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Prolog

Sonntag, 3. Juni 2012, gegen fünf Uhr morgens

Den Schatten, der im matten Licht der Straßenlaterne über sein Gesicht strich, nahm er nicht mehr wahr. Jörg Schultz schlief tief und fest auf dem frischgemähten Rasen, neben ihm eine ungeöffnete Flasche Dornfelder. Zuvor war er durch den großen Vorgarten die Treppen zum Haus seiner Eltern hinuntergestolpert. Ein verdächtiges Geräusch aus dem Gebüsch hatte ihn zwar kurz aufgeschreckt, er aber war, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, weitergetaumelt. Er scherte sich nicht darum, denn er war viel zu betrunken.

»Es war – Mist. Wo ist denn die Uhr geblieben? Hmmh, was soll’s, spät auf jeden Fall.«

Ernst sagte vorhin im Auto was von halb fünf. Er kam eben vom Jahrgangstreffen seines Grundschuljahrgangs. Viele der Gestalten hatte er über 20 Jahre nicht mehr gesehen. Kerstin hatte sie noch nach Hause gefahren. Sie, das waren Ernst, Susi und er. Ernst, der ist jetzt Polizist. Susi war und ist seine beste Freundin. Sie ist Sachbearbeiterin beim Landratsamt in Kassel. Kerstin arbeitet in Kassel in einer Bäckerei – oder war es eine Fleischerei? Egal, sein vordringlichstes Ziel war es, unfallfrei das Bett in seinem Jugendzimmer zu erreichen. Sicher hatte niemand etwas dagegen, wenn er sich erst einmal auf den frischgemähten Rasen setzte und in die Sterne blickte - nur einen Moment. Das ging natürlich in der Rückenlage viel besser, daher legte sich Jörg lang auf den schon etwas feuchten Rasen. Keine zehn Sekunden später schlief er den Schlaf der Gerechten. Nach dem Schlag zuckte er nur kurz zusammen.

Kapitel 1

Freitag, 1. Juni 2012, 17.37 Uhr

Hallo Zusammen!

Hat nicht jemand von euch Lust, am Vorabend unseres Jahrgangstreffen mit mir einen vergorenen Traubensaft oder eine Hopfenkaltschale trinken zu gehen? Meldet euch einfach unter 1337.

Viele Grüße, Ernst

 

Genauso hatte an einem Freitagabend, Anfang Juni 2012, für Kriminaloberkommissar Ernst Keller der ganze Ärger angefangen. Innerhalb von weniger als zehn Minuten bekam Keller die erste Antwort auf Facebook: Werner Kerstens, sein ehemals bester Kumpel aus Grundschultagen, saß im Eissalon Cortina direkt an der Hauptstraße und las den Pinnwandeintrag auf seinem Mobiltelefon. Die beiden verabredeten sich für den Abend, ein gemeinsamer Freund kam auch noch vorbei. Sie erlebten einen netten Abend im gut besuchten ›Fürstenkrug‹. Keller kam es gar nicht so vor, als hätten sie sich die letzten 25 Jahre nicht gesehen, geschweige denn nicht miteinander geredet. Den größten Teil des Abends verbrachten sie damit, die wesentlichen Erlebnisse des letzten Vierteljahrhunderts aufzufrischen. Keller erzählte vom Abitur in Hofgeismar und den sich daran anschließenden vier Jahren als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Seinem Wunsch entsprechend war er zu einer Fernmeldeeinheit gekommen und hatte den größten Teil seiner Dienstzeit in Pinneberg verbracht. Dort hatte er auch Christiane kennengelernt. Schon mit dem Thema Elektronik vertraut, nahm er nach der Militärzeit ein Elektrotechnik-Studium in Kassel in Angriff. Jedoch interessierte ihn, den Praktiker, die theoretisch ausgerichtete Elektrotechnik mit ihren vielen Differentialgleichungen schon bald nicht mehr. Daher schlug er einen anderen Weg ein. Auch, weil die Abfindung der Bundeswehr schnell verbraucht war. Von seinem Vater brauchte er keine Unterstützung mehr zu erwarten. Der frühpensionierte Finanzbeamte kümmerte sich nur noch um den Garten und seine größte Leidenschaft, das Angeln. Um finanziell unabhängig zu sein, bewarb Keller sich für eine Ausbildung an der hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Da er gleichzeitig in Hessen bleiben, jedoch so weit wie möglich von zu Hause weg sein wollte, ging er nach Wiesbaden. Keller begann ein Studium und wurde nach drei Jahren Kriminalkommissar. Vor drei Jahren hatte er sich wieder nach Nordhessen versetzen lassen, nun war Kassel sein Dienstort. Er wohnte auch dort - und damit so weit wie praktisch möglich von seinem Vater entfernt. 

Werner Kerstens hingegen war 1986 nach Berlin gegangen, um so der Bundeswehr zu entgehen. Er hatte im Lauf der Zeit etwas zugelegt und auch wesentlich weniger Haare als zu seinen besten Zeiten, als er einen blonden Zopf trug. Nach zehn Semestern Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität studiert arbeitete er nun in einer Werbeagentur. Trotz der Wende lebte er immer noch in Berlin, mit seiner Frau und den beiden Kindern.

An jenem Abend kamen sie stets auf die ›guten alten Zeiten‹ zurück. Man sprach über die ›alten Recken‹ früherer Tage.

»Wo treibt sich eigentlich Bernd Winter rum?«

Oder:

»Hast du mal was von Jörg Schultz gehört?«

Werner hatte Jörg Schultz vor einiger Zeit in Berlin getroffen. Dieser hatte beruflich dort zu tun. Keller fragte daraufhin neugierig nach, was sie in Berlin denn so getrieben hatten. Er kannte die Stadt ebenfalls ganz gut, schließlich hatte ein guter Freund von ihm lange dort gewohnt. Doch es schien, als wollte Werner diesem Thema ausweichen.

»Nichts Besonderes. Wir haben über die alten Zeiten und das Angeln geredet.«

Werner war seit frühester Jugend ebenfalls ein passionierter Angler. Keller dachte daran, wie oft er in Gesprächen zwischen Werner und seinem Vater als unwissender Dritter stumm danebensaß. 

Gegen zehn Uhr wankte Keller nach dem Genuss von drei Gläsern Wein glücklich nach Hause. Als er im Bett lag, fühlte es sich so an, als würde sich die Welt um ihn herum drehen.

Kapitel 2

Sonntag, 3. Juni 2012, morgens

Als Keller am Morgen nach dem Klassentreffen aufwachte, erkannte er schnell, dass er an diesem Tag wohl keine Bäume würde ausreißen können. Er schlief in seinem alten Zimmer im oberen Stockwerk seines Elternhauses. Sehr oft war er in den letzten Jahren nicht hier gewesen. Das Grundstück seiner Eltern lag am Stadtrand, ein kleines Haus mitten im Wald. Bis er sich entschieden hatte, Polizist zu werden, kam er immer gerne hierher. Es war ›seine Oase in der Natur‹. Das änderte sich, als er sich am Ende seiner Bundeswehrzeit mit seinem Vater überworfen hatte. Grund für das Zerwürfnis waren seine Berufswahl zum Polizisten und die Trennung von Christiane. Sein Vater hatte Kellers damalige Freundin sehr gemocht.

»So eine findest du nie wieder«, hatte er danach immer wieder zu seinem Sohn gesagt.

Mit seiner Mutter telefonierte Keller zweimal die Woche, war aber in den letzten Jahren nicht einmal mehr zu ihren Geburtstagen nach Hause gekommen. Hatte er mit seiner Mutter wenigstens noch telefonischen Kontakt, ging er seinem Vater konsequent aus dem Weg. Nahm Erwin Keller einmal das Telefon ab – was er zum Glück nur selten tat – gab er den Hörer unverzüglich an seine Frau weiter. Als diese jedoch hörte, dass ihr Sohn zum Jahrgangstreffen in den Ort kommen würde, hatte sie ihn sogleich zu einem Wochenende zu Hause verdonnert.

Langsam schlurfte Keller in seinem alten Trainingsanzug die steile Treppe hinunter und ging wie früher ins Esszimmer, wo der Tisch bereits für ihn gedeckt war. Er schaute auf die Uhr. Bereits Viertel nach zehn. Kerstin hatte ihn erst um Viertel vor fünf daheim abgeliefert.

Die Dusche hatte gutgetan, zum Frühstück bekam er Erdbeer-Rhabarber-Konfitüre, seine Lieblingsmarmelade und noch heiße Aufbackbrötchen aus dem Backofen. Seine Mutter leistete ihm Gesellschaft, sein Vater war beim Angeln. Gleich nach dem Mittagessen würde er, ohne seinen Vater noch einmal zu treffen, nach Kassel zurückfahren. Als er bei seiner zweiten Tasse Kaffee saß und müde die alte Kaffeekanne betrachtete, riss ihn das Telefon aus seinem Tagtraum von Prielblumen und Mainzelmännchen. Das Display des Handys zeigte eine ihm nicht bekannte Handynummer. Keller ging dran. Es meldete sich eine aufgeregte Frauenstimme.

»Hallo Ernst, ich bin’s, Susi. Komm bitte sofort nach Hofgeismar ins Krankenhaus, wir brauchen deine Hilfe.«

»Langsam, was ist denn passiert?«, fragte Keller.

»Jörg Schultz wurde heute Nacht niedergeschlagen und liegt nun mit einer schweren Kopfverletzung hier auf der Intensivstation.«

»Okay, ich bin unterwegs. Ist jemand bei dir?«

»Ja, Werner Kerstens, Heike Müller und Bernd Winter.«

»Gut, es ist wichtig, dass du jetzt nicht alleine bist. Bis gleich.«

»Wer war das?«, fragte seine Mutter neugierig.

»Susi, Susanne Gierke. Es ist dringend, ich muss weg.«

»Aber zum Mittagessen bist du wieder da?«

»Ich glaub nicht, Mama.«

Als er eine halbe Stunde später im Krankenhaus in Hofgeismar ankam, saßen die vier in der Cafeteria. Sie wirkten niedergeschlagen, Heike musste viel geweint haben, ihre Augen waren stark gerötet. Susis blonden Schopf erkannte Keller schon von weitem. Sofort nahm sie ihn zur Begrüßung in den Arm.

»Schön, dass du da

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Christian Schneider
Bildmaterialien: Christian Schneider
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6310-1

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