Hier stehe ich nun, als Opfer meiner eigenen Entscheidung, und sosehr ich es mir auch wünsche, kann ich es nicht rückgängig machen. Kann kein gesagtes Wort mehr ungeschehen machen. Keine Empfindung, die von meiner Seele Besitz ergriffen hat, noch länger ignorieren. Wie auch?! Das Gefühl ist stärker als alles, was ich eigentlich jetzt, genau in diesem Moment, verspüren sollte. Stärker als jede Vernunft. Stärker als die Liebe, die ich für den Mann empfinde, der mir direkt gegenübersteht. In Nasons warmen, dunkelbraunen Augen spiegelt sich die Demütigung, die Verletzung.
„Es tut mir leid“, murmle ich, wische mir eine Träne fort, die an meiner Wange hinabläuft, und ziehe meine Hand, die noch immer in seiner liegt, langsam weg. Ich trete einen Schritt zurück, höre das Rascheln meines Kleides. Am liebsten würde ich mir augenblicklich den schweren Stoff, der droht, mir jeglichen Sauerstoff aus den Lungen zu quetschen, vom Leib zerren.
„Es tut dir leid?!“, murmelt er mehr zu sich selbst als zu mir.
Stumm nicke ich, weiche einen weiteren Schritt von ihm.
„Mehr hast du mir nicht zu sagen, außer dass es dir leidtut?“ Unaufhörlich starrt er mich an. Eine Hand um die Krawatte an seinem Hals gelegt.
„Seit wann hast du diese Zweifel und warum hast du sie nicht schon viel früher geäußert?“, will er mit belegter Stimme wissen.
Auch wenn ich wollte, ich kann ihm seine Fragen nicht beantworten. Wie auch, wenn ich selbst nicht einmal die Antwort kenne. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass diese Nachricht, die meine Mutter mir vor drei Tagen mitgeteilt hat, alles verändert hat. Wirklich alles. Es fühlt sich an, als ob ich einmal komplett auf den Kopf gestellt, kräftig geschüttelt worden und alles, was mich als Person ausmacht, aus mir herausgepurzelt wäre. Bis nur noch eine leere Hülle von mir übrig geblieben ist. Genau diese innere Leere, vermischt mit dem Gefühl, dass etwas ganz Entscheidendes in meinem Leben fehlt, hat mich dazu verleitet, die Notbremse zu ziehen. Mir, um es hart auszudrücken, die Augen geöffnet. Ich kann Nason nicht heiraten. Es fühlt sich einfach falsch an.
„Nason, es, … ich will dir nicht wehtun …“
„Aber genau das machst du gerade. Himmel, July, wir sind seit fast zehn Jahren ein Paar. Ich weiß alles von dir … oder dachte es zumindest. Und jetzt kommst du mit so einer Hammernachricht“, sagt er mit lauter Stimme, zerrt sich die Krawatte vom Hals und schmeißt sie zu Boden. Seine Wut kann ich sehr gut nachvollziehen, denn mir geht es wie ihm. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Person, für die ich so empfinde, nicht vor mir steht.
Für ein paar Sekunden verharren wir schweigend, ich sehe den Schmerz in seinen Augen, den Ausdruck von tiefer Enttäuschung auf seinem Gesicht, und zu wissen, dass ich dafür verantwortlich bin, bricht mir das Herz. Doch egal, was ich auch sage, tue, es macht die Situation nicht besser. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich muss einfach wissen, ob diese Neuigkeit der Auslöser für meine jahrelangen Ahnungen ist. Ob diese Lücke tief in mir, die ich all die Jahre ignoriert habe und die erst jetzt mit einer solchen Wucht wieder zum Vorschein tritt, endlich gefüllt werden kann. Ob dieses Gefühl endlich verschwindet, das mir sagt, etwas ganz Wesentliches würde in meinem Leben fehlen.
Zwei Wochen später
July
Mit jeder Minute, die ich länger in diesem Taxi sitze, frage ich mich, ob der Fahrer überhaupt einen blassen Schimmer davon hat, wo er hinmuss. Obwohl wir uns auf dem Highway befinden, ist der Verkehr schon beinahe beängstigend ruhig.
„Und Sie sind sich wirklich sicher, dass wir hier richtig sind?“, frage ich den kleinen, untersetzten Mann hinter dem Steuer, der in den ganzen dreißig Minuten, während ich nun schon auf der Rückbank sitze, kaum einen Satz herausgebracht hat. All meine Konversationsversuche hat er mit einem müden Lächeln quittiert, mir hin und wieder eine knappe Antwort gegeben. Bevor ich in das Taxi gestiegen war, sah sein Gesicht noch freundlich aus, doch als ich auf der Rückbank Platz genommen hatte und ihm die Adresse nannte, änderte sich das. Er brummte lediglich: „Sie wissen aber schon, dass die Fahrt ziemlich teuer wird?“
Klar weiß ich das. Schließlich habe ich mich sehr genau über den Ort, den ich besuchen will, erkundigt. Dabei ist mir auch nicht entgangen, dass die Busverbindungen unterirdisch schlecht sind. Erst recht an einem Sonntagabend. Aber leider ist das nun mal der einzige Flug, den ich bekommen habe.
„Hm, oft fahre ich nicht in diese Gegend, aber wenn das Navi“, er deutet mit einem seiner schwulstigen Finger auf das an der Frontscheibe angebrachte Gerät, „uns diesen Weg anzeigt, wird es schon richtig sein.“
Na hoffentlich, denke ich mir und traue mich gar nicht mehr, auf den Taxameter zu schauen. Der Anblick lässt den Inhalt meines Portemonnaies gehörig schrumpfen. Und nicht nur das. Mein Trip hat mein Bankkonto bis aufs Äußerste strapaziert.
„Aber Sie waren schon mal da?“, hake ich nach, nur um meine Ungewissheit, ob wir auf dem richtigen Weg sind, zu beschwichtigen.
„Nö.“
„Aber eben sagten Sie doch, dass Sie nicht oft in diese Gegend fahren. Was ja bedeutet, dass -“
Mit einem Seufzer unterbricht er mich: „Ich war ein paarmal mit meiner Familie im Nationalpark zum Wandern. Aber von diesem Jeroma Hill habe ich noch nie etwas gehört.“
„Oh, okay“, gebe ich mich zwangsläufig damit zufrieden.
„Wussten Sie, dass der Ort nur an die 800 Einwohner hat? Es gibt wohl nur einen Coffee Shop, ein Gemeindehaus und einen Lebensmittelladen“, erzähle ich dem unwissenden Mann weiter. „Ach, und natürlich noch ein Steakhaus.“
„Woher auch? Ich habe Ihnen ja eben schon gesagt, dass ich noch nie etwas von dem Ort gehört habe!“, brummt er gelangweilt.
„Und wussten Sie, dass es dort -“, will ich weitere Einzelheiten verraten, werde aber von einem „Lady, ich muss mich auf die Straße konzentrieren!“ unterbrochen. Dann schaltet er das Radio noch lauter, um jeglichen Versuch meinerseits, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, im Keim zu ersticken.
Gut, ich gebe ja zu, dass ich manchmal in schwierigen Situationen dazu neige, meine Nervosität mit Gesprächen zu überspielen. Und die Gegebenheit, in der ich mich gerade befinde, ist wirklich und in jedweder Hinsicht außergewöhnlich. Aber davon weiß der Fahrer ja nichts und ich glaube, er hat auch keinerlei Interesse, davon zu erfahren. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Laut meinen Recherchen müssten wir in weniger als zwanzig Minuten das Ziel erreicht haben. Allein diese Tatsache führt dazu, dass ich wie bereits beim Verlassen des Flughafens erneut in eine Art Panik verfalle. Diese Ungewissheit, was mich erwartet, lässt mich unruhig auf der Rückbank herumrutschen. Aber hey, genauso wollte ich es doch. Niemand hat mich zu dem Entschluss gezwungen. Weder dazu, Nason Hals über Kopf zu verlassen, noch, das Jobangebot auszuschlagen oder meine Familie zurückzulassen. Nein, das alles habe ich aus freien Stücken getan. Aber was, wenn das, was vor mir liegt, mich vielleicht enttäuscht? Was, wenn das Gefühl, welches ich seit ein paar Wochen verspüre, sich auch nicht einstellen will, sobald ich mehr über meine Vergangenheit weiß? Was, wenn ich weiterhin den Eindruck habe, dass etwas in meinem Leben fehlt? Was, wenn sich meine spontane Entscheidung, mein Leben komplett über den Haufen zu werfen, als falsch herausstellt?
Am Rande bekomme ich mit, wie das Taxi vom Highway abbiegt, wie die Bergkette, die ich bis eben nur seitlich habe sehen können, inzwischen den Anschein erweckt, als ob wir direkt darauf zusteuern würden. Doch das ist nicht das Einzige, was sich an der Landschaft ändert. Die Dichte des Waldes nimmt mit jedem Meter zu und ich weiß nicht, ob es an der hereinbrechenden Dunkelheit liegt, die die Gegend schon fast gespenstisch wirken lässt, oder vielmehr daran, dass wir nun überhaupt keinem anderen Auto mehr begegnen. Erneut biegen wir ein paar hundert Meter weiter ab und alleine der Anblick auf die vor uns liegende Straße trägt dazu bei, dass sich das mulmige Gefühl in meinem Magen noch mehr verstärkt. Wo zum Teufel fahren wir hin? Der Weg sieht nicht gerade besonders einladend aus und auch nicht so, als ob er irgendwo hinführen würde. Die Straße ist viel zu eng, die Bäume stehen viel zu dicht am Straßenrand, und ist diese Wegstrecke überhaupt passierbar? Es erweckt den Anschein, als ob sie eher einer Wanderroute entspräche, die zu einem dieser monströs aussehenden Berge hinaufführt.
Mein wortkarger Taxifahrer flucht leise vor sich hin, bremst ab und drückt ein paar Knöpfe an seinem Navi. Augenblicklich ändert sich das Display und die nette Frauenstimme aus dem Gerät meldet sich zu Wort: „Sie befinden sich auf der richtigen Route.“
„Ernsthaft?“, mault der Fahrer mehr zu sich selber, drückt wieder auf dem Bildschirm herum und das Navi meldet sich nochmals zu Wort: „Route wird neu berechnet …“ Und einen Augenblick später: „Kein Signal!“ Auch nachdem der Fahrer das Navi aus- und wieder angeschaltet hat, haben wir noch immer keinen Empfang.
Erneut vernehme ich einen Schwall an Flüchen, bevor das Taxi sich abermals in Gang setzt. „Wo liegt dieser Ort? Am Arsch der Welt?“
Hilflos zucke ich mit den Schultern. Auf den wenigen Bildern, die ich von Jeroma Hill im Internet gefunden habe, hat es eigentlich ganz nett ausgesehen. Gut, ein wenig waldlastig, aber für jemanden wie mich, der in einem verschlafenen Vorort groß geworden ist, kein gravierender Unterschied. Zumindest gehe ich davon aus.
In holprigem Tempo geht es weiter und ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn uns jetzt ein Auto entgegenkommt. Etwas Positives hat die Strecke auf alle Fälle. Ich bin so abgelenkt, dass ich das nagende Gefühl der Ungewissheit ganz vergesse. Erst mal muss ich heil an meinem Ziel ankommen, und auch wenn ich es ungern zugebe, aber der Blick aus dem Fenster und der Abgrund, der sich nur wenige Zentimeter neben der Straße auftut, vermitteln mir ein sehr beklemmendes Gefühl der Unsicherheit. Verflucht, geht das weit runter! Ich kann nur hoffen, dass wirklich niemand aus dem Dorf auf die Idee kommt, jetzt in die Stadt zu fahren. Ich räuspere mich, will schon ansetzen, genau das dem wortkargen Taxifahrer zu sagen, als er mir durch den Rückspiegel einen bitterbösen Blick zuwirft, der meinen Mund sofort wieder zuklappen lässt.
Wie ein Pendel werde ich von links nach rechts geschüttelt, und als wir über ein Schlagloch fahren, zumindest gehe ich davon aus, dass es eines ist, und kein totes Tier, hüpfe ich auf meinem Sitz ein wenig nach oben. Das mulmige Gefühl in meinem Magen, welches ich schon beim Betreten des Fliegers verspürt habe, verstärkt sich nun, durch diese Schleuderfahrt, nur noch mehr. Wenn wir nicht bald diesen Ort erreicht haben, kann ich nicht garantieren, dass mein Mageninhalt dort verbleibt, wo er eigentlich hingehört.
Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, erkenne ich durch die immer lichter werdenden Bäume einen Punkt von Zivilisation, der sich immer weiter vergrößert, bis wir schlussendlich den Wald verlassen. Erleichterung macht sich in mir breit, als ich die ersten Häuser sehe und wir auf einen Untergrund einbiegen, der den Namen Straße wirklich verdient hat. Doch anstatt wie erwartet in das Dorf zu fahren, leitet uns das Navi daran vorbei, erneut in den Wald hinein. Zum Glück ist diese Strecke um Welten besser passierbar und binnen weniger Minuten haben wir das Ziel erreicht. Meine Augen weiten sich mit jedem Meter, den wir näherkommen. Mit viel habe ich gerechnet, aber nicht damit, dass mein Ziel eine imposant aussehende Villa ist, deren Grundstück von einer über vier Meter hohen, akkurat geschnittenen Hecke umrandet ist. Vor einem verschlossenen Eisentor kommt das Taxi zum Stehen.
„Wir sind da!“, kommentiert mein nicht gerade glücklich wirkender Fahrer das Geschehen.
„Hm … ja“, murmle ich und schnalle mich langsam ab. Jetzt, direkt vor meinem Ziel stehend, fühlt es sich plötzlich gar nicht mehr so richtig an. Dabei habe ich mir diesen Moment in den letzten Tagen so oft ausgemalt. Ich weiß nicht genau, ob es an dem gigantischen Gebäude vor mir liegt oder an der Tatsache, dass ich kurz davor bin zu erfahren, wie viel Wahrheit in der Aussage meiner Mom liegt.
Schneller als mir lieb ist, hat der Taxifahrer auch schon den Kofferraumdeckel geöffnet und mein Gepäck landet schwungvoll auf dem kiesbedeckten Boden.
Ich bedanke mich, sehe zu, wie er zurück auf seinen Sitz eilt und mir dann knapp den Preis meiner Exkursion nennt.
„Danke fürs Herbringen“, sage ich und reiche ihm die Geldscheine.
Er murmelt irgendetwas Unverständliches vor sich hin, was sich anhört wie „Und dann bekommt man noch nicht einmal ein vernünftiges Trinkgeld“, knallt die Wagentür zu und legt den Rückwärtsgang ein.
Zugegeben, viel ist es nicht, was ich ihm zusätzlich gegeben habe. Erst recht nicht in Anbetracht der Tatsache, dass es mittlerweile stockdunkel geworden und die Strecke durch den Wald schon fast eine Zumutung gewesen ist. Aber mehr ist nun mal nicht drin.
Ich sehe zu, wie die Rücklichter des Wagens um die Ecke biegen, seufze laut auf und drehe mich wieder zu dem Tor um, welches ungebetenen Gästen den Zutritt auf das Grundstück versperrt, und ich frage mich, ob ich wohl zu dieser Kategorie gehöre. In gewisser Weise ja, denn ich habe weder eine persönliche Einladung von ihm bekommen, noch habe ich meinen Besuch angekündigt. Er wird also in jeder Hinsicht überrascht sein. Je länger ich diese Absperrung anstarre, umso ungewisser fühle ich mich. Was, wenn er mich gar nicht sehen will, nicht mit mir reden möchte? Was, wenn er mich wegschickt, ohne mir die Möglichkeit zu geben, ihn zu fragen, was damals wirklich passiert ist? Mitten in der Bewegung, die Klingel an der Sprechanlage zu betätigen, halte ich inne. Starre auf meinen ausgestreckten Zeigefinger, der leicht zittert. Vielleicht war der Entschluss, hierherzukommen, doch falsch!
Nein, selbstbewusst straffe ich die Schultern, drücke den Knopf und warte darauf, dass jemand an die Sprechanlage geht. Die Sekunden verrinnen und nach ein paar Minuten betätige ich den Knopf ein weiteres Mal. Doch noch immer bleibt das Tor verschlossen. Ich trete ein paar Schritte zurück, sehe zu der Villa, in der ganz offensichtlich jemand anwesend zu sein scheint, denn im unteren Stockwerk brennt Licht, und warte. Warum öffnet mir niemand? Irgendwie hat das alles in meinen Vorstellungen einfacher ausgesehen. Ich habe mir ausgemalt, wie er die Tür aufmacht, mit überraschtem Gesichtsausdruck fragt, wer ich sei, und ich ihm dann meinen Namen nenne und all das erzähle, was mir meine Mom vor mehreren Tagen gebeichtet hat. In meiner Vorstellung hat er mich dann ins Haus gebeten, mir etwas zu trinken gebracht und seine Sichtweise erläutert.
Es sind über vierundzwanzig Jahre vergangen. Vierundzwanzig Jahre, die von Lügen und Ungewissheit geprägt waren. Jetzt ist Schluss! Ich habe nicht halb Kanada überquert, um so kurz vor dem Ziel einen Rückzieher zu machen oder gar von einem Tor aufgehalten zu werden. Ich werde mir einen Weg in das Gebäude verschaffen. Koste es, was es wolle.
Cale
Ich kann nicht genau sagen, was mir mehr Übelkeit bereitet – der eindeutig zu viel konsumierte Alkohol in meinen Adern oder der Geruch des süßlichen Parfüms von der Kleinen.
Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht, diese Blondine, die gerade dabei ist, auf meinem Schoß herumzurutschen und mir ihre Möpse ins Gesicht zu strecken, mit zu mir zu nehmen? Normalerweise bin ich kein Typ, der seine One-Night-Stands in die eigenen vier Wände lässt.
Nein, ich gehöre eher zu den Kerlen, die mit zu ihr kommen und dann, nachdem es zur Sache gegangen ist, wieder verschwinden. Während Blondchen beginnt, an meinem Ohr zu lutschen und mit ihren Fingern meinen Hosenbund zu öffnen, überlege ich, wie ich sie später am schnellsten wieder loswerde.
„Cale, Baby, was ist los mit dir?“, säuselt sie und lässt ihre Zunge in meine Ohrmuschel gleiten.
Baby? Ich glaube, Scheiße, wie hieß sie noch mal? Egal, Blondchen weiß anscheinend nicht, mit wem sie es hier zu tun hat. Ich trage viele Spitznamen, aber Baby gehört eindeutig nicht dazu.
„Lass das!“, brumme ich sie an. „Ich will keinen von diesen Scheißkosenamen.“
„Wie soll ich dich denn dann nennen?“, flötet sie, bewegt ihren Hintern auf meinem Schritt auf und ab und wartet auf eine Reaktion meinerseits.
Vor einem guten halben Jahr trug ich noch den Spitznamen Crash-Cale, weil ich einer der gefürchtetsten Spieler meines Teams war. Groß, muskulös und bekannt dafür, keine Gnade zu kennen. Mit meinem äußeren Erscheinungsbild hatte das allerdings nichts zu tun.
„Wäre dir Tiger lieber?“, will sie wissen, öffnet meine Gürtelschnalle und lässt ein paar Finger in meine Hose gleiten.
Blondchen ist eindeutig schwer von Begriff. Was versteht sie an der Ansage „keine Kosenamen“ nicht? Ich greife nach ihrem Handgelenk und reiße es ruckartig von meinen Weichteilen weg.
„Autsch!“, jault sie auf und entzieht mir ihre Hand mit einem bitterbösen Blick. „Was ist los mit dir?“
Gute Frage. Bis vor ein paar Minuten dachte ich noch, es wäre eine gute Idee, mit der Tussi, die ich in dieser seltsamen Bar kennengelernt habe, eine Nummer zu schieben, aber jetzt bin ich mir da auf einmal gar nicht mehr so sicher. Irgendetwas stört mich plötzlich an ihr, was mir vorhin in der dunklen Spelunke noch gar nichts ausgemacht zu haben schien. Ich lasse meinen Blick an ihr hinabgleiten. An ihrem äußeren Erscheinungsbild liegt meine plötzliche Zurückhaltung sicher nicht. Nein, meine Begleiterin sieht gut aus. Langes, welliges blondes Haar, große blaue Augen und eine Figur wie die eines Models. Ihr zartrosafarbenes Sommerkleid ist bis über die Hüften hochgeschoben und zeigt ihr weißes Spitzenhöschen.
„Nichts“, murmle ich, greife in ihr langes Haar und ziehe ihren Mund zu meinem. Nur aus einem einzigen Grund habe ich sie mitgenommen, also sollte ich diesen jetzt auch fortführen. Ich befürchte schon, dass sie nach meiner schroffen Art das Weite sucht, doch nein, augenblicklich geht es genau dort weiter, wo wir eben aufgehört haben. Geschickt streife ich die Träger ihres Kleides herunter, um an den Verschluss ihres BHs zu gelangen.
„Oh, Cale“, stöhnt sie zwischen zwei Küssen. „Wollen wir nicht lieber in dein Schlafzimmer gehen?“
„Auf keinen Fall!“, erwidere ich und füge schnell hinzu, als sie beginnt, sich bei meinem Satz zu versteifen, „hier ist es doch sehr gemütlich.“
„Na ja, ich weiß nicht genau. Ein Bett wäre mir doch lieber“, säuselt sie und beginnt erneut damit, mein Ohr mit ihrer feuchten Zunge zu bearbeiten. Keine Ahnung, wer ihr hat weismachen wollen, dass Männer darauf stehen, aber ich kann mir wirklich was Angenehmeres vorstellen, als meinen Gehörgang mit ihrer Zunge geputzt zu bekommen.
Ich ignoriere ihren Kommentar und versuche auch, sie ein wenig von meinem Ohr wegzudrücken. Was mir nur teilweise gelingt. Zwar ist ihre Zunge jetzt an meinem Hals, doch ihre nächste Frage kommt beinahe sofort: „Was ist jetzt mit deinem Schlafzimmer?“
Himmel, ist die Tussi nervig.
Blitzschnell greife ich an ihre Hüften, drehe sie um, sodass sie mit ihrem Oberkörper an die Sofalehne gedrückt wird.
„Oh“, stöhnt sie auf. „Ich mag es, wenn du so wild bist.“ Sie presst ihren Hintern enger an meinen Schritt, lässt die Hüften kreisen und öffnet ihren BH.
Und ich mag es, wenn du endlich dein Mundwerk hältst, denke ich im Stillen und lege meine Hände auf ihren Bauch. Mit jeder Sekunde, die ich mit ihr verbringe, spüre ich, wie meine Lust auf sie schwindet. Ich angle nach der Fernbedienung für die Stereoanlage und betätige ein paar Knöpfe. Keine zehn Sekunden später wird der Raum von lauter Musik beschallt, was wenigstens ein Problem löst. Blondchen nicht mehr hören zu müssen. Erneut lasse ich meine Hand auf die Vorderseite der Frau vor mir gleiten, schließe die Augen und frage mich, warum ich das Gefühl habe, etwas Falsches zu tun. Warum beim Anblick der Frau, meiner Hände auf ihren Brüsten, keinerlei sexuelle Lust in mir aufsteigt. Dabei gibt es genau zwei Dinge, in denen ich wirklich gut bin. Eishockey und Sex. Doch keins von beidem kann mich auch nur annähernd zufriedenstellen. Zumindest nicht mehr. Bis vor ein paar Wochen war das noch komplett anders. Immer und immer wieder frage ich mich, was passiert ist. Warum ich seit Tagen, Wochen weder auf das eine noch auf das andere Lust habe. Sosehr ich mich auch bemühe, ja, schon beinahe zwinge, keiner dieser zwei elementar wichtigen Bestandteile meines Lebens schafft es mehr, mich auch nur annähernd zu erfüllen. Fuck. Ich bin kurz davor, meine Hände von der Frau wegzunehmen und zu Fäusten zu ballen. Was ist nur los mit mir? Was stimmt nicht mehr? Jetzt, auf dem Höhepunkt meiner Karriere ist sämtliche Euphorie verschwunden, hat einer Leere in mir Platz gemacht, die mich beinahe durchdrehen lässt.
„Ja, Cale, das ist gut“, unterbricht Blondchens Stöhnen meine trüben Gedanken. Was auch immer mit mir los ist, ich muss es in den Griff bekommen. Und zwar schleunigst.
July
„Ich bin verrückt, völlig irre“, wispere ich in die Dunkelheit, schleiche weiter an der akkurat geschnittenen Hecke entlang und halte nach einem Schlupfloch Ausschau. Eindeutig, ich verliere den Verstand. Keine halbwegs vernünftige Person würde alleine, irgendwo in der Pampa, von dunklen Bäumen umgeben, durch die Nacht gehen, um ihren Willen durchzusetzen. Keine! Doch wie so oft in den letzten Tagen ist mein Verstand außer Gefecht gesetzt. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das schwache Licht meiner Handytaschenlampe, suchen jeden noch so kleinen Winkel ab. Irgendwo zwischen diesem verdammten Gestrüpp muss es doch die Möglichkeit geben, auf die andere Seite zu kommen. Doch der Gärtner oder wer auch immer hat wirklich ganze Arbeit mit diesem Grünzeug geleistet. Ein frustriertes Stöhnen entweicht mir. Lässt mich in meinem Tun innehalten. Es ist dunkel, mir ist kalt und irgendwie sieht der Wald, der sich nun keine hundert Meter vor mir neben dem eingegrenzten Grundstück auftut, nicht einladend aus. Eilig drehe ich mich um und marschiere durch das knöchelhohe Gras wieder zurück zum Tor. Vielleicht habe ich auf der anderen Seite neben der Einfahrt ja mehr Glück. Mit dem schwachen Licht meines Handys leuchte ich mir den Weg, will schon enttäuscht aufgeben, als ich etwas entdecke, was meine Laune ein wenig hebt. Ein Baum, dessen Äste geradewegs auf das Grundstück ragen. Zwar ist es schon eine halbe Ewigkeit her, dass ich auf irgendwelchen Bäumen herumgeklettert bin, doch so schwer kann das ja nicht sein. Ich eile die Abgrenzung entlang, auf den Baum zu und schaue ihn mir genauer an. Der unterste Ast ist gar nicht mal so hoch oben, sieht stabil genug aus, um mich auszuhalten. Ich leuchte weiter empor, betrachte mir die anderen Zweige und stelle erfreut fest, dass sie alle recht passabel sind. Mit meinen knapp ein Meter sechzig und einem Gewicht von 55 Kilo müsste das machbar sein. Ich klemme mein Handy zwischen meine Zähne, greife nach dem Ast und versuche mich mit meinen Füßen an dem dicken Baumstamm abzudrücken. Doch die Oberfläche ist rutschiger als erwartet, meine Arme, die die Kraft aufbringen müssen, um mich hochzuziehen, sind das nicht gewohnt. Wild strampelnd versuche ich, mit meinen Füßen Halt zu finden, doch je mehr ich mich bemühe, umso weniger gelingt es mir. Wie ein nasser Sack hänge ich rum, unfähig, meine Beine unter Kontrolle zu bringen. Verflucht, irgendwie habe ich das leichter in Erinnerung. Damals, vor über siebzehn Jahren. Ich löse meinen Griff und lande auf dem Boden. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal einfach mehr Schwung nehmen. Ich lockere meine Arme, atme tief durch und versuche es erneut. Nur dass ich dieses Mal hochhüpfe, nach dem Ast greife.
„Autsch, verdammt“, schreie ich auf, als meine rechte Hand auf etwas Spitzes trifft. Zeitgleich lasse ich los und mein Hintern landet ziemlich unsanft mit einem ganzen Haufen an Blättern auf dem feuchten, mit Moos bedeckten Grund. Doch es ist nicht alleine mein schmerzender Po, der mir die Tränen in die Augen treibt. Bei meinem misslungenen Versuch, auf den Baum zu klettern, habe ich bei dem Absturz mein Handy verloren. Blindlings taste ich mein Umfeld nach dem kalten Metall ab. Auf allen vieren krabble ich auf dem Boden umher, doch mein Telefon bleibt verschwunden.
„Ganz großes Kino, July“, schelte ich mich selbst und möchte am liebsten sitzen bleiben und in Tränen ausbrechen. So habe ich mir die Begegnung mit diesem Mann irgendwie nicht vorgestellt. Unser erstes Treffen lief in meiner Fantasie wesentlich entspannter ab.
Jetzt habe ich nicht nur mein Handy verloren, sondern auch noch eine komplett nasse Hose, die, sollte ich wirklich auf dieses verhexte Grundstück gelangen, mich aussehen lässt, als ob ich meinen Urin nicht hätte halten können.
„Der erste Eindruck voll für den Arsch“, sage ich und rapple mich auf, klopfe den Schmutz, den ich zwar nicht sehen kann, wohl aber spüre, von meiner Jeans ab und wage einen erneuten Versuch. Nur dass ich dieses Mal vorher den Baum abtaste und mir merke, wo ich hinfassen darf und wo nicht. Wie beim letzten Mal springe ich vom Boden ab, greife richtig und ziehe mich hoch, fest entschlossen, endlich auf das Grundstück zu gelangen. Meine Füße nehmen den Schwung mit, stoßen sich an dem Stamm ab und diesmal gelingt es mir. Meine Hände greifen nach dem nächsten Ast, meine Füße ziehen sich hoch und dann, als ich den Ast unter mir spüre, lasse ich die angehaltene Luft langsam entweichen. Noch habe ich mein Ziel nicht erreicht, aber immerhin komme ich ihm jetzt Stück für Stück näher. Erleichtert darüber, dass die Äste mein Gewicht aushalten, schaffe ich es immer höher, bis ich schließlich auf der andren Seite der Umzäunung bin. Jetzt muss ich nur noch hinunterklettern und diese Hürde ist gemeistert.
Schwer atmend und mit wackligen Beinen spüre ich ein paar Minuten später wieder festen Untergrund unter meinen Füßen.
Und was jetzt?, denke ich, blicke mich suchend um. Vielleicht zur Haustür gehen, um dagegenzuklopfen? Aber wenn mein Klingeln schon nicht erhört wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit wohl ziemlich hoch, dass auch dieses Geräusch nicht vernommen wird. Ich könnte mich im Garten umsehen. Vielleicht sitzen sie ja auf der Terrasse an einem Lagerfeuer. Das würde auch erklären, warum sie mein Klingeln nicht gehört haben.
Das ungute Gefühl in mir wächst, genauso wie die Frage, was ich denn sagen soll, wenn ich plötzlich vor ihm stehe. Dazu auch noch in diesem Aufzug. Ob er mir glauben wird? Oder wird er gleich die Polizei rufen, weil ich ohne Erlaubnis auf seinem Grundstück herumspaziere?
Mein gut durchdachter Plan, meine zurechtgelegten Sätze bekommen immer mehr Risse und ich merke, wie mich die Unsicherheit Stück für Stück einholt. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Nicht ohne Handy, mitten in der Nacht und ohne das nächste Haus in der Nähe zu wissen.
Zwischen den hohen Bäumen, den blühenden Sträuchern schleiche ich auf das große, rechteckige Gebäude zu, drücke mich wie in diesen Actionfilmen an der Hauswand entlang zum nächstgelegenen Fenster, um einen kurzen Blick ins Innere zu werfen. Keine Frage, ich bin verdammt neugierig auf diesen Mann, möchte wissen, wie er wohnt, was er beruflich macht, denn nach der Villa zu urteilen, ist er kein Kassierer an irgendeiner Supermarktkasse. Das Herz in meiner Brust klopft unheimlich schnell, mein Atem ist noch immer mit meinem nächtlichen Sportprogramm überfordert und von meinem Puls will ich erst gar nicht anfangen. Für einen Moment bleibe ich einfach nur dort, an der Hauswand, zwischen den zwei hell erleuchteten Fenstern stehen und überlege mir meinen nächsten Schritt. Nachdem ich durch die Scheibe blicke, werde ich, sollte sich dort drinnen jemand befinden, kurz dagegenklopfen, freundlich winken und dann … ja, dann kann ich nur hoffen, dass die Person im Haus nicht sofort mit irgendeinem Gegenstand auf mich losgeht. Zugegeben, der Plan ist nicht besonders glücklich gewählt, aber was Besseres will mir auch nicht einfallen. So oder so, die Situation ist recht prekär. Und doch ist die Neugierde auf diesen einen Mann stärker als jede Vernunft. Ich will endlich wissen, wie er aussieht, wie seine Stimme klingt, wie sein Charakter ist. Ein paarmal atme ich tief ein und aus. Versuche, meine Nervosität unter Kontrolle zu bekommen. Als ich glaube, einigermaßen so weit zu sein, trete ich einen Schritt zur Seite, strecke den Kopf vor, um einen Blick ins Haus zu wagen, den Rest meines angespannten Körpers drücke ich noch immer an die kalte Mauer. So, dass ausschließlich mein Kopf von meinem Versteck hervorlugt. Doch enttäuscht muss ich feststellen, dass ich bis auf das Mobiliar der Küche niemanden sehe. Da ist keine Menschenseele, der ich zuwinken oder gar mich vorstellen könnte. Also gehe ich zum nächsten Fenster und wieder zum nächsten, so lange, bis ich schlussendlich irgendwen zu Gesicht bekomme. Was zum Glück nach dem vierten Fenster der Fall ist. Doch das, was ich erblicke, lässt mich nicht nur erschrocken die Augen aufreißen, sondern auch meine Hand vor den aufgeklappten Mund schlagen und mich wie betäubt dastehen. Wer auch immer das in dem Haus ist, ist ganz sicher nicht der Mann, den ich erwartet habe. Nein. Der Kerl, den ich dort in dem edlen Wohnzimmer zu Gesicht bekomme, ist jünger, sehr viel jünger. Und nicht nur das. Der Typ ist gerade dabei, mit einer Frau Sex zu haben.
Noch immer fühle ich mich wie paralysiert, obwohl mir klar ist, dass ich so völlig fehl am Platz bin wie ein Pickel, der sich kurz vor einem Date auf das Gesicht schleicht.
Mein Blick klebt an dem Typen, dessen nackter Oberkörper über dem Rücken der Frau liegt, und seinen muskulösen Armen, die sich an der Kopflehne des Sofas abstützen. Sein dunkelblondes Haar ist kurz und sieht, sofern ich das beurteilen kann, feucht aus. Genau wie die Frau hat er seine Augen geschlossen, doch sein Gesicht wirkt nicht entspannt oder lustverhangen. Nein, irgendwie erscheint er fast schon bedrohlich. Irgendetwas Faszinierendes liegt in seinem Gesichtsausdruck, macht es mir unmöglich, wegzusehen. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie sich seine Mimik erst verändern würde, wenn er jetzt in diesem Moment seine Augen öffnen und mich wie eine Spannerin dastehen sehen würde. Ich muss weg, und zwar schleunigst. Blindlings trete ich einen Schritt zurück, nur um gleich darauf mit etwas Großem zu kollidieren. Etwas, das bei meinem unvermuteten Aufprall gefährlich ins Wanken gerät und gleich darauf mit einem lauten Knall auf dem gepflasterten Boden zerschellt.
„Oh verflucht!“ Eilig drehe ich mich um und starre auf den Scherbenhaufen zu meinen Füßen. Bei meinem kläglichen Fluchtversuch muss ich wohl eine Skulptur aus Glas umgeworfen haben. Doch das ist nur das kleinere Übel. Ich muss mich noch nicht einmal umwenden, um zu wissen, dass ich entdeckt worden bin. Ganz eindeutig kann ich die Blicke auf meinem Rücken spüren. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um, suche, wenn auch widerwillig, die Augen, die auf mich gerichtet sind, und erstarre, als ich diese finde. Sämtliche Alarmglocken in meinem Körper beginnen mir zuzuschreien, schleunigst von hier zu verschwinden. Doch stattdessen stehe ich da, schaue in das verdutzte, teils wütende Gesicht des Mannes, der bis eben noch über die Frau gebeugt gewesen ist.
Cale
„Mach die verdammte Musik aus!“, herrscht mich Blondchen an, schnappt sich ein Kissen, um sich notdürftig zu bedecken.
Ich greife nach der Fernbedienung, die in unmittelbarer Reichweite liegt, und schalte den Ton aus. Mit der anderen Hand greife ich nach meinen Boxerbriefs und schlüpfe hinein. Dabei habe ich meine Augen noch immer auf die Frau da draußen vor dem Fenster gerichtet.
„Was ist das hier für eine perverse Show?“, keift meine Eroberung mich an.
Woher soll ich das wissen? Ich habe die Frau am Fenster noch nie gesehen. Mit einer schnellen Bewegung springe ich von der Couch und eile zur Terrassentür, um nach draußen zu gehen. Gefolgt von wüsten Beschimpfungen, die sowohl mir als auch der Fremden gelten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie ihre Sachen, die auf dem Boden verteilt herumliegen, zusammensucht und sich anzieht. Klar, dass die Nummer gelaufen ist. Eigentlich sollte ich Wut verspüren, doch stattdessen macht sich Erleichterung in mir breit. Früher wäre mir das nie passiert. Früher hätte ich den Störenfried kommentarlos am Kragen gepackt und weggezerrt. Wäre es ein Mann, hätte ich ihm sogar noch eine verpasst. Doch die Frau, der ich jetzt gegenüberstehe und die mich mit riesengroßen, eisblauen Augen ansieht, wirkt eher verstört und nicht wie jemand, dessen Hobby es ist, Leute beim Sex zu beobachten. Eingehend mustere ich das Persönchen vor mir. Auch wenn die schwachen Lichtstrahlen von drinnen nicht allzu viel zeigen, erkenne ich doch, dass die Fremde nicht sonderlich groß ist. Das honigfarbene Haar trägt sie in einem Long Bob, in dem sich ein paar einzelne Blätter verfangen haben. Ihr Gesicht ist oval, mit einem hübschen Mund und einer kleinen Stupsnase. Direkt über ihren herzförmigen Lippen hat sie auf der rechten Seite ein stecknadelgroßes Muttermal, was ihren Mund noch interessanter wirken lässt. Für einen kurzen Moment verweilt mein Blick genau dort, bevor er an ihr heruntergleitet und mich irritiert dreinschauen lässt. Was um alles in der Welt trägt sie da? Der Kleidungsstil der Frau ist, um es milde auszudrücken, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Grell zusammengewürfelte Stofffetzen, die irgendwie so rein gar nicht zusammenpassen. Die Kleine sieht aus wie ein bunt gemischter Farbklecks. Ein Farbklecks mit seltsamen, braunen Stellen an der Hose. Zumindest scheint es vom Licht her so.
„Es ist nicht so, wie es aussieht“, meint sie mit gerunzelter Stirn.
„Hm“, brumme ich, blicke an ihr vorbei auf den Scherbenhaufen zu ihren Füßen. „Dann hätte ich jetzt gern eine Erklärung. Denn ich sehe das so. Nicht nur, dass Sie sich, wie es mir scheint, völlig alkoholisiert von einer dieser Bad-Taste-Partys verirrt haben und in mein Grundstück einbrechen, nein, Sie haben mich zudem beim Sex beobachtet und dann auch noch eine schweineteure Skulptur umgeworfen.“
„Bitte?“ Ihre Augen weiten sich bei jedem einzelnen meiner Vorwürfe, ihre Gesichtsfarbe wechselt von aschfahl zu zartrosa und ihre Arme verschränken sich erbost unter ihren Brüsten.
In dem Moment hört man das Klackern von Blondchens Schuhen. Kurz darauf schießt sie wie eine Furie aus dem Wohnzimmer, stellt sich zwischen mich und die Kleine und meint mit bitterböser Stimme: „So kranke Tussis wie dich sollte man einsperren. Nur weil du im normalen Leben nicht an Cale rankommst, stalkst du ihn. Das ist echt das Letzte. Du solltest deine Zeit lieber damit verbringen, dich im Spiegel anzusehen und was aus dir zu machen, anstatt einem Star hinterherzujagen, der eh keinerlei Interesse an solchen Weibern wie dir hat.“
Dann dreht sie sich zu mir, reicht mir einen kleinen Zettel und säuselt: „Meine Nummer. Du kannst mich zu jeder Zeit anrufen und wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben.“
Ich werfe einen kurzen Blick auf den Zettel. „Kitty“, steht da und eine Reihe von Zahlen.
Kitty beugt sich zu mir, stellt sich ein wenig auf die Zehenspitzen und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Dann meint sie an mich gewandt: „An deiner Stelle würde ich die Polizei verständigen. Damit die sich um dieses Problemchen kümmern.“ Sie deutet auf die andere Frau, deren Gesicht mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hat. Dann eilt Kitty in ihrem kurzen Minikleid davon, zieht hinter sich eine Parfümwolke her, die vermutlich jedes Insekt effektiv in die Flucht schlägt. Und mich gleich mit. Den Zettel in meiner Hand knülle ich zusammen und werfe ihn achtlos auf den Terrassentisch. Soll sich Rose morgen damit befassen. Ich werde ihn sicher nicht mehr anrühren.
Dann wende ich mich wieder dem Farbklecks auf zwei Beinen zu und gucke sie fragend an. „Und? Sind Sie wirklich ein Fan?“
„Von Ihnen? Ganz sicher nicht. Nur weil Sie vielleicht ein berühmter Eishockeyspieler sind, bedeutet das noch lange nicht, dass ich Ihnen auflauere. Zumal ich mit diesem Sport rein gar nichts anfangen kann.“
„So? Hm, immerhin wissen Sie, dass ich hier wohne. Und meine Person scheint Ihnen auch nicht fremd zu sein, sonst wüssten Sie ja nicht, was ich beruflich mache.“
„So ein toller Hecht, wie Sie vielleicht denken, sind Sie auch wieder nicht! Ich bin nicht Ihretwegen hier“, fährt mich Farbklecks zornig an. „Und ich komme auch nicht von irgendeiner Party!“
„Ach nein?“
„Nein, Himmel!“
„Interessant. Dann würde ich doch gerne wissen, was Sie dazu veranlasst hat, unbefugt auf meinem Grundstück herumzuirren“, knurre ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
July
Boah, was für ein blasierter Typ ist das denn? Nur weil ich nicht wie diese eingebildete Tussi herumrenne und teure Markenklamotten trage, die perfekt aufeinander abgestimmt sind, heißt das doch noch lange nicht, dass ich betrunken bin oder von einer dieser Verkleidungspartys komme. Und ja, natürlich hat er das Recht auf eine Erklärung meinerseits. Und gewiss verstehe ich es auch, dass er angepisst ist, wie die Sache eben gelaufen ist. Ich versuche mich zu beruhigen. Versuche, das Chaos in meinem Kopf und die Fragen, die sich mir auftun, zu verdrängen. Und doch, ich kann sie nicht unterdrücken. Viel zu viele Fragen verlangen nach Antworten. Was um alles in der Welt geht hier eigentlich vor? Warum ist Cale Hardin, der bekannteste Eishockeyspieler ganz Kanadas, hier in diesem Haus? Wo ist der Mann, den ich eigentlich hier vorzufinden hoffte?
„Also?“, unterbricht mich die eiskalte Stimme meines Gegenübers. Er tritt einen Schritt auf mich zu, baut sich nur wenige Zentimeter vor mir auf. Ich weiß, was er vorhat. Er versucht, mich einzuschüchtern, und irgendwie gelingt ihm das auch. Aber ich bin dermaßen von der Rolle, dass ich trotzdem einfach nur stehen bleibe.
Ich richte mein Augenmerk wieder auf ihn, was sich sofort als Fehler herausstellt, als ich an seiner Statur hängen bleibe. Keine Frage, Cale Hardin ist wirklich verdammt scharf. Sein Körper ist zum Niederknien, was leider auch die Ursache dafür ist, dass ich ihn wie so ein durchgeknalltes Groupie angegafft habe. Und das auch noch beim Sex! Himmel! Ich spüre, wie die Schamesröte erneut von meinen Wangen Besitz ergreift. Schnell sehe ich von seinem Sixpack weg, in sein Gesicht. Was nicht unbedingt die bessere Lösung ist, denn auch hier erscheint der einen Meter neunzig große Mann einem Model gleich. Seine rauchgrauen Augen funkeln mich angriffslustig an. Seine Lippen sind aufeinandergepresst und sein Dreitagebart verleiht ihm nun auch nicht gerade einen freundlichen Ausdruck. Mist, das Bild der Plakatwerbung, die ihn in Unterwäsche zeigt und gefühlt an jeder dritten Wand in unserer Stadt hängt, taucht in diesem Moment vor meinem inneren Auge auf. Ebenso die Fotos, die ihn in voller Eishockeymontur zeigen. Wie er sich bedrohlich vor seinem Gegenüber aufbaut. Mit einem Ausdruck in den Augen, der einen schier frösteln lässt, einschüchternd ist. Keine Frage, Cale wirkt durch und durch wie ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegt.
„Es ist eine etwas längere Geschichte“, versuche ich mich selbst unter Kontrolle zu bringen. Ich bin nicht nur mit der Situation komplett überfordert, sondern auch mit meinen Emotionen. Wut, Enttäuschung, Ratlosigkeit und Angst kriechen innerlich in mir empor. So viel habe ich in diesen Moment gesetzt, so viel deswegen aufgegeben, und jetzt stehe ich vor einem einzigen Chaos. Vielleicht ist dieser Typ ja nur hier zu Besuch. Vielleicht ist der Mann, den ich erwartet habe, ja ebenfalls da. Vielleicht schläft er ja schon. Der Gedanke besänftigt mich. Zumindest ein kleines bisschen.
„Ich habe alle Zeit der Welt“, sagt er mit einem, wie mir scheint, ironischen Unterton.
„Schön oder auch nicht, … ich meine, … das alles hier ist so, … so surreal. Ich -“, stottere ich verlegen. „Ich dachte, jemand anderen hier vorzufinden. Ich, … also, das Ganze ist wirklich kompliziert und ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll.“
„Vielleicht beruhigen Sie sich jetzt erst einmal und verraten mir dann, mit wem ich es eigentlich zu tun habe“, meint er neutral.
„July, mein Name ist July Forster. Ich wohne in einem Vorort von Saskatoon.“
Sein Blick ruht noch immer auf mir und ich merke ihm an, dass er nicht recht weiß, ob er mir Glauben schenken soll oder nicht.
„Ich kann Ihnen meinen Ausweis zeigen, wenn Sie mir nicht trauen.“
Auf meinen Vorschlag hebt er nur kurz die linke Augenbraue und meint: „Wenn Sie aus Saskatoon sind, warum reisen Sie dann ohne Gepäck?“
„Tue ich nicht. Es steht draußen, vor dem Tor.“ Ich deute in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
„Dann haben Sie also vor, länger zu bleiben?“
Laut seufze ich auf. „Das war der Plan, ja. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.“
„Weswegen?“
„Wegen Ihnen“, platzt es aus mir heraus.
„Heißt, Sie reisen wieder ab?“, schlussfolgert er.
„Ja, nein, ich weiß es nicht“, murmle ich mehr zu mir selbst als zu ihm. Dieses ganze Gespräch verwirrt mich. Zudem ist mir in meiner vorm Sturz feuchten Hose langsam kalt und mein Magen hat sich auch eher auf etwas Essbares eingestellt als auf dieses Durcheinander hier.
Der misstrauische Blick auf seinem Gesicht, die frostige Musterung, die er an mir vollzieht, lässt nicht nach. Schließlich sagt er: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir wird hier draußen langsam frisch. Ich würde vorschlagen, wir klären dieses Missverständnis, wie Sie es nennen, drinnen in meinem Haus.“
„Das ist Ihr Haus? Sie wohnen da drinnen?“, japse ich auf.
Cale sieht mich an, als ob er es mit einer komplett Irren zu tun hätte, als er mit kalter Stimme erwidert: „Natürlich. Was dachten Sie denn?“
Das Einzige, was ich denke und ausspreche, ist: „Seit wann?“
„Seit ein paar Monaten. Wen genau dachten Sie denn hier vorzufinden?“, will er reserviert wissen.
„Die Familie O’Cuinn. Hank Miller“, entgegne ich.
„Ich habe das Haus über einen Makler gekauft, aber ich weiß, dass es früher der Familie O´Cuinn gehört hat“, vernehme ich Cales Stimme, die, so scheint es mir gerade, von weither kommt. „Hey, warum werden Sie denn jetzt so weiß im Gesicht? Ist Ihnen nicht gut?“
In einer höllischen Geschwindigkeit rauscht das Blut durch meinen Körper, mir wird heiß und kalt zugleich. Mein Kopf fühlt sich an, als ob er in Watte gepackt wäre, und meine Beine drohen, jeden Augenblick ihren Dienst zu versagen. Alles um mich herum dreht sich. Ich schließe die Augen, weil ich hoffe, dass diese Karussellfahrt dann aufhört. Doch das tut sie nicht. Nein. Meine Beine geben nach.
„Sie kippen mir jetzt nicht um, verstanden!“, höre ich die unfreundliche und zugleich besorgte Stimme des Eishockeyspielers. Und dann spüre ich auch schon, wie eine warme, raue Hand nach meinem Oberarm greift. Mich festhält, an einen noch wärmeren Körper presst. Zwei starke Arme heben mich an und tragen mich nach drinnen. Setzen mich auf einem weichen Untergrund ab. Mein Kopf sinkt auf ein Kissen, das verdammt gut nach einem herben, männlichen Aftershave riecht. Ein Seufzer entweicht mir, bevor ich in ein schwarzes, dunkles Loch falle.
Cale
„Alles klar?“, will ich wissen, setze July ab und sehe zu, wie ihr Kopf ein wenig zur Seite kippt.
Sie seufzt, was mich dazu veranlasst, sie ein wenig an der Schulter zu rütteln. Ein ohnmächtiges Groupie ist so ziemlich das Letzte, was ich hier und jetzt gebrauchen kann. Obwohl, so recht passt Farbklecks nicht in dieses Bild eines hysterischen Fans. Auch wenn ich ihr zuerst die Story von wegen „Irrtum bla, bla, bla“ nicht abgekauft habe, bin ich mir nun, nachdem sie bei meiner Aussage bezüglich des Hauses direkt aus den Latschen gekippt ist, nicht mehr so sicher und halte das Ganze für gar nicht mehr so abwegig. Auch wenn ich in meiner Laufbahn als Eishockeyprofi und Publikumsmagnet so manche schräge Aktion verrückter Groupies mitbekommen habe, July passt überhaupt nicht in diese Kategorie.
Ich rüttle unsanft an ihr und stelle fest, dass ihre Wimpern ein wenig flattern. Mit krächzender Stimme sagt sie: „Autsch, das tut weh.“
„Soll ich Ihnen was zu trinken holen?“
Statt einer Antwort nickt sie nur.
Aus meinem Kühlschrank nehme ich eine Flasche Mineralwasser. Mit einem unbenutzten Glas gehe ich zurück, stelle beides neben ihr auf dem Tisch ab.
„Danke“, murmelt Farbklecks und rappelt sich auf. Greift nach dem Glas und trinkt es in einem Zug leer.
„Schon gut“, brumme ich, fische nach meinen Klamotten, die auf dem Fußboden verteilt herumliegen, und ziehe meine Jeans an. Kaum dass ich mein Shirt in der Hand halte, lasse ich es auch schon wieder fallen. An dem Stofffetzen haftet das süßliche Parfüm von Blondchen oder Kitty, wie ihr richtiger Name lautet. Ich bin nicht gewillt, ständig diesen Duft zu inhalieren, der eine Art von Brechreiz in mir auslöst. Ich nehme auf einem Sessel gegenüber von
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Bildmaterialien: Bildmaterial: abstract-1292323 (www.pixabay.com) canada-1751464 (www.pixabay.com) shutterstock_643805656 (www.shutterstock.com) Covergestaltung: Sabrina Baur “Sophia Silver Coverdesign”
Cover: Covergestaltung: Sabrina Baur “Sophia Silver Coverdesign
Lektorat: Lektorat: KolibriLektorat; Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4475-9
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