleiß könnte man alles erreichen. Doch der Wille und gute Noten hatten nicht ausgereicht. Nein, man brauchte schon das nötige Kleingeld, um sich ein College leisten zu können. Davon hatte Ruby leider in ihrem ganzen Leben nie genügend besessen. Egal, wie hart sie gearbeitet, wie sparsam sie gelebt hatte, es hatte nie gereicht. Jetzt, zehn Jahre später, war von dem Traum, Fotografin zu werden, nichts mehr übrig. Die Wirklichkeit hatte sie gleich nach dem Highschool-Abschluss mit voller Wucht auf den Boden der Tatsachen aufprallen lassen. Eine Realität, die sich fortan wie ein Faden durch ihr Leben zog.

Lyra war bereits bei der Doppelflügeltür angekommen, legte ihre Hände auf den Griff und drehte sich zu ihr um. »Bereit?«

»Hilft es, wenn ich Nein sage?«

Lyra schüttelte den Kopf, und schon wieder zuckten ihre Mundwinkel. Das sah nicht nach Anteilnahme aus. Oder Gnade.

»Dann habe ich ja kaum eine Wahl.« Ruby kam keuchend neben ihr zum Stehen.

»Los gehts.« Schwungvoll riss Lyra die Türen auf. »Und ein kleiner Tipp: Du solltest beim Gehen nicht so arg den Kopf bewegen.«

»Warum?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Ruby auf die Menschenmenge im Saal. Das sollten ›ein paar‹ Besucher sein? Es waren bestimmt mindestens hundert Leute.

»Nun ja«, jetzt konnte Lyra das Schmunzeln nicht länger unterdrücken, »es wackelt da oben«, sie deutete über Rubys Kopf, »wackelt schon ziemlich stark.«

Na Bravo. Jetzt war sie nicht nur ein wandelnder Penis, nein, sie war ein unkontrolliert zuckender Penis!

»Ich bring dich um. Ernsthaft!«, zischte Ruby und versuchte eine Schweißperle auf ihrer Stirn an dem Stoff abzuwischen. Vergeblich.

»Ich liebe dich auch, Süße.« Mit diesen Worten trat Lyra hinter sie und schob sie sanft, aber bestimmt in den Saal.

Kaum, dass ihre Füße die Schwelle überschritten hatte, merkte sie, wie sie die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich lenkte. Es passierte genau das, was sie vorausgesagt hatte: Die Gesichter der Gäste erhellten sich, Mundwinkel wurden nach oben gezogen.

Wie lange bekommt man für Mord?, fragte sie sich, während sie erneut von hinten angeschoben wurde. Wenn es unter Totschlag lief, zwanzig Jahre, oder?

»Da vorne ist Elvis.« Lyra, die nun neben ihr war, deutete auf eine Person, die ein grellpinkes Regencape mit einer Noppe als Kappe trug. Es sah tatsächlich wie ein Kondom aus. Ohne Zweifel. Ruby wäre tausendmal lieber der Gummi.

»Warum darf er das da tragen, und mich steckst du hier rein?« Vorwurfsvoll drehte sie sich zu ihrer Cousine um.

»Nun ja.« Ruby wusste sofort, dass die Antwort ihr nicht gefallen würde. »Elvis hat sich geweigert und … Schau mich nicht so an!«

»Wie schau ich denn? Vielleicht wie jemand, der sich gleich auf dich stürzen will?«

Lyra nickte. Doch nun, da sie mitten in der Veranstaltung waren, die sie organisiert hatte, zeigte sie sich hochprofessionell. Von Reue war nichts mehr zu erkennen. »Du machst das schon. Lächle einfach und misch dich unter die Besucher.« So wie sie das sagte, klang es idiotensicher. »Ich werde Elvis mal fragen, ob ihr vielleicht nach der Hälfte des Events die Kostüme tauschen könnt. Und dann am Schluss wartet auf uns«, sie zwinkerte ihr zu, »vor allem für uns Damen eine kleine Überraschung da draußen.«

Noch ehe Ruby etwas erwidern konnte, eilte ihre Cousine in ihren hohen Pumps davon.

Für ein paar Sekunden, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit, blieb sie einfach nur stehen. Sie wollte aus diesem Albtraum erwachen. Erst als ein pickliger Teenager vor ihr anhielt und meinte: »Endlich auch mal was Vernünftiges zwischen den Beinen, was?«, erwachte sie aus ihrer Trance.

Die Kids um sie herum lachten. Ein Kumpel des Möchtegern-Machos klopfte ihm auf die Schulter und grölte: »Der war gut.«

Geh einfach weiter!, befahl sie sich und trippelte von dannen. Das laute Gelächter der Jugendlichen folgte ihr. Selbst am anderen Ende des Raumes bildete sie sich noch ein, es hören zu können.

Ruby drehte sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. Verdammt. Der Besucherstrom nahm zu. Sie hatte eben schon gut zehn Minuten gebraucht, um den Saal zu durchqueren. Dabei hatte sie den einen oder anderen Besucher mit dem Stoffgeschwulst angerempelt. Die Vorstellung, weitergehen und sich erneut zwischen den Ständen durchquetschen zu müssen, ließ ihre Laune noch mehr in den Keller sinken. Wo zum Henker steckte Elvis? Und Lyra?

Die unerträgliche Hitze unter dem Kostüm führte dazu, dass ihr Top unangenehm auf der Haut klebte. Ebenso ihre Jeans, die sich anfühlte, als hätte sie vor lauter Aufregung hineingepinkelt.

Vielleicht sollte sie einfach stehen bleiben und warten, bis es vorbei war.

 

Jared Turner blinzelte gegen die grelle Sonne an, als er die Wagentür seines Einsatzfahrzeuges öffnete. Keine Wolke bedeckte den strahlend blauen Himmel, und selbst für Anfang April war es angenehm warm. Hoch oben in den Rocky Mountains überzog eine glitzernde, weiße Pracht die Bergspitzen. Er wäre jetzt liebend gern mit seinem Motorrad in den grünen Wäldern. Aber nein. Warum musste ausgerechnet er heute Dienst haben und nicht einer seiner Brüder? Einen Moment länger ruhte seine Hand auf dem Griff der Autotür. Er hasste solche Veranstaltungen, und doch gehörten sie ebenso zu seinem Job wie die Jagd nach Verbrechern und das Sorgen für Recht und Ordnung in Korit Valley. Hörbar laut atmete er aus, rückte seine Pilotensonnenbrille zurecht und stieg aus. Die Sohlen seiner dunklen Stiefel berührten den steinigen Boden, gaben ein leises Knirschen von sich, als er an den parkenden PKWs vorbei zum Eingangsbereich schlenderte.

Wer ihm entgegenkam, grüßte ihn. Doch Jared hatte nicht mehr als ein müdes Nicken für sie übrig. Ihm war nicht nach Smalltalk. Nicht heute. Nicht bei alldem, was er in den vergangenen zehn Stunden an Arbeit bewältigt hatte. Dies war nun seine letzte Aufgabe, bevor er sich in den wohlverdienten Feierabend verabschieden durfte und Chase, sein älterer Bruder, die Schicht übernahm.

Die Aussicht auf einen baldigen Abgang trieb ihn in die Turnhalle und zu den Besuchern der Anti-Aids-Kampagne. Wie jedes Frühjahr präsentierte die örtliche Highschool ein gemeinnütziges Projekt. Die Einnahmen aus dem Getränke- und Kuchenverkauf sowie dem Flohmarkt der Schüler wurden als Spende weitergereicht.

Im Grunde eine gute Sache. Wenn nicht ständig die alleinstehenden Damen versuchen würden, sich ihm an den Hals zu werfen. Genau deshalb hatte er sich die letzten Jahre geschickt vor dieser Veranstaltung gedrückt. Nirgendwo traf man auf mehr Flirtwütige als dort. Warum, wusste Jared nicht genau. Vielleicht lag es an den selbstgemachten Produkten, die die Ladys verkauften. Möglicherweise war es aber auch die Tatsache, dass sich einige Mütter von ihren Ehemännern getrennt hatten, weil die Väter sich etwas Unverbrauchtes gesucht hatten. Wie auch immer. Keiner der Turner-Brüder war scharf darauf, bei solchen Veranstaltungen nach dem Rechten zu sehen.

Zielstrebig warf er sich in das Getümmel und schaute sich um, darauf bedacht, die Verkaufsstände zu meiden. Die Turnhalle war gut besucht. Auf den Bänken saßen ein paar Kids und unterhielten sich, während andere dabei waren, sich um einen Typen zu drängeln, der in einem seltsamen Überzug steckte. Was sollte das darstellen? Ein Kondom? Er ging weiter, um sich das Ganze genauer anzusehen. Dabei nahm er seine Sonnenbrille ab und hängte sie an seinen Hemdkragen.

Heilige Scheiße, tatsächlich. Der Kerl trug ein Gummikostüm und verteilte bereitwillig kostenlose Kondome an die Teenies.

Amy-Jane, die gemeinsam mit ihrem Mann Peter, dem Bürgermeister von Korit Valley, die Veranstaltung finanziell unterstützte, schien besorgt um den guten Ruf der Stadt zu sein.

Kopfschüttelnd zog er weiter, nickte im Vorbeigehen den Leuten zu und war froh, als er das andere Ende der Halle erreichte. Nun musste er nur noch ein paar Minuten bleiben, dann hatte er seine Pflicht erfüllt und konnte sich wieder vom Acker machen. Gedanklich war er schon bei einem kühlen Bier und einem saftigen Steak, als seine Aufmerksamkeit auf jemanden – oder eher etwas – gelenkt wurde. Jared musste zweimal hinsehen, weil er meinte, seine Augen spielten ihm einen Streich, aber dem war nicht so. Dort drüben, ein paar Schritte entfernt, hatte sich doch tatsächlich jemand als übergroßer hautfarbener Schwanz verkleidet.

Heilige Scheiße. Erst das Kondom, jetzt der Penis. Fehlte nur noch, dass irgendwo eine Vagina herumstolzierte.

Jared marschierte weiter. Das musste er sich genauer ansehen. Das wandernde Glied bemerkte ihn nicht, weil die Person, die in dem Kostüm steckte, damit beschäftigt war, nicht über die zwei Hoden zu stolpern, die direkt vor ihren Füßen auf dem Boden schleiften.

»Ich bring sie um, ernsthaft, das tue ich«, hörte er eine Frauenstimme aus dem Ungetüm zischen.

»Dann sollte ich wohl eingreifen, bevor es dazu kommt.« Jared blieb hinter der Frau stehen und sah zu, wie sie erschrocken zusammenzuckte und sich umzudrehen versuchte. Was sich als höchst amüsant erwies. Einen herumzappelnden, fluchenden Schwanz bekam man nicht alle Tage zu Gesicht. Er konnte nicht anders und ergab sich dem Grinsen. Jenes wurde noch eine Spur breiter, als sich die Frau endlich zu ihm herumgearbeitet hatte. Ihre Wangen glühten rot, und ihre Mimik gab ihm zu verstehen, dass er auf bestem Wege war, das nächste Opfer ihrer Mordlust zu werden, wenn er nicht schnellstens Leine zog.

»Oh bitte. Den Spruch kannst du dir sparen. Behalt mal lieber deine Fakehandschellen bei dir, das zieht bei mir nicht.« Ihre himmelblauen Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß, und sie zog eine Braue nach oben. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Lyra auch einen Stripper engagiert hat. Du bist ein wenig zu früh dran. Die Abendunterhaltung findet erst statt, wenn die Kids weg sind.«

Er? Ein Stripper? Jared wusste nicht genau, ob er sich geschmeichelt fühlen oder beleidigt sein sollte. Erneut ließ er seinen Blick an ihr hinabgleiten. Leider konnte er unter diesem Teil nichts von ihrem Körper erkennen. Dafür war ihr Gesicht wirklich hübsch. Eine lange gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein äußerst reizvoller Mund. Ein Leberfleck zierte ihr störrisch vorgeschobenes Kinn.

Mit ziemlicher Sicherheit konnte er sagen, die Kleine noch nie gesehen zu haben. Und ihr schien es nicht anders zu gehen. Sonst wüsste sie, wer er war und dass er nicht hier vor ihr stand, weil er einen Auftritt als Entkleidungskünstler hatte.

»Ich habe nicht vor, mich auszuziehen.«

Genervt verdrehte sie die Augen. »Tja, Hottie, ich sag es dir nur ungern, aber genau deshalb bist du hier. Du bist die Überraschung, von der Lyra gesprochen hat.«

Sie beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen sah sie an ihm vorbei.

Hatte die Kleine ihn eben tatsächlich ›Hottie‹ genannt? Eindeutig, sie hatte keinen blassen Schimmer, wer er war, und das machte die Sache interessant. Und warum in Gottes Namen dachte sie, dass er etwas mit der angekündigten Überraschung zu tun hätte? Vielleicht sollte er mitspielen und sie in ihrem Glauben lassen. Das könnte diese Veranstaltung für ihn wesentlich unterhaltsamer machen.

 

2

 

 

Eigentlich schade. Hottie stand sein Polizeikostüm wirklich verdammt gut, er war attraktiv, zählte aber eindeutig nicht zu den hellsten Kerzen auf der Torte. Wie klar sollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie weder Zeit noch Lust auf ein Gespräch mit ihm hatte? Die Farbe seiner Augen ließ Ruby an Toffee denken. Er musterte sie wachsam. Auf seinem Kinn lag ein leichter Bartschatten. Sein Mund war mindestens genauso verlockend anzusehen wie der Rest seines Gesichts.

Mayday, Mayday! Sie musste schleunigst aufhören, ihn so anzustarren, sonst verriet sie sich. Eilig wandte sie den Blick von seinen Lippen ab und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seinen Oberkörper. Doch das SOS-Signal in ihrem Kopf wurde dadurch nicht leiser. Nein, eher schrillte es doppelt so laut. Hottie schien, wenn er sich nicht gerade seiner Klamotten entledigte, sehr viel Zeit in einem Fitnessstudio zu verbringen. Dabei war er keiner dieser aufgepumpten Typen, die sich darum stritten, wer mehr Gewichte stemmen konnte. Nein, Hottie erweckte den Anschein, von Kopf bis Fuß durchtrainiert zu sein. Ob er sich kopfüber an eine Striptease-Stange hängte, damit man ihm Geld in die Unterhose stopfen konnte? Ihr Herz raste.

Ruby zwang sich, nicht länger auf die breite Brust ihres Gegenübers zu starren. Viel eher versuchte sie, an ihm vorbeizublicken. Doch das gestaltete sich im Anbetracht der Tatsache, dass Hottie mindestens eineinhalb Köpfe größer war als sie, nicht leicht. Statt endlich zu verschwinden, besaß er tatsächlich noch die Frechheit, ihr mit verschränkten Armen sowohl die Sicht als auch den Weg zu versperren.

Selbstgefällig schaute er auf sie hinab. »Und was machen wir nun?«

»Wir?« Bei Gott, so heiß der Typ war, genauso schwer war er von Begriff. Oder lag es an ihr, und sie sollte langsamer sprechen? Womöglich sorgten die Hitze unter diesem verdammten Kostüm und ihr sexy Gegenüber dafür, dass sie kurz vor der Dehydration stand und vor sich hinnuschelte.

»Was mich betrifft, werde ich zwei Dinge tun. Erstens: Ich bin hier, um mich vor der gesamten Besucherschaft zum Affen zu machen. Zweitens, und das ist mein persönliches Resümee dieses Tages, soll ich als abschreckendes Beispiel dienen und den Kids zeigen, was passieren kann, wenn man sein Einkommen mit einem Job wie diesem verdient.«

Ruby holte kurz Luft und versuchte erneut, eine Haarsträhne aus ihren Augen zu bekommen.

»Du hingegen hast nachher das Vergnügen, deinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, deinen«, demonstrativ ließ sie ihren Blick an ihm hinabgleiten und verweilte auf seinen muskulösen Oberarmen, »Astralkörper der Frauenwelt zur Schau zu stellen. Hat dir das denn keiner gesagt? Ich dachte immer, ihr hättet eine Art Ausbildung oder so. Wie dem auch sei. Deine Verkleidung kommt bestimmt gut an. Man merkt, dass du dir bei deiner Auswahl Mühe gegeben hast.« War das etwa eine Waffe, die da in dem Holster steckte? Der Typ hatte wirklich an alles gedacht. »Richtig originalgetreu.«

Sein Mundwinkel zuckte nach oben. Erst kaum merklich, dann immer eindeutiger. Hottie fand sie wohl ziemlich witzig. Dabei hatte Ruby das ernst gemeint. Lachte er sie gerade aus? Um seine karamellbraunen Augen bildeten sich kleine Fältchen, und sein Mund – verdammt, der war echt heiß. Obwohl das, was daraus kam, nicht gerade heiß war. »Von uns beiden hast du, rein von der Größe her, den Damen eher was zu bieten.«

»Wenn du das sagst.« Diese Unterhaltung führte lediglich dazu, dass sie sich noch blöder vorkam als ohnehin schon. »Ich muss dann mal wieder weiter. Ich werde nicht bezahlt, um zu plaudern.« Sie ließ ein letztes Mal ihren Blick an ihm hinabgleiten. Zu schade, dass sie bei seiner Show nicht dabei sein würde. Keine Frage. Ruby hätte ihm liebend gerne dabei zugeschaut, wie er sich zur Musik bewegte und seine sexy Verkleidung abstreifte. Wann bekam Frau schon so einen heißen Kerl in Aktion zu sehen? Dazu noch kostenlos? Jammerschade. Wirklich. Aber Ruby war durch die lange Reise von New York hierher völlig k. o.. Nichts wünschte sie sich sehnlicher herbei als eine Dusche und ein Bett, in dem sie schlafen konnte, ohne vom heulenden Lärm der U-Bahn oder der Nachbarn geweckt zu werden. Ohne knurrenden Magen einzuschlafen und am nächsten Tag vom Hunger geweckt zu werden. All diesen Luxus wollte sie nicht für einen Mann aufgeben, der sich vor hunderten Frauen auszog. »Dir viel Spaß noch. Bei was auch immer.«

Schwerfällig drehte sie sich um und trippelte los. Erneut bahnte sie sich einen Pfad durch den Raum. An den feixenden Besuchern vorbei. Keiner machte sich die Mühe, ihr aus dem Weg zu gehen. Nichts anderes hatte sie erwartet. Schließlich war sie hier, um die Leute bei Laune zu halten. Wenn dazu gehörte, sich durch jede Lücke zu quetschen, die sich vor ihr auftat, dann war das eben so.

Dabei hielt sie weiterhin nach Elvis Ausschau, bis sie ihn endlich entdeckte. Doch ein Durchkommen zu ihm war unmöglich. Die Kids hatten sich um ihn wie Weintrauben an einer Rebe versammelt. Sie hatten ihn eingekesselt und ließen sich mit Kondomen beschenken. Was der Teenager-Ruby vor versammelter Eltern- und Lehrerschaft peinlich gewesen wäre, schien den heutigen Kids nicht das Geringste auszumachen.

Ruby schüttelte den Kopf. Sie ergab sich ihrem Schicksal und wackelte weiterhin als laufendes Glied durch den Saal. Das Ganze hielt sie noch genau eine Dreiviertelstunde durch, bevor sie sich auf die Suche nach Lyra begab. Sie fand sie am Kuchenstand bei ein paar Müttern.

»Ich bin völlig am Ende.« Ruby blieb neben ihr stehen. »Ich muss aus diesem Ding raus, bevor ich umkippe.«

»Elvis war wohl nicht bereit zu tauschen, was?« Lyra nickte den zwei Frauen zu und schob Ruby sanft Richtung Ausgang.

»Wo denkst du hin? Während ich die Lachnummer abgab, war er der Coole, der die Teenies beschenken durfte. Ich konnte ihn noch nicht mal fragen, weil ein Durchkommen zu ihm unmöglich war.«

»Ich werde ihn mir nachher vorknöpfen.« Lyra eilte los und hielt ihr die Tür auf.

»Jetzt ist es ohnehin schon zu spät. Du kannst es also genauso gut sein lassen.« Ruby sehnte den Moment herbei, in dem sie endlich aus diesem Teil herauskam. »Ich will nur noch unter die Dusche.«

»So schlimm?«

»Schlimmer. Es ist unerträglich heiß. Ich fühle mich wie ein Truthahn, der im Backofen steckt.«

»Das tut mir ehrlich leid.« Geknickt sah Lyra sie an. »Wenn diese Veranstaltung nicht so wichtig für mich wäre, dann … Ich weiß ja, dass es dir nicht so gutgeht …«

»Alles okay. Jetzt habe ich es ja überstanden«, beruhigte Ruby ihre Cousine.

Lyra ging voran in Richtung Umkleidekabine. »Das hier ist mein erster Auftrag, und der soll einfach perfekt sein. Schließlich brauche ich Referenzen, wenn ich die Agentur nicht in wenigen Monaten wieder schließen will.«

Lyra hatte nach ihrem Studium als Eventmanagerin gut zwei Jahre bei einer anderen Agentur in Denver mitgearbeitet, bevor sie den Sprung gewagt und sich selbstständig gemacht hatte. Im Moment war sie dabei, ein kleines Büro für ihre Firma zu suchen.

Innerlich machte Ruby drei Kreuze, als sie den Spind mit ihren eigenen Sachen erreichte. Augenblicklich begann sie, sich aus dem Kostüm zu winden. Was allerdings gar nicht so einfach war und Lyras Hilfe erforderte. Gemeinsam schafften sie es. Während Ruby wie ein Fisch zappelte, zog Lyra an einem Ende des Ungetüms.

»Du hast wirklich was bei mir gut«, schwor diese und zerrte den Stoff über Rubys Kopf. »Sobald die Party vorbei ist, verschwinden wir und feiern meinen ersten erfolgreichen Auftrag. Sofern jetzt nichts mehr schiefgeht.«

Ruby strich sich eine verschwitzte Haarsträhne hinter das Ohr und griff nach der Wasserflasche, die Lyra ihr reichte.

»Was soll schon schiefgehen?« Ruby drehte den Verschluss auf. Dabei kamen ihr zwei karamellfarbene Augen in den Sinn. Mist. Da war ja noch Hottie, der Stripper, der sie aufgezogen und ihr hatte weismachen wollen, dass er nicht hier war, um sich auszuziehen. »Allerdings solltest du beim nächsten Mal die Wahl deines Strippers überdenken.« Ruby gönnte sich einen großen Schluck von dem Wasser, ihre ausgetrocknete Kehle lechzte nach dem kühlen Nass. Wie eine Verdurstende trank sie die halbe Flasche mit einem Zug leer.

Entgeistert sah Lyra sie an. »Stripper?«

»Ja, der schnucklige Kerl in der Polizeiverkleidung«, half Ruby ihr auf die Sprünge.

Der fragende Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Cousine blieb. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Na der –« Doch weiter kam sie nicht, in diesem Augenblick betrat eine junge Frau die Umkleidekabine.

»Lyra, wir haben da draußen ein kleines Problem. Mr. Miller will seine Rede halten, aber das Mikrofon streikt.«

Lyra nickte und stürzte bereits zur Tür, als sie sich noch einmal zu Ruby umdrehte. »Wir sprechen später darüber. Kommst du klar?«

»Sicher. Ich zieh mich an und lauf zu euch. Den Hausschlüssel habe ich ja.«

»Ich kann dir auch ein Taxi rufen.«

»Nicht nötig. Die frische Luft tut mir gut. Und jetzt los. Ich komm zurecht.« Ruby wedelte mit den Händen und scheuchte ihre Cousine weg.

»In Ordnung. Wenn was sein sollte, dann …«

»… habe ich eure Nummer. Jetzt geh schon!«

Lyra warf ihr eine Kusshand zu und eilte auf ihren schicken Pumps davon.

 

Knapp eine halbe Stunde später betrat Jared sein Haus, angelte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ließ den Blick über dessen Inhalt wandern. Weitere drei Flaschen Bier, ein paar Eier, Orangensaft und eine Packung Milch. Ansonsten herrschte gähnende Leere. Verflixt, dann wurde nichts aus seinem Steak, er hatte wie so oft vergessen einzukaufen. Schwungvoll warf er die Tür zu und marschierte zu der Theke, die seine Küche vom Essbereich trennte. Er ließ sich auf einen der beiden Barhocker sinken, drehte den Verschluss der Flasche und gönnte sich einen großen Schluck von dem malzigen Getränk. Gerade als er die Flasche auf den Tresen abstellen wollte, öffnete sich die Hintertür, die zum Garten führte – einem Schandfleck, wie seine Mom ihn betitelte. Jared hob nicht einmal den Kopf, um den Besucher zu begrüßen. Nur seine Familie nutzte den Hintereingang, und da seine Mutter sich auf der Anti-Aids-Veranstaltung befand, konnte es nur einer seiner Brüder sein.

Tatsächlich war es Chase, der eine Papiertüte direkt vor seiner Nase abstellte. »Soll ich dir von Mom geben.«

Jared warf einen Blick hinein. Der Duft von Hackbraten stieg ihm in die Nase. Daneben lag eine Dose mit Pellkartoffeln. Sein Abendessen war gerettet. Er schwang sich vom Stuhl und holte einen Teller aus dem Schrank, um das Essen darauf zu verteilen und in die Mikrowelle zu stellen. Chase hingegen marschierte zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier.

»Alkohol im Dienst?« Jared drehte am Wärmeregler und schloss die Tür, damit sein Essen heiß werden konnte.

»Don und ich haben getauscht.«

Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Bruder keine Uniform trug, sondern Jeans und die abgewetzte Lederjacke, die Chase seit einer Ewigkeit im Schrank hängen hatte. Jared musterte ihn. »Wie kommt‘s?«

Chases Mimik sprach Bände, was Jared dazu veranlasste, zu fragen: »Gibt es schon wieder Ärger im Paradies?«

Das Gesicht seines Bruders verzog sich zu einem gequälten Ausdruck. »Ich habe unseren Jahrestag vergessen.« Chase schwang sich mit einer fließenden Bewegung auf den Barhocker. »Jetzt schmollt Peggy-Sue und ist mit ihren Mädels ausgegangen.« Er winkte ab. »Versteh einer die Frauen.«

Jared konnte nur nicken und schluckte die spitze Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er Peggy-Sue nicht ausstehen konnte. Ihre überhebliche, zynische Art, dieses ständige Herumgezicke, ließ sie nicht gerade zu einer Frau werden, die er sich als Schwägerin wünschte. Aber genau das würde passieren, wenn Chase ihrem unerbittlichen Drang nachgab und ihr einen Ring an den Finger steckte.

Der Duft von Hackbraten wurde stärker, und während der Teller in der Mikrowelle fleißig seine Runden drehte, zog Jared Messer und Gabel aus dem Besteckfach. Endlich machte es ›Ping‹. Der Teller war verdammt heiß, als er ihn herausholte, aber das war ihm egal. Sein Hunger war übermächtig.

»Wie war es denn auf der Highschool-Veranstaltung? Konntest du den heiratswilligen Frauen aus dem Weg gehen?«, fragte Chase.

»Jap.« Jared setzte sich neben seinen Bruder und schob sich eine Gabel köstlich duftendes Essen in den Mund. Prompt verbrannte er sich die Zunge. »Mit meinem ›Komm-mir-nicht-zu-nahe‹-Blick hat das recht gut funktioniert.«

»Den beherrschst du mittlerweile genauso phänomenal wie Don.«

Jared schnitt sich ein weiteres Stück Hackbraten ab und spießte eine Kartoffel gleich mit auf. »Eine andere Wahl habe ich schließlich nicht.«

»Wie wäre es damit, dir eine Frau zu suchen? Du wirst nicht jünger, Kumpel. Mit dreißig kann man das Single-Leben schon mal eintauschen.« Chase klopfte ihm hart auf den Rücken.

Jared musste husten, weil ihm durch den unerwarteten Schlag seines Bruders ein Happen Essen in der Speiseröhre stecken blieb. »Zur Hölle.« Er räusperte sich, nahm einen Schluck Bier und ächzte dann: »Du klingst wie Mom.«

»Ich weiß. Sie liegt mir ständig damit in den Ohren und fragt, wann Don und du endlich eine Freundin finden.«

»Ich bin zufrieden, so wie es ist.« Das war er wirklich. Schließlich reichten ihm die Beziehungsdramen, die er dank Chase beinahe hautnah miterlebte. Jared zählte zu den Menschen, die gerne die Kontrolle über ihr Leben behielten.

»Ach ja? Und was ist mit der Kleinen von letzter Woche? Die, die du im Blues kennengelernt hast?«

Jared dachte nach.

»Braunes langes Haar, dunkle Augen und ein Körper wie ein Bikinimodel«, half ihm Chase auf die Sprünge, stützte sich auf der Theke ab und musterte ihn. »Ihr habt euch den ganzen Abend unterhalten. Lief da was?«

»Ach die.« Jared aß weiter. »Nein, ich habe sie weder angerufen noch ihr geschrieben.«

»Ernsthaft?« Chase pfiff. »Warum nicht?«

»Wenn ich eine Frau suchen würde, was ich nicht tue, dann sicher nicht so eine.«

»Was meinst du mit ›so eine‹?«

Jared antwortete nicht. Er wollte die Angelegenheit nicht weiter vertiefen. Was nicht bedeutete, dass er sich nicht mit seinem Bruder über Frauen unterhielt. Nein, die drei Turner-Brüder hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander und sprachen über alles. Aber diese Frau aus der Bar war einfach kein Thema für Jared.

Chase schnaubte. »Ich merk schon, du willst nicht über sie reden.«

»Exakt.«

»Na gut. Dann erzähl mir von der Anti-Aids-Kampagne. Ich habe gehört, die Veranstaltung soll diesmal besonders gewesen sein.«

Jared hatte aufgegessen. Er schob den Teller von sich und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Das war es. Die Kurzfassung, bevor wir uns vor den Fernseher pflanzen und das Footballspiel der Patriots ansehen: Es gab einen als Kondom verkleideten Kerl, der kostenlose Gummis verteilte. Die Kids haben ihn gefeiert. Ein laufendes Glied gab es auch. Die Frau, die darin steckte, war der unerschütterlichen Überzeugung, ich wäre ein Stripper, der für die Abendunterhaltung sorgt.«

»Bitte was?« Chase, der gerade die Flasche angesetzt hatte, prustete los. »Du und Stripper? Was genau hattest du denn an, dass sie darauf kam?«

Jared verzog keine Miene und deutete auf seine Polizeiuniform, die er noch immer trug.

»Du nimmst mich doch auf den Arm, Kumpel.«

Er schüttelte den Kopf und legte seinen schmutzigen Teller in das Spülbecken.

Das Lachen seines Bruders wurde eine ganze Spur lauter und hallte von den hohen Wänden seines Hauses wider. »Wer war die Frau? Jemand aus dem Nachbarort?«

Jared zuckte mit den Schultern und löste den Gürtel mit der Knarre und den Handschellen. Achtlos legte er ihn auf den Hocker, auf dem er eben noch gesessen hatte. »Keine Ahnung. Ich bin ihr noch nie zuvor begegnet.«

»Jammerschade. Ich hätte zu gern ihr Gesicht gesehen, wenn du ihr beim nächsten Mal gegenüberstehst.«

Tja, blöderweise ging es Jared ganz genauso. Die Kleine hatte etwas an sich gehabt, das sein Interesse weckte. Vielleicht war es die Art, wie sie ihn angesehen hatte. Wie ihre himmelblauen Augen stolz gefunkelt hatten, obwohl sie in diesem Kostüm gesteckt und gemeint hatte, sich vor allen zum Affen zu machen. Etwas an ihr war anders als an den anderen Frauen, und er wollte aus unerfindlichen Gründen herausbekommen, was es war.

 

 

 

3

 

Ruby hakte sich bei ihrer Cousine unter. Auf dem Weg sah sie sich ihren neuen Heimatort genau an. Korit Valley hatte seine Bezeichnung nicht zu Unrecht erhalten. Die kleine Stadt war genauso bunt und schön wie der Stein, dem sie ihren Namen verdankte. Nicht nur die Fassaden der Läden leuchteten in den unterschiedlichsten Farben, auch die Blumen und Bäume vor den Geschäften bildeten hübsche Kontraste. Eine hohe Bergkette lag schützend um den Ort. Es war herrlich. Gestern hatte Ruby keine Zeit gehabt, sich umzusehen. Sie hatte nur noch geduscht und war ins Bett gefallen. Heute genoss sie den Anblick umso mehr.

»Kein Vergleich zu New York, was?« Lyra stupste sie an.

»Absolut nicht. Obwohl wir uns mitten im Stadtzentrum befinden, ist es hier ruhiger als im Central Park. Ich liebe es.«

»Ich bin gespannt, ob du immer noch der Ansicht bist, wenn du das nächste Mal shoppen gehen willst. Wir haben hier nur zwei kleine Modegeschäfte, und die führen nicht unbedingt die neuesten Trends.« Lyra deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf ein Haus mit grüner Ladenfront. »Da drüben ist der eine.«

Unauffällig blickte Ruby an sich hinab. Sie trug eine enge Jeans, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte und an manchen Stellen so hauchdünn war, dass sie Angst hatte, sie könnte jeden Moment reißen. Dazu eine Übergangsjacke, die sie sich für wenig Geld in einem Discounter gekauft hatte. Wann sie zuletzt ›shoppen‹ gewesen war, wusste sie nicht mehr. Dem einzigen Koffer nach zu urteilen, den sie aus New York mitgebracht hatte, schon sehr lange nicht mehr.

»Wenn du magst, können wir nachher noch hineinschauen«, riss ihre Cousine sie aus den Gedanken, und Ruby merkte, dass ihre Aufmerksamkeit hinüber zu dem Geschäft gewandert war.

»Ein andermal. Ich muss erst mal mein Konto in den grünen Bereich bringen.«

Lange hatte Ruby versucht, ihre Geldsorgen vor Lyra und ihrer Tante Violet geheim zu halten. Doch als Rubys Mom ihrer langen Krankheit erlegen war, hatten sie erfahren, unter welchen Verhältnissen sie all die Jahre gelebt hatten. Ihre Wohnung in der Bronx entsprach nicht mal ansatzweise dem Standard, den ihre Verwandten von Korit Valley kannten.

»Wir finden schon einen Job für dich, Süße«, munterte Lyra sie auf und zog sie weiter. »Vielleicht passt es schon heute.«

»Das hoffe ich.«

Ruby gefiel die Vorstellung überhaupt nicht, sich von ihrer Tante und Lyra aushalten zu lassen. In all den Jahren hatten Mom und sie es geschafft, sich allein über Wasser zu halten. Egal, wie hart die Umstände auch gewesen waren. Egal, wie viele Jobs sie hatten stemmen müssen, um über die Runden zu kommen. Bis ihre Mutter irgendwann nicht mehr hatte arbeiten können. Nun war sie tot und alle Rücklagen, die sie in den Jahren zuvor mühsam aufgebaut hatten, aufgebraucht.

Ruby hatte keine Wahl gehabt. Wenn sie nicht unter der Brücke leben wollte, musste sie das Angebot ihrer Tante Violet annehmen und nach Korit Valley ziehen. Der Schmerz über den Tod ihrer Mom lastete noch immer wie ein schwerer Stein auf Ruby. Er war gegenwärtig wie am ersten Tag. Er hörte nicht auf. Sie lernte nur jeden Tag ein wenig mehr, damit umzugehen.

»Schau, dort drüben ist das kleine schnucklige Café, von dem ich dir erzählt habe. Nirgendwo anders kann man hier so guten Kaffee trinken. Komm mit, ich lad dich ein.«

»Aber …«

»Kein Aber. Du hast mir gestern aus der Patsche geholfen, und nun möchte ich mich dafür revanchieren.«

»Ich dachte, wir sollten zu diesem Laden … wegen eines Jobs und …«

»Isaac hat keine Uhrzeit genannt.«

Ruby folgte ihrer Cousine in das sonnengelb gestrichene Gebäude. Ein großes Holzschild mit dem Namen ›Little Coffee‹ hing über der Tür. Schon ein einziger Blick in das Innere genügte, und Ruby fühlte sich wohl. Der Raum war klein. Lediglich sechs Tische mit schokoladenbraunen Stühlen boten Sitzgelegenheiten für die Gäste. Die weißen Wände zierten Bilder, auf denen Kaffeebohnen, eine Plantage, ein Vollautomat und Kuchenstücke dargestellt waren. Der köstliche Duft von frischgemahlenen Bohnen erfüllte den Innenbereich. Die Theke, hinter der eine ältere Dame stand und geschäftig Kaffeetassen abtrocknete, war kaum größer als ein Tisch. Beim Eintreten lächelte sie ihnen freundlich zu.

»Guten Morgen, Lyra.« Sie nickte und schenkte Ruby einen neugierigen Blick.

»Hey Kelly«, flötete Lyra fröhlich. »Das ist meine Cousine Ruby. Ich habe ihr eben gesagt, dass man nirgendwo so guten Kaffee bekommt wie hier.«

»Hallo Ruby. Schön, dass du hier bist.« Kellys braune Augen strahlten mit ihren blondierten Haaren um die Wette. »Was kann ich euch zweien bringen? Lyra, für dich wohl einen Milchschäumer und einen Brownie, oder?«

»Du kennst mich zu gut.« Lyra lächelte. Sie trat ein paar Schritte zur Seite, und Ruby stand direkt vor der Bedienungstheke mit dem aufgereihten Gebäck. Jedes einzelne Teil sah noch köstlicher aus als die anderen.

»Das liegt daran, dass du zu meinen Stammkunden zählst«, meinte Kelly, legte das Abtrockentuch weg und griff nach einem frischen Teller, um das Naschwerk darauf zu legen.

»Wie jeder andere auch.«

»Stimmt.« Kelly strahlte. »Was möchtest du, Liebes?«, wandte sie sich nun an Ruby.

»Ähm.« Rubys Blick huschte noch immer über die Schultafel mit den in weißer Kreide geschriebenen ausgefallenen Namen. »Ich schwanke zwischen Stehaufmännchen und HalloWach.« Sie zögerte, presste die Lippen zusammen, um die restlichen Namen ebenfalls zu lesen. Die Auswahl fiel ihr nicht leicht. »Sahnehäubchen klingt allerdings auch gut. Puh.«

Ruby war so vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie jemand das Café betrat und sich hinter ihnen anstellte. Sie registrierte das ungeduldige Schnaufen des Neuankömmlings nur am Rande. Lediglich Lyras Grinsen und ihr »Das kann dauern. Bestell du ruhig schon mal, Jared« bekam sie mit.

»Wenn das für die Lady in Ordnung ist«, vernahm sie eine dunkle, samtweiche Männerstimme.

Moment mal. Die Stimme kannte sie doch! Aber woher?

»Natürlich. Ich bin etwas unentschlossen und …« Während sie das sagte, drehte sie sich um, und die restlichen Worte schafften es nicht mehr aus ihrem Mund. Das war ein Scherz, oder? Direkt hinter ihr stand kein Geringerer als Hottie. Der Stripper. Er lebte auch in Korit Valley? Warum trug er noch immer sein Polizeikostüm?

Ruby starrte ihn an. Wow, er sah noch besser aus als gestern, sofern das überhaupt möglich war. Seine karamellfarbenen Augen musterten sie neugierig und abschätzend. Sie stockte und ließ den Blick von seinem Gesicht hinunter zu seiner muskulösen Brust gleiten und der verdammt echt aussehenden Dienstmarke.

Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, je länger sie darauf starrte, und schließlich kam ihr Herz ins Rasen. Was, wenn Hottie gar kein Stripper war? Wenn er gestern wirklich aus beruflichen Gründen in der Turnhalle gewesen war, nur eben nicht, um sich auszuziehen, sondern … Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf. Ruby spürte, wie sie von der Haarspitze bis zum Kinn errötete. Wie sie hastig schluckte und irgendetwas vor sich hinmurmelte, was sie nicht einmal selbst verstand.

»Was kann ich dir bringen, Jared?«, mischte sich Kelly ein und fügte jenen Satz hinzu, der Rubys Befürchtungen bestätigte: »Einen extra starken Kaffee für deinen Dienst?«

»Ich hätte gerne ein Stehaufmännchen, und für die Lady bitte auch eins«, meinte Hottie und zwinkerte ihr zu. »Ich glaube, sie kann ihn nach dem gestrigen Tag gebrauchen.«

Mayday, Mayday. Die Sirenen in ihrem Kopf drehten zu voller Stärke auf. Trotz ihres überaus peinlichen Kostüms und der Tatsache, dass nur ihr Gesicht zu sehen gewesen war, erinnerte er sich an sie. Oh. Mein. Gott. Wo war das Loch, in dem sie sich verkriechen konnte? Wo die Engel, die sie von hier wegbrachten?

Ein unsanfter Rempler von Lyra riss sie aus ihrer stillen Hysterie.

»Danke«, stammelte Ruby und senkte den Blick.

Was mochte er nur von ihr denken? Bestimmt hielt er sie für völlig beschränkt. Mit Sicherheit sogar. Sie hatte einen Mann in Uniform als Hottie und Stripper bezeichnet. Laut. Sie hatte … Ihr wurde übel. Sie musste raus hier, und zwar schleunigst.

»Das ist übrigens meine Cousine Ruby aus New York«, stellte Lyra zu allem Überfluss einander vor. »Ruby, das ist Jared, einer unserer Deputys.«

Noch immer stand sie da wie zur Eisstatue erstarrt. Himmel, sie musste etwas sagen, etwas tun.

»Ja. Ähm. Schön.« Nichts Besseres fiel ihr im Augenblick ein. Dass die Antwort nicht geistreich war, wusste sie selbst, dafür brauchte Ruby nicht Jareds spöttischen Blick.

»Dein Kaffee, Jared«, unterbrach Kelly den schrecklichen Moment.

Er reichte ihr einige Scheine.

»Stimmt so, Kelly«, vernahm Ruby die dunkle Stimme und sah zu, wie er nach seinem Pappbecher griff. Sein Hemd war hochgekrempelt, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf seine braune Haut, den muskulösen Unterarm und die Härchen, die sich darauf kringelten, gelenkt.

Bevor er ging, wandte er sich ihr noch einmal zu und grinste sie auf eine Art und Weise an, die ihr Blut wie prickelnden Champagner durch die Adern fließen ließ.

»Bis dann.« Ein letztes Mal blinzelte er ihr zu, schob sich an ihnen vorbei, und Ruby konnte nichts tun, außer ihm hinterherzustarren.

Himmel, was für ein Kerl. Zielsicher, athletisch und durch und durch ein Mann, der genau zu wissen schien, welche Wirkung er in ihr und der restlichen Damenwelt da draußen entfaltete.

»Was war das denn?«, zischte Lyra ihr zu und nahm Kelly die Tasse ab, die jene Ruby noch immer entgegenstreckte. »Er hat dir einen Kaffee spendiert und dir sogar zugezwinkert. Zwei verdammte Male! Jared zwinkert nie! Und wenn ich sage ›nie‹, dann mein ich das auch so.« Lyra drückte Ruby den Pappbecher in die Hand. »Er hat gesagt ›bis bald‹. Was meinte er damit, und was sollte die Anspielung auf gestern?«

»Ich … Shit, Lyra. Ich brauche ein Loch. Ein verdammt großes. Am besten so eins,

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Dana Summer
Cover: Wolkenart Media Design; www.wolkenart.com
Lektorat: Wortnörgler, Sandra Linke
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2021
ISBN: 978-3-96714-139-9

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