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Kapitel 1

 

Ich spüre es. Heute ist endlich, nach monatelangem Warten, der Tag gekommen, der mein Leben verändern wird. Der Moment, den ich mir Nacht für Nacht in meinen Träumen herbeisehne. Es wird der Tag sein, den ich mir in mein Gedächtnis einbrenne und von dem ich meinen Kindern und deren Kindern berichten werde.

Deutlich spüre ich, wie mein Herz vor Aufregung schneller schlägt, wie meine Hände, die nach meiner eckigen Lederumhängetasche greifen, leicht zittern. Nervös blicke ich aus dem Fenster meines alten Opel Corsa auf den hell beleuchteten Parkplatz. Unzählige Autos reihen sich auf dem alten Fabrikgelände aneinander und ich bin froh, noch einen der letzten freien Stellplätze erwischt zu haben. Neben all den teuren Luxuskarossen gleicht mein in die Jahre gekommenes Auto mit seinen Schönheitsfehlern, unzähligen Rostflecken, hie und da kleinen Blechdellen einer Beleidigung für die Augen. Zu meiner großen Schande muss ich gestehen, dass in dem Spruch „Frauen können schlecht einparken“ in meinem Fall wirklich ein Funken Wahrheit steckt. Obwohl ich immer, wirklich immer nach der größten Parklücke Ausschau halte, meint es der liebe Parkgott nicht allzu oft gut mit mir. Meine letzte Kollision mit einem einsamen Einkaufswagen liegt schon ein paar Wochen zurück, und doch sehe ich die anderen Autofahrer noch vor mir, wie sie mich kopfschüttelnd angucken.

Schnell verwerfe ich den Gedanken, denn schließlich soll heute mein neues Leben beginnen, und dazu gehören keine Eskapaden mit diversen Crashs.

Vorsichtig öffne ich die Tür meines Wagens, sehr bedacht darauf, dem pechschwarzen Aston Martin neben mir ja keinen Kratzer zu verpassen, und steige aus. Sofort umfängt mich ein kühler Windzug, ein letzter Nachbote, wie ich hoffe, des langen Winters, und ich ziehe unauffällig mein neu gekauftes schokobraunes Strechminikleid ein Stück weiter nach unten.

„Als ob der dünne Stoff es schafft, dich vor der Kälte zu schützen“, flüstere ich leise und verfluche mich nun schon zum dritten Mal, dieses Stück Stoff überhaupt angezogen zu haben. Das Kleid ist so eng geschnitten, dass man es nur mit Modelmaßen anziehen kann oder eben, man hat wie in meinem Fall eine dieser Zauberunterhosen an, wie ich sie gerne nenne. Gut, die Teile sehen alles andere als toll aus, aber hey, wie soll man es sonst schaffen, mit einer Figur, die hie und da etwas zu viel hat, solch ein heißes Kleid anzuziehen?

„Alles für Teddy“, wispere ich leise und der Gedanke an meinen Boss treibt mich von meinem Wagen weg auf das Fabrikgebäude zu. Er ist der Grund, warum ich heute in diesen neu eröffneten Club gehe, anstatt es mir auf meiner Couch gemütlich zu machen. Teddy, der eigentlich nur Ted heißt, ist auch der Anlass für meine Nervosität und der Mann, in den ich seit Monaten hoffnungslos verknallt bin. Heute feiert er mit uns Mitarbeitern und ein paar seiner Freunde seinen 30. Geburtstag. Aus diesem Grund hat er einen Tisch im VIP-Bereich gebucht.

Meine Füße tragen mich zu dem bunt beleuchteten Eingang auf die zwei Türsteher zu.

„Hey, mein Name ist Elisa Neumann. Ich stehe auf der Gästeliste von Ted Spencer“, mit einem freundlichen Lächeln blicke ich zu den zwei Gorillas empor.

„Guten Abend. Einen kleinen Moment bitte“, der glatzköpfige Mann studiert einen Zettel auf seinem schwarzen Klemmbrett. Mit den Worten „‘nen schönen Abend!“ lässt er mich durch und hält mir galant die Türe auf.

„Danke sehr“, nicke ich und husche an den zweien vorbei.

Sofort schlägt mir die laute Musik entgegen. Der Bass dröhnt unangenehm in meinen Ohren und mein aufgeregtes Herz passt sich dem rhythmischen Hämmern an. Das dämmrige Licht tut sein Übriges, um mich wie eine ältere Dame im Seniorenheim zu fühlen. Blind und beinahe taub. Am liebsten würde ich mir meine Ohren zuhalten und wackle wie ein Storch auf meinen schwindelerregend hohen Schuhen an den anderen Partygästen vorbei. Selbst mit diesem Schuhwerk muss ich mich noch auf Zehenspitzen stellen, um ein wenig mehr zu sehen als nur tanzwütige Körper, die sich in der Menge aneinanderreihen.

„Entschuldigung“, halte ich eine knapp bekleidete Kellnerin auf, die ein Tablett mit vollen Gläsern jongliert.

„Getränke gibt es an der Bar“, völlig gestresst versucht sie mich abzuwimmeln.

„Ich möchte keine Getränke, ich suche den VIP-Bereich“, muss ich gegen den Lärm anbrüllen.

„Gut, dann komm mit, ich bin sowieso gerade auf dem Weg dorthin.“

So schnell es meine Füße zulassen, folge ich ihr durch die Menge, vorbei an verschwitzten, zum Teil mit Parfüm vollgesprühten Körpern, die mir dadurch beinahe Tränen in die Augen treiben.

Ich folge ihr die paar Stufen der Treppe empor zu einem erhöhten abgegrenzten Bereich, der den Gästen im VIP-Bereich einen kompletten Ausblick über den ganzen Club verschafft. Während meine Wegweiserin einfach an dem Security-Typen vorbeistiefelt, werde ich mit den Worten „Nicht so schnell, junge Dame!“ aufgehalten.

Genervt blicke ich den Mann an, der mir mit seinem massigen Körper den Weg versperrt und nebenbei noch um einiges jünger als ich selbst zu sein scheint. Selbst sein aufgesetzter Blick, der wohl so viel sagen soll wie „Ich hab hier das Sagen!“, verfehlt seine Wirkung bei mir komplett.

„Elisa Neumann. Ich steh auf der Gästeliste“, dabei kann ich ein genervtes Schnauben nicht unterdrücken. Es gibt wirklich nicht viel, was mich auf die Palme bringt, außer die Tatsache, dass ich viel zu oft gefragt werde, ob ich schon volljährig bin.

Jedes Mal wenn dieser Satz oder ein ähnlicher kommt, könnte ich meinem Gegenüber an die Gurgel gehen. Klar ist es toll, wenn man jung aussieht, vor allem dann, wenn man mal über vierzig ist. Aber mit 26 immer noch für ein beinahe noch pubertierendes zwanzigjähriges Ding gehalten zu werden, nervt dann doch gewaltig.

„Neumann sagtest du?“, will mein Gegenüber wissen und senkt seinen kastenförmigen Holzkopf, um den Zettel auf seinem schwarzen Klemmbrett zu studieren.

„Soll ich es dir buchstabieren?“, leicht bissig verdrehe ich die Augen. Dieser Typ hält mich nicht von meinem zukünftigen Lover ab.

„Nicht nötig. Ich hab dich gefunden“, bereitwillig gibt er mir den Weg frei. „Mr. Spencers Tisch ist ziemlich weit hinten.“

„Danke“, nicke ich ihm zu und betrete den abgegrenzten Bereich. Ohne auf die anderen feierwilligen Gäste zu blicken, marschiere ich zielstrebig an den vielen Tischen vorbei. Was interessiert es mich, ob hier irgendein Hamburger Promi sitzt. Suchend halte ich Ausschau nach Ted und spüre sofort, nachdem meine Augen das Objekt meiner Begierde entdeckt haben, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Wie mein Puls in die Höhe schießt.

Okay, Elisa, it’s Showtime. Mit diesen Gedanken raffe ich meine Schultern zurück, streiche mein Kleid zurecht und gehe hüftschwingend, zumindest so gut ich es beherrsche, auf meinen Boss und seine Gäste zu.

Ted muss mein sexy Gang wohl aufgefallen sein, denn er wendet sich von seinem Gesprächspartner ab und winkt mir zu. Mein Boss sieht so gut aus. Wie immer trägt er sein schulterlanges strohblondes Haar zu einem Knoten gebunden hinter dem Kopf. So wie dieser bekannte Geiger, dessen Namen ich mir leider nie merken kann. Das dunkelblaue Hemd passt perfekt zu seinen Augen, welche heute nicht durch eine Brille auf der Nase an Größe gewinnen. Eine vorwitzige Strähne, die sich aus dem Dutt gestohlen hat, umspielt sein ovales Gesicht. Mit jedem Schritt beschleunigt sich mein Herzschlag noch mehr, bis ich schließlich direkt vor ihm stehe und ihn ansehe.

„Hey Elisa. Schön, dass du da bist“, Ted beugt sich zu mir und drückt mich kurz an sich. Dabei verweilt meine Hand einen Moment zu lange auf seiner Schulter.

„Hey Ted. Alles Gute zu deinem Geburtstag“, wispere ich kaum hörbar.

„Danke“, für einen Moment sehen wir uns tief in die Augen und da ist es wieder, das Gefühl, das mir sagt, dass er sich ebenfalls in mich verliebt hat und jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, dass wir uns unseren Gefühlen hingeben.

Jetzt oder nie, denke ich mir und nehme all meinen Mut zusammen. Eigentlich hab ich mir vorgenommen, ihm meine Gefühle erst später zu gestehen, aber warum nicht jetzt?

„Ted, kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“, jetzt ist es raus. Gespannt warte ich auf seine Reaktion, die allerdings auf sich warten lässt. Bei all meiner Nervosität hab ich gar nicht mitbekommen, dass die Aufmerksamkeit meines Gegenübers gar nicht mehr mir gilt. Stattdessen blickt er einfach an mir vorbei. Ich sehe, wie seine Augen sich weiten, wie er aufmerksam irgendetwas hinter mir eingehend studiert.

Was zur Hölle…, weiter kann ich gar nicht denken, denn in diesem Moment vernehme ich eine weibliche Stimme direkt hinter mir: „Hey Ted.“

Hallo, hast du nicht bemerkt, dass Teddy und ich uns unterhalten?, verärgert drehe ich mich um, um diesen Störenfried mit vernichtenden Blicken zu bestrafen. Ich hab mich noch nicht einmal ganz umgewandt, als Ted sich an mir vorbeischiebt.

Peng, meine große rosafarbene Seifenblase zerplatzt in dem Moment, als ich mich ganz umdrehe und sehe, wie Ted diese Person, die eben noch hinter mir war, an sich zieht und küsst. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich bin unfähig, etwas Anderes als das Bild vor mir wahrzunehmen.

Ich starre die beiden an und spüre, wie sich mein Herz krampfartig zusammenzieht. Wie der Schmerz sich tief in meinem Inneren verstärkt. Das kann unmöglich gerade wirklich passieren. Vielleicht sollte ich mich kurz zwicken, um aus meinem persönlichen Albtraum aufzuwachen. Doch stattdessen werde ich am Arm berührt.

„Hey Elisa, mach den Mund zu“, es ist die Stimme von Rafael, meinem Arbeitskollegen und der Person, die als Einzige weiß, wie verknallt ich in Teddy bin.

„People, darf ich euch Selina vorstellen, my Girlfriend“, da ist wieder Teds Stimme, die mich aus meiner Schockstarre befreit.

„Hey Selina“, ertönt es von den anderen Gästen wie im Chor. Nur Rafael und ich bleiben stumm.

„Okay Leute, dann lasst uns meinen Birthday feiern“, eigentlich liebe ich die Art, wie Ted, der ursprünglich aus London kommt, die deutschen Wörter mit den englischen vermischt. Aber im Moment könnte ich bei dem Klang seiner Stimme nur noch würgen.

Ted führt die blonde Schönheit mit ihren viel zu langen Beinen und der Modelfigur an uns vorbei auf seinen gebuchten Tisch zu. Die anderen acht Partygäste nehmen ebenfalls Platz, nur ich und Rafael stehen immer noch da.

„Guys, setzt euch“, fordert Ted uns auf.

„Moment, Boss, Elisa und ich haben noch etwas zu besprechen. Etwas Dienstliches“, ruft ihm mein Arbeitskollege zu.

„Tolle Mitarbeiter hast du, Ted. Kann ich sie dir abwerben?“, will einer von Teds Kumpeln wissen.

„No Chance“, er lacht und prostet uns mit seinem vollen Sektglas zu.

„Komm mit“, ich spüre, wie Rafaels Hand sich um meinen Unterarm schließt und er mich hinter sich zur VIP-Bar zieht.

Unsanft schiebt er mich auf einen der samtbezogenen Hocker und winkt dem Barkeeper zu: „Zwei doppelte Tequilas, bitte.“

„Ich muss noch fahren, Raf“, protestiere ich halbherzig, als Raf, wie ich ihn nenne, mir ein Glas in die Hand drückt.

„Du bist weißer als ein Schneemann. Trink das Zeug da! Ich bestell uns später ein Taxi“, befiehlt er.

„Ach Raf“, ich schließe die Augen und spüre, wie ich langsam wieder denken kann. Mein Ted hat eine Freundin. Er ist vergeben.

„Oh Babe, ich weiß. Dieser Scheißkerl“, Raf tätschelt mir den Unterarm.

„Was soll ich denn jetzt tun? Ich liebe ihn doch“, schluchze ich, dabei spüre ich, wie meine Hände zittern, ebenso das Glas mit der braungoldenen Flüssigkeit.

„Ich weiß, und wenn ich kein Totalversager wäre, was Beziehungen angeht, würde ich dir helfen“, Raf blickt mit leerem Blick an mir vorbei und ich weiß genau, dass er wieder an Sebastian denkt. Seine letzte Beziehung oder Affäre oder was auch immer.

„Oh Raf“, tröstend streiche ich über seine Hand, „wieso musst du nur schwul sein? Wir beide wären das perfekte Paar.“ Dabei nehme ich einen großen Schluck aus meinem Glas. Diese braungoldene Flüssigkeit schmeckt scheußlich, und doch hat das wärmende Gefühl, das sich kurz darauf in meinem Magen ausbreitet, etwas Beruhigendes.

Raf sieht auch wirklich gut aus. Sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar kringelt sich in kleinen Locken um seinen Kopf. Seine graubraunen Augen und die langen schwarzen Wimpern passen perfekt zu seinem ovalen Gesicht. Einzig und allein seine Nase, die mit einem recht großen Höcker versehen ist, schmälert seine Schönheit, zumindest meint Raf das. Mir gefällt seine Nase. Ich finde, sie besitzt Charakter. Aber sobald ich etwas in diese Art erwähne, schnappt er ein. Vielleicht liegt es daran, dass er Italiener ist? Oder einfach nur daran, dass an seinem perfekten Äußeren eben nicht alles wie bei einem gefotoshopten Model aussieht.

„Du meinst, wenn du ein Mann wärst?“, Raf, der ebenfalls von Liebeskummer gezeichnet ist, es aber niemals zugeben würde, zwinkert mir zu.

„Nein, wenn du auf Frauen stehen würdest“, korrigiere ich ihn und stelle das geleerte Glas auf dem Tresen ab.

Mein bester Freund gibt dem Barkeeper ein stummes Zeichen, die Gläser erneut aufzufüllen: „Apropos Frauen. Mein Bruder ist übers Wochenende da und schaut noch auf einen Drink oder auch zwei vorbei.“

„Sprichst du von - korrigiere mich, wenn ich deine Wortwahl nicht genau treffe - deinem selbstverliebten, Frauen aufreißenden Bruder?“

Zumindest hatte ich von Rafs und meinem letzten Gespräch über das Thema Familie diesen Kommentar noch in Erinnerung.

„Genau der“, nickt Raf und deutet mit dem Kopf zu Ted und seinen Gästen. „Wenn wir nicht wollen, dass er irgendeinen Verdacht schöpft, dann sollten wir uns langsam zu ihnen begeben.“
Widerwillig folge ich Rafs Blick und bereue es sofort. Ted hat seinen Arm um Selinas Schulter gelegt und zieht sie so dicht zu sich, dass nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen den beiden Platz hätte. Verliebt spielt Ted mit einer Haarsträhne seiner Angebeteten und seine andere Hand wandert auf ihrem Schenkel auf und ab.

Schnell wende ich den Blick ab. „Ich glaub, ich pack das nicht.“

„Du musst“, erwidert Raf streng und zieht mich unsanft vom Barhocker.

„Aber… ach verdammt. Hab ich mir Teds Avancen etwa nur eingebildet?“, mit einem Zug leere ich mein Glas.

„Lag ich so daneben?“

Statt einer Antwort schiebt Raf mich zum Tisch unseres Bosses und drückt mich ziemlich unsanft auf einen freien Stuhl. Er lässt sich neben mich sinken und flüstert mir ins Ohr: „Kopf hoch.“
Leichter gesagt als getan. Denn da ich dem Mann fast genau gegenübersitze, der eigentlich jetzt neben mir sitzen und an mir rumkrabbeln sollte, fällt es mir doch leichter, das mir gereichte Sektglas eingehend zu studieren. Dass der Abend noch schlimmer werden konnte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

 

Die Minuten ziehen sich unendlich in die Länge und mit jedem Blick auf die Uhr werde ich noch frustrierter. Wie war es nur möglich, dass die Zeit nicht vergehen wollte? Ich bin noch keine 60 Minuten da und Ted hat uns, seine anderen Gäste, komplett vergessen. Er hat nur noch Augen für seine makellos aussehende Modelfreundin. Ihr roter Minirock und das schwarze, mit Steinchen verzierte Top passen wie angegossen. Bestimmt muss sie keine dieser hässlichen Unterhosen tragen, um ihren Schokoladenbauch, so wie meiner einer ist, zu verstecken. Dazu noch diese endlos langen Beine. Bestimmt weiß die Gute nicht, was Cellulite ist, denke ich mir und wende den Blick ab. Wir anderen Gäste müssen uns mit Alkohol und langweiligem Smalltalk begnügen. Wobei auf mich das Erstere zutrifft. Das Glas in meiner Hand scheint ein Zauberglas zu sein. Jedenfalls war es immer voll und so habe ich schnell den Überblick verloren, wie viel ich bereits getrunken habe. Auf alle Fälle genug, damit ich diese Situation irgendwie ertragen kann. Es war genug, um mein blödes verliebtes Herz zu beruhigen. Und doch war es noch nicht genug, um zu wissen, dass ich mir später, wenn ich alleine sein werde, die Augen aus dem Kopf heulen werde. Dass ich mich auf meinen kleinen Balkon setzen werde, um mir eine Zigarette zwischen die Lippen zu schieben, den Mond und die Sterne betrachten werde, und dabei in Selbstmitleid zerfließen.

Darin bin ich besonders gut. Leider.

Teds Stimme, die, welch Wunder, nun auch mal wieder für unsere Ohren bestimmt ist, erklingt: „Guys, bevor ich es vergesse, ich hab noch News für euch. Okay, Darling, soll ich es sagen?“
Was für eine blöde Frage. Jetzt kann er schließlich keinen Rückzieher mehr machen, oder will er uns mit seinen „News“ davon abhalten, seine Geburtstagsparty frühzeitig zu verlassen?, denke ich für mich und fische ein Ananasstückchen aus meinem Drink, um es gleich darauf in meinen Mund wandern zu lassen.

Selina nickt mit einem geheimnisvollen Grinsen, was in mir sofort sämtliche Alarmglocken anspringen lässt. Was ist hier los?

Kapitel 2

 

Ungeduldig rutsche ich auf dem Stuhl herum, starre auf Ted, der mittlerweile wie ein Kleinkind zu Weihnachten grinst. Mein Chef strahlt über das ganze Gesicht und mir wird von Sekunde zu Sekunde schlechter. Mein Gefühl sagt mir, dass ich diese News gar nicht wissen möchte.

„Okay Guys, ich rede gar nicht lang um den heißen Apel…“

„Brei“, korrigiert Raf ihn.

„Yes, sorry. Brei herum. Selina und Ich werden in Zukunft nicht nur privat gemeinsame Wege gehen“, verliebt blickt Ted zu seiner Flamme und greift nach ihrer Hand, „Selina wird in mein Reisebüro einsteigen.“

Ted, der vor Begeisterung beinahe überschnappt, ist aber noch nicht fertig: „Doch das ist noch nicht alles. In ein paar Monaten“, er lässt die Hand seiner Partnerin los und legt diese stattdessen auf ihren Bauch, „sind wir zu dritt.“

Stille. Ich nehme nichts mehr wahr. Keine Musik, nicht die Leute um mich herum. Nichts. Nur diese zwei Informationen beherrschen in diesem Moment mein Gehirn. Das muss ein Scherz sein. Natürlich! Ted ist bekannt für seinen ausgesprochen schrägen, eigenwilligen Humor, bei dem man oft nicht weiß, was er ernst meint und was Spaß ist. Auch wenn ich persönlich diesen Scherz nicht annähernd lustig finde, lache ich laut: „Der war gut.“

Selbst in meinen Ohren klingt mein Lachen viel zu aufgesetzt und ein Blick in die Runde sagt mir, dass ich wohl die Einzige bin, die den Witz versteht. Oder bin ich die Einzige, die nicht kapiert, dass es sich bei Teds Neuigkeiten um gar keinen Spaß handelt?

Deutlich spüre ich die Blicke der Anderen auf mir, selbst Ted und seine Selina starren mich an, als ob sie es mit einer komplett Irren zu tun hätten.

Womit sie wohl gar nicht so falsch liegen, denke ich und stammle ein „Ähm ja…“.

Neugierig liegen die Blicke der anderen Mitarbeiter und seiner Freunde auf mir. Ich höre, wie hie und da getuschelt wird: „Oh je, die Arme ist wohl auch in Ted verknallt.“

Als ob die Situation so schon nicht schrecklich genug wäre! Nein, jetzt wissen alle Anwesenden um mich herum, dass ich in meinen Boss verknallt bin. Ich fühle mich erniedrigt, nackt und völlig hilflos.

Raf rettet die Situation, indem er sein Glas hochhebt und ein „Herzlichen Glückwunsch!“ flötet.

Langsam wenden sich die neugierigen Blicke von mir ab und auch die anderen Gäste stimmen in die Glückwünsche mit ein. Bis auf meine Wenigkeit, die zusammengekauert in ihrem Sessel sitzt und wartet, dass der Albtraum endlich ein Ende nimmt. Mir ist übel, speiübel, und bevor ich hier vor aller Augen den Boden mit meinem Mageninhalt überflute und damit die nächste peinliche Situation hervorrufe, erhebe ich mich und stammle: „Ich muss mal.“‘

Zum Glück nimmt niemand mehr von mir Notiz und so schiebe ich mich an den werdenden Eltern vorbei in Richtung Toilette.

„Geht es dir gut?“, eine junge Frau, kaum älter als ich selber, hält mir mit besorgtem Blick die Tür zur Toilette auf.

Wortlos schiebe ich mich an ihr vorbei, stütze mich auf dem hellen Waschtisch ab und starre mein Spiegelbild an. Selbst mit noch so viel Make-up ist hier nichts mehr zu retten. Mein von Geburt an heller Teint ist in diesem Moment ein Abklatsch der weißen Wand neben mir. Meine zementgrauen Augen starren wie betäubt in den Spiegel und ich sehe, wie sich die erste Träne aus ihnen schleicht.

Reiß dich zusammen. Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!, befehle ich mir im Stillen und lass den kalten Wasserstrahl über meine freien Unterarme fließen. Mit zitternden Händen fahre ich durch mein aschblondes stumpfes Haar, welches schon seit Monaten einen neuen Schnitt oder eine Kur vertragen könnte. Mein Haar sieht völlig unspektakulär aus. Langweilig fällt es in dünnen Strähnen auf meine Schultern.

„Kein Wunder, dass er mit Selina zusammen ist“, schluchze ich und sehe, wie zwei Frauen hinter mir sich angucken und mit den Köpfen schütteln, so als ob sie sagen wollten, die hat auch zu tief ins Glas geschaut.

Ich muss hier raus. Raus aus diesem mit Parfüm behangenen, stickigen Raum. Raus aus diesem Club und weg von all den Menschen, die sich darin befinden.

Ohne das Wasser abzuschalten, drehe ich mich um und schwanke aus dem Raum. Vorbei an den tanzenden Partygästen, die mir beim Vorübergehen immer wieder einen strafenden Blick zuwerfen. Was ich teilweise gut verstehen kann, denn mit jedem Schritt, den ich gehe, verschwimmt meine scharfe Sicht und löst sich in Doppelbildern auf. Hie und da remple ich aus Versehen jemanden an, und als ich endlich die kalte Nachtluft rieche, atme ich hörbar aus.

Eine kühle Windböe erfasst mich, streift um meine nackten Beine und verleitet mich zu einem derben, lautstarken Fluch. Die eisige Nachtluft macht den Schwindel in meinem Kopf nicht annähernd besser. Eher das Gegenteil ist der Fall. Meine Sicht wird noch unschärfer und ich habe große Mühe auf dem Kiesweg, der mich zu meinem Auto bringt, zu bleiben.

„So viel zu dem Thema neues Leben. Ohne Eskapaden“, lalle ich mit schwerer Zunge vor mich hin und erblicke etwas, das aussieht wie mein Auto. Leider in doppelter Ausführung. Zielstrebig, sofern man das von einer Schnapsdrossel wie mir behaupten kann, steuere ich auf das Auto zu. Dicht davor bleibe ich stehen und beuge mich etwas nach vorne, um in den Wagen zu sehen. Auch wenn die Lichter auf dem Parkplatz nicht gerade sehr hell leuchten, erkenne ich doch das Chaos im Inneren des Wagens und kann so mit großer Sicherheit behaupten, dass dieses Auto mir gehört. Schließlich gibt es nicht viele Leute, die wohl einen Besenstiel, der beinahe das Dach streift, und einen Korb voll frisch gebügelter Wäsche spazieren fahren.

„Hallo Auto“, mit diesem Satz mach ich mich daran, den Schlüssel aus meiner Handtasche zu angeln. Ich wühle mich vorbei an benutzten Taschentüchern, Tampons, Zigarettenschachteln, leeren Bonbonverpackungen und meinem Handy. Doch mein Schlüssel ist nicht zu finden, und dann kann ich nicht mehr an mich halten. Tief schluchzend füllen sich meine Augen mit Tränen, bahnen sich einen Weg an meinen hohen Wangenknochen hinab zur Nasenspitze, nur um gleich darauf auf mein Kleid zu tropfen.

„Kann ich Ihnen bei der Suche behilflich sein?“, eine dunkle, tiefe Männerstimme gebietet meiner Suche, meinem Wimmern kurz Einhalt.

„Danke, ich brauch Ihre Hilfe nicht“, bringe ich mit schwerer Stimme hervor und krame noch schneller in meiner Tasche. Ich mag zwar ziemlich betrunken sein, aber die Situation, in der ich mich gerade befinde, – alleine, mitten auf einem einsamen Parkplatz - ist mir durchaus bewusst.

„Das scheint mir aber anders.“

„Und wenn schon. Was geht Sie das an? Verschwinden Sie einfach“, schluchze ich und in diesem Moment ertaste ich meinen Autoschlüssel und drehe mich zu der Stimme irgendwo hinter mir um.

Suchend blicke ich mich um und erkenne, keine zwei Autos von meinem entfernt, die Umrisse eines Mannes. Eines verdammt großen Mannes, der lässig an einem Auto, vermutlich seinem, lehnt.

„In Ihrem Zustand sollten Sie nicht Auto fahren. Ich ruf Ihnen ein Taxi“, seine Stimme und die Art, wie er dasteht, lassen keinen Widerspruch zu. Vom Seitenwinkel sehe ich, wie er sein Handy aus der Hosentasche holt.

Jetzt meint auch noch dieser völlig fremde Typ, mir Vorschriften machen zu müssen.

„Warum müsst ihr Männer solche Arschlöcher sein“, platzt es aus mir heraus.

„Bitte?“, er wendet sich von seinem Handy ab und mir zu. „Ich bin gerade dabei, Ihnen zu helfen.“

„Mir ist nicht mehr zu helfen“, wimmere ich und ignoriere sein lapidares „Da haben Sie vermutlich recht.“.

„Ted liebt eine Andere, mit ihr bekommt er sogar ein Kind, und das, obwohl er mir immer wieder zu verstehen gegeben hat, dass er an mir interessiert ist. Es ist noch keine vier Monate her, da hat er mich…“, beklage ich mich und vergesse in diesem Moment, dass ich mich einfach nur in mein Auto verkriechen sollte, um die Tür zu verriegeln.

„Ersparen Sie mir bitte Ihren emotionalen Durchfall.“

Wumm, das sitzt! Emotionaler Durchfall? Was bildet dieser Mann sich eigentlich ein. Gut, vielleicht ist er nicht gerade der geeignete Gesprächspartner, um ihm mein Seelenleben auszubreiten, aber das war nun doch mehr als unfreundlich.

Nun habe ich endgültig mein Vorhaben, ins Auto zu steigen, vergessen und torkele zu diesem gefühlslosen Holzklotz. So weit, bis ich ihn etwas besser sehen kann. Ich peile einen der beiden Männer an, die mir wegen des Alkohols erscheinen.

„Das war nicht nett.“

„Stimmt. Aber in Ihren Augen - ich zitiere - bin ich ein Arschloch“, er lässt sein Handy in seiner Hosentasche verschwinden.

Überfordert sehe ich das Doppelbild von ihm an. Schlagfertigkeit zählt leider nicht zu meinen Stärken. Fieberhaft überlege ich, was ich darauf antworten soll. Statt einer Antwort spüre ich, wie sich ein Druck in meiner Magengegend ausbreitet. Wie dieser Druck, begleitet von einem seltsamen Geschmack, nach oben wandert. Wie der Druck in meiner Kehle zunimmt. So, als ob etwas zugeschnürt wird. Wie er sich in meiner Mundhöhle sammelt, und bevor ich reagieren kann, beuge ich mich vornüber und übergebe mich. Mitten auf ein paar dunkelbraune, ziemlich teuer aussehende Lederschuhe.

„Wohl eher ein emotionaler Brechdurchfall“, kommt es trocken von dem Fremden,

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich das eben Geschehene begreife, wische mir mit meiner Hand über den Mund: „Das tut mir leid. Ich erstatte Ihnen die Schuhe.“

Noch immer fühlt sich meine Zunge schwer wie Blei an.

Der Mann erwidert nichts und winkt stattdessen ein näherkommendes Fahrzeug, dessen Scheinwerfer direkt auf uns gerichtet sind, zu sich. Ich sehe hoch. Blicke den Unbekannten an und spüre, wie ich hochrot anlaufe. So wie es scheint, habe ich gerade einem Fotomodel auf die Schuhe gekotzt. Der Mann sieht gut aus, viel zu gut. Er trägt einen Dreitagebart und seine gleichmäßigen Gesichtszüge wirken etwas abweisend.

Hallo, du hast diesem Wow-Kerl gerade auf die Schuhe gespuckt, werde ich von meinen Gedanken erinnert.

Eine dunkle Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht, die förmlich danach ruft, sie zurückzustreichen. Er trägt dunkle Jeans und eine braune Lederjacke, die seinen Körperbau leider nur erahnen lässt.

„Soll ich Ihnen hochhelfen?“, seine tiefe, dunkle Stimme unterbricht meine Erkundungstour durch sein Gesicht. Erst jetzt merke ich, dass ich noch immer vornübergebeugt bin.

„Oh danke, das ist nicht nötig“, jetzt auch noch von diesem Mann berührt zu werden, wäre wohl zu viel für meine armen Nerven. Schnell fahre ich hoch und bereue es augenblicklich. Um mich herum dreht sich alles. Ich strauchle leicht, kann mich aber noch fangen, bevor ich Mr. Superheiß auch noch vor die Füße falle. Für heute hatte ich schon viel zu viel unangenehme Situationen. Auf wackligen Beinen stehe ich da und sehe zu den Scheinwerfern, die immer näher kommen.

Keine vier Schritte entfernt hält der Wagen an und ich erkenne, dass es sich dabei um ein Taxi handelt. Der fremde Mann geht an mir vorbei und öffnet die Hintertür des Wagens: „Steigen Sie ein!“

„Aber ich…“, protestiere ich und spüre im selben Moment, dass die Geduld meines Gegenübers langsam schwindet. Er lässt die Türe offen, kommt auf mich zu und ergreift meinen Oberarm. Der Kerl ist mindestens einen Kopf größer als ich. Nicht besonders sanft zerrt er mich die paar Schritte zum Taxi und drückt mich energisch auf die Rückbank. Für einen kurzen Moment berührt sein Kinn mein Haar und ich spüre, wie ein Prickeln sich daraufhin in meinem Nacken bemerkbar macht. Leider muss das Prickeln wohl nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, denn mit den Worten „Fahren Sie die Dame bitte nach Hause!“ wendet er sich an den Chauffeur, drückt ihm ein paar Scheine in die Hand.

Dass dieser Typ jetzt auch noch das Taxi bezahlen will, geht nun eindeutig in die Richtung, die mein Stolz nicht zulassen will.

Er hat sich schon umgedreht und will davongehen, als ich ihm hinterherrufe: „Ich bin nicht auf Ihr Geld angewiesen und durchaus imstande, für diese Fahrt selbst aufzukommen.“

Ich starre auf seinen breiten Rücken und erwarte nicht, dass er sich tatsächlich umdreht. Was er aber in diesem Augenblick tut.

Stumm schüttelt er den Kopf, als der Taxifahrer ihm das eben gereichte Geld zurückgeben möchte, und fasst an die noch offene Autotür.

Dabei sieht er mich mit seinen dunklen Augen eindringlich an: „Betrachten Sie es als Wiedergutmachung.“

„Wiedergutmachung wofür?“, hake ich nach. Ich war doch diejenige, die ihm die Schuhe versaut hat, und nicht andersherum.

„Für all die Männer, mit denen Sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Es gibt durchaus auch ein paar von der netten Sorte“, er schenkt mir ein schiefes Lächeln, welches, würde ich nicht bereits sitzen, mich sofort in die Knie gezwungen hätte.

Noch bevor ich fragen kann, ob er zu dieser Sorte gehört, klopf t er als Zeichen dafür, dass das Taxi losfahren soll, kurz auf das Autodach. Der Wagen setzt sich in Bewegung und ich schließe meine Augen und frage mich, welche Antwort er mir wohl gegeben hätte?

Das wirst du wohl nie erfahren.

Kapitel 3

 

Mein Kopf fühlt sich an, als ob ich die ganze Nacht neben einem Güterbahnhof gelegen hätte. Jedes noch so kleine Geräusch lässt mich zusammenzucken und am liebsten würde ich mir meine Bettdecke über den Kopf ziehen. Doch das unaufhörliche Klingeln meines Handys zwingt mich dazu, aus dem Bett zu klettern. Weiter als einen klitzekleinen Spalt bekomme ich meine Augen nicht auf, aus Angst, die Sonne könnte das Pochen in meinem Hirn nur noch verstärken.

„Wo ist dieses verdammte Ding“, blindlings taste ich auf meinem Ledersessel herum, auf dem die Klamotten des gestrigen Abends verteilt sind. Dabei stoße ich eine Flasche um und sehe durch den kleinen Spalt meiner Augen, wie sich die klare weiße Flüssigkeit auf meinem hellblauen Teppich ausbreitet. Noch bevor ich reagieren kann, ist die Flasche leer und ich muss beinahe würgen, als mir der Geruch von Wein in die Nase steigt. Mit angehaltenem Atem stelle ich die leere Flasche hin und krieche auf allen Vieren auf dem Fußboden herum, um nach meinem Mobiltelefon zu suchen. Als ich es endlich in den Fingern habe, robbe ich wieder zurück zu meinem Bett, klettere hoch und sinke in die warmen Kissen.

„Drei Anrufe in Abwesenheit und zwei Nachrichten“, flüstere ich zu mir selbst und will gerade nachsehen, wer mich zu erreichen versucht hat, als mein Telefon erneut zu klingeln anfängt.

Es ist Raf.

„Hey“, murmle ich in den Hörer, schließe die Augen und greife nach meiner Bettdecke, um mich zuzudecken.

„Ist das dein Ernst?“, Rafs Stimme ist laut und klingt nicht annähernd so freundlich wie sonst.

„Dir auch einen guten Morgen“, bringe ich mit krächzender Stimme hervor. Was um alles in der Welt ist denn mit dem los? Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es kurz vor halb zehn am Morgen ist. Keine Zeit, zu der er sonst nach einer Party schon wach ist.

„Du hast ja Nerven“, er schnappt hörbar nach Luft, nur um dann gleich weiterzureden. „Ich finde, du hättest mich wenigstens vorwarnen können. Was du getan hast, ist…“

„Kannst du bitte etwas leiser sprechen? Mein Kopf dröhnt und ich fühl mich allgemein nicht sonderlich wohl“, ich schließe die Augen, um den Schwindel zu ignorieren. „Weshalb hätte ich dich vorwarnen sollen?“

Schnappatmung am anderen Ende der Leitung.

„Hallo? Raf, ich hab absolut keine Ahnung, wovon du sprichst. Klär mich doch bitte auf“, versuche ich meinen besten Freund, der an Atemnot zu versagen droht, zu besänftigen. Was auch immer ich getan haben soll, für alles gibt es eine Lösung.

„Du weißt es nicht mehr? Wie viel hast du getrunken?“, Raf hört sich ein klein wenig ruhiger an.

Ich überlege kurz. Soll ich ihm gestehen, dass ich, nachdem ich heute Morgen in meiner Wohnung angekommen bin, noch fast eine Weinflasche geköpft und tränenüberströmt Liebeslieder gesungen habe? „Gesungen“ ist vielleicht zu viel gesagt, eher geträllert.

„Na ja, nach der Party hab ich noch ein Glas Wein zu mir genommen“, lüge ich und verdrehe dabei die Augen.

„Wohl eher ein paar Gläschen, was?“

„Kann auch sein. Aber jetzt sag schon, was hab ich denn Schlimmes verbrochen, dass du mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett klingelst?“

„Ted hat mich heut Nacht angerufen“, Raf spricht zögerlicher und ich hasse es, dass ich ihn auffordern muss weiterzuerzählen. Was ich aber tue, denn schließlich will ich ja wissen, was mein Boss und Schwarm von meinem Arbeitskollegen wollte: „Um dir was zu sagen?“

„Dass er über deine SMS sehr verärgert war.“

„Ich hab Ted keine SMS geschickt“, flüstere ich leise und bete im Stillen, dass dies auch stimmt.

„Tja, wenn es du nicht warst, dann wohl dein One-Night-Stand“, kommt es ironisch von Raf.

Kurz lasse ich den Gedanken zu, dass ich nicht alleine nach Hause bin, verwerfe ihn aber augenblicklich wieder. Auch wenn mir ein paar Erinnerungsfetzen fehlen, bin ich mir absolut sicher, dass ich alleine die Weinflasche fast leer getrunken habe. Für einen kurzen Moment denke ich an den fremden Mann. An diesen viel zu gut aussehenden Typen, der mit Sicherheit seine Schuhe samt der Erinnerung an mich in die Mülltonne gepfeffert hat. Dabei verzieht sich mein Gesicht so, als ob ich gerade die Person bin, der auf die Füße gespuckt worden ist.

Das Ganze ist mir so unsagbar peinlich und wieder einmal bin ich froh, in solch einer großen Stadt zu wohnen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn jemals wiedersehen werde, liegt wohl bei null

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Dana Summer
Bildmaterialien: Bildmaterial: © lunamarina - https://de.fotolia.com/id/85216046 - Relaxed woman legs in a car window on the beach – Fotolia • Cupid by Freepik.com Covergestaltung: Chris Gilcher - http://design.chrisgilcher.com
Lektorat: BookRix
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5956-5

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