Er war kein Sympathieträger, der Scheid. Das wusste er selbst. Er wirkte ungepflegt mit seiner großporigen Haut, die zur Unreinheit neigte, und seinen strähnigen Haaren, die er länger trug, als es für ihn vorteilhaft war. Etwas dicklich, wie er nun einmal war, hinterließ er insgesamt einen schmierigen Eindruck. So verging auch kaum ein Morgen, wo er nicht vor dem Spiegel stand und sich fragte: „Wie konnte ein so hässlicher Vogel wie du so eine nette Frau abbekommen?“ Und leicht in sich hineinschmunzelnd, erklärte er es sich immer damit, dass Liebe glücklicherweise blind mache. Aber konnte jemand wirklich so blind sein? Offensichtlich!
Anfangs hatten seine Freunde und Saufkumpane, mit denen er sich an Wochenenden in Kneipen und auf Fußballplätzen herumgetrieben hatte, ihn aufgezogen mit dem Schönheitsgefälle, das zwischen ihm und seiner neuen Flamme herrschte. Man vermutete, dass sie eine Sehschwäche haben müsse, wenn sie sich in eine solch hässliche Kröte wie den Scheid verguckte. Andere vermuteten, dass es reine Tierliebe sein müsse, was die junge Frau angetrieben haben müsse, sich dem Scheid hinzugeben. Vielleicht glaubte sie auch, dass er sich doch noch als Prinz entpuppen würde, wenn sie ihn nur oft genug küsste.
Es war eine derbe Gesellschaft, die der Scheid sich da als Freunde auserkoren hatte. Aber sie waren in Ordnung. Jeder von ihnen bekam mal sein Fett weg und wurde durch den Kakao gezogen, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot. Damals war halt er, der Scheid, dran gewesen. Aber an keinen ging der Kelch des Spottes vorüber, und über die Zeit glich sich das dann aus. Jedenfalls war es immer lustig, wenn sie zusammen waren.
Andererseits wusste er, Scheid, ja auch, dass sie Recht hatten. Er war keiner von denen, die die Hässlichkeit beschönigten und sich mit Sprüchen, die Selbstbewusstsein vorgeben sollten, alles versuchten schön zu reden. Denn nicht jedes Gramm bei einem Dicken war schön, wie viele Dicke sich einreden wollen. Und hässlich war halt nun eben mal hässlich! Punktum! Dummerweise hatte der liebe Gott gerade bei ihm sein Meisterstück abgelegt. Das war Schicksal. Aber was soll’s, seine Frau liebte ihn trotzdem und bei seinen Kindern hatte wohl der liebe Gott seinen Fehler erkannt und alles versucht, wieder gut zu machen.
Manchmal trieb ihn die Angst um, dass seine Gene bei seinen Enkeln wieder die Oberhand gewinnen könnten. Dann führte er Zwiegespräche mit dem lieben Gott und redete ihm ins Gewissen, dass er ihm einen Mordsbudenzauber veranstalten würde da oben in seinem Himmel, wenn er sich noch einmal solche Patzer in seiner Familie erlauben sollte. Er lächelte schelmisch in sich hinein bei der Vorstellung, wie er dem lieben Gott mit seiner Berliner Kodderschnauze die Hölle heiß machen würde. Er grinste bei dem Wortspiel, dem lieben Gott die Hölle heiß machen zu wollen. Genüsslich malte er sich schon seine Streitgespräche aus mit der Heiligen Dreifaltigkeit. Scheid war ein Schlitzohr, das es faustdick hinter den Ohren hatte, ein lebensbejahendes Ekel, das nichts mehr liebte, als von einem Fettnapf in den anderen zu wechseln.
Sein Zorn sollte ihm zum Verhängnis werden und sein Empfinden für Anstand, was ihm sicher niemand zugetraut hätte, der ihn nur an seinen Äußerlichkeiten beurteilte. Zudem hatte er sich mit Leuten angelegt, die weniger Humor hatten als er. Wenn er auch mitunter ein Kotzbrocken war, dem nichts heilig zu sein schien, so war das nur die raue äußere Schale. In seinem Inneren war er respektvoll, auch wenn er nicht immer in den Maßstäben der political correctness dachte und handelte oder was es sonst noch an scheinheiligen Vorschriften gab. Er wusste, was sich gehörte und was nicht. Damit unterschied er sich von all diesen Saubermännern, die öffentlich die Betroffenen gaben, die sich sorgten um Menschenrechte und sich aufopferten für ihre Mitmenschen. In Wirklichkeit aber waren sie Heuchler, die hinter der Maske des Kämpfers für die höheren Werte ihre eigenen Interessen verfolgten.
Einige von diesen Heuchlern würden sicherlich auch wieder im Gerichtssaal sitzen, wenn er in wenigen Tagen seine Aussage würde machen müssen im Verfahren gegen die sogenannte Iridi-Gruppe. Aber sie würden nicht auf der Anklagebank sitzen. Sie saßen auf den reservierten Plätzen. Sie würden nach der Verkündung des Urteils sich zufrieden erheben, gelassen ihre Jacketts zuknöpfen und die Krawatten exakt nach Süden ausrichten, sich leicht räuspern und selbstgefällig den Saal verlassen. Draußen würden die Dienstwagen warten und sie in ihre wohlgeheizten Büros chauffieren. Dort würden sie Platz nehmen in den teuren Sesseln ihrer Vorgesetzten und auf die Frage, wie es denn gelaufen sei, mit „gut“ antworten. Man würde sich gegenseitig beglückwünschen, vielleicht eine Zigarre rauchen, vielleicht die Korken knallen lassen und dann weiter machen wie bisher in dem Bewusstsein, auf der richtigen Seite des Rechtes zu stehen.
Diesen Ablauf der politischen Prozesse, die es ja eigentlich nach offiziellem Sprachgebrauch gar nicht gab, hatte er schon in vielen Verfahren kennen gelernt, wo er als Zeuge hatte aussagen müssen. Und von daher hatte er keine Zweifel, dass es dieses Mal zu keinem anderen Ergebnis kommen würde als einer Verurteilung in Sinne der Anklage.
Als Mann des Geheimdienstes, als Mann des Staates, hatte er diese Iridi-Gruppe, die keine war, aber von interessierten Kreisen als eine solche aufgebaut worden war, lange beobachtet. Das ermöglichte ihm, sich ein Bild über die Substanz der Anklage machen zu können. Und wenn da nicht mehr aufgetischt werden konnte als das, was er in Erfahrung gebracht hatte, dann hatte die Anklage wenig in der Hand. Aber es lag ihm nichts an diesen Leuten, weder im Guten noch im Bösen.
Es war ihm zwar nicht gleichgültig, ob sie zu Recht oder zu Unrecht angeklagt waren. Sie waren nicht die ersten, die er beobachtet hatte und die durch seine Mithilfe verurteilt worden waren. Aber das war seine Aufgabe. Dafür wurde er bezahlt. Davon ernährte er seine Familie. Und wenn nicht er es machte, dann würde es ein anderer machen. Der Geheimdienst bezahlte gut, und so fanden sich immer Leute für diese Aufgaben. Er war auch nicht stolz darauf, Leute ans Messer zu liefern, die nach seiner Meinung unschuldig waren. Aber er konnte es auch nicht verhindern. Sie waren bereits verurteilt gewesen, als Anklage gegen sie erhoben worden war – Rechtsstaat hin, Rechtsstaat her. Bei dieser Anklage konnte am Ende nur die Verurteilung stehen. Alles andere wäre politisch unangenehm und vor allem unpassend gewesen.
Manche hatte ihm Leid getan, denen er mitgeholfen hatte, den Strick zu drehen. Auch die armen Tröpfe, die nun vor Gericht gestellt werden sollten, bedauerte er, auch wenn einige von denen immer noch an ein gutes Ende zu glauben schienen. Er würde sie sich ansehen von seinem Platz im Zeugenstand, die armen Teufel, und würde ihnen Glück wünschen. Er würde auch nicht versuchen, ihnen durch seine Aussage unnötige Schwierigkeiten zu bereiten. Aber er wusste schon jetzt, dass seine Aussage nicht maßgeblich sein würde für ihre Verurteilung. Sie würde nicht das Zünglein an der Waage sein. Sie würde wenig Einfluss auf das Urteil haben, davon war er überzeugt.
Scheid wusste, dass er benutzt worden war. Er wusste auch, dass die Angeklagten benutzt wurden, anders als er zwar. Aber auch sie saßen nur hier, weil sie missbraucht wurden für einen anderen Zweck, einen höheren, einen politischen Zweck. Sie dienten der Abschreckung, lebendes Beispiel für eine Bedrohung, die es nicht gab, die aber trotzdem aufrechterhalten und belegt werden musste. Aus welchen Gründen und welche fein ausgearbeiteten Überlegungen dahinter steckten, das wurde ihm in dieser ganzen Sache Iridi offenbar.
Zum ersten Mal in seinem langen Agentenleben war ihm deutlich gemacht worden, an welchen Fäden sie alle hingen, er, der Richter, die Angeklagten und alle anderen, die nach und nach in diese ganze Intrige verwickelt und eingebunden worden waren. Er hatte immer gewusst, dass da krumme Dinger abgezogen wurden und er mitten drin. Aber er hatte nie geahnt, von wie langer Hand und mit welch kalter Berechnung von den Kräften gearbeitet wurde, die dem staunenden Publikum immer vorgaukelten, dass alles nur im Interesse der Menschen geschehe, zu ihrem Schutz, zu ihrem Besten und zu ihrer Sicherheit.
Scheid stellte sich vor, wie er den Zeugenstand betrat, wie er den Angeklagten gegenüber stand und wie er, bevor er sich überhaupt zur Sache äußerte, bei sich dachte: „Erwartet keine Wunder von mir. Ich kann euch auch nicht mehr helfen. Es ist egal, was ich sage, ihr seid bereits verurteilt. Nur das Strafmaß wird noch ausgewürfelt. Für euch würde ich nicht meinen Job und meine Pension riskieren. Tut mir leid, Jungs. Da ist mir das Hemd näher als die Hose. Es würde auch nichts nützen. Ist Scheiße für Euch gelaufen. Das passiert im Leben, nur dass Ihr leider die doppelte Ration abbekommen habt. Aber was diese Saubermänner angeht, die über mir stehen und sich bei Eurer Verurteilung die Hände reiben werden, mit denen habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Aber nicht Euretwegen.“
Er war sich noch nicht im Klaren darüber, wie er es machen wollte, wie er sein Wissen an den Mann bringen wollte. Sollte er die Bombe im Prozess selbst platzen lassen? Die Bühne war gut dafür, denn es würde durch das große Medieninteresse für ein hohes Maß an Öffentlichkeit gesorgt sein. Auch wenn bei den Tricksereien im Auswahlverfahren dafür gesorgt worden sein dürfte, dass nur die zuverlässigen Medien im Gerichtssaal waren, würden sie sicherlich dieses heikle Thema nicht unter den Tisch fallen lassen, wenn er es zur Sprache brächte. Denn wenn die Medien sich eines nicht entgehen lassen, dann ist es ein Thema, das die Auflagen und Einschaltquoten hoch treibt. Und dafür wäre sicherlich gesorgt, wenn er, Scheid, im Rahmen seiner Aussage die Bombe würde platzen lassen. Zudem würde niemand ihm einen Vorwurf machen können, denn er war ja verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Er durfte nichts hinzufügen, aber auch nichts weglassen.
Nur, was wäre, wenn die Staatsanwältin ihn gar nicht in diese Richtung befragte? Mit Sicherheit würde man doch damit rechnen, dass Scheid diese Gelegenheit der gerichtlichen Befragung nutzen würde, um das auszusagen, wovon seine Vorgesetzten nichts hatten wissen wollen, um den Erfolg der Ermittlungen nicht zu gefährden. Seit er diese unglaublichen Schweinereien aufgedeckt hatte, hatte er ihnen in den Ohren gelegen, etwas zu unternehmen. Aber man hatte von höherer Stelle gemauert. Man hatte ihn sogar von dem Fall abgezogen, um ihm keine weiteren Einblicke zu gewähren in den Fortgang der Ermittlungen. Und jetzt da man ihn kalt gestellt hatte, konnte er nicht mehr überprüfen, ob seine Vorgesetzten sich der Sache auch wirklich so ernsthaft annahmen, wie sie ihm gegenüber immer beteuerten.
Vermutlich setzten sie darauf, dass er sich in den Mühlen der Bürokratie aufreiben und seine Kraft allmählich nachlassen würde. Nur wunderte ihn, dass er trotzdem als Zeuge befragte werden sollte. Hatte man denn keine Angst, dass er alles auspacken würde? Oder fühlte man sich in den Büros über dem seinen so sicher, dass er keinen Schaden würde anrichten können? Aber wie konnten sie so sicher sein? Scheid konnte sich nicht vorstellen, dass diese Kreise tatsächlich ein solches Risiko eingehen würden. Nach all dem, was er in den letzten Wochen erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass sie in einer solch wichtigen Angelegenheit etwas dem Zufall überlassen würden, dass sie den Gang der Dinge nicht bis in jede Kleinigkeit geplant und abgesichert hätten.
So versunken in die innerliche Vorbereitung auf seine Aussage, bewegte sich Scheid durch die winterliche Nässe seines Wohngebiets. Vertieft in seine Abwägungen, das Hin- und Her- Wenden seiner Gedanken, beachtete er nicht die Warnungen, die ihm seine Ahnungen und sein Gespür zuriefen.
Und plötzlich löste sich der Schatten aus dem fahlen Licht der Straßenbeleuchtung.
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“. Er hörte die Worte, die folgten und seine Schuld begründeten, aber er nahm sie nicht wahr. Noch immer konnte er nicht verstehen, was in den letzten Wochen über ihn hereingebrochen war und seine wunderbar geordnete Welt zerstört hatte. Sie war ein Trugbild gewesen. Die Welt, in der er bisher gelebt hatte, war eine Illusion. Und solange er mit der wirklichen Wirklichkeit nicht in Kontakt gekommen war, war diese Illusion nicht aufgeflogen.
Obwohl er Lehrer war und in seinem Unterricht immer versucht hatte, seinen Schülern die Welt zu erklären, musste er sich nun eingestehen, dass er sie eigentlich selbst nie verstanden hatte. Die Welt, die er bisher gekannt hatte, war das Weltbild der Medien und der Schulbuchweisheiten, die er in gutem Glauben seinen Schülern weiter vermittelt hatte. Das hatte er für die Wirklichkeit gehalten. Und damit war er nicht allein.
Doch nun war unter diesem Hochglanzlack der heilen Welt die wahre Substanz der Wirklichkeit hervorgebrochen, eiskaltes Metall, hart und unerbittlich, aber auch widerstandsfähig und nicht so leicht zu beeindrucken. Dabei hatte er nicht einmal selbst an diesem Lack gekratzt, wenigstens nicht bewusst oder gar willentlich. Er hatte geglaubt, dass all das stimmte, mit der Meinungsfreiheit und den Rechten und unserer Demokratie, unserem Rechtsstaat und all dem, was unsere Gesellschaft von anderen abhob. Es waren immer die anderen gewesen, bei denen Unfreiheit herrschte. Nur dort gab es keine Rechtsstaatlichkeit.
Er hatte geglaubt, dass man in einer Demokratie frei seine Meinung sagen könne und das Recht ihn schützen würde, wenn er nichts Unrechtes getan hatte. Er hatte geglaubt, dass Justitia blind sei und nicht achte auf Ansehen, Stand und Vermögen der Personen, die da vor ihre Schranken treten. Das stimmte vielleicht sogar, aber sie war nicht blind gegenüber den Interessen, die sich unter ihrer Waage versammelten. Doch von denen wogen einige schwerer als andere. Alles das hatte er glaubt. Und nicht nur das, er war davon überzeugt gewesen. Denn er war ein gebildeter Mensch. Die glauben nicht, die wissen.
Aber nun hatte er schmerzhaft erkennen müssen, auch das Recht bricht sich an Übergeordnetem. Es gibt auch über dem Recht Werte und Interessen, denen es dient und sich unterwerfen muss. Und diese sind nicht unbedingt die Werte und Interessen, die man ihn in Schule, Universität und den Medien gelehrt hatte. Das hatte er so nie gesehen. Und dort, wo es ansatzweise zu erkennen gewesen wäre, hatte er es nicht sehen wollen. Und wo es unübersehbar war, hatte er es einfach nicht glauben wollen.
Nein, es durfte nicht sein, was nicht sein sollte. Es hatte nicht sein gedurft, dass sein Bild von der Wirklichkeit getrübt würde durch die Wirklichkeit selbst. Aber nun war es nicht mehr zu übersehen. Nun war diese Wirklichkeit über ihn hereingebrochen, über ihn, den unschuldigen, gutgläubigen, vielleicht etwas überheblichen, aber eigentlich doch sympathischen Lehrer der Religion, des Lateinischen und der Kunsterziehung, Studienrat Dr. Harald Gustav.
„Oberstudienrat“, hatte er sich in seinem früheren Leben immer empört, wenn sein Titel nicht korrekt benannt worden war. Er hatte es nie geduldet, wenn ihm die Anerkennung seiner höheren akademischen Bildung nicht ausreichend gewürdigt worden zu sein schien. Und wie unbedeutend war dieser „Ober“ jetzt. Wie wenig galt er in dieser neuen Welt, in der er nun für Jahre versinken würde. Wie unbedeutend war all das, was ihm früher unverzichtbar schien.
Da waren beispielsweise die Diskussionen mit seinen Schülern, von denen er geglaubt hatte, dass sie große Bedeutung hätten für deren weiteren Werdegang. Diese Rechthabereien im Kollegium, die ihm nicht als solche erschienen waren sondern als unverzichtbare Klärungen wichtiger Fragen. Und dann noch die Spitzfindigkeiten des akademischen Betriebs, kleinkariert bemüht um formale Richtigkeit. Wie albern war all das gewesen, kindisch und in Wirklichkeit vollkommen unbedeutend, weil fernab von der Realität.
Da, wo er nun hinging, würde das alles keine Rolle mehr spielen. Das hatte er schon feststellen müssen in der Zeit seiner Untersuchungshaft. Mit seinem Weltbild hatte er dort niemanden beeindrucken können. Das waren keine Elternabende, wo alle versuchten, geschwungene Reden zu halten, Beiträge wie Därme, endlos lang, kraus gewunden und von vergleichbarem Inhalt. Hier blickte niemand zu ihm auf und wollte es ihm gleichtun. Hier schüttelte man allerhöchsten den Kopf vor soviel Weltfremdheit. Man ließ ihn einfach stehen mit seinem Gerede, wenn er allzu belehrend daher kam.
Er hatte Angst vor dieser fremden Welt. Er konnte sich nicht vorstellen, in ihr zurecht zu kommen, ihre Regeln zu erkennen und danach zu leben. Seine Werte galten hier nicht viel, humanistische Bildung und abendländische Kultur, die er allen anderen überlegen geglaubt hatte. Und dahinter treibt eine religiöse Kraft mit ihren Werten von Nächstenliebe und persönlicher Verantwortung für die Welt und die Natur.
Als Religionslehrer sah er all das verwirklicht in seiner christlichen Religion und seinem aufopferungsvollen Einsatz für diese. Daraus zog er seine Kraft, aber auch eine dezente Überheblichkeit, ein Sendungsbewusstsein, einen Bekehrungs- und Belehrungsauftrag. Er fühlte sich berufen und aufgerufen, unermüdlich seinen persönlichen Beitrag zu liefern zur Bekehrung der Menschheit und zur Verbesserung der Welt. Er sah sich auf der richtigen Seite, der guten Seite. Trotz allem hielt er sich aber nicht für überheblich, sondern eher demütig. Denn Demut stand dem guten Christen an, nicht der Hochmut.
Aber war nicht gerade der Mensch, dem er all das hier zu verdanken hatte, nicht auch einer von denen, die nach außen das Christentum mit seinem Weltbild und seinen Werten vor sich hertrugen wie eine Monstranz. Gerade sein ärgster Widersacher, der heimtückisch wie kein anderer seinen Untergang betrieben hatte, auch er war einer, der sich als Christ bezeichnete. Er war nicht nur ein religiöser Christ, ein Mensch der Kirche, des Glaubens und der guten Taten im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Nein, sein Widersacher war auch noch ein politischer Christ, dessen Partei noch immer das „C“ in ihrem Namen trug, die „Partei der demokratischen Christen“.
Aber all diese Gedanken und Überlegungen änderten nichts mehr an der Lage und trugen auch nicht weiter zum Verständnis des Geschehenen bei. Auch wenn er sich der Ereignisse und Vorgänge bewusst war, so hatte sich bisher aber das tiefere Verständnis immer noch nicht bei ihm eingestellt. Er suchte immer noch nach der Antwort auf die Frage, warum das alles geschehen und wieso es gerade über ihn hereingebrochen war? Hatte er selbst dazu beigetragen und, wenn es so war, wie hatte er es getan? War er selbst Schuld an diesen Ereignissen? Hatte er wirklich verbrochen, unwissentlich, was ihm da zur Last gelegt wurde? Oder war das alles letztlich doch ein Missverständnis, ein Justizirrtum? War es Schicksal, sozusagen der Wille Gottes, dessen Wege ja, wie er wusste, unergründlich sind? Oder wirkte dahinter eine höheren Macht, die eine Absicht verfolgte, Ziele? Er fand einfach keine Antwort auf diese Fragen.
Und während er noch den letzten Schweif dieser Gedanken dahinflattern sah wie das Fähnlein eines Reitertrupps, der hinter einem Hügel verschwunden war, legte sich wie ein Ausdruck höherer Fügung nun die schwere Hand seines Anwalts auf seine Schulter. Sie riss ihn aus diesen Gedanken, deren Nutzlosigkeit ihm gleichzeitig mit der Berührung wieder klar geworden war. Das Urteil war gefällt über ihn und alles Weitere lag nun nicht mehr in seiner Macht.
„Sie müssen jetzt gehen“, sagte sein Anwalt mit einer für ihn ungewöhnlichen Wärme in der Stimme. Rechtsanwalt Schütz hatte als Strafrechtler schon vielen den Kopf aus der Schlinge zu ziehen versucht. Er hatte sich bei allen immer größte Mühe gegeben, auch bei denen, wo er wusste, dass die Strafe unabwendbar gewesen war. Ganz tief unten in seinem Innersten hatte er auch manchmal die heimliche Freude gespürt, wenn es einen wirklichen Drecksack erwischt hatte. Dann rieb er sich still die Hände angesichts des Strafmaßes und seines neuen Kontostandes.
Aber bei diesem Dr. Gustav hatte Schütz von Anfang an genau gewusst, dass hier ein naives Schaf geschlachtet werden sollte, dem von der Welt um ihn herum übel mitgespielt worden war. Und er hatte auch von Anfang an gewusst, dass der naive Doktor verurteilt war, noch bevor er den Gerichtssaal betreten hatte. Dieser war zwar bis zuletzt in der unerschütterlichen Gewissheit und Annahme seiner Unschuld vom guten Ausgang des Verfahrens überzeugt. Aber so wie die Causa Dr. Gustav eingefädelt worden war und angesichts der Persönlichkeiten und Institutionen, die sich nach und nach der Sache angenommen hatten, wäre alles andere als eine Verurteilung ein Politikum gewesen. Das einzig Ungewisse war bei Beginn der Verhandlung das Strafmaß gewesen, das am Ende der Verhandlung herauskommen sollte.
Und trotz der Abgebrühtheit und der kühlen Teilnahmslosigkeit des Profis, die die Jahre des beruflichen Werdegangs so mit sich bringen, hatte Schütz ein Gefühl in seinen Eingeweiden, an das er sich nicht erinnern konnte, es in der letzten Zeit verspürt zu haben, Mitleid. Er tat ihm leid, dieser Dr. Gustav, der bestimmt immer bemüht gewesen war, das Richtige zu tun, seinen Schülern etwas mitzugeben auf ihrem Weg ins Leben, und der nun vor den Trümmern seines Weltbildes stand, fassungslos, ungläubig, verwirrt.
Als Dr. Gustav aufblickte, näherten sich schon die Uniformierten, die ihn nun in Gewahrsam nehmen würden. Von nun an bestimmten andere über ihn. Der Gerichtssaal war fast leer, der Richter hatte sich bereits zurückgezogen. Sein Mittagessen wartete und diesem strebte er nun mit knurrendem Magen und der unbeirrten Selbstverständlichkeit zu, seine Pflicht und nicht nur das, sondern auch das zweifellos Richtige getan zu haben. Die Zellentür schloss sich hinter Dr. Gustav.
Aber gleichzeitig während sich Tür zur Außenwelt schloss, öffnete sich die Tür zur inneren Welt seiner Gedanken. Wieder, wie so oft in den vergangenen Wochen der Einsamkeit in seiner Zelle war er alleine mit diesen Gedanken und Erinnerungen an die Vorgänge der letzten Zeit. Und obwohl er sich unablässig mit diesen Ereignissen beschäftigt hatte, stellte sich bei ihm immer noch keine Klarheit darüber ein, was hier mit ihm geschehen war. Er fand einfach keinen Zugang. Es tat sich in den verworrenen Windungen seiner Gedankenwelt keine Tür auf, die endlich Licht hereingelassen hätte. Er ahnte, dass es einen Plan gab hinter all diesen Geschehnissen, aber ihm fehlten die Fähigkeiten, diesen Plan zu lesen. Er ahnte auch, dass er sich der falschen Mittel bediente, um zu verstehen, was er verstehen wollte. Er versuchte, mit einem Schraubenzieher ein Brett durchzusägen.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass alles anderes geworden war in seinem bisher beschaulich ruhigen Leben, als er und Münsch sich nach Jahren wieder begegnet waren. Aber er hatte keinen Beweis dafür, und als Intellektueller brauchte er immer so etwas wie einen Beweis, eine gesicherte und bestätigte Erkenntnis, worauf man bauen konnte. Auf Gefühle und Ahnungen gab er nichts, das war nichts für ihn. Das verunsicherte eher.
Und doch ging ihm die Situation nicht aus dem Kopf, als sie sich beide nach so langer Zeit wieder getroffen hatten auf einem Elternabend. Er hatte sich nach den Ferien als neuer Lehrer für Religion und Latein in der Klasse vorgestellt, in der auch Münschs Sohn Schüler war. Münsch und er waren schon am Ende der gemeinsamen Studienzeit getrennte Wege gegangen und hatten sich danach dann ganz aus den Augen verloren. Er war Lehrer geworden und nach Jahren des Schuldienstes versetzt worden in diese Stadt. Obwohl er nun schon seit einiger Zeit hier lebte, waren sie sich seltsamerweise vor diesem Elternabend auch nie über den Weg gelaufen. Vielleicht waren sie es doch? Da aber keiner von ihnen beiden den anderen hier vermutete, waren sie vermutlich aneinander vorbei gelaufen.
Und nun, wie aus heiterem Himmel, waren sie plötzlich wieder miteinander konfrontiert. Und in dem Moment als sie sich in die Augen blickten und beiden schlagartig klar wurde, wer der andere war, für diesen kurzen Moment, der mit herkömmlicher Zeitmessung nicht erfassbar ist, der nur auf der übergeordneten Ebene der Gedankenübertragung wahrnehmbar ist, in diesem kurzen Wimpernschlag der Gedankenidentität blitzen in zwei Hirnen gleichzeitig Erinnerungen auf, die sie beide miteinander teilten. Den heiteren Himmel verdunkelte plötzlich der Schatten einer vorüberziehenden Wolke. Nur einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Moment, aber doch war er dagewesen, dieser Moment des Schattens, wenn er auch schnell wieder dem strahlenden Himmel der unbekümmerten Alltäglichkeit gewichen war. Aber diesen Augenblick vergaßen sie beide nicht.
Wenn auch jeder glaubte oder sogar hoffte, dass der jeweils andere diesen Gedankenblitz der Verbindung nicht gespürt hatte, so näherten sie sich einander nach der Versammlung doch mit weichen Knien. Jeder für sich spürte das Erschrockensein in seinen Gliedern und jeder überspielte es anders. Münsch, der Weltumarmende, kam laut und polternd auf ihn zu, begrüßte ihn überschwänglich und gab aller Welt um sie herum lautstark zum Besten, dass sie beide vor Jahren (oder waren es Jahrzehnte? Ha, ha, ha) zusammen studiert und sich nach dem Studium dann aus den Augen verloren hatten. Münsch gab den Unbekümmerten.
Dr. Gustav war von seiner Art still und eher kleinlaut. Ihn verunsicherten solche starken Auftritte. Er konnte sich dort mit seiner bedächtigen Art nicht bemerkbar machen. Er lächelte etwas schmal zu Münschs riesigen Worten. In ihm kräuselte Vergangenheit, die sie miteinander verband. Er stand still und nachdenklich, versunken in Erinnerungen, die er schon vergessen geglaubt hatte. An dem Gespräch um sie herum nahm er nur abwesend teil. Ab und zu lächelte er teilnahmslos und nickte höflich zu Münschs Einlassungen.
Aber gleichzeitig spürte er auch immer deutlicher, wie Münsch mit seinem Auftritt alles daran setzte, gerade diese Erinnerung nicht zum Thema werden zu lassen in sich selbst und zwischen ihnen beiden. Er schwelgte öffentlich in den Heldentaten der gemeinsamen Studienzeit. Er gab Anekdoten zum Besten über Professoren und Stränge, über die man geschlagen habe. Auch Weibergeschichten erwähnte er mit verlegenem, fast entschuldigendem Seitenblick auf seine anwesende Frau. Aber er glaubte, dass solche Episoden der Vollständigkeit halber auch in einem wilden Studentenleben vorgekommen sein und deshalb erwähnt werden müssen. Denn sicherlich erwartete das gebannt lauschende Publikum auch so etwas neben den ebenfalls unumgänglichen Saufgeschichten.
Dr. Gustav konnte sich an das meiste nicht erinnern und was er erinnern konnte, war in seiner Erinnerung nicht so spektakulär gewesen, wie Münsch es darzustellen wusste. So kannte er den Münsch auch aus seiner Studentenzeit. Er war immer der Mittelpunkt und musste es auch sein, sonst fühlte er sich nicht wohl. Aber er merkte auch, dass dem Münsch die Sicherheit im Auftritt fehlte, die er sonst von ihm gekannt hatte. Unglaublich, welche Feinheiten ihm nun in so kurzer Zeit wieder auffielen, obwohl doch die Jahre dazwischen zu einer gewissen Entwöhnung hätten geführt haben sollten. Aber dem war nicht so. Und immer stärker drängte sich Dr. Gustav die Vermutung auf, dass Münsch nur aus einem einzigen Grunde in diesen publikumswirksamen gemeinsamen Erinnerungen schwelgte. Er wollte seine Verunsicherung überspielen und die Erinnerung an eine andere Gemeinsamkeit nicht aufkommen lassen. Und diese Gemeinsamkeit trug einen kurzen Namen: Verrat.
Dr. Gustav hatte sich etwas steif auf die Pritsche seiner Zelle gelegt und die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Er starrte an die Decke, auf die er nun die Bilder der Vergangenheit warf wie einen Film, den man auf die Leinwand projiziert. Nun, da das Urteil über ihn gefällt war, stellte sich aber auch auf der anderen Seite endlich wieder die Ruhe ein, die bisher sein Leben ausgemacht hatte. Er saß nun im Gefängnis, unschuldig, dessen war er sich sicher. Aber mit der Anerkennung dieses Umstandes hatten auch mit einem Male alle Kämpfe aufgehört in ihm. Resignation trat ein. Jetzt war mit Kämpfen nichts mehr zu gewinnen. Das Spiel war abgepfiffen, und er hatte verloren.
Seine allmählich wiederkehrende Ruhe kam aus dem Ende dieser Kämpfe. Hoffnung und Verzweiflung hatten in ihm getobt, um die Oberhand über seine Seele gerungen. In den Zeiten der U-Haft hatten gute Nachrichten Hoffnungen genährt, schlechte warfen ihn wieder in Verzweiflung und Depression, um wieder abgelöst zu werden von der Hoffnung. Diese Kämpfe und die Vorbereitung auf den Prozess hatten all seine Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch genommen. Da war kein Raum gewesen für die Aufräumarbeiten in der Seele.
Nun aber spürte er, wie diese Anspannung von ihm abgefallen war und einer traurigen Ruhe oder ruhigen Trauer gewichen war. Er wusste nicht, ob die Trauer überwog oder die Ruhe. Vielleicht gehörten sie auch zusammen, wie die zwei Seiten der Münze. Jedenfalls begann er, sich in sein Schicksal zu fügen, sich abzufinden mit dem Gefängnis. Gefängnis bedeutete nicht nur Beschränkung der Freiheit sondern auch Rückzug auf und in sich selbst, Rückbesinnung und Konzentration.
Die Beschränkung der äußeren Freiheit machte Platz für die Eroberung der inneren. Die Einschränkung der äußeren Reisefreiheit öffnete nach innen die Horizonte für das Bereisen der Landschaften und Kontinente seiner Seele. Und wie auf Kommando stiegen in ihm auf die Bilder der Vergangenheit. Er begann zu ahnen, dass in ihnen, in ihrer Betrachtung aus einem anderen Blickwinkel, die Erkenntnis liegen könnte für das, was über ihn hereingebrochen war.
Noch wusste er nicht, wie er einen anderen Blickwinkel gewinnen konnte, wie er es anstellen sollte, anders auf die Bilder der Vergangenheit zu schauen als bisher. Aber offensichtlich hatte schon die Erkenntnis ausgereicht, dass das Geschehene anders betrachtet werden mussten, um für eine neue Betrachtungsweise offen zu sein. Allein die Erkenntnis, dass anders gesehen werden muss, reichte schon, um anders zu sehen. Wie wenn alleine dieser Startschuss der Erkenntnis gefehlt hätte, öffnete sich das Bilderalbum seines Lebens an einer Stelle, die er sich schon so oft wieder angesehen hatte, seit Münsch wieder in sein Leben getreten war. Doch schien nun der altbekannte Film unter veränderten Bedingungen abzulaufen. Er sah ihn anders. So wie zwei Fußballfans dasselbe Foul vollkommen verschieden sehen, wenn sie Anhänger des jeweils anderen Vereins sind oder von verschiedenen Stellen des Sportplatzes die Situation betrachtet haben. Die Bilder ordneten sich neu und ergaben einen neuen Sinn, von dem er noch nicht ahnen konnte, zu welcher Erkenntnis sie ihn führen würden.
Dem verkopften Intellektuellen und Oberstudienrat fiel es nicht leicht, sich einer ungewohnten inneren Macht hinzugeben, die nicht auf rational Fassbarem beruhte. Für ihn hatte immer nur die Vernunft gegolten oder das, was er dafür gehalten hatte. Nicht Beweisbares war ihm immer suspekt gewesen, auch wenn er als Religionslehrer eher ein Mann des Glaubens war. Der Glaube, besonders der christliche, war für ihn nichts Unlogisches, sondern in höchstem Grade logisch und deshalb auch wissenschaftlich. Und ging es wirklich argumentativ nicht mehr weiter, so fand man in Papst und Gott selbst immer eine Instanz, die unantastbar war und außerhalb eines jeden Zweifels stand. Aber nun sollte er sich einlassen auf Ahnungen, Gefühle, Stimmungen, also nicht menschliche sondern eher animalische Regungen?
Und doch! Wenn auch die Zweifel groß waren, mit denen sich seine Vernunft immer wieder zu Wort zu melden versuchte, so hatte sie dem nichts entgegenzusetzen, was aus der Tiefe seines Inneren nach oben drängte. Hier war eine Kraft am Werke, die älter war als die Vernunft. Hier sprach die Kraft, die der Menschheit über Jahrmillionen das Überleben gesichert hatte: das Gespür mit seiner Ahnung für die Bedrohung und dem Geruch des nahenden Gewitters, das Gespür mit seiner Wahrnehmung unmerklicher Erschütterungen als Vorboten der Erdbeben, seinem Spüren der Anspannung, die von auflauernden Feinden ausging. Und weil man keine andere Bezeichnung für all diese Erscheinungen hatte, hatte man sie zusammengefasst unter dem Begriff des Siebten Sinns. Und eben dieser Siebte Sinn sagte ihm selbst in der verstümmelten Form, in der er bei Dr. Gustav noch vorlag, dass alles, was ihm widerfahren war, damit zusammenhing, dass Münsch wieder in sein Leben eingedrungen war.
Sie hatten sich kennengelernt während des Studiums. Sie waren beide Mitglied des Christlichen Studentenverbandes der Christlichen Partei gewesen. Sie standen beide fest auf dem Boden der herrschenden gesellschaftlichen Grundordnung, von der sie rückhaltlos überzeugt waren. Zwar äußerten auch sie gelegentlich Kritik, was ihnen in ihrer Partei den Ruf von Jungen Wilden oder Christlichen Rebellen eintrug. Aber diese Kritik war eher pubertär, als dass sie die wesentlichen Fragen der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft oder der Welt thematisiert hätte.
Ungerechtigkeit sahen die beiden eher in unterschiedlichen Aufstiegschancen, die der eine oder andere aufgrund guter Beziehungen hatte. Ungerecht empfand man auch, wenn Frauen langsamer in Führungspositionen kamen als Männer oder seltener. Gelegentlich wurde auch unterschiedliche Bezahlung als Ungerechtigkeit empfunden, war aber im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung schon nicht mehr von so großer Bedeutung. Ihr Antrieb für politische Betätigung waren Ansehen und Anerkennung, nicht Lohn und Lebensgrundlagen.
Natürlich musste man sich als Parteivertreter an den Universitäten auch mit den Kernfragen des Studentenlebens auseinandersetzen, den Studienbedingungen, wollte man nicht total ins politische Abseits geraten. Denn an dessen Auslinie lief man ohnehin als christlich-konservative Jugendorganisation immer auf und ab. So hatten sowohl Gustav als auch Münsch die Proteste der Studenten gegen die Verschlechterung der Studienbedingungen unterstützt ganz zum Leidwesen der Oberen ihrer Partei, die zu der Zeit die Regierung des Landes stellte.
Nicht dass die Proteste eine große Bedeutung für die Stabilität des Gemeinwesens gehabt hätten. Dafür war die Studentenschaft gesellschaftlich zu unbedeutend. Auch die Teilnahme der eigenen Jugendorganisation an diesen Auseinandersetzungen, die hie und da auch einmal zu kleineren Krawallen und Polizeieinsätzen führten, hatte der Partei keinen Schaden zugefügt. In Jahrzehnte langer politischer Auseinandersetzung und den beigelegten Erschütterungen der Studentenbewegung nach 1968 war man geübt darin, Protest zu integrieren oder aufzureiben.
Aber es brachte immer wieder etwas Unruhe in die eigenen Verbände, was man immer gerne vermied, zumal wenn Wahlen anstanden. Man wollte Ruhe im eigenen Laden. Alles sollte ungestört weiterlaufen wie bisher ohne Reibungsverluste durch Diskussionen oder gar Auseinandersetzungen in den Gliederungen der eigenen Partei. Man wollte in der Öffentlichkeit um alles in der Welt den unerwünschten Eindruck mangelnder Geschlossenheit vermeiden. Die Leute im Land wollten Ruhe, ein gutes Einkommen mit jährlicher Lohnsteigerung und einmal im Jahr Urlaub im Ausland. Dafür wählten sie schließlich die Regierung, die all das garantieren sollte und vielleicht noch ein wenig mehr. Und in dieser Regierung wollte man keine Partei haben, in der man sich vielleicht gegenseitig verkloppte wie die Kesselflicker. Wie sollte man denen zutrauen, dass sei ein Land in Ruhe regieren, wenn sie selbst untereinander nicht miteinander klarkommen? Die Linken konnten sich gerne untereinander an die Gurgel gehen, das sah man nicht ungern, aber nicht bei uns Christlich-Konservativen. Ende der Durchsage.
Nun wollte es aber das launische Schicksal, dass sich diese christlichen Rebellen, die jungen Wilden berufen fühlten, die Menschheit zu retten. Sie wollten einen ungeheuer wilden Antrag im übergeordneten Parteigremium stellen, der in der unerhörten und nahezu umstürzlerischen Forderung gipfelte, das Gremium möge doch erwägen, darüber zu beschließen, den Antrag auf dem übergeordenten Gremium zu stellen, dass auf dem nächsten Bundes-Parteitag eine Beschlussvorlage erwogen werde zur Abstimmung über die Frage, ob nicht der Parteitag beschließen möge, die Verschlechterung der Studienbedingungen zurückzunehmen und sich eventuell sogar zu einem Beschluss zur Verbesserung dieser Studienbedingungen durchringen könne. Also auf Deutsch gesagt: Es ging um nichts.
Besonders Münsch und Gustav hatten sich für diese Forderung stark gemacht. Zwar enthielt sie nichts Umstürzlerisches, wurde aber trotzdem von den beiden als höchst heikle Angelegenheit angesehen. Sie vermuteten darin eine gewaltige politische Brisanz und gefielen sich darin, sich deshalb auch als wirkliche Rebellen anzusehen. Auch wenn sie es sich selbst nicht eingestanden, so fühlten sie sich doch ein wenig wohl in der Rolle der jungen Wilden, des Bürgerschrecks, wenngleich sie unterschiedliche Motive dabei hatten.
Gustav wollte einfach Gutes tun. Er war getrieben von seinem christlichen Weltbild und einem altbackenen Gefühl für Gerechtigkeit, das auch etwas von oben herab kam. Er wollte für andere dasein, die sich vielleicht nicht so gut helfen konnten, wie er dazu in der Lage war. Er verstand es gut, zu argumentieren und sich so auszudrücken, dass man dahinter einen großen Gedanken vermuten konnte. Das beeindruckte sein akademisch-intellektuelles Umfeld.
Münsch war intellektuell einfacher gestrickt. Aber er konnte die Menschen gewinnen mit seiner umarmenden Art. Witz war ihm nicht fremd. Zudem verfügte er über eine gewisse rücksichtslose Respektlosigkeit, die nicht unangenehm, eher amüsant war. Er gewann, weil er die Lacher auf seine Seite ziehen konnte, wenn ihm die Argumente ausgingen oder wenn er seine Unkenntnis der Materie sonst hätte offenlegen müssen. Insofern ergänzten sich Münsch und Gustav gut und es gelang ihnen sogar, einen gewissen politischen Einfluss unter den Studenten zu erringen. Das kam zu ihrer Zeit für Konservative an der Universität schon fast den Erfolgen der bemannten Raumfahrt gleich.
Noch mehr stieg ihr Ansehen, als dann öffentlich wurde, dass die übergeordnete Parteiinstanz sich über den Antrag der beiden ganz und gar nicht amused gab und sie ermahnt hatte, sich ihres parteiunwürdigen Verhaltens bewusst zu werden. Sie errangen fast den Status von Helden kurz unter der Bedeutung von Che Guevara. Besonders Münsch genoss diese Popularität, die er in erster Linie der intellektuellen Kraft Gustavs zu verdanken hatte. Diesen hatte er mittlerweile in seinen Schatten abgedrängt, je mehr sie umjubelt wurden. Gustav freute sich still. Eigentlich freute er sich gar nicht. Er erfüllte nur seine Pflicht als guter Christenmensch. Er sah es als seine vornehmste Aufgabe an, bescheiden Gutes zu tun.
Man kam voran und je mehr ihre Unterstützung an der Uni und ihre Bekanntheit wuchsen, umso mehr juckte die Parteioberen der Antrag, den die beiden für den Parteitag vorbereitet hatten. Diesen hätte man natürlich brav zulassen können, brav zur Abstimmung stellen und dann brav abschmettern könne. Das war eine erfolgreiche Variante des Umgangs mit missliebigen Anträgen. Das wäre aber unter der Studentenschaft, der Zukunft des Landes und an den Wahlurnen, vielleicht nicht so gut angekommen. Besser wäre es, das Ganze vor dem Parteitag absaufen zu lassen. Das war die zweite Variante im Umgang mit missliebigen Vorgängen.
So traf sich denn der Ortsvorsitzende der beiden mit dem nächst höheren Parteivorgesetzten, dem Kreisvorsitzenden ihrer Partei. Beide wollten sie gerne die Geschichte so schnell wie möglich aus der Welt geschafft sehen. Insofern herrschte Identität der Interessen zwischen den beiden, d.h. man konnte offen reden und brauchte nicht lange um den heißen Brei herumzulaufen. Man war sich einig, dass das Verhalten für die Partei schädlich sei und sicherlich vom politischen Gegner ausgenutzt würde. Das musste natürlich um alles in der Welt verhindert werden nicht nur im Interesse der eigenen Partei sondern auch des Landes. Zwar wäre den beiden nichts vorzuwerfen, sie meinten es sicherlich nur gut und man selbst war ja auch mal jugendlicher Rebell, auch wenn es schon einige Jährchen her sei. Aber gerade aus eigener Erfahrung wisse man ja, wie schädlich jugendlicher Eifer sein könne. Wenn man sie jetzt etwas zurückstutze, die beiden Heißsporne, so war das nur zu ihrem eigenen Besten und in deren Interesse, auch wenn sie die jetzt noch nicht klar sehen könnten.
Wie weit die beiden Parteimänner selbst glaubten, was man sie da redeten, war nicht klar zu erkennen. Aber es war auch unerheblich, ob geheuchelt wurde oder man ernsthaft so dachte, das Ergebnis war dasselbe und darauf kam es an. Man wusste, was gemeint war und was getan werden müsse. Die beiden musste dazu gebracht werden, klein beizugeben und aufzuhören mit dem rebellischen Spuk.
Der Ortsvorsitzende bekam den Auftrag vom Kreisvorsitzenden, die notwendigen Schritte einzuleiten. Nach eingängiger Besprechung der Lage war man übereingekommen, Münsch einen guten Listenplatz bei den nächsten Wahlen in Aussicht zu stellen, was sowohl der politischen als auch der beruflichen Karriere sicherlich sehr förderlich wäre. Wenn auch noch keine bezahlten Mandate dabei herauskommen würden, so war aber damit dann der erste Schritt gemacht in Richtung auf die gut gefüllten Fleischtöpfe. Man sollte dem Münsch zu verstehen geben, dass etwas aus ihm werden könnten, wenn er sich richtig verhielt.
Gustav, so war man übereingekommen, war kein Mann für die Politik. Er war zu fanatisch, was eine Umschreibung dafür war, dass er nach Wahrheit suchte und Werte leben wollte. Die wurden zwar in den Sonntagsreden der Parteivorsitzenden immer gerne hinausposaunt, im alltäglichen Politikbetrieb aber waren sie eher hinderlich, wenn nicht sogar schädlich. Das wussten die beiden Funktionäre selbst am besten, wenn es auch nicht so offen ausgesprochen wurde. Aber beiden war klar, was gemeint war. Und wie der Ortsvorsitzende das einfädelte, war dem Kreisvorsitzenden egal. Das Ergebnis zählte. Man hatte keine Eile, sodass keine übereilten Aktionen unternommen werden sollten, die nur unnötigen Staub aufwirbelten. Aber es sollte auch nicht auf die lange Bank geschoben werden, was eine Umschreibung war dafür, den geeigneten Moment abzuwarten. Und der kam.
Zuerst war Münsch vom Ortsvorsitzenden zur Seite genommen worden. Bei einem Bier nach einer der Versammlungen eröffnete ihm dieser, dass man mit seiner Arbeit sehr zufrieden sei und man für ihn eine große Zukunft in der Partei sehe. Man könne sich den Münsch ohne Weiteres bei den nächsten Wahlen zu diesem oder jenem Gremium auf einem aussichtsreichen Listenplatz vorstellen. Nur betrachte man weiter oben seine Nähe zu diesem Gustav mit einem gewissen Argwohn. Denn den halte man für einen fanatischen Eiferer.
Münsch solle ihn, den Ortsvorsitzenden, aber nicht falsch verstehen, man stehe voll und ganz hinter ihnen, schließlich sei man ja auch mal jung gewesen, was mit einem kräftigen, männlichen Hieb auf die Schulter und einem zu lauten Lachen noch unterstrichen wurde. „Ich will dir gar nicht erzählen, was wir früher alles so getrieben haben. Dagegen seid ihr reine Chorknaben.“ Aber man müsse auch wissen, wo die Grenzen liegen.
Münsch ging still und nachdenklich, was sonst nicht seine Art war, und der Ortvorsitzende wusste, dass er nun den Haken im Maul hatte, an dessen anderem Ende er die Angel hielt. Von all diesen Vorgängen hinter seinem Rücken hatte Gustav nichts gewusst. Er hätte sich auch nicht vorstellen können, dass solche Überlegungen und Intrigen von Leuten initiiert wurden, die in derselben Partei waren wie er. Er hielt alle für ebensolche selbstlosen Christen, die wie er nur nach dem Guten strebten im Einklang mit den Werten, für die er seine Partei zu stehen glaubte.
Wieder war es zu Protesten in der Universität gekommen, bei denen es dieses Mal zu einem Handgemenge kam, eigentlich bedeutungslos, aber der Anlass, den man brauchte. Die beiden wurden zum Ortsvorsitzenden gebeten, der ihnen eröffnete, dass man vonseiten der Universität an ihn herangetreten sei mit der Bitte, mäßigend auf die beiden einzuwirken, die unter anderen als Rädelsführer ansehen wurden. Man wolle vonseiten der Uni-Leitung eine weitere Eskalation vermeiden. Man sei auch den anderen Studenten verpflichtet, die lernen wollten, und könne nicht nur die sicherlich berechtigten Interessen der Protestierenden (man war ja schließlich auch einmal jung) im Auge haben.
Dr. Gustav ließ an der Decke seiner Zelle wieder die Bilder des damaligen Zusammentreffens ablaufen wie einen Film. Jedes Detail konnte erinnern. Aber erst jetzt wurde ihm eigentlich bewusst, wie einschneidend für ihn das Erlebnis dieses Abends gewesen sein musste, dass er selbst über Jahre hinaus noch sich so daran erinnern konnte, als wäre es erst vor wenigen Tagen geschehen. Er sieht sich in der vertraulichen Runde mit Münsch und dem Ortsvorsitzenden. Man trinkt, plaudert, scherzt ein wenig, alles nicht so richtig herzlich, eher der bemühte Versuch, eine gute Atmosphäre zu schaffen.
Nach anfänglicher Diskussion um die Sichtweise der Uni-Leitung, die Haltlosigkeit ihrer Befürchtungen und all dem langatmigen Für und Wider, legte der Ortsvorsitzende die Karten auf den Tisch. Die Partei sei beunruhigt über die Vorgänge an der Universität und besonders darüber, dass eigene Mitglieder als maßgebliche Rädelsführer in die Vorgänge verwickelt seien. Man fordere deshalb von Münsch und Gustav eine Verurteilung der Vorfälle und dass sie sich fürderhin aus den Auseinandersetzungen heraushielten, damit die Partei in der Öffentlichkeit keinen Schaden erleide.
Münsch hatte sich den ganzen Abend auffällig zurückgehalten. Nun begann Gustav in seiner gewohnt wortgewandten Art wieder die Diskussion von neuem über die Einschätzung der Vorgänge und die Haltlosigkeit der Vorwürfe. Aber der Funktionär wollte nun keine weiteren intellektuellen Seiltänze mehr, er wollte Bekenntnisse, und er wollte sie von Münsch. Der sollte sich distanzieren, dem Gustav in den Rücken fallen, ihn fallen lassen und damit auch dem Protest eine Spitze abbrechen.
Gustav war keiner, dem die Herzen zuflogen, mit ihm konnte die Partei nichts anfangen. Der konnte nicht mit den Leuten umgehen, auch wenn er brillant reden konnte. Aber er war zu naseweis, wirkte überheblich und selbstgerecht in seinem christlich-reinen Auftreten. Die Menschen wollen keine Heiligen sondern Handwerker, die den Laden in Schwung halten, Handfestes, keine blutleeren Intellektuellen mit Martyrergehabe. Sie wollen niemanden, der sie belehrt, sondern jemanden der anpackt. So einen wie Münsch. Aber Münsch schwieg.
Auch er mochte den Gustav nicht sonderlich. Er hatte nichts gegen ihn, er benutzte ihn. In dessen rhetorischen Gewandtheit war Münsch zuerst mitgesegelt auf der Woge der Zustimmung der Mitstudenten, wobei ihm mehr an der Zustimmung der Studentinnen gelegen hatte. Münsch war bei ihnen zu einem nicht gerade begehrten, aber doch gern gesehenen Kommilitonen herangereift. Das hatte ihm sehr gefallen und ihm auch so manches kleine Abenteuer eingebracht. Gustav dagegen war eher spröde geblieben. Er nahm es noch nicht einmal wahr, wenn eine ihn anhimmelte oder seine Nähe suchte. Er hatte sie eher vertrieben mit seinem altklugen Gequatsche. Er erkannte nicht den Moment, wo die Worte schweigen und die Hormone sprechen mussten.
Aber nun hing Münsch zwischen den Stühlen. Sollte er zu diesem blutleeren Gustav halten oder lieber an die Listenplätze denken, mit denen die Partei gewedelt hatte, und an seine Karriere? Die Aussichten standen nicht schlecht. Und wenn’s mit dem Studium nicht klappte, lockte vielleicht ein gut dotierter Parlamentssitz oder für den Anfang vielleicht auch nur einige Etagen darunter, aber immerhin etwas Warmes unterm Hintern. Aber so wie seine Gedanken trieben, war bereits klar, wofür er sich entschieden hatte. Er wollte vorankommen. Nur musste ein Weg gefunden werden, es dem Gustav klarzumachen und dabei selbst nicht als Charakterschwein dazustehen. Er entschied sich für die Offensive mit Vorwürfen.
Gustav hatte sich schon klar davon distanziert, dem Wunsch des Ortsvorsitzenden zu folgen und die Vorgänge zu verurteilen. Er fühlte sich im Recht mit den anderen Studenten und bezichtigte die Universitätsleitung der Hetze. Er hatte sich damit genau so verhalten, wie es den Plänen des Ortsvorsitzenden in den Kram passte. Nun musste nur noch Münsch umfallen und dann war die Birne geschält. Aber Münsch ließ sich Zeit.
„Was ist, Münsch? Denk an das Angebot, das die Partei Dir gemacht hat. Oder hast du kein Interesse mehr?“ Fassungslos schaute Gustav den Münsch an, ungläubig, überrascht. Das war ein geschickter Schachzug eines alten Hasen im Politgeschäft gewesen, was der Vorsitzende da gerade den beiden aus seiner Trickkiste hervorgezaubert hatte. Mit wenigen Worten hatte er das Vertrauen vernichtet, was in der letzten Zeit zwischen Münsch und Gustav entstanden war, wenn es auch nicht viel war, zugegebenermaßen. Aber das wenige war mit einem Schlag zerstört. Gustav wusste nun, dass hinter seinem Rücken gemauschelt, gegen ihn gearbeitet worden war. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, der Zweifel war gesät und den würde Münsch in so kurzer Zeit nicht aus der Welt schaffen können. Das würde auch nur dann gehen, wenn er sich jetzt offen gegen den Ortsvorsitzenden stellte. Aber dann könnte er sich seine Parteikarriere aus dem Kopf schlagen. Das alles war Münsch schlagartig klar geworden.
Und deshalb gab es auch für ihn nun kein Zurück mehr, sondern nur noch die Flucht nach vorne. „Ich habs dir ja immer gesagt, dass Du es zu weit treibst, du mit deinem Gutmenschentum, deiner christlichen Hilfsbereitschaft im Dienst am Nächsten, mit deinem Mutter-Theresa-Getue, deiner erdrückenden Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit. Sogar mit den Linken und Roten hast du dich eingelassen um der guten Sache willen. Dabei geht es dir in Wirklichkeit doch nur darum, vorne auf dem Podium zu stehen, damit dir alle zujubeln und dich in deren Bewunderung suhlen kannst. Alle Welt soll deine tollen Redebeiträge bewundern. Ich hab keine Lust, Opfer deiner Eitelkeit zu werden. Ich hab keine Lust, immer als dein Anhängsel betrachtet zu werden und dann für dich den Kopf hinzuhalten und vielleicht mit den Bullen Ärger zu kriegen. Du kannst mich mal mit deiner Opferbereitschaft und Selbstgefälligkeit.“
Münsch war aufgesprungen und raus aus der Tür. Gustav saß still und fassungslos. Er verstand nichts, absolut nichts. Alles das kam für ihn aus heiterem Himmel, nichts hatte er vorher geahnt von all dem, was jetzt über ihn ausgeschüttet worden war. Und als er nun so da lag in der kärglichen Zelle auf seinem einfachen Bett, da spürte er zum ersten Mal den tiefen Schmerz, den dieser Auftritt ihm zwar verursacht hatte. Aber er hatte ihn damals nicht wahrhaben wollen. Stattdessen war er geflüchtet in seine verzeigende Nächstenliebe, die Überheblichkeit des Vergebens.
Gustav hatte nicht in Wirklichkeit vergeben, er hatte beschämt. Er beschämte den Münsch mit seinem Großmut und seinem zur Schau getragenen Leid des Märtyrers, des zu Unrecht Beschuldigten, der aber verzeiht trotz des ihm zugefügten Leids. Dr. Gustav erschrak ein wenig. Denn er musste feststellen, dass der Münsch gar nicht so Unrecht gehabt hatte. Da war etwas dran an dem Vorwurf, nur hatte er es bisher nicht gesehen, verfangen in seiner Selbstgefälligkeit. Vielleicht hatte er es auch nicht sehen wollen. Er war nicht das Opfer, dem Leid zugefügt worden war. Er selbst tat es auch, nur anders und ohne dass er es gemerkt hatte. Er vermittelte Schuldgefühle, er beherrschte durch Schuldgefühle.
Er hielt den Atem an bei diesem Gedanken, bei dieser schrecklichen, unglaublichen Wahrheit. Er war nicht nur Opfer, er war auch Täter, unterschwelliger als Münsch, aber umso schwieriger zu erkennen. Und noch schwieriger war es, sich dagegen zu wehren. Seine Mittel waren das Gift der gutgemeinten Taten, der Hilfsbereitschaft, der scheinbaren Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung für die gute Sache oder das Gute schlechthin.
Gegen den Münsch mit seiner polternden Art konnte man angehen, ihn in die Schranken weisen, gegen ihn auftrumpfen und mit gleicher Münze zurückzahlen. Das war bei Gustavs vor sich hergetragenen Selbstlosigkeit nicht so leicht möglich. Wer gegen ihn auftrat, setzte sich ins Unrecht, weil man gegen jemanden auftrat, der es doch gut meinte. Seine Widersacher hatten schon verloren, sobald sie überhaupt gegen ihn das Wort erhoben und Kritik übten. Er unterdrückte mit der Sanftheit, die keine Kritik zulässt, die die offene Auseinandersetzung in das schlechte Licht und den Vorwurf der Aggressivität rückt.
Nachdenklich drehte Dr. Gustav sich zur Seite, zog die Beine an wie der Embryo im Mutterleib. Er zog sich förmlich in sich zusammen, verkroch sich in sich selbst. Sein Gesicht berührte seine Knie, seine Arme umfassten sie, und ein kurzer reißender Schmerz schoss durch seine Seele, ließ ihn den Mund aufreißen, aber ließ den Schmerz noch nicht hinaus. Der Schrei blieb tonlos und sank dann wieder in sich zusammen, leicht entkräftet, aber doch erleichtert. Trotz seiner wunden Seele spürte er eine warme Traurigkeit in sich, der er sich hingab, weil er merkte, dass sie ihm gut tat. Sie erlöste und versöhnte ihn mit sich selbst. Ruhe kehrte ein, die Vorwürfe in ihm, Vorwürfe gegen sich, gegen seine Umwelt, wurden leiser und ließen ihn einen kurzen Moment in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen hinüberdämmern.
Noch immer lief das Kopfkino seiner Bilder aus der Vergangenheit. Aber das Heiße und Aufregende war aus ihnen gewichen, der eigentliche Konflikt in dieser Erinnerung war ausgestanden. Der Rest der Studienzeit floss vor seinen Augen vorbei wie ein träger Strom, an dessen Ufer er teilnahmslos stand, den Schiffsverkehr beobachtend.
Die letzten Erinnerungen an Münsch, dem er seit dem Treffen beim Ortsvorsitzenden aus dem Wege gegangen war, waren blass. Man begegnete sich nur noch zufällig. Die Aufregung unter den Studenten über die Studienbedingungen war einer Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen gewichen, sodass auch die politischen Zusammenkünfte immer seltener wurden. Münsch und Gustav verloren sich aus den Augen, persönlicher Kontakt war über die politischen Treffen hinaus ohnehin kaum entstanden. Und als Gustav sein Studium beendet hatte, verschlug ihn seine weitere berufliche Entwicklung in eine andere Stadt. Er verließ die Uni ohne sich noch einmal umzusehen. Er glaubte, hier alles erledigt zu haben. Nichts hielt ihn mehr zurück und nach vorne hin öffnete sich der Weg in eine angenehme Zukunft, die ihm freundlich zuzuwinken schien. Alles war bereitet.
Der Gefängnisalltag ließ ihm wenig Gelegenheit, seinen Gedanken nachzugehen. Das war sein Glück, auch wenn er das selbst noch nicht so sah. Gerade die Welt der Gedanken und der Theorien war doch immer sein wirkliches Zuhause gewesen. Doch wirkte sich diese neue Art der Auseinandersetzung und des Umgangs mit der Welt für ihn vorteilhaft aus. Nicht mehr das Nachdenken über die Welt war nun angesagt sondern das Zurechtkommen in der Welt, zudem in einer Welt, die ihm bisher vollkommen verschlossen gewesen war, eine Welt, die nicht viel gab auf das, was er für wichtig hielt.
Dennoch schossen bei den Verrichtungen des Alltags gelegentlich Bilder oder Sätze durch sein Hirn, die manchmal größte Wirkung zeigten, wenn auch nicht sofort. Aber sie deuteten etwas Neues an, so wie das ferne Wetterleuchten das Nahen eines Gewitters vorausahnen lässt, bis es dann endlich da ist und sich unmissverständlich aufdrängt mit seinen Blitzen, seinem Donner, seinem Sturm und Regen. So ging es auch manchen seiner Gedanken und Bilder, die sich als ein feiner Durchschuss durch sein Hirn angedeutet hatten, zu schnell und unklar, um sie festzuhalten und ihre Botschaft zu erkennen. Aber sie kamen wieder, kamen häufiger, kamen klarer, bis unübersehbar war, was sie ihm sagen wollten. Meistens tauchten sie dann auf, wenn der Alltag zur Ruhe gekommen war und er sich mit sich alleine befand.
Nach dem ersten Wiedersehen hatten Münsch und Gustav, der nun Dr. Gustav war, versucht, zwanghaft die alten Zeiten wieder zu bemühen. Man traf sich, aber man wurde nicht warm miteinander. Beide merkten, dass etwas zwischen ihnen stand. Beide wussten, was es war, aber keiner sprach es an. Jeder von beiden umging das Thema entsprechend den eigenen Stärken und Prägungen. Münsch gab den Erfolgreichen und Selbstzufriedenen. Er führte Dr. Gustav seinen bescheidenen Luxus vor, den ihm seine gehobene Position in der städtischen Verwaltung eingebracht hatte, ein Geschenk seiner Partei für seine langjährige Loyalität. Dr. Gustav begegnete ihm huldvoll und verzeihend, ganz der seinen Nächsten liebende Christ. Er bemühte sich so zu tun, als wäre nie etwas gewesen, und das, was gewesen war – na Schwamm drüber, nicht der Rede wert, wir alle machen Fehler. Mit Sicherheit hätte er so reagiert, hätte Münsch ihn auf die damaligen Ereignisse angesprochen. Aber der tat es nicht. Und so gingen sie beide einer Klärung dessen aus dem Weg, was zwischen ihnen stand.
Münsch hatte nach dem Ende seines Studiums nicht die in Aussicht gestellte Parteikarriere hinlegen können. Man gab ihm zwar den aussichtsreichen Listenplatz, ließ ihn auch vorankommen, aber nicht dorthin, wo er gerne hingekommen wäre. Er war nicht der Richtige und solange noch anderes Personal für die Partei zur Auswahl stand, nahm man lieber andere. Das ging ganz unauffällig, indem sich niemand fand, der ihn für höhere Positionen vorschlug. Und fand sich doch mal einer, der ihm gewogen war, so fanden auch die oberen Parteiebenen Mittel und Wege, diesen Vorpreschenden zurückzupfeifen. Man war schließlich geübt in diesem Geschäft des Förderns der Favoriten und des Blockierens der Missliebigen. Es klappte, ohne dass andere es merkten, man war halt Profi. Und wurde es doch auffällig, gab es immer schwammige Begriffe, mit denen man die versagte Förderung abstreiten, den Vorwurf als unbegründet und haltlos bezeichnen und den Münsch als Mann mit hervorragenden Fähigkeiten in den Himmel heben konnte. Das nützte ihm aber nichts, weil nicht in den Himmel wollte, sondern nur auf einen Platz, auf dem man warm saß und gut bezahlt war.
So war Münsch in der Hierarchie unterhalb der Ebene der gut gefüllten Töpfe in Warteposition hängengeblieben. Man hätte auch sagen können, in Lauerstellung. Das wurmte ihn, aber er verhielt sich ruhig, hatte man ihm doch auf anderem Wege diese gut dotierte Stellung in der städtischen Verwaltung besorgt. Die Ausschreibung auf die Stelle war so abgefasst gewesen, dass er als einziger in Frage kam, womit nach außen auch die Objektivität trotz seiner Parteizugehörigkeit gewahrt worden war. Alles war mit rechten Dingen zugegangen. Andere, die hätten Anstoß genommen haben können, wurden mit anderen Geschenken ruhig gestellt. So war denn jeder mehr oder weniger zufrieden. Denn so lief das Geschäft mit den guten Posten.
Münschs Konto und Bauch schwollen an. Bald nahm er eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung zur Frau. Mit der Heirat warfen sie ihre Einkommen zusammen und auch ihre Namen zu einer modernen Bindestrich-Ehe. Bald schwoll auch der Bauch seiner Frau. Es war also auch Liebe mit im Spiel gewesen, nicht nur Steuerersparnis. Es ging ihnen gut. Bald kam das Häuschen zum Kind, dann das zweite Kind, dann die Familienkutsche zu den Kindern. Alles fügte sich, alles passte. Die große Parteikarriere blieb zwar aus, für die er sich immer als den richtigen Mann angesehen hatte. Aber andere sahen das wohl anders. Dafür klappte es mit der Karriere im Beruf.
Bald ging seine Frau nicht mehr arbeiten, gut begründet, denn sie wolle sich ganz ihren Kindern widmen, weil doch gerade die ersten Jahre so wichtig seien für ihre spätere Entwicklung, und schließlich seien das ja auch die schönsten Jahre mit den Kindern, solange sie noch so klein seien. Selbstverwirklichung ginge - wissenschaftlich erwiesen - auch so, zu Hause bei den Kindern nicht nur durch Berufstätigkeit, was sie Jahre zuvor noch als vollkommen unvorstellbar dargestellt hatte. Damals ging Selbstverwirklichung nur durch Berufstätigkeit, die Anerkennung durch Arbeit und Kollegen und durch das entsprechende Einkommen, das Unabhängigkeit von einem Mann garantierte. Aber die Zeiten ändern sich, und mit den Zeiten auch die Theorien und die Argumente zu den Theorien.
Aber natürlich konnte sie sich niemals ein Leben als Hausmütterchen alten Stils vorstellen sondern nur als moderne, Kurse besuchende, Kindergarten- und später Schulfeste organisierende Powerfrau. Selbstverständlich für die moderne und verantwortungsbewusste Mutter war das Engagement in der Elternvertretung der Schule, auch die Kirchengemeinde durfte sich ihrer Unterstützung erfreuen, wo sie gerne Kulturabende mit weniger bedeutenden Künstlern auf die Beine stellte. Sie, der selbst keine künstlerische Begabung beschieden war, sonnte sich gerne in deren Talent.
Den unabdingbaren Aquarellkurs konnte sie natürlich vorweisen. Aber es hatte ihr die Geduld gefehlt, was sie eindeutig auf ihr Naturell als Powerfrau zurückführte, die immer etwas machen musste, nicht still sitzen konnte. Sie musste sich einfach immer irgendwo einbringen, ihre Hilfe anbieten. Nur Hausfrau und Mutter war ihr erklärtermaßen zu wenig. Für Mann und Familie blieb nicht allzu viel Zeit, weshalb ihr die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten auch ungeheuer wichtig waren. Abendtermine mussten sich dort,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3506-4
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