Hartzer Roller
Neulich traf ich einen alten Bekannten, den ich schon einige Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Was heisst "traf", ich rannte praktisch in ihn hinein. Wie geht es denn so und überhaupt, man kennt die Fragen die man dann stellt, in Ermangelung anderer Themen. Man erwartet eigentlich nicht wirklich eine erschöpfende Antwort auf solche Erkundigungen, schon gar nicht direkt vor dem Haupteingang vom Kaufhof. Mein Gegenüber beteuerte, dass es ihm gut, ja sogar sehr gut gehe. Er schule jetzt nämlich um. Lange arbeitslos - er war Abteilungsleiter des Supermarktes um die Ecke gewesen - habe er jetzt eine echte Chance sein Leben in den Griff zu bekommen. Man sei ja nicht mehr der Jüngste, nicht wahr und man wisse ja dass Erfahrung keineswegs geschätzt würde bei den Firmen. Diese Sätze schnellfeuerte er auf mich ab und packte mich sogar am Ärmel, um mich am weggehen zu hindern. Mit vor Begeisterung hochroten Bäckchen zerrte er mich in das Bistro neben dem Kaufhof und schubste mich auf einen Stuhl. Ergeben und eigentlich doch ein wenig neugierig orderte ich zwei Kaffee und stellte endlich die Frage, auf die er wahrscheinlich schon die ganze Zeit gelauert hatte. Ja, er mache gerade den Eignungstest für Hartz IV, sagte er da stolz und öffnete eifrig seine Aktentasche. In Windeseile hatte er das Bistrotischchen mit Papieren völlig bedeckt, so dass ich der Bedienung die mittlerweile mit zwei vollen Kaffeetassen abwartend bei uns stand, beruhigend zulächeln und die Tassen abnehmen musste. Mein Bekannter nahm das nicht wahr, er hielt eine Rede. Sein Selbstwertgefühl sei ja durch die Arbeitslosigkeit völlig herunter gewesen, nicht wahr. Streitigkeiten in der Familie waren da nicht gerade hilfreich, man fühlte sich als absoluter Versager und gerate in einen Teufelskreis. Hunderte, ach was: Tausende Bewerbungen habe er losgeschickt, aber kaum eine Firma habe geantwortet. Und wenn, dann abschlägig..tut uns leid, wir wünschen Ihnen viel Glück und blah blah blah. Er geriet in richtig in Fahrt, und ich rettete mehr als einmal die Papiere auf dem Tisch vor einem Kaffeebad. Er hatte leider den Hang, seine Worte mit schlecht koordinierten, aber raumgreifenden Bewegungen zu untermalen.Zu Hause sei die Situation unerträglich geworden, meinte er. Er habe seiner Frau kaum noch in die Augen sehen können, obwohl sie nie ein Wort des Vorwurfes an ihn gerichtet habe. Gottseidank seien die Kinder ja schon lange aus dem Haus gewesen, nicht wahr, das sei ein wahres Glück gewesen. Er war froh dass sein Sohn ihn nicht so habe sehen müssen...so schwach. Wenn er jünger gewesen wäre, er hätte sich zur Fremdenlegion gemeldet, sagte er, verzweifelt wie er gewesen war. Aber dann habe er seinen letzten Rest Mut zusammengenommen, und er sei dahin gegangen wo nur die Stärksten überleben. Da kniff er die Augen auf markige Weise zusammen und schob das Kinn vor. Er sei alleine hingegangen, zischte er. Höflich riss ich die Augen auf und holte hörbar Luft. Da lehnte er sich befriedigt ob meiner Reaktion zurück und meinte, als die Türe hinter ihm zugeschlagen sei, habe er gewusst dass es kein Zurück mehr gebe. Mannhaft habe er sich an der Information belehren lassen, mannhaft habe er ein Clearing durchgestanden. Er habe kaum gezittert bei der hochnotpeinlichen Befragung, nein mein Herr, wirklich kaum gezittert. Er sei vorbereitet gewesen, jawohl, er konnte alle Fragen beantworten. Jeden Cent den er in den letzten fünf Jahren zehnmal herumgedreht hatte, konnte er belegen. Bei ihm herrsche da Ordnung. Und er begann sich langsam wieder als Mann zu fühlen, als einer der Rechenschaft ablegen konnte. Einer der nichts zu verbergen hatte. Als er wieder im Flur warten musste, atmete er schon viel freier. Für die anderen in der Wartehalle, die wieder zurückgeschickt wurden weil ein Papier oder ein Kontoauszug fehlte, habe er nur Verachtung empfunden. Unfähiges Volk, kam völlig unvorbereitet hierher, unglaublich. Hier kamen eben nur die Besten weiter. Hocherhobenen Kopfes händigte er seinem Sachbearbeiter seine Papiere aus, mit gestrafften Schultern unterschrieb er den Kontrakt. Er habe sich geeignet gefühlt, sagte er. Nach langer Zeit hatte er wieder das Gefühl, jemand zu sein. Er solle sich zur Verfügung halten, er habe sofort zu melden wenn irgendeine Änderung eintreten sollte. Jede Abwesenheit von der Gemeinde sei unverzüglich zu melden. Er solle sich weiter um eine Vollzeitbeschäftigung bemühen, entsprechende Unterlagen seien im regelmässigen Turnus vorzulegen. Nebenerwerbe seien anzugeben und würden angerechnet. Es war erhebend, und er wusste tief in seinem Innern, dass er endlich zu Hause angekommen war. Hier war Fleiss gefragt und Organisation, hier war er Mitglied einer grossen Gemeinde, die weiter anwuchs. Hier hatte er eine Zukunft. Hier konnte man ihn brauchen, hier war er richtig. Wie sehr ihm das Beanspruchtwerden gefehlt hatte, wurde ihm erst so richtig klar, als er wieder daheim war und anfing, seine Papiere neu zu ordnen. Er stellte einen völlig neuen Haushaltsplan auf, mit der Assistenz seiner ihn bewundernd ansehenden Frau. Mit dem Budget auszukommen war eine völlig neue Herausforderung, eine die den ganzen Mann forderte. Mit wahrer Begeisterung stellte er Einkaufs- und Speisepläne auf. Er gab Weisung, das "Werbung verboten" Button vom Briefkasten zu entfernen, da er die Werbeblätter nach Sonderangeboten der Billigmärkte durchforsten und dann streng nach Plan diese einmal wöchentlich in Anspruch nehmen wollte. Zu diesem Behufe wurde das selten benutzte Auto durch einen kleinen Motorroller ersetzt, der mit geräumigen Seitentaschen ausgerüstet punktgenau zum Einsatz kam. Wie ein Kreuzritter habe er sich gefühlt, meinte er, als er seinen längst erkalteten Kaffee schlürfte. Ich war so beeindruckt dass ich die Rechnung zahlte. Draussen schüttelte er mir die Hand, sah mir gerade in die Augen und meinte, was wäre das Leben ohne Veränderungen. Dann ging er zu seinem Roller, wie einer der sein Leben im Griff hat.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2009
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