Schon wieder ein Ratgeber nach dem Motto „Kindererziehung leicht gemacht“?
Würde man den Titel des Buches so stehen lassen, wäre der Verdacht nahe liegend. Aber die Problematik der Kindererziehung wird deutlich, wenn der Titel ergänzt wird um die Frage:„wann?“. Dann lautet die Fragestellung des Buches: Was braucht mein Kind – wann? Und das bedeutet: zu welcher Zeit? Damit wird Erziehung in Abhängigkeit gesetzt zum Alter des Kindes, aber eigentlich zu seinem Entwicklungsstand. Nicht alles ist zu jeder Zeit im gleichen Maße „richtig“. Wobei es natürlich müßig ist darauf hinzuweisen, dass es keinen objektiven Maßstab dafür gibt, was richtig ist und was nicht.
Natürlich werden Kinder erzogen und erwachsen, ohne dass ihre Eltern dieses Buch gelesen haben. Die meisten von ihnen werden mit Sicherheit auch so ihr Leben meistern. Dazu wird es nicht dieses Buchs bedürfen. Und die überwiegende Mehrzahl dieser Kinder und ihrer Eltern werden vermutlich nichts in ihrem Leben vermissen, wenn sie dem vorliegenden Buch nicht begegnet sind. In der Regel reichen gute Ernährung und ein Dach über dem Kopf, die liebevolle Fürsorge der Eltern und eine gute Ausbildung als Grundlage für einen erfolgversprechenden Start in ein selbständiges Leben. Und wenn der liebe Gott oder das Glück (je nachdem ob man ein religiöser Mensch ist oder nicht) es gut mit ihnen, dann bleiben sie von privaten Unglücksfällen, Wirtschaftskrisen und Krieg verschont. Was also soll dann dieses Buch, außer dass es seinem Autor ein hoffentlich nicht allzu kleines Zubrot bringt?
Es soll dazu beitragen, Erziehung verständlicher und leichter, also einfacher zu machen. Auch die Wikinger sind nach Amerika gekommen. Nur, es soll eine sehr beschwerliche Überfahrt gewesen sein. Aber auch sie kamen dort an. Doch um wieviel leichter, ungefährlicher und angenehmer ist das Reisen mit unseren heutigen Mitteln. Und nicht nur das. Mit den Mitteln, die der Mensch sich im Laufe seiner Entwicklung geschaffen hat, ist die Reise nach Amerika auch schneller und sicherer geworden. Columbus musste noch sich mit klobigen und ungenauen Geräten seinen Weg über den Atlantik ertasten. Da war sehr viel Glück und Zufall im Spiel gewesen, und dabei kam er noch nicht einmal dort an, wo er hatte ankommen wollen. Heute können wir unsere Ankunft in Amerika fast auf die Minute planen. Nur wenig ist da noch dem Zufall überlassen.
Ähnlich ist es auch neben all den anderen Lebensbereichen mit der Erziehung. Je mehr man weiß und versteht, um so leichter wird es in der Regel. Mit der Zunahme der Erkenntnis werden Entscheidungen und die Ergebnisse unseres Handelns immer weniger dem Zufall überlassen. Sie werden planbar, und ihr Ergebnis kann dadurch genauer vorausgesagt werden. Und genauso ist es auch mit der Erziehung. Sie wird leichter, wenn sie mit einer breiteren Erkenntnis der Zusammenhänge verbunden ist, innerhalb derer sie stattfindet.
Man kann natürlich auch weiterhin wie seinerzeit die Wikinger und auch noch Columbus aufs Geratewohl hinausfahren auf das weite stürmische Meer der Erziehung. Das wird in den meisten Fällen auch unumgänglich sein, weil wir gerade im Umgang mit Kindern oft vor unvorhersehbare Situationen gestellt sein werden. Nichts ist überraschender als Wetter und kindlicher Ideenreichtum. Aber es ist leichter, darauf mit Entscheidungen zu reagieren, die auf der Grundlage von Erkenntnissen beruhen, als jedes Mal in einer pädagogischen Trickkiste herumkramen zu müssen, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was uns auf die Situation anwendbar scheint.
Erkenntnis ist die Grundlage für die Erleichterungen im Reiseverkehr mit Amerika, Erkenntnisse über unserer Erde, Erkenntnisse über Technologien, die uns ermöglichten, von Maschinen angetriebene Schiffe und später sogar Flugzeuge zu bauen. All diese Erkenntnisse haben das Reisen erleichtert. Und Gleiches gilt natürlich auch für alle anderen Lebensbereiche. Erkenntnisse machen alles leichter, denn sie ermöglichen uns, Fehler zu vermeiden.
Das ist das Anliegen dieses Buches. Es geht um Erkenntnisse. Es geht darum, Erziehung in Zusammenhang zu stellen mit den Hintergründen, vor denen Erziehung abläuft. Dieser Hintergrund ist nichts Geringeres als die Entwicklung des Menschen und seiner Gesellschaften. Denn Erziehung ist immer auch eingebunden in menschliche Gesellschaft und staatliche Ordnung. Zu erkennen, welchen Stellenwert Erziehung in diesem Zusammenhang hat, erleichtert Erziehung.
Es geht nicht um Ratschläge. Hier sollen keine technischen Tricks ausgebreitet werden nach dem Muster: was mache ich, wenn mein Kind… . Das überlassen wir den sogenannten Ratgebern. Sicherlich haben alle Eltern immer einmal den Wunsch, in schwierigen Situationen den richtigen Knopf zu finden, auf den man nur drücken muss, und dann ist alles gut. Ein Patentrezept für Kindererziehung! Aber die meisten werden auch die Erfahrung gemacht haben, dass die Tricks und guten Ratschläge der anderen bei den eigenen Kindern in den seltensten Fällen zum Erfolg führen. Wobei auch dahingestellt sein soll, wann „Erfolg“ wirklich Erfolg ist. Das ist sehr auslegbar, und jeder hat andere Vorstellungen darüber, was als Erfolg anzusehen ist. Zudem wird nirgendwo mehr beschönigt als bei den eigenen Kindern und deren Erziehung.
Erziehung ist nicht einfach. Zu verwirrend ist das Übermaß an Ratgebern mit ihren todsicheren Ratschlägen, geheimen Tipps und ausgeklügelten Tricks. Ständig kommen neue Erziehungstheorien auf den Markt, die viele bisherige Erkenntnisse als überholt ansehen und unumstößlich geglaubte Wahrheiten in Zweifel ziehen. Oftmals sind die Grundsätze, auf denen die neuen Erkenntnisse beruhen, schwer nachvollziehbar, ihre Erklärungen dürftig. Die auf neuen Erkenntnissen beruhenden Methoden bestätigen in ihrer Bewährung in der Wirklichkeit oftmals nicht die Hoffnungen, die sie geweckt hatten. Aber im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ist der Misserfolg in den Gesellschaftswissenschaften leichter zu verdecken. Eine falsch berechnete Brücke bricht zusammen, eine naturwissenschaftliche Theorie stellt sich als falsch heraus, wenn der Praxistest nicht die erwarteten Ergebnisse bringt und damit die Theorie bestätigt. Bei den Gesellschaftswissenschaften brauchen die Fehlermeldungen länger, bis sie als solche wahrgenommen und anerkannt werden. Denn das Scheitern einer Theorie muss auch eingestanden. Das fällt leichter, wenn der Fehler zu unübersehbaren Konsequenzen führt wie der Zusammenbruch einer Brücke. Da die Fehler der gesellschaftswissenschaftlichen Theorien in den meisten Fällen kaum Auswirkungen haben auf das Leben selbst, können sie auch länger als solche unerkannt belieben. Die Folgen, die durch das Befolgen falscher Erziehungsansätze auf der Grundlage undurchdachter Theorien entstehen, können leichter beschönigt oder wegdiskutiert werden.
Dann ist der kleine, aufdringlich laute Tyrann nicht das Kind, dem die Eltern versäumt haben, ein sozial verträgliches Benehmen mitzugeben, sondern es wird in seinem Fehlverhalten bestärkt, indem es als „selbstbewusst“ ausgelobt wird. In der Schule ist es später nicht der Störenfried sondern der hochbegabte Überflieger, dem Lehrer und Schule nach der Meinung der Eltern nicht genug Anregung und Herausforderung bieten können. Der Leidtragende ist das Kind selbst, das unter seinen eigenen Defiziten leidet und zusätzlich noch die Ablehnung der Umwelt zu spüren bekommt. Das unkritische und beschönigende Verhalten der Eltern ist ihm in Wirklichkeit keine Hilfe.
Was braucht Erziehung, um Aussicht auf Erfolg zu haben? Sie braucht ein Ziel. Diese Frage nach dem Ziel ist nicht zu beantworten ohne eine Vorstellung davon, was Menschsein bedeutet. Denn es soll ja bei Erziehung etwas herauskommen, das im Entferntesten irgendetwas mit Mensch zu tun hat. Selbst bei allen verschiedenen Vorstellungen von Menschsein, wird niemand bestreiten, dass Menschsein etwas zu tun hat mit einem Menschenbild, das dieser Vorstellung von Menschsein zu Grunde liegt. Ein Menschenbild beruht auf Werten, von denen man glaubt, dass sie den Unterschied ausmachen zwischen Mensch und Tier. Ein Menschenbild braucht Werte und so braucht auch Erziehung Werte, an denen sie sich orientiert. Ob diese Werte von allen Mitgliedern der Gesellschaft akzepiert werden, spielt für das notwendige Vorhandensein von Werten keine Rolle. Unumgänglich ist, dass es Werte gibt.
Denn ohne eine Vorstellung davon, zu welch einem Menschen der junge Mensch erzogen werden soll, ist Erziehung wechselnden Moden unterworfen, dem häufigen Hin und Her „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse und pädagogischer Ratschläge. Und selbst die umfangreichste Sammlung von Erziehungstricks und pädagogischen Theorien ist noch lange kein Weltbild und kann dieses schon gar nicht ersetzen. Solche Kataloge mit endlosen Auflistungen von Fällen und den dazu passenden Vorschlägen zur Abhilfe erinnern eher an einen Haufen von bunten Mosaiksteinen, der jeden Farbton enthält, um daraus ein Bild zu schaffen. Aber alleine das Vorhandensein einer Unmenge bunter Steine schafft noch lange kein Bild. Ein Bild entsteht erst, wenn bereits im Kopf eine Vorstellung von dem besteht, was aus dieser Fülle der Auswahlmöglichkeiten geschaffen werden soll. Und selbst dann muss auch das Bild als solches erkennbar sein. Es muss deutlich sein, was dieses Bild ausdrücken will, was bedeutet, dass erkannt werden kann, was dargestellt und zum Ausdruck gebracht werden soll. Das bedeutet übertragen auf unser Thema, dass ohne Weltbild und Menschenbild, die als Grundlage für Erziehung dienen, Erziehung orientierungslos ist. Sie weiß nicht, wohin sie will. Und wenn sie das nicht weiß, weiß sie noch viel weniger, welche Wege sie zu gehen hat. Wenn Erziehung nicht weiß, welcher Mensch am Ende das Ergebnis von Erziehung sein soll, wie will sie denn wissen, wie sie erziehen soll. Und das ist weit verbreiteter Zustand heutiger Erziehung.
Egoismus und Rücksichtslosigkeit zum Beispiel sind kein Weltbild, auch wenn sie als eine immer wieder gern zitierte Voraussetzung für gesellschaftlichen Erfolg angesehen werden. Wobei aber zugestanden werden muss, dass beide oftmals tatsächlich gute Voraussetzungen darstellen für wirtschaftlichem Erfolg und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehen. Nur wirft das einerseits ein bezeichnendes Licht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Rücksichtlosigkeit und Egoismus so gute Voraussetzungen bieten für gesellschaftliches Vorankommen. Andererseits wird aber sehr oft auch deutlich, dass diese Art von Erfolgreichen persönlich nicht immer einen sehr glücklichen und zufriedenen Eindruck hinterlassen.
Auf Erziehung bezogen, bedeutet das Vorhandensein eines Welt- und Menschenbildes, dass eine Vorstellung davon besteht, was der Sinn von Erziehung ist, dass eine Erkenntnis darüber vorliegt, was Menschsein bedeutet, und dass ein Erziehungsziel besteht, das sich stützt auf Werte, die der Vorstellung von Menschsein und dem Weg dorthin entsprechen. Das alles klingt sehr kompliziert und wirft natürlich auch die Frage auf, ob solche Fragen und die Antworten darauf unbedingt notwendig sind und ob Erziehung nicht auch einfacher geht. Natürlich geht das auch einfacher und ohne all diese Gedankenspiele. In der alltäglichen Erziehung können diese Überlegungen nicht ständig angestellt werden. Dann würde Erziehung in Handlungsunfähigkeit verkommen. Diese Überlegungen sollen auch nicht an die Stelle der schnellen Ratgeber gesetzt werden, die im Nu für jedes Problem eine Lösung bereit zu haben scheinen, quasi der Austausch des einen gegen den andern. Es geht nicht um die Ablösung des Schnellschusses durch die Langwierigkeit. In dieser Auseinandersetzung mit dem Thema Erziehung geht es nur um die Betrachtung des Themas aus einem anderen Blickwinkel, einem Blickwinkel, der die Hintergründe von Erziehung auszuleuchten versucht.
Aber auch Werte unterliegen dem Wandel. Und so kommt man in der Erziehung nicht umhin, immer wieder auch zu überprüfen, ob das, was dem Erzieher als wichtig und richtig erscheint, in der Wirklichkeit auch die Bedeutung hat, die man ihm selbst beimisst. Es reicht also nicht aus, ein Weltbild mit Werten zu haben. Es muss auch immer wieder dieses Weltbild abgeglichen werden, mit der Welt selbst, das heißt mit der Wirklichkeit. Ist die Welt wirklich so, wie ich sie mir vorstelle? Und diese Frage gilt nicht nur in Erziehungsfragen sondern für alle Bereiche unseres Lebens. Wer diesen Abgleich nicht vornimmt, zu mindestens dort, wo man selbst immer wieder mit der Welt in Konflikt gerät, läuft Gefahr, nicht nur in Erziehungsfragen zu scheitern, sondern am Leben generell.
Das bedeutet aber, dass entscheidende Voraussetzung und Einstellung bei allen Lebensfragen, besonders aber bei der Erziehung, die Bereitschaft ist, verstehen zu wollen, die eigenen Ansichten in Frage stellen zu wollen und auch notfalls zu ändern, wenn sie falsch zu sein scheinen. Bei Erziehung geht es um Verstehen. Der Begriff „Verstehen“ hat verschiedene Bedeutungen und Anwendungen. Man kann ihn auslegen im Sinne von „Akzeptieren“, Verständnis haben, etwas gut zu finden. So wird er heute in den meisten Fällen verstanden. Hier ist aber seine ursprüngliche Bedeutung gemeint in dem Sinne, etwas nachvollziehen können.
Um in der Erziehungsarbeit erfolgreich sein zu können, müssen wir nachvollziehen und verstehen wollen, um verstehen zu können, was vor sich geht in den verschiedenen Entwicklungsabschnitten, die unser Kind durchläuft. Dieser individuelle Werdegang ist eingebettet in die Entwicklungsgeschichte des Menschen generell. Denn die Stadien, die der Mensch in seiner Entwicklung als Individuum durchläuft, sind nur zu verstehen im Zusammenhang mit der Entwicklung, welche er als Menschheit insgesamt bisher zurückgelegt hat. Das Individuum kann sich nicht ablösen von der Entwicklung des Menschen als Gattung, die in den Jahrmillionen vor uns stattgefunden hat.
Diese Jahrmillionen haben den Menschen genetisch geprägt und ihn Erfahrungen machen und Verhaltensweisen erwerben lassen, die noch heute unser Verhalten mehr bestimmen, als der moderne, Vernunft begabte Mensch ahnt, glaubt oder wahrhaben will. Viele dieser Verhaltensweisen verschließen sich trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnis und Durchdringung unseres Lebens dem Zugang durch die Vernunft, die heute als Prinzip weitgehend unser Leben bestimmt. Noch immer wirken in uns ältere, weil frühere Lebensprinzipien, zu denen wir heute weitgehend den Kontakt verloren haben. Hier sind zu nennen beispielsweise Ahnung und Gespür als Lebensorientierungen, die vor der Vernunft das Leben der Menschheit geleitet und geholfen haben, das Überleben der menschlichen Gattung zu ermöglichen.
Wenn das Verstehen-wollen als Voraussetzung fehlt, wird Erziehung zum Lotteriespiel. Maßnahmen, die man sie als heißen Tipp von anderen übernommen hat, werden ergriffen, ohne ihren Sinn zu verstehen. Oder man greift kurzentschlossen durch, weil man sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Man folgt den Vorschlägen billiger Ratgeber, die zu Allheilmitteln erklären, was unter anderen Umständen Erfolg gehabt hat oder gehabt haben soll. Und manchmal schließt man sich einfach dem Motto der Hilflosen an, das da lautet: „das war schon immer so“! Deshalb versteht vorliegendes Buch sich nicht als zusätzlicher Ratgeber in der endlosen Reihe derer, die glauben, den Stein der Weisen gefunden zu haben, daraus die richtige pädagogische Theorie entworfen zu haben und mit Tipps und Tricks für alle Erziehungs- und Lebensfragen aufwarten zu können.
Um verstehen zu können, bedarf es des Einblicks in die Zusammenhänge und Hintergründe, vor denen Erziehung abläuft. Denn Erziehung ist eingebunden in menschliche und gesellschaftliche Entwicklung. Ohne Gesellschaft ist Menschheit, so wie wir sie heute kennen, nicht vorstellbar. Und ebenso unvorstellbar ist Menschheit ohne die Erziehung des Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Wesen.
Viel mehr als pädagogische Tipps und Tricks geben Weltbild und Erkenntnisse Orientierung. Wer mit Landkarte und Kompass einen Marsch unternimmt, hat größere Chance, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Denn er verliert die Orientierung nicht. Bei jedem neuen Richtungshinweis oder Zweifel genügt ein Blick auf Karte oder Kompass, um den Kontakt zum Ziel nicht zu verlieren. Denn Karte und Kompass verleihen den Überblick, der auf Grund der Kenntnis der größeren Zusammenhänge es immer wieder ermöglicht, den aktuellen Stand der Entwicklung zu erkennen und daraus die Schritte abzuleiten, die zum Ziel führen.
Übertragen auf unser Thema, sind die Erkenntnisse über Menschheits- und Gesellschaftsentwicklung die übergeordneten Orientierungshilfen wie Kompass und Landkarte bei der Wanderung. Beide ermöglichen jederzeit das Wieder-Einordnen in die Entwicklung, auch wenn zwischenzeitlich einmal die Orientierung verloren gegangen ist. Die überall am Wegesrand auftauchenden Hinweisschilder und Weggabelungen entsprechen den Ratgebern und Ratschlägen, die momentane Lösungen anbieten. Sie verstellen aber den Blick auf das Ziel in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Augenblicks. Hier steht die nur einzelne Situation im Vordergrund, die Beschäftigung mit dem einzelnen Wegweiser, der neuen Anforderung, die sich in der Weggabelung auftut. Diese Ratgeber reagieren auf Einzelerscheinungen, stellen die einzelne Situation nicht in den größeren Zusammenhang, in dem Erziehung steht. Sie sind keine Antwort auf die Frage: „Was ist das Ziel und wo stehe ich augenblicklich in Hinblick auf dieses Ziel?“
Hier drängt sich nun natürlich die Frage auf, was das Ziel von Erziehung ist? Die allgemeingültige Antwort darauf ist: Das Kind vorzubereiten auf das Leben. Erziehung ist die Aufgabe, unseren Kindern die Voraussetzungen mitzugeben, die es ihnen ermöglichen, das Leben ohne unsere Hilfe zu meistern. Die Vermittlung dieser Fähigkeiten ist ein Prozess, der in seinem Fortschreiten immer anderen Anforderungen unterliegt. Er beginnt mit dem Erwachen des neuen Lebens im Mutterleib, dem vollkommenen Ausgeliefertsein dieses neuen Lebens an die Mutter als der allwaltenden Beschützerin und Ernährerin in diesem frühen Stadium. Und der Prozess endet in der Regel mit dem Tod des letzten Elternteils als der endgültigen Abnabelung von den Personen, die dieses Leben gezeugt hatten. Damit ist dann die letzte physische Verbindung zwischen Eltern und Kind erloschen. Das ist der große Bogen der Eltern-Kind-Beziehung. Innerhalb dieses Bogens findet Erziehung statt, egal ob beabsichtigt oder vernachlässigt, ob bewusst oder unbewusst, ob zielgerichtet oder planlos beliebig. Erziehung findet statt. Nur das Ergebnis von Erziehung ist abhängig davon, wie Eltern diese Erziehung gestalten.
Aber Erziehung ist kein Business-Plan, der sich abarbeiten lässt und der, dem Allmachtsgefühl des modernen Menschen folgend, planbar wäre bis ins Detail, nur alleine unserem Willen unterworfen, solange man nur über die richtige pädagogische Theorie verfügt und einen Katalog angemessener Maßnahmen zur Umsetzung ihrer Grundsätze. Erziehung ist in mehrfacher Hinsicht ein dialektischer Prozess, vergleichbar der Flipperkugel, die durch den Spielautomaten gejagt wird und überall neue Impulse erhält, wo sie Fremdes berührt. Mal ist der Impuls schwächer, mal stärker. Mal ändert er den Lauf der Kugel und wieder ein anderes Mal verstärkt er dessen Richtung und gibt ihm neue zusätzliche Kraft. Dieser dialektische Prozess findet statt zwischen Eltern und Kind und mit zunehmender Entwicklung auch zwischen Kind, Eltern und Gesellschaft, je mehr sich das Lebensfeld des Kindes aus der Familie heraus in die Gesellschaft hinein ausweitet. Denn Erziehung findet nicht statt im luftleeren Raum, sondern ist eingebunden in Gesellschaft in der Form von Familie, aber auch außerhalb der Familie in der Form der Einrichtungen des politischen Gemeinwesens, dessen Teil wir alle sind, wie Kindergarten, Schule, Vereine, Betrieb usw.
Mit dem oben erwähnten Zusatz „wann“ wird die Frage der Kindererziehung einerseits leichter. Denn es wird deutlich, dass es unterschiedliche Entwicklungsstufen gibt, denen Rechnung getragen werden muss. So ist es beispielsweise richtig, das Kind in seiner frühen Phase der Hilflosigkeit als Säugling zu behüten, zu umsorgen und ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Verhalten kann aber in fortgeschrittenem Alter nicht mehr nicht nur nicht hilfreich sondern sogar sehr schädlich sein, weil es die Entwicklung des Kindes zu einem selbständigen und eigenverantwortlichen Menschen behindern kann. Es gilt also das Sprichwort des Volksmundes, das vielleicht platt erscheint, aber von oftmals unterschätzter Weisheit erfüllt ist: Alles zu seiner Zeit.
Und so stellt sich dann die Frage von neuem, nun aber anders: Was braucht mein Kind auf seinem aktuellen Entwicklungsstand? Natürlich ändert sich an den materiellen Grundbedürfnissen nichts, die von denen der Erwachsenen nicht so verschieden sind und deshalb für die Menschheit allgemein gelten. Menschen brauchen Nahrung, Wärme und Schutz vor Gefahr. Das sind die Grundvoraussetzungen für den Fortbestand des Lebens und sollen deshalb bei den vorliegenden Betrachtungen ausgeklammert werden.
Hier geht es vielmehr um die Frage, welche Unterstützung braucht das Kind, um dem weiter vorne erklärten Erziehungsziel näher zu kommen, nämlich, die Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihm ermöglichen, sein eigenes Leben anzunehmen und es zu meistern. Mit der fortschreitenden Entwicklung unserer Kinder wandeln sich die Anforderungen an die Eltern zur Unterstützung dieses Prozesses.
Der Mensch als Gattung wie auch als Individuum ist die am höchsten entwickelte Lebensform auf unserem Planeten. Seine Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die er seiner Fähigkeit verdankt, mehr als alle anderen Lebewesen seine Handlungen planen zu können. Der Mensch denkt. Das heißt, er ist in der Lage, durch die Fähigkeiten seines Gehirns, Handlungen vorab durchzuspielen. Im Denken handelt er probeweise, was bedeutet, dass er seine Handlungsweise auf die möglichen Folgen hin untersuchen kann. Das erspart es ihm, sich Situationen auszusetzen, die für ihn gefährlich sind. Er ist in der Lage, Ereignisse zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen, die ihn Fehler vermeiden lassen.
Damit verbesserten sich seine Lebensbedingungen als ein ursprünglich relativ wehrloses Wesen, das nicht mit besonderen körperlichen Fähigkeiten ausgestattet war. Er konnte nicht fliegen, war nicht sehr schnell, nur mit vergleichsweise geringen Körperkräften ausgestattet, kein guter Kletterer und auch kein hervorragender Schwimmer. Mit diesen Voraussetzungen war er eher Beute als Jäger und damit sehr weit unten in der Nahrungskette angesiedelt. Zu der Entwicklung seiner Hand als einem vielseitig einsetzbaren Werkzeug verbesserte die Zunahme seiner Denkfähigkeit in der Frühphase seiner Entwicklung seine Überlebensmöglichkeiten als Gattung in einer feindlichen Umwelt. Er stieg auf vom Beutetier zum Genie, dem es als einzigem Lebewesen gelungen ist, die Erde zu verlassen.
Je nach Einstellung und Weltbild kann man diese Entwicklung als göttlichen Plan ansehen oder entsprechend der materialistischen Weltsicht als eine Summe von Zufällen, deren Ergebnis das Leben war. Nur darf man diesen Begriff der Zufälle nicht so naiv sehen, wie die Gegner des materialistischen Weltbildes ihn gewöhnlich darstellen. Vielmehr sind diese „Zufälle“ nichts anderes als die Auswirkungen der Naturgesetze, die auf unserer Erde herrschen. Diese lösten und lösen immer noch durch Wind und Sturm, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Blitze und Feuersbrünste, Hitze und Kälte Vorgänge aus, die die Elementarteilchen auf der Erde in Bewegung halten, sie um den Globus treiben und sie aufeinandertreffen lassen. Aus diesem willkürlichen Zusammentreffen oder gar Zusammenstoßen der unterschiedlichen Atome und Moleküle gingen neue Verbindungen hervor, vielleicht sogar das Wasser. Diesen Ergebnissen gingen Jahrmillionen, ja Jahrmilliarden, einer Entwicklung voraus, die diese Ergebnisse nicht hervorgebracht hatten, weil einerseits die Naturgewalten nicht die passenden Stoffen zusammengetrieben hatten oder aber weil die Voraussetzungen der Umgebung den Fortbestand dieser neuen Verbindung nicht zugelassen hatten.
So war es auch mit dem Leben, das nur unter bestimmten Bedingungen Bestand haben konnte. Waren diese Bedingungen nicht gegeben, konnte es vielleicht entstehen, aber nicht überdauern. Vermutlich hat es in den Jahrmilliarden der Erdentwicklung schon viele solcher zufälligen Aufeinandertreffen von Stoffen gegeben, die zum Herausbilden erster lebender Organismen hätten führen können oder sogar geführt haben. Vermutlich war die „erste“ Zelle nicht die erste und einzige, sondern vorangegangen waren Millionen ähnlicher Ereignisse mit dem Ergebnis, dass Leben entstanden war, aber nur vorübergehend. Denn es zerfiel wieder und musste sich wieder neu bilden unter den Zufällen der von den Naturgewalten ausgelösten Verbindungen.
Und unter all den Millionen vergänglichen Leben entstand dann irgendwann eine Konstellation, die erstmals die Möglichkeit entwickelte, sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren. Die erste Zelle, der es gelang, sich durch Zellteilung selbst zu vermehren und am Leben zu halten, war der Beginn des Lebens, wie wir es kennen. Diese Zelle war
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5125-5
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