»Abbruch! Sofort!«
Kriminaloberkommissar Ernst Keller schrie in sein Funkgerät. Er hoffte, dass Scholz, der Leiter des Sondereinsatzkommandos, ihn überhaupt noch hörte. Die vereinbarte Funkstille hatte bereits vor einer Minute begonnen. Keller wusste, dass sich die Männer in diesem Augenblick um das alte Bahnwärterhäuschen verteilten und einige schon auf das kleine Vordach geklettert waren. Im nächsten Moment würden sie das Fenster vollständig einschlagen - es war ja bereits kaputt - und einen Flashbang, eine Blendgranate, hineinwerfen. Keller hatte die Zeichen lange nicht erkannt. Nach diesem Anruf wusste er jedoch, dass ›Knille Werner‹ im nächsten Moment - wie eine Biene im Todeskampf ihren Stachel einsetzt - einen Sprengsatz zünden würde. Dieser würde nicht nur den Beamten am Fenster, sondern auch noch weitere Kollegen in den Tod reißen.
Der Sprengstoffexperte Hermann Türmer hatte Keller nur wenige Sekunden zuvor darüber informiert, dass ›Knille Werner‹ nicht nur jahrelang als Sprengmeister bei einem norddeutschen Abbruchunternehmen gearbeitet hat. Wesentlicher war jedoch, dass er dort eine nicht unerhebliche Mengen eines Spezialsprengstoffs gestohlen hat. Eine auf Anraten der Polizei durchgeführte Überprüfung der Geschäftsunterlagen hatte ergeben, dass die entsprechenden Sprengberichte einschließlich der verbrauchten Sprengstoffmengen frisiert wurden.
›Knille Werner‹ hatte dann später, in den 90er Jahren, fünf Jahre wegen eines Sprengstoffanschlags auf die Garage seines Nachbarn im Gefängnis gesessen. Dieser Nachbar hatte immer vor dessen Haustür geparkt, ebenso seine zahlreichen Gäste. Irgendwann hatte ›Knille‹ die Nase voll und hatte das Problem ein für alle Mal und auf seine Weise gelöst. Noch in der Gerichtsverhandlung war er der Ansicht gewesen, dass der Nachbar durch sein Eingreifen eine exzellente Gelegenheit bekommen hatte, sich eine größere Garage zu bauen. Dass das kleine Mädchen, das just in diesem Moment mit ihrer Mama im Auto vorbeifuhr, verletzt wurde, war für ihn nicht mehr als ein Kollateralschaden. Auch dass das Kind durch umherfliegende Splitter sein rechtes Auge verloren hatte, schien ihn nicht weiter zu interessieren. Keller konnte nicht nachvollziehen, warum dieser Mann nicht zeitlebens in die Sicherungsverwahrung gesteckt wurde. Trotz intensiver Bemühungen wurde damals jedoch kein weiterer Sprengstoff gefunden.
Keller hatte eine lange Schrecksekunde, als er die Einzelheiten erfahren hatte. Doch noch war es nicht zu spät, noch konnte er seine Kollegen retten. Das hoffte er zumindest. Die Totenstille wurde nur von dem lauten Gurren mehrerer Tauben gestört. Doch dann gab es einen infernalischen Knall, eine der Tauben flog erschrocken auf und trudelte nach dem Zusammenstoß mit einem dicken Ast direkt neben Keller zu Boden.
Sonntagsausflug
»Nadeschda, fahr nicht allein in den Tunnel, du hast kein Licht an deinem Fahrrad.«
Polizeioberkommissar Kneipp hatte sich schon lange auf diesen Ausflug gefreut. Seine Frau Nadia fuhr an seiner Seite, den kleinen Niklas hinten auf dem Kindersitz. Kneipp war etwas ängstlich wegen der achtjährigen Nadeschda. Seine Älteste war schon, seit sie in Wülmersen auf ihr kleines rosa Kinderfahrrad gestiegen war, mit der ihr innewohnenden urwüchsigen Kraft losgerauscht. Alle drehten sich nach der kleinen Flitzerin um - kein Wunder, sie klingelte in einem durch. Zum Glück waren es bis zum alten Eisenbahntunnel nur wenige Minuten zu fahren. Kneipp wusste schon, dass die ›große Nadeschda‹ heute Abend wieder ihren kleinen Bruder ärgern würde, der dann den ganzen Tag gemütlich von Mama herumkutschiert worden war. Dabei war Niklas mit seinen fünf Jahren selbst noch zu klein, um selber zu fahren. Aber es würde noch einige Zeit vergehen, bevor Kneipps Große das verstand.
Sie kamen gerade an dem alten Bahnwärterhäuschen vorbei, als links vor ihnen eine Informationstafel auftauchte. Kneipp rief Nadeschda, die schon den Radweg nach rechts weitergefahren war, zurück.
Nadia wusste natürlich, was jetzt kam. Und wie auf ein Zeichen fing Kneipp an, zu erzählen.
»Die Carlsbahn wurde vor mehr als 150 Jahren gebaut und sie hat fast 120 Jahre die Bahnhöfe von Hümme und Carlshaven miteinander verbunden. Seit 1966 fährt sie nun leider nicht mehr, zeitweise konnte man mit ihr von Carlshaven bis nach Cassel in einem durchfahren.«
»Papa, bist du auch mit der Bahn gefahren?«, fragte Nadeschda.
»Nein, Schatz, da war ich doch noch gar nicht auf der Welt. Aber die Oma hat mir früher oft von den Dampflokomotiven und dem Deisler Tunnel erzählt.«
Sie fuhren weiter bis zum Tunnel. Nadeschda hatte im Gegensatz zu Niklas im Dunkeln große Angst. Das konnte man aber auch verstehen, schließlich konnte man von dem einen Eingang nicht einmal den Ausgang in 200 Metern Entfernung sehen. Der Tunnel machte eine Kurve, so dass nur die wenigen schwachen Lampen an den unteren Tunnelseiten für etwas Orientierung sorgten. Ihre Fahrräder hatten sie abgestellt und abgeschlossen, sie waren zu Fuß in den Tunnel gegangen. Nadeschda auf Kneipps Schultern, Niklas an der Hand seiner Mutter.
Als sie so durch den dunklen Tunnel spazierten, fiel Kneipp die alte Geschichte wieder ein. Eine Geschichte, die er lange verdrängt hatte. Eine Geschichte, die er Nadeschda jetzt auch lieber nicht erzählte. Es war die traurige Geschichte von dem Jungen, der beim Aussteigen in Wülmersen nicht warten konnte, bis der Zug zum Stehen gekommen war. Beim Abspringen - so wie er es bereits vorher einige dutzend Male getan hatte - war er hängen geblieben. Sein linkes Bein wurde von einem Rad erfasst und kurz oberhalb des Knies abgetrennt. Kneipp hatte einige Zeit, nachdem seine Großmutter ihm die Geschichte erzählt hatte, böse Albträume gehabt. Jetzt, in der fast vollkommenen Dunkelheit, kamen die Bilder der Kindheit zurück. Er brauchte nur die Augen zu schließen, schon konnte er den Jungen schreien hören. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn, er bekam eine Gänsehaut.
»Papa, warum gehen wir nicht weiter? Bist du müde?«
»Nein, Schatz, ich habe nur an etwas gedacht, was schon vor langer Zeit geschehen ist.«
Kneipp war froh, dass Niklas in diesem Augenblick unbedingt auf seinen Arm wollte. Sie tauschten die Kinder. Er war erleichtert, dass Nadeschda so schnell von ihrer Neugier abgelenkt wurde und ihre Fragen vergaß. Inzwischen waren sie in der Mitte des Tunnels angekommen. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, die Seitenbeleuchtung trug wenig zur Erhellung de Tunnels bei. Kneipp setzte seinen Sohn ab und drehte sich ab. Plötzlich erschall ein Käuzchenruf im dunklen Tunnel, der nicht nur die beiden Kinder überraschte. Auch eine ältere Dame fragte ihren Mann neugierig nach dem ›Vogel‹.
Den Kindern wurde es in der finsteren Tunnelröhre unheimlich, sie wollten auf einmal nur noch schnell wieder aus dem Tunnel hinaus. Kneipp und seine Frau Nadia konnten sie um keinen Preis dazu überreden, wieder durch den Tunnel zurückzulaufen.
Als sie gerade den schmalen und steilen Weg zum Diemelradweg hinabgingen, sah Nadia einen Mann durch das Gehölz oberhalb des Tunnels streifen. Als er sah, dass ihn jemand beobachtete, setzte er sich hin und nahm eine Flasche aus seinem Rucksack. Kneipp folgte Nadias Blick und dachte: »Na, bei all den Bäumen wird der Blick von dort oben ja nicht so dolle sein.«
Überraschender Einsatz
Etwa zur gleichen Zeit, als Kneipp mit seiner Familie den alten Eisenbahntunnel in Deisel erforschte, klingelte es in Kassel an einer Wohnungstür Sturm.
Als Kriminaloberkommissar Ernst Keller aufstand, hörte er das leise Röcheln der neben ihm unruhig schlafenden Angelika. Gestern hatten sie es endlich wieder einmal geschafft, zusammen in die Oper zu gehen. Es gab den Liebestrank von Donizetti, eine Oper, die ihm ausnahmsweise einmal gut gefallen hatte. Sie war nicht so traurig wie die anderen Bühnenspiele, die er sich Angelika zu liebe anschaute. Das Thema der Oper, die heitere Stimmung, der Schlummertrunk in Angelikas Wohnung sowie alles danach hatten sie lange nicht zum Schlafen kommen lassen. Noch einmal war es so wie früher, doch spürte Keller, dass die Beziehung zu Angelika an einem kritischen Punkt angelangt war. Der gestrige Abend war eine seltene Ausnahme, meist lagen sie wegen Kleinigkeiten im Streit. Total verschlafen zog Keller sich schnell seine Boxershorts und einen Bademantel an und stolperte zur Tür, als es gerade noch einmal klingelte.
»Mensch, ich komm ja schon«, fluchte Keller halblaut vor sich hin. Er öffnete die Tür.
»Rosa steht Ihnen gut, Chef. Wirklich.«
Engelchen, Kellers Assistentin Herta Engel, stand breit grinsend vor seiner Tür. In diesem Moment realisierte er, dass er sich in der Eile Angelikas Bademantel gegriffen hatte. Da sie sehr großgewachsen war, konnte er alle ihre nicht taillenbetonten Kleidungsstücke gut tragen. Ihre Wespentaille hatte er leider nicht.
»Engelchen, was wollen Sie heute und so früh hier?«
»Es ist immerhin schon halb zwölf. Und da ich Sie telefonisch nicht erreichen konnte, bin ich gleich vorbeigekommen. Ziehen Sie sich an, wir müssen nach Trendelburg.«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Es ist Sonntagmorgen und ich beginne gerade, mein Wochenende zu genießen. Ich bin nicht allein und wir wollen heute Nachmittag noch nach Wilhelmshöhe fahren. Heute Abend haben wir einen Tisch bei Luigi.«
»Pech, Chef, wir haben einen Fall, Befehl von der obersten Heeresleitung. Ich erkläre Ihnen die Einzelheiten im Auto.«
Keller brauchte einige Sekunden, bevor er seine Sprache wiederfand.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Christian Schneider
Bildmaterialien: Christian Schneider
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8138-9
Alle Rechte vorbehalten