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Prolog

 

Manchmal ist es ein Augenblick, eine Millisekunde, die dein ganzes Leben verändert, und alles, was davor von Bedeutung war, ist plötzlich wie ausgelöscht. So, als ob jemand ein Rädchen in deinem Kopf dreht und alle Grundeinstellungen löscht.

Genauso ergeht es mir an diesem Morgen, als ich nichtsahnend und von Müdigkeit gezeichnet das erste Mal in diese eisblauen Augen sehe. Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Moment und ich bin völlig hypnotisiert, paralysiert von diesem herausfordernden, kalten Ausdruck, der mich regelrecht frösteln lässt. Doch sosehr ich mich auch bemühe, kann ich nicht wegsehen. Es ist ein unheimlicher Drang weiter in diese Augen blicken zu wollen, die eine solche Leuchtkraft haben, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Doch das ist nicht das Einzige, was mich so fasziniert. Nein, es ist die Art, wie dieser Junge mich ansieht, so, als ob er in jeden noch so kleinen Winkel meiner Seele dringen könnte.

 

Schau weg, Leah, ermahne ich mich im Stillen. Zwecklos. Stattdessen wächst der Wunsch in mir, auf ihn zuzugehen, um mich zu vergewissern, dass ich mir diese Leuchtkraft, diese Aura, die er ausstrahlt, nicht nur einbilde. Ich drücke mich von meinem Spind weg, trete einen Schritt nach vorne, nur um gleich darauf von jemandem am Arm gepackt zu werden. „Sag mal, bist du noch ganz dicht?“

Es ist die Stimme meiner Sitznachbarin und - wie ich insgeheim hoffe - bald meiner Freundin.

„Hm?“, fragend gucke ich Kelly an.

„Auch wenn du neu bist, solltest du niemals den Teufel so anstarren. Er ist gefährlich und…“, klärt sie mich auf.

„Wer?“, will ich wissen, hebe meinen Blick, um diesen fremden Jungen weiter anzusehen, nur um enttäuscht festzustellen, dass er weg ist. Verschwunden. Einfach abgehauen.

„Der Typ, den du gerade angestarrt hast… Das ist echt unheimlich.“ Kelly blickt sich sicherheitshalber um und fügt dann leise hinzu: „Du musst dich von ihm fernhalten. Er ist gefährlich, ein Außenseiter und ich denke, dein Vater wäre sicher nicht begeistert, dich mit ihm zu sehen. Das würde ein verdammt schlechtes Licht auf eure Familie und somit auch auf die Jobchancen deines Vaters werfen.

Fragend sehe ich sie an. Was genau versucht sie mir hier gerade zu verklickern? Diese ganze Heimlichtuerei macht mich nur noch neugieriger. In den wenigen Tagen, die ich hier zur Schule gehe, ist mir der „Teufel“, wie Kelly ihn gerade genannt hat, nie aufgefallen.

„Vertrau mir einfach, okay? Halt dich von ihm fern!“ Ihre Stimme ist leise, und doch spricht sie mit solchem Nachdruck, dass mir keine andere Wahl bleibt als zu nicken.

Seit jenem Tag bin ich dem Teufel verfallen. Oder, wie sich später herausstellt, nicht dem Teufel persönlich, sondern Devin! Ein Junge wie kein anderer und somit unerreichbar für mich.

Kapitel 1

10 Jahre später

 

*Leah*

 

Mit meiner neu gekauften Ledermappe unter dem Arm betrete ich Mori`s Coffeeshop. Direkt umfängt mich der Duft von gemahlenen Bohnen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Sofort schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, was nicht alleine mit meiner Sucht nach der braunen Flüssigkeit zu tun hat. Nein, auch weil ich Mori, meine beste Freundin, sehe, wie sie hinter ihrem Tresen steht und gutgelaunt einem Gast einen Pappbecher in die Hand drückt. Flüchtig lasse ich meinen Blick über die Besucher schweifen. Natürlich kein fremdes Gesicht. Was nicht ungewöhnlich ist, denn nur selten verirrt sich jemand in unser kleines Dörfchen Jeroma Hill mit den knapp 800 Einwohnern. Viel haben wir hier auch nicht zu bieten. Obwohl die Gegend wirklich traumhaft schön ist. Jeroma Hill liegt am Rande des Banff National Park, eingebettet zwischen einer wunderschönen Bergkette, kristallklaren Seen und dunklen Wäldern. Vom Highway aus muss man schon ganz genau auf die Straßenschilder achten, damit man überhaupt hierherfindet, und doch, für mich gibt es keine schönere Gegend, auch wenn sie bis auf den Lebensmittelladen, ein kleines Steakhouse und Mori‘s Coffeeshop keine weiteren Geschäfte bietet.
Eine knapp zehnminütige Autofahrt trennt uns von der nächsten Stadt, in der sich meine Arbeitsstelle und auch die der meisten anderen Dorfbewohner befindet.

Wie jeden Morgen ist der Coffeeshop gut besucht. Alle sechs Tische sind besetzt und auch an Moris Tresen lehnen zwei Arbeiter. Von hinten sehen sie aus wie die Brüder John und Ken, die ein kleines Unternehmen am Ort führen. Die beiden bieten unzählige Dienstleistungen an. Vom Hausbau bis hin zum Holzfällen ist alles dabei, was vermutlich auch der Grund ist, warum ihr Geschäft so gut läuft.

Überall bekannte Gesichter, und um nicht jeden Einzelnen begrüßen zu müssen, rufe ich ein lautes „Guten Morgen“ in den freundlich eingerichteten Raum. Nur zu gut kann ich mich daran erinnern, wie viele Stunden wir damit verbracht haben, aus dem alten Schweinestall diesen Raum zu gestalten. Wie oft meine beste Freundin und ich bis spät in die Nacht an den Wänden herumgestrichen haben, bis der alte Putz endlich die neue Farbe annehmen wollte. Vom Fußboden mal ganz zu schweigen. Auch wenn es wirklich harte Arbeit war, uns alle viel Geduld gekostet hat, kann sich das Ergebnis jetzt sehen lassen. Nichts erinnert mehr an die ehemalige Behausung für Vierbeiner. Helle Fliesen, dunkle Holzbalken und drei große bodenhohe Fenster geben dem Café etwas Heimeliges.

„Lea!“, Moris Kopf schnellt hoch. Sofort lässt sie alles stehen und liegen und kommt zu mir. Schließt mich in ihre Arme und drückt mich fest an sich.

„Hat dich die große weite Welt also nicht in ihren Bann gezogen?“, will sie wissen und schiebt mich bestimmend auf den letzten freien Drehstuhl, direkt gegenüber ihrem Kaffeeautomaten und tatsächlich neben den zwei Brüdern. Kurz nicke ich ihnen zu und wende mich dann an meine Freundin, die sich wieder hinter den Tresen stellt: „Glaub mir, Ottawa ist nun wirklich kein Ort, zu dem es mich in irgendeiner Weise hinzieht.“

„Zum Glück, denn was würde ich wohl sonst ohne meine beste Freundin machen“, lächelt sie und hantiert an ihrer Maschine, um mir einen Cappuccino zuzubereiten.

„Seit wann sind deine Haare lila?“

Mori hat die Angewohnheit, ihr Haar innerhalb kürzester Zeit von pechschwarz in fuchsrot oder platinblond umzufärben. Hätte sie nicht ihr markantes Gesicht und ihre stattliche Größe von fast einem Meter achtzig, wäre sie manchmal kaum wiederzuerkennen.

„Ach das“, nickt sie und streicht sich durch ihr Haar, „seit ein paar Tagen.“

„Die arme Mrs. Gurny. Du bringst sie mit deinen Farbexperimenten noch ins Grab“, erwidere ich, greife nach der Tasse, die Mori mir reicht.

„Die alte Hexe soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern“, schnaubt sie und verdreht dabei die Augen.

„Die Gute hat aber keine anderen Angelegenheiten als sich über die Einwohner von Jeroma Hill das Maul zu zerreißen“, kläre ich Mori auf und sehe dabei zu, wie mein Würfelzucker langsam in der braunen Flüssigkeit verschwindet. Als dieser abgetaucht ist, nehme ich meinen Löffel und rühre um. Meine beste Freundin lebt erst seit drei Jahren hier und ist der Liebe wegen von Los Angeles hierhergezogen. In ein Dorf, wo schmutzverzierte Autos die engen Straßen entlangfahren, die nächste Shoppingmeile erst in fünfundzwanzig Minuten zu erreichen ist und es nichts gibt außer einen Wald, Berge und noch mal Wald. Doch zum Glück ist sie geblieben. Denn erst seit sie hier ist, habe ich das Gefühl, ich selbst sein zu können und nicht mehr die Bürgermeistertochter spielen zu müssen, so wie mein Vater es von mir verlangt. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich von den Erwartungen, die sie an mich stellen, erdrückt werden. Dass sie mich mit Jace, meinem sieben Jahre älteren Bruder, vergleichen, der, ganz so wie mein Vater es sich wünscht, seine Zukunft in der Politik sieht.

„Das wird sich bald ändern“, unterbricht Mori meine Gedanken und bereitet sich ebenfalls ein heißes Getränk zu. Fragend hebe ich die Augenbrauen. Was will sie mir damit sagen? Was könnte die gute alte Mrs. Gurny davon abhalten, den Dorfklatsch auszuschmücken und weiterzuerzählen?

„Na, ER ist wieder hier?“, Mori sieht mich an, als ob ich schwer von Begriff wäre. Was ich in diesem Moment auch wirklich zu sein scheine. Denn ich habe absolut keine Ahnung, was sie mir damit sagen will. Wen meint sie mit „ER“?

„Ich bitte dich. Du wirst doch gehört haben, dass ER wieder da ist?!“ Mori verdreht die Augen und beugt sich zu mir, um leise weiterzusprechen. „Dieser Junge, der damals einfach verschwunden ist. Wie hat Tom noch gesagt, hieß er?“ Tom ist Moris Freund und Verlobter.

Die Rädchen in meinem Kopf beginnen sich in einer höllischen Geschwindigkeit zu drehen, und nicht nur die. Ich spüre, wie mir leicht schwummrig wird, als mir kommt, von wem hier die Rede ist.
Nein, das kann nicht sein. Das muss ein Scherz sein. Irgendjemand erlaubt sich mit diesem Gerücht einen üblen Streich.

Strafend sehe ich sie an. „Es ist Montagmorgen und du weißt, dass dies die schlechteste Zeit ist, um mich auf den Arm zu nehmen.“

„Ich nehme dich nicht auf den Arm. Er ist wirklich hier. Tom hat es bestätigt und, ... verdammt, wie hieß dieser Typ denn noch mal?“ Ihre Stirn runzelt sich vom angestrengten Überlegen, und da ich Gewissheit brauche, dass meine Vermutung richtig ist, spreche ich den Namen aus, der doch eigentlich verboten ist, zumindest früher in der High School.

„Devin“, seinen Name laut auszusprechen, ist seltsam. Denn ich weiß nicht, wie oft ich genau diesen in meinen Gedanken schon vor mich hingesagt habe. Damals.

„Ja, genauso heißt der Kerl.“ Mori, die keine Ahnung von dem Wirbelsturm hat, der sich gerade tief in meinem Inneren ausbreitet, schnappt sich einen Lappen, um die Oberfläche des Tresens zu säubern. Nur am Rande bekomme ich mit, wie John und Ken mir zum Abschied kurz zunicken und dann aus dem Café gehen. Diese Neuigkeit zieht mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weg und ich bin gottfroh, dass ich sitze. Denn würde ich es nicht tun, müsste ich mich spätestens nach dieser Information setzen. Er ist wieder hier. Ich kann es nicht glauben. Es kommt mir vor wie in einem Traum. All die Jahre habe ich an ihn gedacht. An den Jungen, in den ich heimlich verliebt war. Niemand wusste von meiner Schwärmerei. Wem hätte ich es auch sagen können? Freunde, richtige Freunde hatte ich hier nicht und meiner Mutter hätte ich mich nie anvertrauen können. Sie hätte es sofort meinem Vater erzählt und dieser, ... es wäre ein Skandal für ihn gewesen. Devin war der böse Junge, der Bad Boy, den alle den Teufel nannten. Und ich?! Ja, ich war die brave, schüchterne, wohlerzogene Tochter, die ihn aus der Ferne angehimmelt und sich nie getraut hatte, ihn anzusprechen. Vermutlich wäre es auch bei diesem einen Gespräch geblieben. Devin hätte sich nie mit mir abgegeben. Nein, er war einer dieser Jungs, die nicht auf brave unschuldige Mädchen standen. Nein, er gab sich lieber mit Mädchen wie Cendra ab. Die mehr Busen als Hirn hatte und sich so aufreizend kleidete, dass sie hier bald tagtäglich das Gesprächsthema Nummer eins war. So verbrachte ich die Tage damit, von ihm zu träumen, mir auszumalen, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Bis zu dem Tag, an dem er einfach verschwunden war. Von heute auf morgen. Weg.

„Stell dir nur das Gerede vor. Ein Ex-Knasti, der sich hier in unserem schönen, idyllischen Dörfchen aufhält“, unterbricht Mori meine Erinnerungen, legt den nassen Lappen zurück in die Spüle und räumt das benutzte Geschirr in die Maschine.

Mein Atem stockt, mein Herzschlag beschleunigt sich und meine Hände krallen sich an dem kalten Holz fest.

„Woher weißt du es?“

„Habe ich dir doch gerade gesagt. Von Tom. Er hat gesehen, wie dieser Devin sein Gepäck aus seinem Wagen geholt und in sein Elternhaus gebracht hat.“ Noch immer nichtsahnend fährt sie fort: „Angeblich ist seine Mutter die Treppen hinuntergestürzt, hatte wohl einen Herzinfarkt. Er kümmert sich um das Geschäft, bis seine Mutter wieder fit ist.“

„Nein“, meine leise Stimme lässt Mori nun doch zu mir sehen.

„Himmel, was ist denn mit dir los? Du bist weißer als jede Wand. Ist dir nicht gut?“

„Es ist ... nur mein Kreislauf“, und das ist noch nicht einmal gelogen. Tatsächlich wird es mir noch schwummriger.

„Hier, nimm das!“ Keine Ahnung, woher sie plötzlich einen Traubenzucker hat, aber ich nehme ihn und schiebe ihn mir in den Mund. „Wird es besser?“, besorgt sieht sie mich an.

„Alles gut. Ich habe nur noch nicht gefrühstückt und ...“

„Dann solltest du das schleunigst nachholen. Deine Schüler wären bestimmt nicht begeistert, wenn der Unterricht bei ihrer Lieblingslehrerin heute ausfällt.“
Und ehe ich mich versehe, hat sie schon einen selbstgebackenen Blaubeermuffin auf einen Teller gelegt und schiebt ihn mir zu. „Danke.“ An Essen kann ich im Moment am wenigsten denken, und nur um Moris aufforderndem Blick zu entkommen, zupfe ich mir ein klein wenig von dem Gebäck ab.
Ich kann nicht glauben, dass ER tatsächlich wieder hier ist.

Der sonst so leckere Muffin schmeckt plötzlich wie Pappe und mit einem Schluck von meinem Kaffee spüle ich ihn hinunter. Ein klopfender Schmerz macht sich hinter meinen Augen breit. Auch das noch. Wie soll ich den ganzen Tag heute überstehen, wenn ich, noch bevor ich mit dem Unterricht anfange, schon an Kopfschmerzen leide? Und wie um alles in der Welt soll ich meinen Schülern irgendetwas beibringen, wenn alle meine Gedanken sich nur um das eine drehen?

„Kennst du diesen Devin?“, will Mori nun auch noch von mir wissen.

„Nicht direkt. In der High School sind wir uns ein paarmal über den Weg gelaufen“, weiche ich dem Thema aus. Im Moment kann und möchte ich nicht von ihm reden. Denn noch immer bin ich von dieser Neuigkeit geschockt.

„Tom hat mir erzählt, dass ihn früher alle den ‚Teufel‘ nannten.“ Während sie das sagt, trocknet sie ein Glas ab und sieht mich verschwörerisch an. „Er soll wohl irgendwelches satanistisches Zeug praktiziert haben.“
Davon hatte ich auch gehört, und doch glaubte ich dem Gerücht damals schon nicht. Gut, er trug gerne schwarze Kleidung, hatte, wie man sagt, ein paar Tattoos und hörte gern Heavy Metal, aber das alles machte ihn noch lange nicht zu einem Tiermörder oder was auch immer.

„Blödsinn“, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen.

„Tom meint, dass dieser Typ damals einfach verschwunden sei. Von heute auf morgen. Wohl wegen diesem Unfall ...“

„Ich muss jetzt los. Wir telefonieren, ja?“, unterbreche ich sie. Ohne auf ihre Antwort zu warten, gehe aus dem Café und spüre, wie ihr Blick mir folgt. Dieser abrupte Abgang passt so gar nicht zu mir und genau das weiß auch Mori. Spätestens heute Nachmittag wird sie mich mit Fragen löchern und bis dahin muss ich meine Gedanken, meine aufsteigenden Gefühle, die doch eigentlich längst begraben sein sollten, unter Kontrolle bekommen. Devin O´Cuinn ist tabu. Das war er schon immer und wird es auch bleiben.

 

Innerlich bin ich völlig aufgewühlt und meine Hände krallen sich krampfhaft um das Lenkrad meines alten Fords. Mein Gehirn ist wie leergefegt und ich frage mich, wie um alles in der Welt ich heute unterrichten soll. Immer wieder versuche ich, nicht an ihn zu denken. Mir nicht vorzustellen, wie er jetzt, mehr als zehn Jahre später wohl aussieht. Doch es ist vergebene Mühe. Ich kann nicht anders, und anstatt in Gedanken meinen Unterricht durchzugehen, rufe ich mir Devin in Erinnerung. Ob er immer noch so gut aussieht? Ob seine Augen noch immer diese faszinierende Ausstrahlung haben? Allein die bloße Vorstellungskraft genügt, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.
Viel zu früh taucht vor mir der Lehrerparkplatz, das große rote Schulgebäude auf und ich sehe, wie eine Handvoll Schüler mir zuwinkt, als ich mein Auto auf einen freien Parkplatz abstelle. Kurz winke ich zurück, angle nach meiner Tasche und sehe aus dem Augenwinkel, wie Tyler, der neue Sportlehrer, auf mich zukommt.

Auch das noch, denke ich im Stillen. Seit Tyler vor ein paar Monaten angefangen hat hier zu unterrichten, vergeht beinahe kein Tag, an dem er nicht mit mir flirtet. Was an und für sich nicht schlimm ist, mir sogar sehr schmeichelt, denn Tyler ist attraktiv und er scheint ein anständiger, netter Kerl zu sein. Doch jetzt, nach diesen Neuigkeiten, mit meinen Kopfschmerzen, möchte ich einfach nur noch ein paar Minuten Ruhe haben.

„Einen wunderschönen guten Morgen, hübsche Frau!“, begrüßt er mich und hält mir meine Autotür auf, als ich aussteige. Ich sehe zu ihm empor, zu seinen verwuschelten dunkelbraunen Locken, zu der Strähne, die ihm in diesem Moment über seine Stirn fällt und die er beiläufig wieder zurückstreicht. Seine rehbraunen Augen suchen meinen Blick, und als sie diesen gefunden haben, zwinkert er mir kokett zu.

„Hey Tyler“, begrüße ich ihn, und obwohl ich viel lieber allein sein würde, lässt es mein Anstand nicht zu, ihn wegzuschicken. Stattdessen drücke ich mich an seiner Hand, die auf dem Rahmen der Autotür lehnt, und seinem Körper, der mir fast den Weg versperrt, vorbei.

„Wie war es in Ottawa?“, will er wissen und sieht mir dabei zu, wie ich aus meinem Kofferraum eine Kiste mit Bastelutensilien hole.

„Es war ... okay.“ Was soll ich auch sonst sagen? Dass es spannend war? Eher nicht. Ich wollte mehr von unserer Hauptstadt sehen als irgendwelche relevanten Gebäude, die mit Politik zu tun haben. Wollte sehen, wie die Leute leben, wie ihr Alltag abläuft. Doch stattdessen bekam ich nur Einblicke in das tadellose Leben meines Bruders. Ja, seine Wohnung war schön, ja, die Restaurants, die er uns gezeigt hatte, waren edel mit grandiosem Essen. Und doch wollte ich mehr sehen und hören als Politik. Dabei hatte ich mich so auf den Familientrip gefreut. Mein letztes Wiedersehen mit Jace lag fast ein Jahr zurück. Dabei liebe ich meinen großen Bruder. Wir haben ein wunderbares Verhältnis. Wir die ganze Familie Martin. Doch seit Jace uns verkündet hat, sich für den Posten als Senator zu bewerben, hat sich alles verändert. Wir, die vorbildhafte Familie, müssen noch perfekter werden.

„Begeistert hört sich das nicht an“, stellt Tyler fest und ich nicke. „War es auch nicht.“

„Was hast du dir denn angesehen?“, versucht mein Kollege das Gespräch am Laufen zu halten, lässt meine Wagentüre ins Schloss fallen. Dann kommt er zu mir, sodass wir nebeneinander den Lehrerparkplatz verlassen. Der hämmernde Schmerz hinter meinen Augen nimmt zu und erneut spüre ich, wie mir übel wird.

„Dies und das“, will ich die Unterhaltung damit beenden, um schnellstmöglich in mein Klassenzimmer zu kommen und aus meiner Mappe eine Schmerztablette zu holen. Doch als ich seinen zerknirschten Gesichtsausdruck sehe, füge ich schnell hinzu: „Wie waren denn deine Ferien?“

„Ich war viel wandern. Die Gegend ist einfach traumhaft und ich bereue es keine Sekunde, von London hierhergezogen zu sein“, erwidert er und sein Gesicht bekommt einen verträumten Ausdruck. „Früher, als ich mir immer die Bilder von Kanada angesehen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Farben, diese unheimliche Ruhe, die der Wald auf den Fotos ausstrahlt, tatsächlich echt sind. Und weißt du was? Es ist Realität. Es ist noch schöner, als ich mir vorgestellt habe.“

„Es freut mich, dass es dir hier gefällt“, ich nicke ein paar Schülern zu, die mich lautstark grüßen, als wir das Schulgebäude betreten, und murmele mehr zu mir selbst als zu meinem Kollegen: „Vielleicht hätte ich auch lieber wandern gehen sollen.“

„Du gehst gerne wandern?“, will er wissen und seine Schritte verlangsamen sich. Aus dem Augenwinkel betrachte ich ihn. Sehe, wie sich sein Gesichtsausdruck verändert. So, als ob er seit ewiger Zeit auf diesen Augenblick wartet und dann, bevor ich recht kapiere, was los ist, sagt er: „Dann lass uns doch zusammen eine Tour machen.“

„Ich, ... also ...“ Mist, genau das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Tyler ist nett, keine Frage, und dass er mich gern näher kennenlernen möchte, ist mir auch schon des Öfteren aufgefallen. Hätte er mich letzte Woche oder heute Morgen gefragt, bevor ich in Moris Café aufgetaucht bin und diese eine Neuigkeit erfahren habe, die mich komplett aus der Bahn geworfen hat, hätte ich sofort „Ja“ gesagt. Doch jetzt, mit dem Wissen, dass in meinem Kopf noch ein anderer Mann herumspukt, kann ich Tyler wohl kaum zusagen. Oder doch?

Ich sehe, wie er mich ehrlich anlächelt, wie dabei auf seinen glatt rasierten Wangen zwei kleine Grübchen entstehen, und bringe es kaum übers Herz, ihm einen Korb zu geben. Dazu noch dieser Hundeblick, mit dem er mich in diesem Moment ansieht. Wie um alles in der Welt kann ich da „Nein“ sagen?

„Klar, warum nicht“, tue ich es ab und ringe mir ein Lächeln ab, welches aber nicht annähernd so vor Begeisterung Funken sprüht wie das des Sportlehrers neben mir.

„Gleich dieses Wochenende? Samstag?“ Nun ist er kaum noch zu bremsen: „Das Wetter soll toll werden und ich habe eine wunderschöne Strecke, die an einem kleinen See vorbeiführt und dir bestimmt gefallen wird.“

„Okay“, bringe ich mühevoll hervor. Dabei ziehe ich jeden einzelnen Buchstaben in die Länge.

„Wunderbar!“

Bilde ich es mir ein oder hat er gerade tatsächlich einen kleinen Hüpfer gemacht? Wir kommen in meinem Klassenzimmer an. Wieder hält er mir die Türe auf und lässt sie offen, als er sich dann verabschiedet „Bis später, Leah.“

Kurz hält er inne, fährt sich durch sein Haar und erneut legt sich eine Strähne über sein Auge, während auf seinem markanten Gesicht ein Lächeln erscheint, das noch breiter wird und mich ein wenig an die Grinsekatze aus „Alice im Wunderland“ erinnert. Dann dreht er sich um und ich starre ihm hinterher, wie er zielstrebig den Flur entlanggeht. Dabei frage ich mich, ob diese Wanderung tatsächlich eine gute Idee ist.
„Gib ihm eine Chance! Tyler ist nett und wirkt anständig. Er könnte genau der Mann sein, den du dir immer gewünscht hast“, meldet sich meine innere Stimme zu Wort.

Tja, das könnte er wirklich. Doch noch bevor ich richtig darüber nachdenken kann, huschen auch schon die ersten schreienden Kinder in den Klassenraum.

 

*Devin*

 

In all den Jahren, die vergangen sind, habe ich Jeroma Hill nie vermisst. Keinen einzigen verfluchten Tag, und obwohl ich mir geschworen habe, nie wieder in dieses gottverlassene Nest zurückzukehren, stehe ich nun hier und starre empor zu dem Haus auf dem Hügel. Mein Elternhaus. Jener Ort, der mir eigentlich das Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Liebe vermitteln sollte. Doch stattdessen machen sich wieder diese alten, viel zu bekannten Gefühle in mir breit. Gefühle, die ich nicht zulassen will. Es kostet mich unheimliche Kraft, meine aufsteigende Aggression unter Kontrolle zu halten. Am liebsten würde ich jetzt, in diesem Moment, in mein Auto steigen und wieder abreisen. All die Probleme, die in den letzten Tagen wie eine Flut auf mich eingeströmt sind, hinter mir lassen. Doch weglaufen kommt nicht infrage. Nicht für mich. Nein, ich muss stark sein. Stark für sie. Für meine Mutter. Viel zu viel musste sie in den letzten Wochen durchmachen. Alleine. Ohne jegliche Unterstützung, und ich spüre, wie sich bei diesen Gedanken meine Hände erneut zu Fäusten ballen. Dabei weiß ich nicht, auf was ich wütender sein soll. Auf diese verfluchte Krankheit, die Tag für Tag mehr von ihrer Kraft nimmt, oder auf ihn. Jenen Menschen, der so rücksichtslos, so gefühlskalt ist, dass es mich nur noch anwidert. Wie konnte er ihr das nur antun? Wie konnte er einfach abhauen und sie in diesem Zustand zurücklassen? Was mir schon vor Jahren klar war, ist nun endlich Gewissheit und wieder einmal frage ich mich, was wohl passiert wäre, wenn ich meiner Mutter schon viel früher von meiner Vermutung erzählt hätte. Aber damals war ich noch ein halbes Kind. Ein verdammt unglückliches, das für ein bisschen Liebe und Aufmerksamkeit viel zu viel Mist baute. Wer hätte mir also geglaubt? Meine Mutter sicher nicht. Dafür war sie ihm viel zu hörig. Selbst jetzt, nach allem, was passiert ist, nimmt sie diesen Scheißkerl immer noch in Schutz. Ein Zeichen, wie hilflos und emotional gestört sie ist.

Mein Entschluss steht fest. Ich muss hierbleiben. Auch wenn dieser Ort der letzte ist, an dem ich freiwillig sein will.

Ungeduldig zerre ich mein Handy aus der Hosentasche und drücke auf den Kontakt, der auf meiner Anrufliste ganz oben steht. Bereits nach dem zweiten Freizeichen wird abgenommen.

„Endlich. Ich dachte schon, du meldest dich überhaupt nicht mehr!“, erklingt die vorwurfsvolle weibliche Stimme.

„Ich bin erst seit zwölf Stunden hier.“

„Ich weiß, und trotzdem geht es hier zu wie im Irrenhaus.“ Die Hintergrundgeräusche von den Kindern sind so laut, dass die Frauenstimme kaum zu hören ist. „Die Jungs fragen nach dir. Sie wollen, dass du zurückkommst.“

„Ich weiß, Alice. Aber so, wie es im Moment aussieht, muss ich die nächsten Wochen hierbleiben.“ Dass ihr und den Jungs das nicht gefällt, ist mir klar.

Ich warte auf eine Antwort von ihr, die aber leider nicht kommen will. Stattdessen werden die Hintergrundgeräusche nur noch lauter.

„Bist du noch da?“, hake ich nach.

„Natürlich bin ich das. Habe ich das eben richtig verstanden. Du hast vor, dort oben zu bleiben?“

„Ich fürchte ja. Ich habe keine Wahl.“ Ich starre in die rot-braunen Baumwipfel, betrachte das Farbenspiel, das mich umgibt.

„Und wie stellst du dir das vor? Was soll ich den Jungs sagen?“, schnaubt sie ins Telefon.
Meine Schultern zucken nach oben. Als mir klar wird, dass sie das nicht sieht, füge ich hinzu: „Keine Ahnung. Lass dir etwas einfallen.“

„Und wer übernimmt dann deine Aufgaben?“

Himmel, Alice stellt sich aber auch an. Man würde kaum glauben, dass sie eine Frau von Anfang dreißig ist. Sonst ist sie doch auch nicht so hilflos. Ganz im Gegenteil. Sie ist die erste Frau, die mit meiner Art klarkommt. Was nur daran liegt, dass sie selbst einen ziemlich ähnlichen Charakter hat.

„Ruf deinen Bruder an! Er weiß schließlich auch, was zu tun ist“, befehle ich ihr.

„Aber Evan fliegt morgen für drei Wochen nach Miami“, antwortet sie, als ob mir diese Tatsache entgangen sei.

„Himmel, dann muss er seinen Trip eben absagen!“, knurre ich ins Telefon. Mein Geduldsfaden wurde an diesem Tag schon genug strapaziert.

„Okay. Wie du meinst. Aber er wird nicht begeistert sein“, klärt sie mich auf.

„Glaub mir, auch meine Begeisterung hält sich sehr in Grenzen“, sage ich nun gefährlich leise.

„Das weiß ich doch, Devin. Das mit deiner Mum tut mir leid.“ Ich höre ihr an, wie sie nach den richtigen Worten sucht. Als ihr keine passenden einfallen wollen, sagt sie: „Ich kümmere mich hier um alles. Mach dir darüber keinen Kopf. Die Jungs werden es verstehen.“

„Danke“, mit dem Wort lege ich auf und gehe zurück zum Haus. In einer guten Stunde wird der Arzt hier sein und davor sollte ich mich abreagieren. Irgendwo in meinem Zimmer müsste noch mein alter Boxsack sein, und genau diesen werde ich jetzt suchen.

Kapitel 2

*Leah*

 

Im selben Moment, als meine Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt, entweicht auch ein tiefer Seufzer meiner Kehle. Was für ein Tag! Ich bin völlig platt, erledigt von den ganzen Ereignissen, und möchte einfach nur in Ruhe auf meiner Couch sitzen, die Füße hochlegen und vielleicht auch noch einen Kaffee trinken. Aber als Allererstes muss ich aus meinem braven Lehrer-Outfit raus, das mich bei meinem geplanten Gammelnachmittag nur stört. Ich stoße mich von dem kalten Holz der Türe ab, dabei habe ich gar nicht richtig mitbekommen, dass ich mich dagegengelehnt habe, und durchquere mit nur wenigen Schritten den winzigen Flur in mein Schlafzimmer. Dieser Tag schreit förmlich nach meiner pinken, flauschigen Jogginghose, die zwar nicht besonders trendy ist, dafür aber unheimlich bequem. Genau das, was ich jetzt brauche, Ruhe, Erholung und irgendetwas, was meinen Kopf auf andere Gedanken bringt. Eilig ziehe ich mich um und sehe mich in meiner Vorstellung schon vor meinem Fernseher sitzen.

Doch die Rechnung habe ich wohl ohne meinen Anrufbeantworter gemacht, der in dieser Sekunde anspringt. Ich bin noch nicht einmal aus meinem Schlafzimmer, als ich Moris Stimme höre, wie sie just in diesem Moment versucht, mich zu erreichen: „Wo steckst du? Ruf mich zurück! Sofort!“

Auch das noch, denke ich heimlich und schlurfe zu meiner roten Ledercouch, schnappe mir mein Telefon und lass mich in die weichen Kissen sinken. Ich mag meine Freundin, wirklich, doch in diesem Moment will ich mir nicht anhören, dass ich ohne eine vernünftige Erklärung einfach gegangen bin. Auf der Heimfahrt habe ich mir schon überlegt, wie ich Mori die Sache am besten verklickere, und bin zu dem Entschluss gekommen, ihr die Wahrheit zu sagen. Alles. Doch bevor ich erneut in meine Teenagerzeit abtauche, brauche ich etwas Zucker für meine Nerven. Da die Schokolade mal wieder leer ist und sich auch sonst nur wenig Nervennahrung in meiner Wohnung befindet, greife ich in die Obstschale auf meinem Tisch und nehme mir einen Apfel. Während ich hineinbeiße, drücke ich die Wahlwiederholung und warte, bis Mori abnimmt. Was keine fünf Sekunden dauert. „Endlich!“
Ihren vorwurfsvollen Ton ignoriere ich: „Du hast angerufen?“

„Natürlich habe ich das“, schnaubt sie laut aus. „Nachdem du kreidebleich und mit einem Gesichtsausdruck, als ob du gerade Mrs. Gurny nackt gesehen hättest, aus meinem Laden verschwunden bist, habe ich mir den ganzen Tag Sorgen um dich gemacht. Was zum Teufel war denn los?“

„Genau der war los?“, platzt es aus mir heraus und ich fluche leise, als ich anstelle des Apfels auf meine Zunge beiße.

„Hä, wie? Der Teufel? Sag mal, bist du irgendwie heute Morgen aus dem Bett gefallen und zufällig auf dem Kopf gelandet?“

Meine Zunge schmerzt so sehr, dass es mir Tränen in die Augen treibt. Der Appetit auf Apfel ist mir vergangen und so lege ich das angebissene Obst zurück auf den Wohnzimmertisch. In der Stimme meiner besten Freundin höre ich nicht nur Neugierde, sondern auch eine Spur von Besorgnis.

„Ich war doch nicht durcheinander“, verteidige ich mich, doch ihr Schnauben am anderen Ende der Leitung belehrt mich eines Besseren, und obwohl ich sie nicht sehen kann, weiß ich, dass sie in diesem Moment ihre Nase krauszieht. Das tut sie immer, wenn sie meint im Recht zu sein. Was sie, wie ich ehrlich zugeben muss, ja auch ist.

„Na gut, ja ich war ein klein wenig durcheinander.“

„Ja und ich bin mir sicher, dass dies nichts mit deiner Ottawa-Reise zu tun hat.“

„Stimmt, mit Ottawa hat das nichts zu tun.“

„Herr Gott, Leah, jetzt lass dir nicht jedes verdammte Wort aus der Nase ziehen“, höre ich sie seufzen.
Mori hat ja recht. Ich verhalte mich wirklich ungewöhnlich. Ich muss sie einweihen, sofort. Tu ich es nicht, ist sie vermutlich beleidigt und das möchte ich weder in diesem Moment noch in Zukunft. Sie ist die einzige Person, die mich wirklich kennt, und ich weiß, dass sie mich wegen meiner ehemaligen Schwäche - und das ist noch gelinde ausgedrückt - sicher nicht verurteilen wird.

„Ich möchte es dir ja erzählen, ich brauche nur einen kurzen Moment, um mich zu sammeln.“

„Zu sammeln?“, hakt sie nach.

„Willst du die Geschichte jetzt hören oder nicht?“

„Geschichte?“, meine beste Freundin klopft auf den Tisch oder einen anderen harten Gegenstand, „jetzt bin ich aber so richtig neugierig. Was für eine Geschichte?“
Leicht genervt verdrehe ich die Augen. Das ist wieder typisch für meine beste Freundin. Andere ausreden lassen ist nicht ihre Stärke. Erst recht nicht, wenn sie wie jetzt, in dieser Sekunde, vor Neugierde beinahe die Decke hochgeht.

„Das ist keine große Sache“, versuche ich es abzutun und nur mein Herz weiß, dass dies eine Lüge ist.

„Nun, auf jeden Fall hat mich die Nachricht, dass Devin wieder da ist, heute Morgen ziemlich ... aus der Bahn geworfen.“

„Wusste ich es doch.“ Ich vernehme einen dumpfen Schlag, so als ob sie gerade auf ihr Mobiliar klopft. „Erzähl weiter“, fordert sie mich auf.

„Da gibt es nicht sonderlich viel zu berichten. Wir waren in der gleichen Highschool, er eine Stufe über mir und na ja, ich fand ihn damals ziemlich süß.“ Kurz halte ich inne, denn das ist eine Lüge und diese stelle ich auch sofort richtig. „Süß ist vielleicht der falsche Ausdruck. Ich war hoffnungslos in ihn verknallt.“ Es tut gut mich jemandem nach all den Jahren anzuvertrauen. Sehr gut sogar, und so erzähle ich einfach weiter: „Als ich ihn das erste Mal sah, war es, ... es war seltsam. Er hatte diese gefährliche, faszinierende Aura, die mich völlig in ihren Bann zog. Ich konnte mich nicht an ihm sattsehen, wollte ihn näher kennenlernen. Aber ich habe mich nie getraut, ihn anzusprechen.“

„Das typische Schulschwarmsyndrom. So einen Typen gibt es doch in jeder Schule. Einer, der nur mit einem Finger schnippen musste, um eine neue Gespielin zu bekommen.“

„Ganz so ist es nicht. Devin, den schon damals alle den ‚Teufel‘ nannten, war kein Schulschwarm. Nein, er zählte eher zu der Kategorie Bad Boy, ein Einzelgänger, der gemieden werden sollte“, kläre ich sie auf, ziehe meine Beine dicht an den Körper und schlinge meine Arme darum. Bei dem Gedanken, was seinerzeit alles über Devin herumerzählt wurde, fröstelt es mich. Ja, er sah damals wirklich angsteinflößend aus. Die dunkle Kleidung, das Lederband um seinen Hals, die dunkel geschminkten Augen und dann die Sache mit dem Unfall.

„Und du als brave Tochter des Bürgermeisters hast das geglaubt?“, ich höre sie erneut seufzen.

„Es ist nicht jeder so wie du, Mori“, verteidige ich mich. Meine beste Freundin gibt nichts auf irgendwelchen Tratsch. Nein, sie bildet sich lieber selber eine Meinung über die Menschen. Was gut ist. Denn sonst wären wir beide vermutlich niemals Freundinnen geworden. Die ausgeflippte Städterin und die züchtige Vorzeigetochter. Eine seltsame Kombination und doch genau richtig.

„Nein, aber du hättest ihn ja einfach mal fragen können, was an den Gerüchten dran war oder ist.“

„Hätte ich tun können, aber denkst du, meine Eltern hätten das gerne gesehen?“, geschweige denn Jace, obwohl er es wegen seines Studiums eh nicht mitbekommen hätte.

„Scheiß auf deine Eltern. Dein Vater ist Bürgermeister und nicht irgendein Heiliger. Außerdem heißt es doch immer in der Bibel, man solle seine Nächsten lieben und ihnen vergeben können.“ Dem kann ich nicht widersprechen.

„Stimmt. Aber ganz ehrlich, er hätte sich nie mit mir unterhalten. Devin hatte eine Freundin und diese war alles andere als züchtig und brav“, versuche ich meinen damaligen Standpunkt, ihn im Hintergrund anzuhimmeln, zu verteidigen.

„Reden wir über die Person, die damals ...“, doch noch bevor sie aussprechen kann, unterbreche ich sie: „Genau diese.“

Für ein paar Sekunden sagt niemand von uns etwas. Dabei versuche ich, nicht an das zu denken, was damals passiert ist. Nicht an den Moment, als ich es erfahren habe, und auch nicht an die darauffolgende Gewissheit, dass er nicht wieder zurückkommen würde.

„Und was gedenkst du jetzt zu tun?“, holt mich meine beste Freundin aus den Erinnerungen.

„Wie meinst du das?“

„Na ja, wenn du ihn mal wieder sehen solltest. Deine Stimme und dein Verhalten sagen mir, dass du ihn noch immer scharf findest.“

„Ich bitte dich. Es sind über zehn Jahre vergangen. Der Typ interessiert mich überhaupt nicht mehr“, wehre ich ab. Das ist doch lächerlich. Will sie mir etwa damit sagen, dass ich noch immer in ihn verliebt bin? Ganz sicher nicht, und doch klinge ich nicht annähernd so überzeugt, wie ich es mir wünschen würde.

„Würde er mich interessieren, hätte ich wohl kaum Tylers Bitte nach einer Verabredung angenommen.“ Laut versuche ich, mich selbst zu überzeugen.

„Du hast ein Date mit dem Sportlehrer?“

„Genau mit dem, ja. Wir werden Samstag wandern gehen und ...“ Ich sollte begeistert sein, wirklich, denn mein Kollege ist ziemlich nett, und doch muss ich grinsen, als Mori mich mit einem herzhaften, lauten Gähnen unterbricht: „Sei mir nicht böse, aber du klingst nicht begeistert.“

„Bin ich aber“, kommt es mir schon beinahe trotzig über die Lippen.

„Echt? Versteh mich nicht falsch, aber die wenigen Male, die du über Tyler sprachst, hörten sich ungefähr so an, als ob du vom aktuellen Wetterbericht erzählt hättest. Ich hatte nie das Gefühl, dass du ihm an die Wäsche willst.“

„Himmel, Mori. Ich möchte Tyler näher kennenlernen. Okay? Das hat nichts mit körperlichem Verlangen zu tun.“ Irgendwie läuft das Gespräch in eine ganz falsche Richtung und das sage ich ihr auch: „Ich dachte, du freust dich für mich. Ich dachte, du findest es gut, wenn ich mich mal wieder mit einem Mann verabrede. Doch stattdessen werde ich das Gefühl nicht los, dass du mir dieses Date ausreden willst.“

„Süße, versteh mich bitte nicht falsch. Natürlich freue ich mich für dich. Aber ich denke einfach, du solltest dir vorher über deine Gefühle klar werden.“ Mit einem Mal wird ihre Stimme sanfter. „Ich will nur dein Bestes. Ich möchte, dass du genauso glücklich wirst, wie ich es mit Tom bin. Nach allem, was ich heute gesehen und gehört habe, glaube ich einfach, dass du über diesen Devin noch nicht hinweg bist.“

„Himmel, Mori. So wie du das sagst, könnte man fast meinen, ich wäre mal mit ihm zusammen gewesen.“ Kurz halte ich inne, nur um dann mit Nachdruck fortzufahren: „Das damals war nur eine Teenagerschwärmerei. Nicht mehr. Okay?! Ich bin über den Typen hinweg.“
Genau in diesem Moment lässt meine beste Freundin einen anerkennenden Pfiff los und gleich darauf: „Heilige Mutter Gottes.“

Seit wann ist meine Freundin unter die Gläubigen gegangen? Die Stille am anderen Ende der Leitung macht mich, je länger sie andauert, ganz hibbelig. Irgendetwas passiert da gerade und ich möchte wissen, was es ist: „Was ist los?“

Nun höre ich auch noch, wie die Ladentüre aufgeht und Moris Stimme eine Oktave höher rutscht, als sie sich an den Neuankömmling wendet: „Einen ganz kleinen Moment. Ich muss nur dieses Telefonat kurz beenden. Ich bin gleich für Sie da.“

Dann höre ich, wie sie sich ein paar Schritte entfernt und ganz leise in den Höherer flüstert: „Ach ja? Wenn das so ist, dann kannst du deinen süßen kleinen Hintern hierherbewegen und dich endgültig davon überzeugen, dass dein Interesse verflogen ist. Denn dein Schwarm ist hier, in meinem Laden.“

Noch ehe diese Information richtig in meinem Gehirn ankommt, hat meine beste Freundin auch schon aufgelegt. Ungläubig starre ich das Telefon in meiner Hand an und zwinge mich dazu, nicht die Nerven zu verlieren. Und doch rast mein Herz und mein Magen fühlt sich an, als ob er jeden Moment mein Mittagessen entleeren will.
Ganz ruhig, Leah. Du bleibst einfach hier in deiner Wohnung, denke ich mir. Doch anstatt sitzen zu bleiben, springe ich auf. Starre aus dem Fenster, hinüber zu meinem Elternhaus. Wie ein Tiger in seinem Käfig gehe ich immer wieder auf und ab, während tausend Gedanken auf mich einprasseln. Devin ist in Moris Laden, er trinkt Kaffee, vielleicht würde er mich jetzt wahrnehmen, vielleicht sogar mit mir reden. Oder er würde mich genauso wie damals im Schulkorridor ansehen. Selbst, wenn er es tun würde, was dann? Wäre ich dann zufrieden, nachdem ich mich mit ihm unterhalten hätte? Kann ich dann endlich einen Haken hinter den Namen „Devin“ machen und ihn vergessen? Ich weiß es nicht. Doch eines weiß ich, ich werde nicht noch einmal zehn Jahre an ihn denken. Nein, ich bin es mir und meiner Zukunft schuldig, diese Wunschvorstellung, diese Teenagergedanken, die ihn betreffen, endlich abzustellen. Ich muss ihm gegenübertreten. Muss mich davon überzeugen, dass er gar nicht mehr so toll ist, wie ich ihn mir immer ausgemalt habe. Noch bevor die zweifelnden Stimmen in meinem Kopf lauter werden, schnappe ich meine Jacke, ziehe meine Schuhe an und eile aus meiner Wohnung. Ohne auf meine Umgebung zu achten oder auf meine Eltern, die gerade dabei sind, ihren Garten von Unkraut zu befreien, steige ich in meinen Wagen und starte den Motor. Den fragenden Blick, den mir meine Mutter in diesem Moment zuwirft, ignoriere ich gekonnt. Als wohlerzogene Tochter sollte ich sie begrüßen, ein paar Sätze mit ihnen wechseln und nicht wie eine hormongesteuerte Irre aus der Hofeinfahrt preschen. Zum Glück kommt gerade kein anderes Auto vorbei, denn sonst würde die Predigt, die mir später blüht, nur noch länger ausfallen. Manchmal ist es einfach kein Vorteil in der elterlichen Garage zu wohnen. Besser gesagt, über der Garage. Natürlich spare ich so einiges an Geld, was aber auch schon der einzige Vorteil ist. Denn obwohl ich seit gut zwei Jahren in meinen eigenen vier Wänden lebe, habe ich noch immer das Gefühl, als ob ich bei ihnen wohnen würde. Da sind diese fest terminierten Abendessen, der Blick meiner Mum aus dem Fenster, wenn ich mit meinem Auto zur Arbeit fahre, und dieselben Fragen, die mich als Teenager schon ganz verrückt gemacht haben. Wo warst du? Wo gehst du hin? Was ist das für eine Party, auf die du gehst? Blablabla.

Einen Männerbesuch vor ihnen verschweigen, unmöglich. Gut, mal abgesehen davon, dass ich sowieso nie einen mit zu mir nehmen würde. Dazu müsste ich ja erst einmal auf ein vernünftiges Exemplar der Gattung Mann treffen, was sich in den letzten Jahren als verdammt schwierig herausgestellt hat. Denn irgendwie habe ich dieses besondere Talent, immer an die Vollpfosten zu geraten.
Männer, die entweder bereits vergeben sind oder einen gleich heiraten wollen. Was dazwischen scheint es nicht mehr zu geben.

Die paar Minuten zu Moris Laden verlangen mir alles an Gefühlsregungen ab. Mein Herz scheint beinahe zu explodieren, mein Magen spielt ebenfalls völlig verrückt und von meinen schlotternden Knien will ich erst gar nicht anfangen. Apropos Knie.

„Verdammter Mist“, fluche ich, als mein Blick auf das schweinchenfarbige Etwas fällt, was sich Hose nennt. So kann ich unmöglich in Moris Geschäft gehen. Für den Bruchteil einer Sekunde erwäge ich, wieder zurückzufahren, um mich umzuziehen. Doch meine arbeitenden Eltern und die Vorstellung, er könnte weg sein, bis ich wiederkomme, lassen mich den Gedanken verwerfen. Nein, ich werde einfach am Straßenrand gegenüber dem Coffeeshop parken und ihn wie früher aus der Ferne begutachten. Was eh viel besser ist, denn so kann Mori auch nicht versuchen, uns in irgendein Gespräch zu verwickeln. Was sie mit hundertprozentiger Sicherheit vorhat.

Und dann erscheint auch schon das weiße Schild mit der giftgrünen Aufschrift „Mori‘s Coffeeshop“. Suchend halte ich nach

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Bildmaterial: abstract-1292323 (www.pixabay.com); canada-1751464 (www.pixabay.com); shutterstock_138245651 (www.shutterstock.com); Covergestaltung: Sabrina Baur
Lektorat: Dr. Andreas Fischer - BookRix
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2017
ISBN: 978-3-7438-0881-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein besonderer Dank geht an Nina, Sabrina, Silvia und Barbara. Danke für eure Geduld und euer Verständnis. Sei es beim Korrigieren des Textes, beim Cover gestalten, beim Klappentext feilen oder einfach nur fürs Zuhören. Danke Mädels!

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