Der Regen donnerte sintflutartig auf die Dächer der Stadt. Sturzbäche eiskalten Wassers ergossen sich auf den Gehweg und die Straße mehrere Stockwerke weiter unten. In einem der Hauseingänge glomm kurz die Glut einer Zigarette auf, nur um eine Sekunde später von einem unerwarteten Regentropfen gelöscht zu werden. Ein kurzer Fluch folgte, es raschelte kurz und ein kleines Flämmchen trotzte dem Wind – kurz darauf trieb eine Wolke bläulichen Rauchs auf die Straße hinaus und zerfaserte langsam im Wind. Der erloschene Zigarettenstummel kullerte die kurze Treppe hinunter, sein vormaliger Besitzer beugte sich aus dem schützenden Hauseingang vor und blickte die Straße hinauf, nur um von einem plötzlichen Schwall Regenwasser durchnässt zu werden. Begleitet von einem weiteren Fluch fuhr er sich durch sein lichter werdendes Haar und schüttelte den Kopf. "Eine geschlagene Stunde...", brummte er vor sich hin. "Eine ganze verdammte Stunde, nur, weil sich die Herren von der Uni sich was für dich ausgedacht haben." Schlecht gelaunt versuchte er, sich das gestrige Gespräch in Erinnerung zu rufen, jedoch ohne Erfolg. Die Wortfetzen tauchten in seinem Gedächtnis auf und versanken wieder wie Fleischbrocken in einer trüben Suppe. Irgenjemand sollte ihn besuchen, soviel wusste er noch – und, dass er zwischen Acht und Neun Uhr zuhause sein sollte. Missmutig warf er einen Blick auf seine Uhr. Viertel nach Zehn. Er spähte erneut die Straße hinauf und stellte nüchtern fest, dass er soeben einer jungen Frau beinahe eine Kopfnuss verpasst hätte. Sein Gegenüber betrachtete ihn amüsiert und kaute lautstark auf ihrem Kaugummi herum. "Is' was?", fragte sie, während sie ihn eingehend, aber ohne besonderes Interesse, betrachtete. Der Mann im Hauseingang seufzte, murmelte ein knappes "Verzieh' dich, Punk." und kramte nach dem Mobiltelefon, das sich irgendwo in seiner Manteltasche verkrochen hatte, um seinen Besucher anzurufen. Die junge Frau neben ihm zuckte mit den Schultern, verabschiedete sich mit einem herzlichen "Pisser" und lief die Straße hinunter. Er dagegen wählte die Nummer und blickte der Punkerin in ihren schreiend bunten Strümpfen, ihrem Minirock und der Lederjacke hinterher, bevor er sich fluchend in den Hauseingang zurückzog – der Regen hatte noch immer nicht nachgelassen. Nicht allzuweit entfernt klingelte ein Telefon. "Oh nein, bitte nicht.", entfuhr es ihm. Wieder streckte er den Kopf in den nassen Vorhang und sah, wie die junge Frau ihr Telefon hervorholte und den Anruf annahm. Zeitgleich hörte er durch sein eigenes Mobiltelefon ihre Antwort. "Ja, was gibt's?" Wieder seufzte er. "Drehen sie sich um und kommen sie zu dem 'Pisser' zurück, Frau Bremer." Mit einem stummen Fluch auf den Lippen legte er auf. Das fing einfach großartig an. Rund zehn Minuten später saßen die beiden ungleichen Gestalten in seinem mit Notizzetteln und Bücherregalen vollgestellten Wohnzimmer. Die Punkerin – Jessica Bremer – hatte sich wenig elegant auf sein Sofa gefläzt und die bestiefelten Füße auf seinem Couchtisch überkreuzt, während er ihr gegenüber in einem abgewetzten Ohrensessel Platz genommen hatte. Als ihre Kaugummiblase platzte, nutzte sie die Gelegenheit, um ein Gespräch zu beginnen. "Du bist also der legendäre Professor Jennings." Sie fuchtelte mit den Händen herum, um ihre Übertreibung zu unterstreichen. "Ich hab' mir ja irgendwie mehr sowas 'Indiana Jones'-mäßiges vorgestellt." Jessica zückte eine Zigarettenschachtel und machte Anstalten, sich einen der Sargnägel anzustecken. "Nett, dass sie vorher fragen", er schob einen überfüllten Aschenbecher über den Tisch, "Aber ja, sie dürfen." Michael Jennings setzte seine Lesebrille auf und untersuchte seine Notizen über die junge Frau.. "Nun, Frau Bremer, ich finde hier keinen Grund, aus dem ich sie unterrichten sollte... und ich möchte ich bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass ich lieber gesiezt werden möchte, bis wir uns besser kennen." Jessica unterbrach ihre Bemühungen, das Feuerzeug in Gang zu bringen, und starrte ihn stirnrunzelnd an. "Ho, ganz ruhig. Du... sie", korrigierte sie sich, während sie die Augen verdrehte, "bist sicherlich nicht mein Fall. Dreck, das hier funktioniert nicht mehr...", beklagte sie sich und beförderte das defekte Feuerzeug in hohem Bogen hinter sich. Der Professor unterdrückte einen aufkommenden Wutanfall und schickte sich an, ihr ein Feuerzeug zu reichen, als er ihr eigentümliches Grinsen bemerkte. "Lass' stecken, ich hab' schon.", feixte sie und schnippte mit den Fingern.
Eine kleine Flamme leuchtete wenige Millimeter über ihrer Daumenkuppe auf und wanderte gemächlich ihren ausgestreckten Zeigefinger entlang. Sie zündete ihre Zigarette daran an und schüttelte die Hand, woraufhin die Flamme ebenso plötzlich verschwand wie sie gekommen war. Zurück blieben ein faszinierter Professor für moderne Magie in den Fünfzigern und eine Punkerin, die ihn duch den sich kräuselnden blauen Rauch angrinste. "Also, wie war das? Keine Ahnung, warum du mich unterrichten sollst, Professor?"
Jennings marschierte in seinem Wohn- und Arbeitszimmer auf und ab. "Die moderne Magie funktioniert nach streng logischen Prinzipen, Frau Bremer. Nach dem, was mir ihre bisherigen Lehrer berichtet haben, ist alles, was sie beherrschen, zu kaum mehr als Taschenspielerei oder bestenfalls Kunststückchen zu gebrauchen." Er sah die junge Frau missbilligend an. "Ich vermute, damit verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt. Jedenfalls," fuhr er schnell fort, um ihr Aufbegehren im Keim zu ersticken, "haben mich einige ihrer Dozenten darum gebeten, sie besser auszubilden." Der Professor unterbrach seinen Vortrag, um ihr einen Stapel Bücher neben die Füße zu legen. Ihr gelangweiltes Gähnen ignorierte er. "Hier hätten wir Brendts 'Grundlagen der Magie', Wychhetts 'Elemente – eine Abhandlung in vier Bänden' sowie Doraniews 'Magie in der Natur'." Der betagte Professor klopfte auf die Buchrücken. "Damit werden wir uns in den nächsten Wochen beschäftigen. Fragen bis hierhin, Frau Bremer?"
Die Punkerin setzte sich auf. "Jupp. Warum erzählen sie mir den ganzen Blödsinn? 'Magie ist streng logisch', pah. Bisher hab' ich's auch ohne Mathe und Physik hinbekommen, und jetzt fang' ich sicher nicht damit an." Jennings seufzte und rieb sich die Schläfen. "Also die Praxis. Folgen sie mir."
Rund eine Stunde später waren die beiden umgeben von verschwitzten Männern, die ihre Körper an diversen Fitnessgeräten stählten. Jessica sah sich mit leicht geröteten Wangen in der riesigen Sporthalle um. Einige der trainierenden Männer sahen ebenfalls zu dem ungleichen Duo am Eingang herüber, manche nickten, andere lächelten ihr zu.
Die Stimme des Professor riss die junge Frau aus ihren nur bedingt jugendfreien Gedanken. "Also, Frau Bremer", begann er, während er die Arme zu einer umfassenden Geste ausbreitete, "was glauben sie – warum schwitzen diese Männer?"
"Sie trainieren." lautete die Antwort. Ihre Aufmerksamkeit lag bei einem der Männer, der vor einem Spiegel stand und seine Schultermuskulatur beeindruckend zur Schau stellte, nachdem er ihr zugezwinkert hatte. Wieder holte Jennings die Punkerin in die Realität zurück. "Exakt. Ihre Körper wandeln selbstproduzierte und zugefügte Ressourcen – Augen zu mir, Frau Bremer – in Energie um. Was denken sie, was passiert, wenn diese Ressourcen erschöpft sind?"
Auch diese Antwort fiel knapp aus. Jessica wusste kaum, wo sie hinsehen sollte. "Sie kippen um?" "Wieder richtig. Wenn sie so nett wären..." Der ältere Man forderte sie mittels Gesten auf, ihr zu folgen. Sie gehorchte, wenn auch nur widerwillig.
Anschließend verschluckte sie beinahe ihren Kaugummi, als Jennings die Massageräume betrat und ihr die Tür offenhielt. "Wie sie sehen, erholen sich die Herren hier nach getaner Arbeit. Stören wir sie nicht weiter – folgen sie mir."
Die Punkerin blieb stehen. Als ihr Lehrer sie fragend ansah, hob sie protestierend die Hände. "Vergiss es, Professor – ich geh' sicher nicht in die Duschen. Was soll das hier überhaupt mit Magie zu tun haben?"
Mit einigen schnellen Schritten schloss sie zu ihm auf, als er ohne ein Wort zu sagen an den Duschen vorbeispazierte. Im Vorbeigehen versuchte sie heimlich, einen Blick durch die halb geöffnete Tür zu erhaschen.
In dem Raum, in dem sie und ihr Lehrer wieder voreinander standen, befanden sich – sehr zu Jessicas Bedauern – keine weiteren halbnackten Männer wie in den beiden vorherigen. Stattdessen warteten dort zwei sehr unbequem aussehende Stühle, ein Schreibpult und eine Tafel. Jennings bemerkte ihren verwirrten Blick. "Ich komme öfter her", erklärte er kurz angebunden.
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2010
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