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Jenna
Mit vollem Körpereinsatz lehne ich mich an die massive Eichenholztür und versuche, sie mit letzter Kraft aufzudrücken.
„Jetzt mach schon“, flehe ich das unnachgiebige Holz an und meine nackte Schulter drückt noch einmal fest zu bis ein leises Knarren zu hören ist. Dann endlich gibt es nach und ich kann mit meinen vollgepackten Einkaufstaschen durch den winzigen Spalt schlüpfen. Die Tür fällt hinter mir krachend ins Schloss und ich hoffe, Frau Miller nicht aus ihrem alltäglichen Mittagsschlaf gerissen zu haben. Allein die Vorstellung, meine 80-jährige Vermieterin könnte schon hinter ihrer Wohnungstür auf mich warten, versetzt mir einen imaginären, strafenden Klatsch auf die Stirn. Vielleicht kann ich mich ganz vorsichtig an ihrer Wohnung vorbeischleichen, sodass sie mich nicht sieht. Trotz der brennenden Sonne draußen ist es hier im Flur eher dämmrig, da nur etwas Licht durch das kleine Fenster neben dem Eingang fällt.
„Zieh deine Schuhe aus“, sagt die Stimme in meinem Kopf. Gute Idee, doch wie um alles in der Welt soll ich sie tragen? Ich kann sie mir schlecht in meinen Rock schieben, oder etwa doch? Schnell verwerfe ich den Gedanken wieder und versuche, mir eine von der Hitze festgeklebte Haarsträhne aus der Stirn zu wischen. Hier drinnen ist es so angenehm kühl, dass man gar nicht glauben mag, dass es draußen über 30 Grad hat. Sowas ist nur in den klimatisierten Neubauten möglich, die sich ein paar Straßen weiter befinden, oder eben in alten Stadtvillen wie dieser hier.
Als ich das erste Mal vor diesem Altbau stand, war es um mich geschehen. Obwohl an einigen Stellen der Putz abblätterte und es hier und da renovierungsbedürftig erschien, hatte das Haus seinen Charme aus längst vergangener Zeit nicht verloren.
Schon von außen sah es wunderbar aus, und als ich damals zum ersten Mal meine Wohnung mit den hohen Holzdecken und den großen Fenstern betrat, war ich restlos begeistert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich eine Schwäche für alte Häuser besitze. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich ursprünglich für eine Ausbildung zur Immobilienmaklerin entschieden habe. Oft stelle ich mir vor, wer wohl früher durch diese Räume gegangen ist und welche Familiendramen sich abgespielt haben mögen. Doch nicht nur das hat mich dazu verleitet, diese Wohnung zu nehmen. Auch der Preis war für solch ein Appartement in München einfach ein Traum. Mit dem Ziel, hier neu anzufangen und mit meinem Traumberuf Fuß zu fassen, mietete ich sie.
Nun, fast drei Jahre später, bin ich immer noch sehr glücklich mit meiner Wohnung. Auch, wenn ich mir manchmal wünsche, Frau Miller würde ihr Hörgerät nicht ununterbrochen einschalten. Nicht, dass ich eine Person bin, die gerne Hauspartys oder etwas in der Art veranstaltet - ganz im Gegenteil. Die meiste Zeit bin ich beruflich unterwegs, und wenn ich nicht gerade Hunde betreue oder mein Konto mit Kellnern aufbessere, entspanne ich auf meinem kleinen Sofa und lese ein Buch. Doch die einsame Frau Miller scheint jeden Tag nur auf mein Eintreffen zu warten, um mich mit Tee und Keksen in ihre Wohnung zu locken, worauf ich hin und wieder auch eingehe. Mir ist klar, dass Frau Miller einsam ist, und da keine näheren Familienangehörigen in der Umgebung wohnen, fühle ich mich irgendwie für sie verantwortlich.
Ich halte den Atem an, als ich auf Zehenspitzen an ihrer Wohnungstür vorbei auf die erste Treppenstufe zusteuere. Ein paar vereinzelte Lichtstrahlen fallen durch das obere Fenster neben meiner eigenen Wohnungstür. Kaum, dass ich meinen Fuß abstellen kann, fällt mein Blick auf die Post, die Frau Miller immer fein säuberlich auf die erste Stufe legt. Dort bemerke ich ein cremefarbener, hochglänzender Umschlag mit meinem Namen.
„Dich hole ich nachher“, denke ich mir und steige langsam ins Obergeschoss hoch. Doch auf halbem Weg halte ich inne. Außer Rechnungen oder mal einer Postkarte bekomme ich selten Post. Wer also schickt mir einen solchen Brief? Meine Neugierde ist einfach zu groß. Ich stelle eine der braunen Papiertüten mit Lebensmitteln auf der Treppe ab, eile hinunter und schnappe mir den Umschlag. Langsam drehe ich ihn zu allen Seiten und schnuppere an ihm. Der Brief sieht nicht nur edel aus, nein, er riecht auch so. Ein Geruch von Rosenblättern, vermischt mit Veilchen, steigt mir in die Nase. Meine Adresse wurde auf eine Art geschrieben, wie es nur mit diesen Schönschreibfüllern gelingt. Wie ich diese Teile schon in der Schule gehasst habe! Noch bevor ich ein weiteres Mal an dem Papier schnüffele, bohrt sich mein Finger in den kleinen Spalt an der Stelle, an der der Brief verschlossen wird. Wer braucht schon einen Brieföffner, wenn man doch seine Finger hat? Ungeduldig reiße ich den Umschlag auf und sofort überkommt mich beim Anblick der Karte, die ich herausziehe, ein ungutes Gefühl. Langsam drehe ich sie um, sodass ich sie lesen kann. Meine Augen saugen sich an der goldenen Schrift fest.
Wir heiraten
steht auf der Vorderseite der cremefarbenen Karte. Darunter befinden sich zwei ineinandergeschlungene, ebenfalls goldene Herzen. Es gibt genau zwei Personen in meinem Bekanntenkreis, denen ich momentan eine Hochzeit zutraue. Keiner von meinen Freunden ist lange genug oder überhaupt in einer Beziehung, um solch einen Schritt zu wagen. Außer diesen zwei Menschen, die ich, so gut es geht, aus meinem Leben verbannt habe. Plötzlich überkommt mich der dringende Wunsch nach Schokolade. Eine Angewohnheit, die ich seit Kindertagen habe und mit der ich versuche, emotionale Belastungen zu bewältigen. Ohne es zu wollen, klappe ich die Einladungskarte auf, und sogleich springt mir ein Schwarz-Weiß-Bild von genau diesen beiden Personen entgegen. Beim Anblick der zwei strahlenden Gesichter, die Wange an Wange aneinander lehnen, überkommt mich eine unheimliche Wut, die ich jahrelang verdrängt habe. Oder es zumindest versucht habe. Das Foto sieht perfekt aus. Beinahe so, als ob der glitzernde See, die sanft geschwungenen Hügel und die herunterfallenden Blätter im Hintergrund von einer Leinwand stammen würden. Aber ich weiß es besser. Es gibt diesen Ort wirklich. Er entstammt keiner Fantasie, entspricht keinem gekünstelten Hintergrund. Es ist der Platz, an dem ich aufgewachsen bin. Mit dem ich unendlich viele glückliche Erinnerungen verbinde. Eine Kindheit, in der man jeden Tag die unendliche Liebe seiner Eltern zu spüren bekam. Wir waren eine perfekte kleine Familie.
„Zumindest fast perfekt“, flüstere ich und versuche, die Erinnerungen an die Geschehnisse zu verdrängen, die meine rosarote Welt zum Platzen gebracht haben.
Mein Finger streicht leicht über das Bild der beiden Gesichter und die Wunde in meinem Herzen klafft mit jeder Sekunde wieder ein Stückchen weiter auf. War sie gar nie ganz verschlossen?
Wir freuen uns, Euch zu unserer kirchlichen Trauung am 14.08. ….
Der restliche Satz verschwimmt vor meinen Augen. Benommen greife ich nach dem Treppengeländer und stütze mich Halt suchend darauf ab.
„Sie heiraten, die beiden heiraten“, flüstere ich immer wieder vor mich hin und merke gar nicht, wie Frau Millers Tür aufgeht.
„Schätzchen, bist du in Ordnung?“ Frau Miller steht unten im Korridor und sieht mich aus ihren glasigen hellblauen Augen fragend an.
„Hmm ja, danke Frau Miller.“
An ihrem Blick sehe ich, dass sie mir nicht glaubt. Abschätzend lässt sie ihn von meinem Gesicht zu meinen Händen gleiten. Ich drücke die Karte in meiner Hand noch etwas fester zusammen.
„Schlechte Nachrichten?“, will sie wissen und deutet mit dem Kopf auf das zerknitterte Papier in meiner Faust.
„Ach, nicht so wichtig“, versuche ich abzulenken und drehe ihr leicht den Rücken zu, damit sie die aufsteigenden Tränen in meinen Augen nicht bemerkt.
„Ach Schätzchen, für jedes Problem gibt es eine Lösung.“
Frau Miller wartet kurz, dann stellt sie ihre altbekannte Frage: „Ich habe Tee und Kekse. Wollen wir etwas plaudern?“
Als ob man jedes Problem mit Tee und Keksen lösen könnte. Ich würde mir wünschen, dass es so einfach wäre.
„Danke. Vielleicht ein anderes Mal. Mir geht es nicht sonderlich gut“, gebe ich zu und eile dann hoch in meine Wohnung. Hinter mir lasse ich die Tür ins Schloss fallen und lehne meinen Kopf gegen das kühle Holz. Im selben Moment läuft die erste Träne meine Wange hinunter.
„Ich kann es einfach nicht glauben! Warum muss ich über eine Einladungskarte erfahren, dass die beiden heiraten? Bin ich so unwichtig für sie, dass man es mir nicht persönlich sagen kann?“, frage ich mit belegter Stimme in den Telefonhörer.
„Ach Jenna. Wir wissen doch alle, wie schwer das für dich ist. Erst recht, nachdem du …“
„Mum, bitte.“ Mein Finger schnippt ein mit Tränen durchtränktes Taschentuch von meinem kleinen roten Sofa. Langsam lasse ich meinen Kopf auf meine angezogenen Knie sinken. Dabei angle ich mir das letzte Stück von der nun leeren Schokoladentafel.
„Ach Schätzchen. Vanessa hatte einfach unheimliche Angst, es dir zu sagen.“ Die besorgte Stimme meiner Mutter dringt in mein Ohr und ich kann hören, wie sie in unserem Haus auf und ab geht.
„Was du nicht sagst. Wahrscheinlich ist sie so mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, dass sie mich schlicht und einfach vergessen hat.“
Ich bin gerade dabei, das letzte Stück Schokolade herunterzuschlucken, als ich höre, wie meine Mutter sagt: „Vanni würde doch nicht ihre Trauzeugin vergessen …“
„Waaaaaas?!“, kreische ich und im selben Moment rutscht die Schokolade hinunter und bleibt mir im Hals stecken. Ich huste und krächze um mein Leben und doch höre ich nur das Wort Trauzeugin.
„Schätzchen, alles in Ordnung bei dir?“, quiekt Mama leicht hysterisch ins Telefon.
Der Schokokloß rutscht den restlichen Weg hinunter und ich bekomme wieder besser Luft.
„Hast du gerade Trauzeugin gesagt? Mum, das ist doch ein Scherz?“
„Hat Vanni dich tatsächlich nicht erreicht? Also, ich meine … also, das ist natürlich …“, stottert meine Mutter.
„ Bitte sag mir nicht, dass ich ihre Trauzeugin spielen soll!“
„Das ist aber ihr Wunsch.“
„Ihr Wunsch?“, brülle ich in den Telefonhörer. Trauzeugin? Dabei habe ich doch schon Pläne geschmiedet, wie ich diese Hochzeit umgehen kann. Jetzt soll ich Trauzeugin sein? Unmöglich!
„Ach Jenna, Schätzchen. Du schaffst das. Es liegt doch zig Jahre zurück ...“
„Um genau zu sein 34 Monate.“
„Wie dem auch sei. Du bist doch schon längst darüber hinweg. Das mit dir und Marc war doch nichts Festes, ich meine …“
„Gut, wenn du das auch so siehst, dann ist das alles ja gar kein Problem.“ Ich bin nahe dran, einfach die rote Taste zu drücken. Aber das würde meine Mutter natürlich nur noch stärker dazu veranlassen, Vanessa und Marc alles brühwarm zu erzählen.
„So habe ich das doch nicht gemeint“, höre ich sie seufzen, „ihr seid doch erwachsen. Außerdem bist du doch schon längst darüber hinweg. Oder?“
Was soll ich darauf antworten? Sie anlügen und sagen: „Klar Mum, ich habe schon längst vergessen, was passiert ist. Natürlich habe ich vergessen, wie es sich angefühlt hat, von der eigenen Schwester hintergangen zu werden. Wie es ist, wenn deine kleine heile Welt in sich zusammenstürzt, du denkst, nicht mehr weiterleben zu können und zu wollen. Wenn der Schmerz so tief sitzt, dass du unfähig bist, ein normales Leben führen zu können; dass dir nichts bleibt, als die Flucht zu ergreifen. Weg von allen. Weg von den Menschen, die du liebst und die dir solche Schmerzen zufügen konnten, dass es keine Worte dafür gibt!“
„Sicher“, bringe ich stattdessen raus und weiß, dass es sich alles andere als überzeugend anhört.
„Ich schlage vor, du kommst einfach ganz schnell nach Hause. Wir vermissen dich alle. Auch Hilde und Anni fragen immer wieder nach dir.“
Hilde und Anni, die zwei besten Freundinnen meiner Mutter und Klatschtanten Nummer eins im ganzen Dorf. Den beiden habe ich auch zu verdanken, dass die komplette Nachbarschaft innerhalb einiger Stunden wusste, was passiert war. Noch heute sehe ich die mitleidigen Blicke der Dorfbewohner. Manchmal höre ich jetzt noch, wie hinter meinem Rücken getuschelt wurde. Damals musste ich mich nicht nur meiner Familie stellen, nein, auch Allen anderen aus dem Ort. Irgendwann wurde der Druck zu groß und mir blieb nichts anderes übrig, als Hals über Kopf meine Heimat zu verlassen.
„Ich kann hier nicht so einfach weg. Ich muss erst einen Ersatz für mich suchen und …“
„Ach, die paar Hunde! Wann fängst du endlich an, etwas Vernünftiges aus deinem Leben zu machen? Du bist doch nicht nach München gezogen, um Hundesitterin zu werden oder dich mit anderen diversen Jobs über Wasser zu halten. Was ist mit deinen Plänen?“
Na toll, jetzt kommt wieder diese Sache. Während meine Mum mir wieder eine ihrer altbekannten Predigten hält, lege ich den Hörer weg und sammle die Taschentücher ein. Es ist sinnlos, ihr meinen Standpunkt zu erklären. Ich glaube kaum, dass sie ihn verstehen würde, selbst wenn ich es versuchen würde.
Nach zwanzig Minuten gebe ich mich geschlagen und verspreche ihr, bald zu kommen, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen.
Das bedeutet, in spätestens zwei Wochen München den Rücken zu kehren. Denn die Hochzeit soll in genau drei Wochen stattfinden.
Ich bin erschöpft und müde vom ganzen Weinen. So schleppe ich mich in mein Bett, schnappe mir meine dünne Decke, breite sie über mir aus und kuschele mich tief in die weichen Kissen. Obwohl in meinem Inneren ein Wirbelsturm tobt, schaffe ich es doch, meine Augen zu schließen und einzuschlafen.
Langsam und so leise wie möglich schleiche ich die alte Holztreppe nach oben. In meiner rechten Hand halte ich eine Tüte mit diversen Dingen, die ich, bevor ich hierhergekommen bin, noch schnell in der Apotheke gekauft habe. Noch immer spüre ich die Röte auf meinen Wangen, die ich seit dem Besuch in der Apotheke mit mir herumtrage. Obwohl der nette Pharmazeut mich überhaupt nicht sonderlich beachtet hat, war es mir doch peinlich, ihm die Schachtel unter die Nase zu halten, damit er sie abkassieren konnte.
Mit jedem Schritt, den ich weiter emporsteige, klopft mein Herz noch schneller. Meine Hände zittern leicht vor Aufregung, als ich vor seiner Wohnungstür zum Stehen komme. Für einen kurzen Moment überlege ich zu klingeln, um mein Eintreffen anzukündigen. Doch dann wäre ja meine Überraschung zunichte. Vorsichtig und lautlos drücke ich die Klinke nach unten. Die Tür ist verschlossen, aber ich weiß, wo er seinen Schlüssel aufbewahrt. Ich beuge mich leicht zur Seite und greife unter die Blumenvase, die als Dekoration rechts daneben steht, und ziehe den Schlüssel hervor. Er liegt kühl und angenehm in meiner Hand und doch beruhigt das kalte Metall meine verschwitzten Hände nicht.
„Kein Grund zur Panik, Jenna. Es wird alles gut“, spreche ich mir Mut zu, nehme den Schlüssel und öffne die Tür. Normalerweise ist er um diese Zeit in der Uni, aber heute Morgen hat er mir eine SMS geschrieben und unser Treffen für den Abend abgesagt, weil er mit Grippe im Bett liegt. Obwohl ich weiß, dass er Überraschungen hasst, bin ich mir mehr als sicher, dass er sich über diese freuen wird, auch wenn er mit einer fetten Erkältung im Bett liegt. In der Wohnung ist es ruhig.
„Bestimmt schläft er“, denke ich und schleiche auf Zehenspitzen zu seinem Schlafzimmer. Das Apartment besteht nur aus zwei Räumen - dem Wohnbereich und seinem Schlafzimmer. Ganz vorsichtig, um ihn nicht aus dem Schlaf zu holen, drücke ich die Klinke nach unten und öffne die Tür. Ich lasse meinen Blick über das Bett gleiten, doch es ist leer. Die Vorhänge sind zugezogen und die Laken sind völlig zerwühlt. Es sieht so aus, als ob er sich darauf immer wieder hin und her gewälzt hätte.
„Fieber“, schießt es mir durch den Kopf und bevor ich mir Horrorszenarien ausmalen kann, wie er sich mit 40 Grad Fieber herumquälen muss, geht hinter mir die Tür zu seinem Badezimmer auf. Voller Sorge um ihn drehe ich mich um, bereit, ihn in die Arme zu schließen und wieder in sein Bett zu packen, um sich richtig auszukurieren. Doch was ich dann sehe, verschlägt mir komplett den Atem. Dort steht nicht Marc, sondern meine Schwester Vanessa. Mit nichts bekleidet außer einem roten Stringtanga. Ihr dunkelbraunes kurzes Haar steht ihr wild vom Kopf ab und das breite Lächeln auf ihrem Gesicht erstirbt, als sie mich wahrnimmt.
„Jenna“, keucht sie, tritt einen Schritt zur Seite und ermöglicht mir so einen Blick ins Bad.
Dort liegt er! Auf dem Badezimmerteppich - nackt! Von oben bis unten mit Sushi bedeckt. In seinem Mund stecken zwei Stäbchen. Meine Augen wandern an seinem Körper hinab, mein Blick bleibt an seiner Männlichkeit hängen, die sich wie der schiefe Turm von Pisa in die Höhe streckt. Dabei kommt mir der Gedanke: Hat er nicht mal erwähnt, er könne Sushi nicht ausstehen? War nicht er es, der meinen Vorschlag, Sushi zu essen, mit einem angewiderten Blick bedacht hat?
Benommen taumle ich zur Seite und muss mich am Türrahmen festhalten, um nicht in mich zusammenzusacken. Der Boden unter meinen Füßen wankt gefährlich. Meine Augen liegen immer noch auf seinem nackten Körper. Langsam hebt er den Kopf und seine moosgrünen Augen treffen auf meine.
„Jenna“, bringt er stockend hervor.
Der Klang seiner Stimme lässt mich aus meiner Schockstarre erwachen. Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen.
„Jenna, ich kann das erklären.“ Vanessas Hand umgreift meinen nackten Oberarm. Wie eine Falle umfängt sie mich. Bevor sie zuschnappen kann, entreiße ich mich ihr.
„Erklären? Ich dachte, du liegst mit einer Erkältung im Bett … ich dachte …“ Weiter komme ich nicht. Ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen, und bevor ich restlos zusammenbreche, eile ich aus der Wohnung.
Schweiß durchnässt und mit klopfendem Herzschlag schrecke ich hoch. Verwirrt blicke ich mich um und erkenne in der Dunkelheit, dass ich mich in meinem eigenem Schlafzimmer befinde. Kein Marc, keine Vanessa und doch kommt es mir vor, als ob ich immer noch mitten in Marcs Wohnung stehen würde.
„Du hast geträumt“, flüstere ich leise, ziehe mein Bettlaken, dass ich nach unten gestrampelt habe, hoch und schlinge es um meinen zitternden Körper. Seit Monaten versuche ich das Bild der beiden aus dem Kopf zu bekommen und bis vor ein paar Stunden ist mir das auch irgendwie gelungen. Doch jetzt, mit dieser Einladung, steigen alle alten Emotionen wieder hoch. Meine Hand ballt sich zur Faust.
„Nein. Ich lasse nicht zu, dass ich wieder in dieses Loch falle. Ich lasse nicht zu, dass mich alle wieder als das arme betrogene Opfer sehen“, befehle ich mir mit lauter Stimme.
In meinem Kopf sind unzählige Bilder und Gedanken, die ich noch zuordnen muss, aber ich weiß, dass ich die Hochzeit nur mit einem richtig guten Plan überstehe. Es muss doch irgendetwas geben, um der Opferrolle zu entfliehen!
Und wie soll das gehen? Die ganze Verwandtschaft, ja, das ganze Dorf weiß, was damals passiert ist. Man muss nur eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, warum ich abgehauen bin. Und dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: „Du brauchst einen Freund.“
„Das ist es!“ Begeistert klatsche ich leicht in die Hände. Warum bin ich auch nicht schon früher darauf gekommen?
Die Meute wird aufhören, hinter meinem Rücken zu tratschen, wenn ich nicht alleine auf dieser Hochzeit auftauche, sondern in Begleitung eines gutaussehenden Partners. Niemand wird mich mehr als Opfer sehen. Schließlich bin ich wieder frisch verliebt.
Der Gedanke gefällt mir so gut, dass ich problemlos wieder einschlafe.
Am nächsten Morgen wache ich den Umständen entsprechend gut gelaunt auf. Voller Freude schwinge ich mich aus meinem Bett und gehe zum Kleiderschrank, um mir frische Sachen herauszuholen. Mit einem Lied auf den Lippen schlüpfe ich in mein weißes Top. Ich habe es kaum über den Kopf gezogen, da überkommt mich der Haken an meinem ach so gut durchdachten Plan. Woher soll ich mir einen Freund nehmen, wenn ich doch gar keinen habe?
„Typisch Jenna“, schimpfe ich laut und lasse mich auf mein Bett zurücksinken. Es muss doch irgendjemanden in meinem Bekanntenkreis geben, den ich um so einen Gefallen bitten kann. In meinem Kopf gehe ich eine kleine Liste von Freunden durch. Aber die paar Männer sind entweder vergeben oder scheiden als potenzieller Partner aus. Schließlich würde mir keine meiner Freundinnen ihren Partner für zwei Wochen ausleihen. Auch der Gedanke, Jonas, der schwul ist, oder Florian, der eher breit als hoch ist, meinen Eltern als meinen Freund vorzustellen, behagt mir gar nicht und scheidet somit aus.
Ich ertappe mich dabei, wie meine Hände zu meinem Nachttisch wandern, um meinen Vorrat an Schokolade aus der obersten Schublade zu vernichten. Kaum halte ich das knisternde Papier in der Hand, reiße ich es auf und schiebe mir den ersten Riegel in den Mund.
„So schnell gebe ich nicht auf.“ Mit diesem Satz angle ich nach meinem Handy und gebe im Internet den Begriff Partnervermittlung ein. Nach unzähligen Treffern stoße ich auf eine Seite, die perfekt für mein Vorhaben ist.
Eine Stunde später stehe ich mit klopfendem Herzen und zitternden Knien vor dem hohen Gebäudekomplex. Unruhig wechsle ich immer wieder von einem Bein auf das andere und beobachte die Bauarbeiter, die Baumaterial ins Gebäude transportieren.
„Möchten Sie da rein?“, werde ich, noch immer auf die Tür starrend, angesprochen.
„Ähm nein, ich meine ja.“
„Sie können reingehen. Wir sind im 3. Stockwerk, die unteren Stockwerke sind frei zugänglich“, erläutert ein älterer Bauarbeiter, nickt mir freundlich zu und verschwindet durch die offene Tür.
„Danke“, rufe ich ihm hinterher und gehe mit zitternden Beinen hinein. Mit dem Fahrstuhl gelange ich, wie auf dem Schild angeschlagen, in das zweite Stockwerk. Mit einem „Bing“ springt die Fahrstuhltür auf und ich trete in den klimatisierten Raum. Neugierig blicke ich mich um. Irgendwie habe ich mir so eine Agentur anders vorgestellt. Hohe zitronengelbe Wände strahlen mich an. Der Raum wird von einer Flut an Tageslicht erhellt. Groß gewachsene Grünpflanzen lassen den Raum noch freundlicher wirken und die lächelnde Frau hinter dem Eingangstresen tut ihr Übriges.
„Guten Tag“, begrüßt sie mich.
„Guten Tag“, antworte ich und gehe auf sie zu.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, will sie wissen und ihre braunen Augen schauen mich kein bisschen verwundert an. Würde ich bei solch einer Agentur arbeiten, würde ich mir alle Personen ganz genau ansehen. Schließlich kommen doch nur alte Frauen auf eine derartige Idee, oder?
„Mein Name ist Jenna Winter. Ich glaube, wir haben vorhin telefoniert.“
„Stimmt. Sie suchen einen Begleiter für eine Hochzeit.“ Die Frau blickt hinunter zu ihrem PC und ich schaue mich beschämt um, ob auch niemand gehört hat, was die nette Dame eben gesagt hat. Mir ist es schon peinlich genug, einen Mann mieten zu müssen. Nicht auszudenken, wenn jemand Bekanntes das mitbekommen würde.
„Nehmen Sie doch noch kurz im Warteraum Platz. Frau Seemann hat gleich Zeit für Sie.“ Die Frau weist auf ein separates Zimmer, dessen Wände aus Milchglas bestehen.
„Danke“, verabschiede ich mich von ihr und wackle auf den Warteraum zu.
Irgendwie bin ich davon ausgegangen, niemanden dort anzutreffen. Doch auf einem der vier Ledersessel sitzt ein breitschultriger Mann in mausgrauem Anzug. Eine Aktentasche liegt auf dem Tisch vor ihm. Von seinem längeren dunkelblonden Haar fällt ihm, als er zu mir aufsieht, eine Strähne in die Augen.
„Wow, was für Augen!“, ist der erste Gedanke, der mir kommt, als sich unsere Blicke treffen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie jemanden zu Gesicht bekommen, der so ein intensives Blau in den Augen hat. Irgendwie erinnert es mich an Max, den Husky von Frau Lehmann, den ich jeden Nachmittag für zwei Stunden ausführe.
„Sind die echt?“, huscht es mir laut über die Lippen.
„Bitte?“, irritiert hebt er eine Augenbraue.
„Erdboden, bitte verschluck mich.“ So schnell es geht, nehme ich auf einem der roten Ledersessel Platz. Noch immer spüre ich seinen Blick auf mir. Eilig greife ich nach einer der ausgelegten Zeitschriften und versuche, mich dahinter zu verstecken. Selbst ein Idiot weiß, dass ein derartiges Manöver nicht sonderlich gut gelingt. Doch irgendwann scheint sein Interesse an meiner Person zu erlöschen und er widmet sich wieder seinem Aktenkoffer. Schweigend sitzen wir da und immer wieder Wandert mein Blick zu ihm und bleibt an seinem Gesicht hängen. Ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem sinnlich geschwungenen Mund. Auf seinem Kinn zeichnet sich ein Grübchen ab. Seine glatt rasierte Haut ist leicht angebräunt und so makellos, dass er ohne Weiteres ein männliches Model sein könnte.
„Deine Eltern haben volle Arbeit geleistet", schießt es mir durch den Kopf.
„Frau Winter", plötzlich steht die Dame vom Eingangstresen neben mir, „Frau Seemann wäre nun so weit."
„Danke." Schnell erhebe ich mich, blicke ein letztes Mal den Fremden an und folge der Empfangsdame.
Sie führt mich am Warteraum vorbei und öffnet eine Tür am Ende des Ganges.
„Bitte sehr." Mit einem aufmunternden Lächeln hält sie mir die Tür auf.
„Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, gibt es kein Zurück mehr", mahnt meine innere Stimme. Mitten in der Bewegung halte ich inne. Was soll ich tun? Soll ich wirklich mit einem wildfremden Mann auf der Hochzeit
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Lektorat: Sandra Nyklasz & Buch&Stabe; Jeanne Peters
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2014
ISBN: 978-3-7368-8438-0
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