Amors Küsse
Dana Summer
Prolog
*Lucia*
Vergeben klingt gut, vergessen noch viel besser. Doch wie soll man einem Menschen verzeihen, der eine Familie entzweit hat? Einem Menschen, der so blind vor Liebe war, dass er alles riskierte? Alles auf eine Karte setzte? Diese Karte, die ich Liebe nannte. Liebe zu einem Mann, der mir alles genommen hat. Meine Träume, meine Freunde, meinen Studienplatz und nicht zuletzt meine Familie.
Und doch ... Er mag mir alles genommen haben, aber er hat mir auch etwas geschenkt. Das Wertvollste, das ich je in den Händen halten durfte – meinen kleinen Sohn Nino.
Seinetwegen stelle ich mich jetzt der Vergangenheit. Seinetwegen möchte ich all die Fehler, die ich aus Liebe begangen habe, wieder geradebiegen. Nur seinetwegen kehrte ich vor ein paar Monaten in meine Heimat Sardinien zurück.
Er gibt mir die Kraft, in diesem Moment den Flughafen zu betreten. In nur wenigen Minuten wird der Flieger landen, der Nonna von ihrem Urlaub wieder nach Hause bringt. Sie weiß nicht, dass ich sie abholen werde. Ich – ihre vielleicht größte Enttäuschung.
Insgeheim bete ich zu der heiligen Maria, Nonna möge mir meine Sünden vergeben. Bei diesem Gedanken breitet sich eine mir viel zu bekannte Enge in meiner Brust aus. Das Gefühl, dass mir jeden Moment die Luft zum Atmen fehlen wird. Jene Empfindung, die ich häufig verspürte, bis ich die größte Enttäuschung meines Lebens schließlich verließ.
Suchend blicke ich mich um, halte Ausschau nach Nonnas vertrautem Gesicht. Obwohl ich weiß, dass sie die Schuld an meiner aufkommenden Panik trägt, kann ich nicht flüchten. Nicht mehr. Nach monatelangem Verstecken habe ich endlich den Mut, ihr gegenüberzutreten.
Immer wieder schießen mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Ereignisse, die ich zu gerne vergessen möchte und die nun doch ein Teil meines Lebens sind. Sie gehören zu mir, genauso wie die fingerlange Narbe an meinem rechten Unterarm.
Mein Herz schlägt laut, und meine Hände zittern unkontrolliert. Die Angst, wie sie wohl auf mich reagieren wird, setzt mir mehr zu, als ich ertragen kann. Am liebsten würde ich weglaufen, aber meine Füße kleben am Fliesenboden. Wie festgetackert, unverrückbar.
Noch bevor ich mich erneut in der Flughafenhalle umblicken kann, höre ich die mir so vertraute Stimme. »Lucia?«
Ich wirble herum, spähe in die Richtung, aus welcher der Ruf gekommen ist, und sehe ihre weit aufgerissenen Augen.
»Du bist es also wirklich.«
Seit jenem Tag, an dem ich meinem Bruder Raf Unverzeihliches antat, habe ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch Nonna hat sich kaum verändert. Noch immer trägt sie ihr langes, graues Haar zu einem Knoten zusammengebunden. In ihren braunen Augen liegt dieselbe aufrichtige Wärme, und die ersten Tränen rinnen mir über die Wange. Ich möchte Nonna umarmen, möchte sie an mich drücken, doch mein schlechtes Gewissen hält mich davon ab. Unschlüssig stehe ich da, bringe nicht mehr als ein Nicken zustande und spüre, wie sich bei ihrem Anblick etwas in mir löst. Wie ein Luftballon, der zu stark aufgeblasen worden ist und nun platzt. Meine Augen füllen sich mit noch mehr Wasser, und ein Schluchzen, das ich zu gerne unterdrücken möchte, schleicht sich nach oben. Mit einer einzigen schnellen Bewegung ist sie bei mir, nimmt mich in die Arme und drückt mich fest an sich. So, als ob die Vergangenheit auf einmal keine Rolle mehr spielt.
»Weine nicht, meine Kleine. Es ist alles gut.«
Ihre Worte und ihre Hand auf meinem Rücken, die wie früher sanfte Kreise malt, geben mir den Rest. Ich schluchze noch lauter. Dabei ist es mir egal, dass uns einige der Passanten neugierig mustern.
»Nonna, es tut mir so leid. Ich habe so viele Fehler gemacht und … ich schäme mich zutiefst. Ich wollte –«
»Pst, alles wird gut«, haucht sie.
Schniefend schüttle ich den Kopf. Für ein ›Alles wird gut‹ ist es zu spät. Erneut entschuldige ich mich, möchte noch mehr sagen, doch sie unterbricht mich: »Ich verzeihe dir. Das habe ich immer getan. Du bist meine kleine Principessa. Ich liebe dich.«
Ihre Stimme klingt wie immer, sanft und ruhig. Wie damals, als ich ein Kind war, schmiege ich mich an sie.
»Es tut mir so leid. Ich habe dich enttäuscht, habe dein Vertrauen missbraucht ...« Ich wische über meine tropfende Nase.
Für einen Moment erwidert sie nichts, hält mich einfach fest, und ich überlege, was ich noch sagen kann. Doch wieder ist sie schneller.
»Jeder Mensch macht Fehler.« Behutsam lässt sie mich los und sieht mich mit ihren dunkelbraunen Augen an. »Wollen wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen? Von Alessandro habe ich gehört, dass du dich von diesem Mann getrennt hast und dass ...«
»Ja, Nonna, das habe ich. Aber ganz so einfach ist es nicht.« Meine Stimme zittert, und am liebsten würde ich nicht weiterreden. Das, was ich als Nächstes offenbaren werde, wird sie verletzen. Doch Schweigen kommt nicht infrage. Nonna hat ein Recht darauf, alles zu erfahren.
Nach all den Jahren, die sie für uns da war, hat sie es nicht verdient, erst jetzt von ihrem Urenkel zu erfahren. Ich schäme mich zutiefst, dass ich nicht viel früher den Mut hatte, ihr gegenüberzutreten. Nonna hat uns drei Geschwister großgezogen, nachdem unser Vater das Familienhotel übernommen und unsere Mutter uns verlassen hatte.
Mein ursprünglicher Plan war, ihr die ganze Geschichte in Ruhe zu erzählen. Von der Trennung, den Dingen, die mir in Mailand widerfahren sind, und nicht zuletzt von Nino. Doch ich kann nicht. Absurderweise habe ich das Gefühl, ich müsste es ihr sagen. Nicht später, sondern hier und jetzt.
»Ich habe von diesem Mann ein Kind bekommen. Einen kleinen Sohn. Er heißt Nino und …«, platze ich heraus. Meine Worte lassen sie zusammenzucken.
»Du hast einen Sohn?«, vergewissert sie sich.
Ich nicke und wische mir erneut eine herablaufende Träne weg.
Die Farbe scheint aus Nonnas Gesicht zu weichen. »Wo ist er?«
»Bei Elisa. Ich … Es tut mir so schrecklich leid. Nino ist jetzt knapp drei Monate, und ich war schon vor der Geburt hier auf der Insel. Ich habe mich bei Alessandro versteckt und ihn angefleht, dir nichts von meiner Rückkehr zu sagen. Nonna, es tut mir so schrecklich leid, aber ich hatte einfach nicht den Mut, dir in die Augen zu sehen. Ich habe mich für meine Vergangenheit geschämt und tue es immer noch. Ich … Bitte verzeih mir!«, flehe ich sie an und ergreife ihre Hände. Ändert sie ihre Meinung? Sieht sie ein, dass nun nicht mehr alles gut wird?
Ich halte den Atem an, während mein Herzschlag sich noch mehr beschleunigt und meine Hände zittern.
Nonna wirkt abwesend, so als ob sie das Gesagte erst einmal verdauen muss.
Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit meint sie: »Natürlich verzeihe ich dir. Aber bitte, bitte lass mich wieder ein Teil deines Lebens sein. So wie früher.«
Erleichtert atme ich aus und falle ihr um den Hals. »Nichts wünsche ich mir mehr.«
Noch einmal liegen wir uns in den Armen, und ich weiß: Jetzt, da ich endlich meine Nonna wiederhabe, kann ich damit anfangen, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und meine Zukunft zu planen.
1
Neun Monate später
*Lucia*
Als ich auf die glorreiche Idee kam, mir einen Dreijahresplan aufzustellen, rechnete ich nicht damit, ihn wenige Stunden später wieder über Bord zu werfen. Ich hätte mir realistische Ziele setzen sollen. Keine aus der Luft gegriffenen Wunschvorstellungen.
Ich versuche nicht aufzuseufzen, als ich mich an dem Gitterbettchen hochziehe und erneut dieser stechende Schmerz wie ein Blitz durch meine Glieder jagt. Jeder Muskel kreischt gepeinigt auf. Die dezente Mahnung meines Körpers, nie – niemals wieder! – Sport zu machen.
Ein leises »Ahh« entweicht mir, als ich mich aufrichte und dabei eine Hand auf meinen Mund presse. Alarmiert blicke ich in das Bett und auf meinen Sohn. Zum Glück hat er nichts von meiner körperlichen Misere mitbekommen. Er gluckst im Schlaf, während ich kaum gerade stehen kann. Geschweige denn, ohne jeglichen Halt.
Langsam lasse ich meine Hand sinken und versuche, auf Zehenspitzen durch den verdunkelten Raum zu tappen. Das sanfte, bernsteinfarbene Nachtlicht hilft mir, nicht über herumliegende Spielsachen zu stolpern. Mit einem Gang, der dem eines Storches gleichkommt, verlasse ich das Zimmer und schließe die Tür leise hinter mir. Erst dann atme ich ein paarmal tief ein und aus und gehe die Treppen nach unten in den Wohnbereich. Dabei fühle ich mich wie eine alte Frau und nicht wie eine Mutter Mitte zwanzig.
Mit knurrendem Magen und einer Laune, die nicht schlechter sein könnte, betrete ich das moderne Wohnzimmer. »Also, wenn meine Zukunft so aussehen soll, dass ich ständig hungrig bin und an Stellen Schmerzen habe, von denen ich nicht einmal wusste, dass es dort Muskeln gibt, dann streiche ich Punkt eins und zwei von meinem Dreijahresplan.«
Mitfühlend blickt Elisa auf, die es sich auf der großen Ledercouch bequem gemacht hat. »Man sagt, nach ein paar Tagen gewöhnt sich der Körper daran.«
»Meiner nicht. Ich sterbe gleich vor Hunger«, maule ich, schlurfe zu ihr und ignoriere das Schälchen mit Nüssen auf dem Tisch. »Ich kann keine Ananas mehr sehen. Sobald ich sie nur rieche, könnte ich Amok laufen.«
»Ich habe dir gleich gesagt, dass diese Diät nichts bringt«, setzt mich meine zukünftige Schwägerin in Kenntnis.
»Du hast leicht reden. Schließlich musst du nicht mit unnötigen Kilos herumlaufen.« Ich lasse mich neben ihr auf die Couch sinken.
»Jetzt komm schon. Du hast erst vor ein paar Monaten ein Kind geboren. Es ist klar, dass du nicht mehr die gleiche Figur wie zuvor hast.«
»Es ist ein ganzes Jahr her! Nicht nur ein paar Monate. Ich will auch nicht mehr aussehen wie ein Walross.«
Meine Freundin verdreht genervt die Augen. »Du übertreibst maßlos.« Elisa richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm und meint: »Die paar Kilo stehen dir. Ich finde, du solltest aufhören, dich mit irgendwelchen bescheuerten Diäten zu quälen.«
»Aber ich will meine Lieblingsjeans wieder anziehen. Nichts von meinen alten Klamotten passt noch. Ich will sie nicht wegwerfen müssen.«
Elisa ächzt theatralisch. »Ich an deiner Stelle würde mir selber was nähen. Wozu hast du angefangen, Modedesign zu studieren? Oder lass uns eine ausgiebige Shoppingtour machen. Ist doch viel einfacher, als sich mit Nichtessen und Sport zu quälen. Übrigens sieht es echt amüsant aus, wie du dich seit deiner Sportstunde fortbewegst.«
»Morgen nehme ich dich mit zu Gloria. Ich sag dir, mit dieser Frau hat mein Bruder keine Trainerin, sondern eine Domina eingestellt.« Ich versuche, meine Beine auszustrecken, doch selbst das schmerzt. »Die hat Spaß daran, andere durch die Gegend zu scheuchen.«
»Nein, danke. Ich lass mich ungern foltern.«
Zu der Entscheidung kann ich Elisa insgeheim nur gratulieren. Gloria ist völlig übermotiviert. Sie hilft den Hotelgästen meines Bruders, ihre Astralkörper auch während des Urlaubs in Form zu halten. Wer bitte quält sich in den Ferien freiwillig mit Sport ab?
Mein Blick huscht einmal mehr zu den verführerischen Erdnüssen im Teigmantel. Sie scheinen mich förmlich anzuschreien: »Nimm uns.«
Ahhh. Mit aller Kraft lenke ich mein Augenmerk auf den Fernseher. »Worum geht es in der Sendung?«
»Sternekoch sucht Traumfrau.«
»Nicht dein Ernst. Du siehst dir diese Datingshow echt an? Findest du es nicht erbärmlich, wie fünf Frauen um einen Mann buhlen? Wie sie sich vor laufenden Kameras zum Affen machen und uns unserer Würde berauben?«
»Himmel, stellst du dich an. Ich kann ja verstehen, dass du solche Formate nicht magst, aber –«
»Ich finde, es stellt uns Frauen als Dummchen dar und –«
»Manche bestimmt, jedoch nicht alle. Außerdem, ist es doch total spannend, wenn da jemand mitmacht, den wir kennen.«
Argwöhnisch betrachte ich den großen Monitor und runzle die Stirn, als die Titelmusik der besagten Datingshow erklingt. Auf dem Bildschirm werden in diesem Moment die fünf Kandidatinnen der Kuppelshow vorgestellt. Eine ist hübscher als die andere, und ich bin mir ziemlich sicher, dass jede einzelne von ihnen einen Modelvertrag unterschrieben hat.
Genervt verdrehe ich die Augen. »Erstens kennst du keinen der Möchtegern-Promis persönlich und zweitens –«
»Dario ist Alessandros Studienfreund«, kontert Elisa.
»Na und? Du hast ihn genauso wenig kennengelernt wie ich.« Eigentlich möchte ich mir den Müll nicht ansehen, doch als Dario auf dem Bildschirm erscheint, kann ich mich nicht mehr abwenden. Keine Frage. Der Kumpel meines Bruders hat etwas an sich, das Frauenherzen höherschlagen lässt. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es an seinen azurblauen Augen liegt, die einen auffallenden Kontrast zu seinem dunklen Haar bilden, oder an seinem selbstsicheren Lächeln. Vielleicht auch an seinem definierten Oberkörper, der dem Zuschauer nun nahezu nackt, nur mit einem engen Achselshirt bekleidet, präsentiert wird. Wie erbärmlich. Kein Wunder, dass ich die Augen verdrehe. »Wie naiv muss ein Mensch überhaupt sein, um da mitzumachen? Als ob man sich vor laufenden Kameras verlieben könnte. Die alle sind doch nur darauf aus, berühmt zu werden und –«
»Kannst du jetzt mal aufhören dazwischenzuquatschen?«
»Können wir uns nicht lieber einen Horrorfilm ansehen?« Elisa schüttelt den Kopf. »Schade.« Seufzend gebe ich nach. »Wie viele Folgen gibt es denn von diesem Schwachsinn?«
»Heute ist das Finale. Ich bin total neugierig, wer das Rennen machen wird. Da ist Cicciolina, das ist die Rothaarige und meine Favoritin. Dann noch –«
»Die heißt nicht wirklich Cicciolina, oder?«
»Doch, ich denke schon. Warum fragst du?«
»Nur so«, murmle ich und betrachte die Frauen, die sich in knappen Bikinis um Dario drängeln. Dieser sieht aus, als ob er den größten Spaß daran hat, dass sich die Damen wie pubertierende Girlies aufführen. Er grinst dämlich und lässt zudem auch noch seine Muskeln spielen. Gut, Zweiteres bilde ich mir vielleicht nur ein.
Die Sendung beginnt damit, dass Dario sich ein Hemd schnappt, es anzieht, auf der großen Terrasse anfängt zu kochen und den Kandidatinnen sowie den Zuschauern erklärt, was er da gerade macht und worauf bei der Zubereitung des Hähnchenfleisches geachtet werden muss. Obwohl die Frauen von ihm kleinere Aufgaben wie das Schnippeln des Gemüses bekommen, wird schnell klar, dass es hier in erster Linie darum geht, welche Kandidatin ihren Körper besser präsentieren kann und so Darios Aufmerksamkeit erlangt. Die dämlichen Fragen der Frauen sowie das Positionieren diverser Körperteile lassen mich genervt ausatmen. Diese Cicciolina ist mir am unsympathischsten. Warum, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht bin ich neidisch auf sie. Auf ihren perfekten Body und das wunderschöne Gesicht. Vielleicht kaufe ich ihr ihre unschuldige Art nicht ab. Wie dem auch sei. Die Show nervt, und ich habe keine Lust, mich länger mit so etwas auseinanderzusetzen.
»Ist das ätzend. Sorry, aber ich kann mir das wirklich nicht ansehen.« Ich hieve mich aus dem Sessel. Dabei protestieren meine Muskeln bei jeder Bewegung.
»Willst du echt nicht wissen, für wen er sich entscheidet?«
Kurz überlege ich. »Nein, eigentlich nicht. Ich finde alle Kandidatinnen naiv und unecht. Außerdem ist mir ein Mann, der auf so billiges Verhalten abfährt, eh zuwider. Egal, ob er nun der Kumpel meines Bruders ist oder nicht. Schau dir nur an, wie er grinst … Sie erniedrigen sich vor ihm. Genauso gut können sie auch Affendamen sein und ihre roten Hintern vor ihm schwenken, damit er sie ja auch zuerst begattet. Schlimm genug, aber der findet das offenkundig voll heiß.«
»Oh Mann, er muss sie ja nicht heiraten. Es geht ja nur um den Spaß und –«
»Du wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen können. Und erst recht nicht, wenn ich vor Hunger frustriert bin.«
Das verdammt leckere Hühnchenfleisch, das dieser Dario nun präsentiert, trägt jedenfalls nicht dazu bei, meinen aufgebrachten Magen zu beruhigen. Er knurrt prompt lauter.
»Na dann, auf zu deiner Ananas. Die Sendung geht noch eine gute Stunde, vielleicht überlegst du es dir ja nochmal.«
»Das bezweifle ich wirklich.«
*Dario*
Wutentbrannt rausche ich in das Arbeitszimmer meines Managers und werfe die Klatschzeitschrift auf den Schreibtisch. »Hast du davon gewusst?«
Mateo sieht auf sein himmelblaues Hemd. Ich habe mit der Zeitung seine Kaffeetasse getroffen, und nun zeichnet sich ein dunkelbrauner Fleck auf dem Stoff ab. Erst nachdem er diesen ausführlich begutachtet hat, schweift sein Blick zu der Glasplatte, auf der sich ebenfalls verschütteter Kaffee verteilt. Schweigend greift er nach einer Box Taschentücher und legt ein paar auf die Pfütze. Während er wartet, bis diese sich vollgesaugt haben, sagt er: »Ich habe erst vor einer halben Stunde davon erfahren, und seitdem versuche ich die Redaktion zu erreichen.«
»Und?«
»Bisher ohne Erfolg.« Mateo deutet auf den freien Stuhl. »Setz dich, dann können wir in aller Ruhe die Vorgehensweise besprechen. Möchtest du einen Kaffee?«
»Ich will weder einen Kaffee, noch möchte ich mich setzen. Ich will, dass dieser Artikel verschwindet, und zwar dalli.« Mit verschränkten Armen lehne ich mich an die Fensterbank und nicke Richtung Zeitung. »Hast du eine Ahnung, was dieser Text mit mir macht? Die Ausstrahlung des Finales liegt noch keine vierundzwanzig Stunden zurück und nun das.« Demonstrativ deute ich auf das aufgeschlagene Heft. »Die Frauen da draußen drehen deswegen völlig durch. Als ich heute Morgen in meinen Social-Media-Account geschaut habe, hatte ich über vierzig Nachrichten diverser Frauen. Allesamt haben sich auf ihre Art und Weise mir angeboten. Teilweise mit Nacktfotos. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Erst als mir eine Userin schrieb, dass Cicciolina ein Interview in der Promi gab, hatte ich eine Vermutung, woher diese Angebotsflut kam.« Mittlerweile habe ich mich völlig in Rage gesprochen, und ich bin noch längst nicht fertig.
Aber Mateo liest den verflixten Artikel gerade laut vor: »Gibt es die richtige Frau für Dario Sivori überhaupt? Laut Cicciolina (21) muss die Traumfrau für den TV-Koch Dario (32) erst noch gebacken werden. ›Er hatte die schönsten Frauen vor sich stehen und konnte über nichts anderes als sein Hühnchen reden. Und nein, das war keine clevere Metapher. Er meinte tatsächlich das Hühnchen! Ich habe noch nie einen so langweiligen Casanova erlebt und bin ja heilfroh, dass er sich nicht für mich entschieden hat. Da bestell ich lieber beim Catering. Da hält der Lieferant wenigstens den Mund und beschränkt sich aufs gute Aussehen. Na ja, vielleicht findet er ja noch eine, die sein Hühnchen so mit Butter bestreicht, wie er sich das vorstellt‹, behauptet die rothaarige Schönheit.«
Und bei solchen Aussagen soll ich ruhig bleiben? Ich weiß nicht, wem ich zuerst den Hals umdrehen will – Cicciolina oder Mateo. »Mach das rückgängig«, blaffe ich meinen Manager an. »Oder behaupte das Gegenteil. Ist mir völlig egal! Aber sorg dafür, dass nicht alle mit mir über mein Hühnchen sprechen wollen.«
»Dario.« Beschwichtigend hebt Mateo die Hände. »Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Ich bin es auch, und ich hatte absolut keine Ahnung. Aber sieh es doch mal von der positiven Seite. Die Frauen wollen dich kennenlernen. Sie wollen dich für sich gewinnen. Überleg nur, was das mit deinem Restaurant macht. Bald wirst du dich vor Gästen kaum noch retten können. Ich höre schon die Kassen klingeln.«
»Und ich das Gekreische.«
»Der Artikel mag überzogen sein, aber für deine Karriere ist er genau richtig.«
»Wenn ich meine Karriere pushen soll, indem mir wildfremde Frauen hinterherjagen und mich als Frischfleisch sehen, dann habe ich meinen Beruf verfehlt.«
»Himmel, das sind Frauen. Keine Wölfe.«
»Du hast keine Ahnung. Seit dieser bescheuerten Kuppelshow habe ich massenhaft Telefonnummern zugesteckt bekommen. Unzählige Verabredungsangebote und noch mehr freizügige Fotos. Ständig ›stolpert‹ eine Frau, wenn sie mir auf zwei Schritte nahekommt, damit ich sie ›auffangen‹ kann. Ich will das nicht. Dein Plan war, dass ich dadurch eine eigene Kochshow erhalte. Doch von derartigem Angebot habe ich nichts geahnt.«
Mit gerunzelter Stirn greift Mateo nach den vollgesaugten Tüchern. »Ich bin mir sicher, dass du bald deine Kochshow bekommst.«
»Und wie sieht die aus? Werden mir dort dann in jeder Folge neue Frauen vorgestellt, während ich in der Küche stehe und kochen will?« Ich stoße mich von der Fensterbank ab und gehe einen Schritt auf meinen Manager zu. »Ganz ehrlich, darauf habe ich keine Lust. Und noch weniger will ich von unzähligen Frauen verfolgt werden, die meinen, sie wären die Richtige für mich.«
»Ich bin mir sicher, dass der Rummel um den Artikel und damit um dich in wenigen Tagen vorbei ist. Im Moment bist du durch die Show und dadurch, dass dir keine Frau gefallen hat, in aller Munde. Aber du wirst sehen, das vergeht genauso schnell, wie es gekommen ist.«
»Das hoffe ich. Sonst ist unsere Zusammenarbeit bald Geschichte.«
Während ich das sage, fährt er mit seinem Schreibtischstuhl zurück und katapultiert die Taschentücher in den Mülleimer. Bei meinen Worten zuckt er kurz zusammen und wirft mir einen erschrockenen Blick zu. »Was soll das heißen?«
»Ich glaube, das weißt du ganz genau.«
»Aber Dario. Ich bin nicht nur dein Manager, sondern auch dein Freund. Du kannst nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, das alles zu beenden.«
»Doch, das kann ich und werde ich.«
»Aber Dario.«
»Ehrlich, Mateo, ich war schon gegen die Kuppel-Kochshow, bevor sie überhaupt angefangen hat. Und das wusstest du. Du wusstest, dass ich nur da mitmache, um meine Karriere anzukurbeln und weil es mein Wunsch ist, eine eigene Kochshow zu bekommen. Ich wollte diesen ganzen Rummel um meine Person nicht. Zumindest nicht so.«
Mateo springt auf und tritt auf mich zu. »Du musst aber zugeben, dass dich die Show berühmt gemacht hat, und an allem anderen können wir arbeiten. Zusammen.«
Ich boxe ihm leicht mit der Faust gegen die Brust. »Nicht wir, sondern du. Du wirst das geradebiegen. Wie, ist mir egal.«
»Aber ... aber ...«
Er will noch mehr sagen, doch ich drehe mich zur Tür. Nur ein paar Minuten später stelle ich fest, dass ich besser dran gewesen wäre, wenn ich noch länger in Mateos Büro geblieben wäre. Blitzlichtgewitter und Stimmengewirr empfangen mich, als ich in die Mittagssonne trete und von einer Horde Paparazzi begrüßt werde. Unter dem grellen Licht der Kameras zucke ich zusammen. Dabei lege ich mir eine Hand vor die Augen, um überhaupt sehen zu können.
»Dario, was haben Sie zu Cicciolinas Statement zu sagen?«
»Sind Sie wirklich so wählerisch?«
»Wie müsste Ihre Traumfrau denn sein?«
Verflucht, ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll. Ich könnte Stellung zu Cicciolinas Frechheiten nehmen. Doch würde das nicht alles nur verschlimmern? Ich setze meine Sonnenbrille auf und versuche so unbeeindruckt wie möglich auszusehen. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass ich etwas tun muss, um die Zeitungsleute loszuwerden. Ich will mich an der Meute vorbeischieben. Teilweise gelingt mir das, doch die Reporter geben nicht so leicht auf. Sie heften sich an meine Fersen.
»Haben Sie sich mehr von der Sendung versprochen?«
»Möchten Sie vielleicht einen Aufruf starten, um Ihre Traumfrau auf diesem Weg kennenzulernen?«
»Finden Sie, dass der Sender Bella eine falsche Auswahl an Frauen getroffen hat?«
Nur noch wenige Schritte und ich habe meinen Wagen erreicht, der im Schatten der Bäume parkt.
»Soll Ihr Schweigen für die Damenwelt da draußen als Ja interpretiert werden?«
»Himmel, nein«, platze ich heraus.
»Aber warum hat Ihnen dann keine der Damen zugesagt? Finden Sie es nicht erniedrigend für die Frauen?«
»Warum sollte das erniedrigend sein? Jede einzelne der Kandidatinnen war sympathisch und hübsch. Nur weil ich mich nicht verlieben konnte, heißt das nicht, dass der Sender etwas falsch gemacht hat oder sich irgendwer erniedrigt fühlen muss. Es hat eben nicht sein sollen.« Ich sollte meinen Mund halten, doch dieses Statement musste sein. Meinetwillen und wegen der Kandidatinnen.
»Dann sind Sie also weiterhin auf der Suche nach einer Frau? Oder vielleicht sogar nach einem Mann?«
Mein Kopf ruckt zur Seite, und ich starre den Kerl, der mir die letzte Frage gestellt hat, entgeistert an.
»Liegt Francesca mit ihrer Vermutung richtig, dass Sie schwul sind?«, fährt der Mann mit der Hornbrille fort.
»Francesca?« Verwirrt blicke ich drein. Francesca, eine weitere Kandidatin, hat ebenfalls ein Interview gegeben? Die Frage nach dem Warum muss ich mir nicht stellen. Bereits in der Show ist mir bewusst geworden, worauf die Damen aus sind. Und das war nicht die große Liebe.
»Sind Sie denn nun schwul?«, will einer der Reporter wissen.
»Ich bin alles andere als schwul«, stelle ich unmissverständlich klar.
2
*Lucia*
Erwartungsvoll gehe ich über die Türschwelle, hinein in den verdunkelten Raum. Lichtstrahlen suchen sich einen Weg durch die schmalen Schlitze der verschlossenen Fensterläden, malen Muster auf dem Holzboden. Staub kitzelt in meiner Nase, als ich weitergehe. Alte Möbel, von denen ich lediglich die Umrisse erkennen kann, füllen das Innere.
»Einen Moment bitte. Ich werde nur ein wenig mehr Licht hereinlassen, damit Sie sich einen besseren Eindruck verschaffen können«, meint der kleine, untersetzte Mann und eilt los.
Ich sehe ihm zu, wie er die Fenster und danach die laubgrünen Holzläden öffnet. Immer mehr Licht flutet den Raum, lässt mein Herz vor Freude hüpfen. Die dunklen, abgetretenen Dielen knarren, als ich mich einmal um meine eigene Achse drehe und jeden Winkel unter die Lupe nehme. Die verblichenen Wände könnten einen frischen Anstrich gebrauchen, genauso wie die Decke.
Während der Makler sich am letzten Fenster zu schaffen macht, sagt er: »Das Haus ist allgemein in einem guten Zustand.« Mit einem leisen, kurzatmigen Schnaufen stellt er sich neben mich. »Im Prinzip könnten Sie sofort einziehen. Das Einzige, was noch repariert werden muss, ist die Heizung. Aber im Moment brauchen Sie die ja nicht.«
Demonstrativ befördert er ein weißes Tuch aus seiner Stoffhose und wischt sich damit über die Stirn. Schweißperlen haben sich dort gesammelt, obwohl draußen noch nicht einmal fünfundzwanzig Grad sind.
»Aber der Winter kommt trotzdem.« Mit diesen Worten betritt Elisa mit meinem kleinen Sohn Nino auf dem Arm das Haus und sieht sich neugierig um. »Was ist mit dem Holzboden? Der sollte mal abgeschliffen werden.«
»Da haben Sie natürlich recht. Aber bedenken Sie, die Miete ist sehr günstig. Dazu haben Sie einen großen Garten und –«
»Der Garten wurde ebenfalls vernachlässigt«, unterbricht Elisa ihn.
Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. So kenne ich Elisa nicht. Normalerweise ist sie eher von der ruhigen, besonnenen Sorte. Doch heute habe ich den Eindruck, dass ihr irgendetwas die Laune verdorben hat.
»Da haben Sie recht«, gibt der Makler zu. »Aber wie schon gesagt, die Miete des Hauses ist wirklich äußerst günstig und –«
Nun bin ich diejenige, die ihn unterbricht. »Möchten Sie uns nicht noch den Rest des Hauses zeigen?«
»Selbstverständlich.« Pflichteifrig eilt er durch das Wohnzimmer und geht voraus in einen schmalen Gang, von dem drei weitere Türen abzweigen.
»Hier haben wir das Badezimmer«, erklärt er und öffnet die Tür, um uns einen Blick in das Innere zu gewähren. Die aprikosenfarbenen Wand- und Bodenfliesen entsprechen nicht unbedingt meinem Geschmack, aber ansonsten sieht alles recht neu aus. Was der kleine Mann uns nun auch bestätigt. »Das Badezimmer wurde erst vor einem knappen Jahr komplett saniert. Dabei wurde die Badewanne herausgerissen und stattdessen diese begehbare Dusche eingebaut.«
»Was viel praktischer ist«, pflichte ich ihm bei.
Elisas Kommentar besteht in einem Naserümpfen.
Nachdem wir uns alles genau angesehen haben, geht die Führung weiter. Der Makler zeigt uns das ›Elternschlafzimmer‹, wie er es nennt, und daneben das zusätzliche Schlafzimmer, das Ninos werden soll. In Ruhe sehen wir uns alles an, und der untersetzte Mann erzählt uns von den Besitzern des Hauses. Ein Ehepaar hat es jahrelang als Sommerdomizil genutzt. Nun haben sich die beiden getrennt, und niemand will den Urlaub hier verbringen.
»Bestimmt möchten Sie sich ein wenig beratschlagen«, vermutet der Makler und deutet nach draußen. »Ich werde ein paar Telefonate erledigen. Allerdings sollten Sie sich bei der Entscheidung nicht allzu viel Zeit lassen. Es gibt noch andere Interessenten.«
Kaum ist er aus dem Haus gegangen, zieht Elisa mich beiseite. »Du denkst nicht ernsthaft darüber nach, es zu mieten, oder?«
»Doch, das tue ich.«
»Aber warum? Du kannst bei uns bleiben. Wir haben genügend Platz und –«
»Elisa, ich weiß das wirklich zu schätzen und bin dir und Alessandro auch sehr dankbar, dass ich bei euch wohnen kann, aber irgendwann muss ich wieder auf eigenen Beinen stehen. Mein Leben selbst in die Hand nehmen. Ich kann euch nicht ständig auf der Tasche liegen.«
»Du liegst uns nicht auf der Tasche. Wir haben dich gerne bei uns. Ich verstehe nicht, wie du überhaupt auf die Idee kommst.« Während sie das sagt, gestikuliert sie wild. »Sieh dir doch mal alles genauer an. Das Haus ist ziemlich alt. Du müsstest für die Renovierung nicht gerade wenig Geld aufbringen.«
»Mag sein. Aber das alles muss nicht sofort geschehen. Mich stört es nicht, dass die Wände nicht mehr strahlend weiß sind, und es macht mir auch nichts aus, dass der Fußboden nicht mehr ganz neu ist.«
»Lass mich wenigstens eine günstige Monatsmiete für dich aushandeln«, bietet mir Elisa an. »Ein Monat mietfrei ist das Mindeste, was sie dir gewähren können.«
Ich schüttle den Kopf und deute auf die Möbel, die meiner Meinung nach allesamt über zwanzig Jahre alt sind. »Wo bitte bekomme ich für so wenig Geld ein komplett eingerichtetes Haus? Und das nur wenige Meter von euch entfernt? Ehrlich, Elisa, ich finde, dieses Haus ist ein Glücksgriff, und ich sollte zuschlagen, bevor es mir jemand vor der Nase wegschnappt.«
»Das mag ja alles stimmen. Aber wie willst du das bezahlen?«
»Ich werde mir einen Job suchen. Das ist der nächste Punkt auf meinem Dreijahresplan«, kläre ich sie auf und nehme ihr Nino ab, der gleich darauf zu quengeln beginnt.
Elisa stöhnt laut auf. »Warum willst du deinen Dreijahresplan in drei Monaten abarbeiten? Warum suchst du dir nicht erst einen Job und dann eine Wohnung oder ...«, sie deutet um sich, »ein Haus?«
»Glaub mir, Elisa, alle Punkte werde ich ganz sicher nicht in drei Monaten abgearbeitet haben«, erwidere ich und muss dabei an die letzten Punkte auf meiner Liste denken. Denn gerade die werden die größten Herausforderungen sein. Darüber bin ich mir absolut im Klaren.
Noch einmal schnaubt Elisa laut. »Weiß Alessandro von alldem hier?«
Ich schüttle den Kopf. »Er wird es schon noch erfahren. Bald sogar. Schließlich setze ich meine Hoffnung darauf, von ihm eine Anstellung im Hotel zu bekommen.«
Bei diesen Worten entspannen sich Elisas Gesichtszüge. »Das finde ich eine sehr gute Idee.«
»Ich eigentlich nicht. Denn du kennst mich. Ich kann mich nur schlecht meinem Bruder unterordnen. Aber ich sehe das als einzige Möglichkeit, wie ich Job und Kind unter einen Hut kriege. Zumindest vorübergehend.«
»Dann willst du dein Studium nicht fortsetzen?«, hakt meine Freundin nach, und gemeinsam schlendern wir durch den Wohnraum.
»Nein. Diesen Traum muss ich wohl begraben. Ich kann nicht studieren und gleichzeitig eine gute Mutter sein.« Dieser Schritt, die Entscheidung, das, was ich einst so sehr geliebt habe, ziehen zu lassen, schmerzt mich. Dennoch gibt es nichts von größerer Bedeutung als meinen Sohn. Für ihn würde ich alles aufgeben. All meine Träume, meine Ziele. Ja, sogar mich selbst. Ich blicke auf Ninos dunklen Haarschopf hinunter und gebe ihm einen sanften Kuss auf den Kopf. »Nino ist das Wichtigste für mich. Ich möchte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen. Wenn ich arbeite und studiere, wo bleibt dann diese Zeit?«
»Das verstehe ich. Aber vielleicht finden wir eine Lösung, wie wir alles unter einen Hut bekommen.«
Die Zuversicht in Elisas Worten lässt mich lächeln und gleichzeitig den Kopf schütteln. »Das glaube ich nicht. Aber wie sagt Nonna so schön: ›Die Zeit wird es zeigen.‹«
Ich sehe zu dem Makler, der unter einem Baum steht und sich erneut mit einem Tuch über die Stirn wischt. Kein Wunder, dass ihm heiß ist. Er trägt akkurat gebügelte Stoffhosen und ein Langarmhemd. Ich sollte ihn schleunigst von der Warterei erlösen, damit er zurück in sein – wie ich vermute – klimatisiertes Büro kann.
Als er uns durch das hohe Gras auf ihn zuschlendern sieht, nimmt er das Tuch und steckt es eilig in die Hosentasche. »Haben Sie sich entschieden?«
»Ja, ich werde das Haus mieten.«
»Eine gute Entscheidung, Signorina De Simone. Ich bin mir sicher, Sie werden Ihren Entschluss nicht bereuen.« Freundlich besiegelt er unsere Worte mit einem Handschlag und meint dann: »Den Vertrag lasse ich Ihnen in den nächsten Tagen zukommen, und nach der Unterzeichnung können Sie sofort einziehen.«
»Sehr schön.«
»Also, so eilig muss es auch wieder nicht sein«, wispert Elisa mir zu.
*Dario*
Dass meine morgendliche Joggingrunde in einer Flucht endet, habe ich nicht erwartet. Doch jetzt hetze ich wie ein gejagtes Tier durch den Park und halte Ausschau nach einer Möglichkeit, mich zu verstecken.
Seit der Ausstrahlung des Finales und dem Zeitungsartikel führe ich ein Leben wie im modernen Märchen. Allerdings im negativen Sinne. Überall muss ich mich vor lauernden Reportern und liebeskranken Frauen in Acht nehmen, und das setzt meiner Laune mehr zu, als mir recht ist.
Normalerweise bin ich ein lebensfroher und geselliger Mensch. Allerdings habe ich es in den letzten Tagen vorgezogen, mich in meiner Wohnung oder im Restaurant zu verschanzen. Obwohl Mateo alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um den Artikel zu revidieren, ist es ihm nicht gelungen. Zwar konnte ich in einem Interview meinen Standpunkt klarmachen, doch der kam wohl nicht bei allen Frauen deutlich genug an. Noch immer fühle ich mich wie Freiwild. Wie auch jetzt.
Dabei hat meine Joggingrunde so gut begonnen. Der Park liegt nur wenige Meter von meiner Wohnung entfernt. Der morgendliche Straßenverkehr ist um diese Uhrzeit noch recht spärlich, und ich startete in einem gemächlichen Tempo. Doch bereits nach wenigen Metern holte mich das bedrückende Gefühl ein, beobachtet zu werden. Und das, obwohl ich ein Kapuzensweatshirt trage, das mein Gesicht zum größten Teil verbirgt. Ich werfe einen schnellen Blick über meine Schulter, sehe mich um und erkenne, dass eine Frau mehrere Meter hinter mir ebenfalls ein morgendliches Sportprogramm absolviert. Nichts Ungewöhnliches. Zwischen mir und der Joggerin liegt ein ausreichender Abstand, und auf mich wirkt sie nicht wie jemand, der mir gefährlich werden könnte. Alleine die Tatsache, dass ich darüber nachdenke, regt mich tierisch auf.
Erneut lenke ich mein Augenmerk auf den Weg vor mir. Ich drehe die Musik weiter auf, sodass ein harter Bass gepaart mit lautem Schlagzeug und rockigem Gesang durch meine Kopfhörer hallt. Die Musik führt dazu, dass ich mein Tempo erhöhe, und ich bin mir ziemlich sicher, die andere Läuferin abgehängt zu haben. Doch weit gefehlt. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass auch sie schneller läuft und den Abstand zwischen uns verringert. Zum Teufel, was wird das hier? Verfolgungen erster Klasse, oder wie? Entweder ist die Frau eine professionelle Sprinterin, oder ich habe tatsächlich schwer an Kondition verloren. Oder treiben ihre Endorphine sie zur Höchstleistung an? Jedenfalls kann ich die Geschwindigkeit, mit der ich durch den Park rase, nicht länger beibehalten. Ein brauchbares Versteck ist mir ebenso wenig unter die Augen gekommen. Selbst wenn ich eines gefunden hätte, diese Frau ist mir zu dicht auf den Fersen, um einfach so verschwinden zu können.
»Verflucht noch mal«, stoße ich aus und ärgere mich darüber, was aus mir geworden ist. Noch nie bin ich vor dem weiblichen Geschlecht geflüchtet. Und erst recht hatte ich nie das Bedürfnis, jemandem so deutlich sagen zu wollen, er solle mich in Ruhe lassen. In der Regel bin ich ein Mann, der Frauen sehr zugetan ist. Was wohl auch die eine oder andere Affäre erklärt, die ich in all den Jahren hatte. Eine ernsthafte Beziehung ist allerdings nie dabei gewesen. Nur ein einziges Mal habe ich gedacht, mit dieser Frau könnte es klappen. Doch nach einem guten Jahr war der Versuch Geschichte.
Seitdem bevorzuge ich lockere Beziehungen, und bis vor ein paar Monaten hatte ich auch kein Problem damit. Doch dann hat mir mein Kumpel Alessandro, den ich aus Studientagen kenne, mitgeteilt, dass er sich verlobt habe, und das hat mich aus unerklärlichen Gründen aus der Bahn geworfen. Mittlerweile sind all meine Freunde in einer festen Beziehung, haben teilweise geheiratet und bereits Kinder. Alessandro und ich waren die einzigen beiden Junggesellen. Jetzt, mit zweiunddreißig, ist wohl allmählich die Zeit gekommen, in der man sich über die Zukunft Gedanken machen sollte. Schließlich bin ich ein typischer Italiener, der irgendwann eine große Familie haben möchte.
Meine Gedanken haben mich ungewollt langsamer werden lassen, und ich sehe, dass die Frau nur noch wenige Meter von mir entfernt ist.
»Halt! Warte doch kurz«, ruft mir die Blondine zu. Ich will mein Tempo schon wieder aufnehmen, als sie keuchend hinzufügt: »Du hast was verloren.«
Verdutzt stoppe ich und drehe mich um. Ich sehe, wie die Frau mit ihrem athletischen Körper zu mir gelaufen kommt. Sie trägt eine dieser superengen Hotpants. Normalerweise mag ich es, wenn Frauen darin vor mir joggen. Nicht heute. In ihrem Sportdress, das freizügiger nicht sein könnte, bleibt sie vor mir stehen.
»Ich habe dir schon vorhin zugerufen, aber du hast es wohl nicht gehört«, meint sie, klimpert mit den Wimpern, was mich nur noch genervter werden lässt. Mein Gedanke, dass ich vielleicht wirklich so dumm war, vor jemandem zu flüchten, der mir nur mein Hab und Gut zurückgeben möchte, verflüchtigt sich. Die Frau ist voll und ganz auf einen Flirt eingestellt. Ich hingegen nicht.
»Du sagst, ich habe was verloren?« Ich versuche freundlich zu klingen und ignoriere ihre koketten Blicke.
»Ja, hast du«, antwortet sie und kommt einen Schritt auf mich zu.
»Und was ist das?« Ich will zurückweichen, weil sie mir definitiv zu nahe ist. Doch ich bin immer noch ein Mann, der sich nicht von einer Frau in die Enge treiben lässt.
»Es sind zwei Dinge. Zum einen hast du das da verloren.« Sie greift in die Tasche ihrer Hotpants, fördert einen kleinen Zettel zutage und reicht ihn mir. Während sie das Stück Papier in meine Hand fallen lässt, sieht sie mir tief in die Augen und haucht: »Du hast richtig daran getan, keiner der Frauen in der Show dein Herz zu schenken. Die waren allesamt nur auf Ruhm aus.«
»Danke«, murmle ich und weiche ihrem Blick aus. Stattdessen sehe ich auf den Papierfetzen hinunter. Darauf steht eine Handynummer. Vermutlich ihre. Gerade als ich ihr klarmachen möchte, dass ich nicht auf derartige Spielchen aus bin, kommt sie noch einen Schritt auf mich zu, schlingt ihre Arme um meinen Nacken und presst sich an mich. »Das Zweite, was du vergessen hast, ist mich anzurufen. Aber jetzt hast du ja meine Nummer, und ich verspreche dir, Baby, wir beide werden zusammen ziemlich viel Spaß haben.«
»Moment mal!« Bestimmend löse ihre verschränkten Finger von meinem Nacken und schiebe sie von mir weg. »Ich bin nicht auf so etwas aus. Du solltest dir jemand anderen suchen.«
Ihre Mimik ändert sich schlagartig.
»Ach ja und warum? Bin ich dir ebenso wie die anderen nicht gut genug?«, motzt sie und presst ihre vollen Lippen zu einer dünnen Line zusammen.
Genervt atme ich aus, mache auf dem Absatz kehrt und will meine Flucht fortsetzen. Doch die Stimme der Frau hält mich auf. »Ich folge dir schon seit ein paar Tagen. Ich habe dich auch vor deiner Wohnung gesehen und –«
»Vor meiner Wohnung? Heißt das, du stalkst mich?«, zische ich und drehe mich wütend um. Das wird ja immer besser. Ist die Frau eine Stalkerin?
»Ich verfolge dich nicht. Ich will doch nur, dass wir uns kennenlernen und –«
»Ich habe kein Interesse, okay? Nicht, weil du nicht hübsch genug bist oder was auch immer. Ich möchte einfach nicht. Verstanden?«
»Aber wir könnten es doch versuchen. Du und ich. Wir könnten –«
»Dafür musst du dir einen anderen suchen.« Und dann jage ich erneut los. Doch diesmal schlage ich nicht den Weg zu meiner Wohnung ein, sondern sprinte zu Mateos Büro.
Knapp fünfzehn Minuten später komme ich schwer atmend und verschwitzt bei ihm an. Mateo, der mit meinem Besuch nicht gerechnet hat und gerade dabei ist, einen Werbedeal für einen weiteren Klienten unter Dach und Fach zu kriegen, beendet eilig das Gespräch.
»Dario. Was machst du denn hier?«, will er wissen und legt den Telefonhörer weg.
»Du musst etwas unternehmen. Ich
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Dana Summer
Bildmaterialien: Shutterstock ID 1126734998
Cover: Buchcoverdesign.de / Chris Gilcher
Lektorat: Lektorat: Wortnörgler, Sandra Linke; Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2020
ISBN: 978-3-96714-075-0
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