Holger Thomas Lang
Der letzte Tag
Teil 4 Neue Macht
Jeder neue Anfang birgt die Gefahr auf dasselbe Ende, wenn man seine alten Fehler nicht zu verhindern weiß.
Anonym
Prolog
2. Dezember 2436
Rede des Präsidenten des Weltrepublikenverbundes (WRV), Johann Gröll
„Meine Damen und Herren. Ich wende mich heute an die gesamte Nation. Ich möchte Ihnen allen dafür danken, dass Sie uns unterstützt haben, eine der schlimmsten Diktaturen zu beenden. Sie werden sicher viele Fragen haben. Unter anderem vielleicht die Frage, was passiert nun?
Die Grenzen zu den Staaten, die unserer bisherigen Regierung - sagen wir - skeptisch gegenübergestanden haben, sind geöffnet. Wenn ich das Publikum hier sehe, haben sich bereits viele ... ähm ... Annäherungen vollzogen.“ Gelächter brandet auf. „Ich sehe es jeden Tag auf der Straße. Vor uns liegt eine schöne, erfolgreiche Zukunft. Vor uns liegen: Freie Wahl des Arbeitsplatzes, auch über die Grenzen hinaus, freie Meinungsäußerung, ein menschenwürdiges Staatswesen und Sie dürfen natürlich Ihr Vermögen behalten. Bis auf die Steuern natürlich, die wir Ihnen abnehmen werden.“ Gröll grinst, niemand nimmt Anstoß an seinem letzten Satz. „Das große Ziel, das verfolgt werden muss, ist der Weltfrieden. Es kann nur das Bestreben danach geben. Alle Menschen sollen frei leben. Die Reisefreiheit ist bereits jetzt fester Bestandteil des Alltags. Niemand in diesem Staat wird Angst haben müssen, dass er für seine Äußerungen verhaftet und gefoltert wird. Wir können uns auch der friedlichen Erforschung des Weltraumes widmen. Keine Überwachungsstationen mehr, sondern Stationen zum Schutz der Menschheit. Aber auch von dort aus, wenn Sie dort oben arbeiten, dürfen Sie natürlich Ihre Steuern bezahlen.“ Wieder Gelächter. Der Präsident wird ernst. „Aber wir alle müssen auch anpacken. Wir müssen aufräumen. Ich brauche die Mithilfe jedes einzelnen Bürgers. Es wird für viele ein hartes Stück Arbeit sein. Ich möchte meine kurze Ansprache für heute beschließen. Ich bedanke mich nochmals, dass Sie alle gekommen sind, beziehungsweise meine Rede an den Bildschirmen auf den Weltraumstationen und der Erde mitverfolgt haben. Vielen Dank. Kommen Sie gut nach Hause.“
Vier Jahre später
Kapitel 1
1. März
Norbert Schleifer
Ich stehe in der Schlange vor dem ehemaligen Gebäude der Agentur für letzte Angelegenheiten. Jetzt ist daraus die Agentur für Berufshilfe (AFB) geworden. Die Türen werden um Punkt 08:00 Uhr geöffnet.
Ich ziehe eine Nummer. Böse stelle ich fest, dass ich lange werde warten müssen. Was hat sich eigentlich geändert?
Ich war Arzt, sagte ich das schon? In einem Speziallager, das wie eine Ferienanlage aufgezogen war. Man hat mir meinen Titel und meine Lizenz aberkannt. Seitdem finde ich keine neue Arbeit mehr. Sie haben beim Hohlfelder-Verfahren meinen Namen herausgehalten. Aber was nützt mir das?
Ich nehme ein Buch zur Hand. Ich habe es mitgebracht. Das Leben verläuft entspannter, das muss ich zugeben. Aber nicht für mich. Wieso versteht niemand, dass ich damals nur meine Befehle hatte? Was wäre gewesen, wenn ich sie nicht ausgeführt hätte? Ich wäre genauso tot gewesen, wie jeder, der sich gegen Daniel Hohlfelder und seine Anhänger gestellt hätte. Doch, es hat auch Spaß gemacht, damals. Aber ich bin älter geworden und ich zahle jeden Tag den Preis dafür.
Ich entsinne mich an das letzte Vorstellungsgespräch. Ich wollte einfach nur Arbeit, irgendwas. Ich habe mich bei Worldnet, die immer noch so heißt, beworben. Worldnet programmiert jetzt Kamera-Software und Kleinkram für die ganze Welt.
Unweigerlich denke ich an diesen grauen Herbsttag zurück.
Ich warte im Vorzimmer des Personalchefs und fülle einen Personalbogen aus.
Der Mann lässt sich lange Zeit. Was macht der eigentlich in seinem Büro? Schreibt er seine Programme selbst?
Endlich werde ich vorgelassen.
„Guten Morgen, Herr Schleifer. Mein Name ist Königer. Bitte treten Sie ein.“
Ich betrete das große Büro.
„Bitte nehmen Sie Platz“, fordert mich Königer freundlich auf. „Kaffee? Oder Tee?“
„Bitte einen Kaffee.“
„Immer noch der ganz Harte, was?“ Er zwinkert mir zu, und in diesem Moment weiß ich bereits, dass das Gespräch gelaufen ist.
Königer füllt zwei Tassen aus einem Automaten. Er stellt meine Tasse vorsichtig vor mir ab. Milch und Zucker bietet er mir nicht an.
„Ein harter Bursche wie Sie, benötigt vermutlich keine Milch in seinem Kaffee.“
„Doch“, sage ich laut. „Kann ich bitte etwas Milch haben?“
„Jaja, das Herz ist auch nicht mehr das beste“, murmelt Königer und grinst.
Doch er bequemt sich dazu, mir ein paar kleine Milchdöschen zu meiner Tasse zu stellen.
„Sie möchten also bei uns arbeiten?“, beginnt Königer, nachdem er sich wieder gesetzt hat.
„Ja, sehr gern.“
„Haben Sie Erfahrung in der Computer-Branche?“
„Ich habe Kurse besucht. Die Dokumente liegen Ihnen vor, aber wenn Sie wollen, erkläre ich es Ihnen genauer.“
„Nicht nötig.“ Der Mann wird ernst. „Herr Schleifer, Ihre Kursabschlüsse sind sehr gut, das will ich Ihnen zugestehen, aber ...“ Er macht eine Kunstpause. Dann fährt er unerwartet fort: „Wissen Sie, warum ich Sie zu diesem Gespräch eingeladen habe?“
„Weil wir über eine Stelle sprechen wollen?“, versuche ich es.
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe Sie eingeladen, weil ich den Verbrecher einmal sehen wollte, der so viele Menschen gefoltert hat. Ich hatte noch nie das Vergnügen einem Mörder persönlich ins Gesicht zu sehen, wissen Sie?“
Ich trinke meinen Kaffee in einem Zug leer. Dann knalle ich die Tasse auf den Tisch. Ich hätte gute Lust, den Kerl mir gegenüber zu erwürgen.
„Darf ich Sie etwas fragen?“
Ich nicke nur.
„Wie fühlt man sich, wenn man einen Menschen verstümmelt und ...“
„Ich würde jetzt gerne gehen“, sage ich. „Vielen Dank für den Kaffee.“ Ich schaffe es, höflich zu bleiben.
„Schade, es hätte mich wirklich interessiert.“ Königer winkt ab. „Ich gebe Ihnen Ihre Unterlagen gleich wieder mit. Spart Versand, nicht wahr? Viel Glück auf Ihrem weiteren beruflichen Weg.“
Ich reiße die Mappe, die er mir hinschiebt, vom Tisch.
Selbstverständlich habe ich das bei der Berufshilfeagentur sofort gemeldet. Gespieltes Entsetzen aufseiten meines Sachbearbeiters. Er würde den Menschen anrufen, die Rechtsabteilung würde sich umgehend damit beschäftigen. Ich weiß, dass es nur leere Worte sind.
Ich merke, dass ich mein Buch immer noch ungelesen in der Hand halte. Langsam kriechen die Nummern vorwärts.
Dann bin ich endlich an der Reihe.
„Guten Morgen, Herr Schleifer“, sagt Clement, mein Sachbearbeiter, fröhlich. Bevor er weiterspricht, schiebt er mir einen Zettel über den Schreibtisch.
„Morgen“, sage ich müde.
„Nicht so trübsinnig, Herr Schleifer. Sie werden gebraucht. Auf diesem Stellenangebot steht eine Telefonnummer. Dort rufen Sie am besten gleich heute noch an.“
„Keine schriftliche Bewerbung?“
„Sie wissen ja, dass ich mich für Sie einsetze. Ich habe mich an diese Institution gewandt, weil sie jemanden mit Ihren Qualifikationen benötigen. Und was soll ich sagen? Sie sollen anrufen und mit Herrn Doktor Sparer sprechen. Ich bin sicher, diesmal wird es funktionieren.“
Ich nicht, denke ich. Ich verabschiede mich freundlich und gehe.
In meiner kleinen Wohnung, die durch eine staatliche Unterstützungsmaßnahme bezahlt wird, nachdem man mir mein Haus und mein Vermögen weggenommen hat, angekommen, wähle ich auf meinem TK sofort die Nummer, die auf der Stellenbeschreibung steht.
„Klinikum Bezirk drei“, meldet sich eine Stimme. Sie ist nicht freundlich, aber auch nicht unfreundlich.
„Mein Name ist Schleifer. Ich hätte gern Herrn Doktor Sparer gesprochen.“
Ohne ein weiteres Wort ertönt Musik.
„-rer“, meldet sich eine Männerstimme.
„Bitte?“
„Sparer“, wiederholt der Mann geduldig. Offenbar verzögert die dortige Telefonanlage, bis sie die Sprache weitergibt.
„Mein Name ist Schleifer. Ich rufe an ...“
Zu mehr lässt er mir keine Zeit.
„Herr Schleifer!“, ruft er erfreut. „Schön, dass Sie sich melden. Gleich vorweg. Jeder sollte eine zweite Chance erhalten. Deshalb kommen Sie bitte noch heute zu mir in die Klinik. Ich biete Ihnen die Möglichkeit, sich ein halbes Jahr als Arzt zu bewähren. Damit erhalten Sie automatisch die Lizenz zurück und würden dann auch weiterbeschäftigt.“
Ich kann mein Glück kaum fassen.
„Sind Sie noch da, Herr Doktor Schleifer?“
Kapitel 2
1. März
Daniel Hohlfelder
Wie viele Tage bin ich hier schon in der Leere des Raumes?
Wir haben den 1. März. Bin ich wirklich schon vier Jahre hier? Fast vier Jahre, korrigiere ich mich. Ich möchte nicht an die Zahl denken, also werde ich es auch nicht mehr. Die Zustände hier sind katastrophal. Meine Mitgefangenen und ich, wir sind jeden Tag der Willkür unserer Bewacher ausgesetzt. Berührungspunkte zu den anderen gibt es nicht. Viele meiner Vertrauten sind hier, natürlich dürfen wir gerade deshalb keinen Kontakt haben.
Nur manchmal, einmal im Monat, bei der großen Bestandsaufnahme.
Weber ist der schlimmste. Heute Morgen hat er mir grinsend eröffnet, ich würde heute bestimmt Post bekommen. Die Post erhalten wir immer mit dem Mittagessen.
Die Klappe an der schweren Tür öffnet sich.
„Setzen Sie sich mit dem Rücken zur Tür“, befiehlt Weber.
Wortlos gehorche ich. Ich spüre seine Augen im Rücken. Das Schloss klickt. Heute kommt er also persönlich herein, das ist nicht gut.
Ein weiterer Bewacher, er heißt Eger, betritt den Raum. Er richtet eine Waffe auf mich, während mir Weber die Hände fesselt.
„Hi, Hohlfelder“, sagt er freundlich. „Wie geht's Dir?“
„Gut.“
„Aaah“, sagt er. „Das freut mich.“ Er wedelt mit einer Broschüre vor meinem Gesicht. Sie wird hier selbst gedruckt, nur für mich, munkelt man. „Dein Katalog.“
Ich blicke auf nackte Kinder.
„Hör zu, Weber. Ich habe mich gut geführt.“
„Na und? Raus kommst Du hier sowieso nicht lebend. Aber gut.“ Er zieht das Heft aus meinem Gesichtsfeld und zerreißt es angeekelt. „Bist ja jetzt ein guter Mensch geworden, wie? Aber wir werden uns davon überzeugen.“ Er verlässt die Zelle.
„Raustreten!“, bellt er.
Ich ahne, was jetzt kommt und möchte mich übergeben.
Ich trete auf den Gang. Irgendwer manipuliert den Schwerefeldschalter. Nur kurz, aber ich stoße hart an die Decke. Dann reißt mich das Kraftfeld wieder auf den Boden.
„Ach Hohlfelder, Du musst nicht gleich in die Luft gehen, nur weil wir mit Dir reden wollen. Und jetzt komm schon.“
Er führt mich in einen kalten Raum. Keine Fenster.
Ich kenne diesen Raum.
„Wir denken, dass es Zeit ist, dass wir dafür sorgen, dass Du frisch und knackig bleibst. Sind nur 20 Grad minus. Hältst Du schon aus. Ausziehen!“
Wieder richtet der andere seine Waffe auf mich, während ich meine befreiten Hände dazu nutze, mich auszuziehen. Wahl habe ich keine.
„So, da rüber! Hinlegen.“
Das Leder der Liege ist kalt.
„Ist dir kalt, Hohlfelder?“
Ich zittere vor Kälte.
Routiniert werde ich festgeschnallt.
„Du weißt ja, was wir hier machen, wird auf der Erde niemand erfahren.“
Das ist Webers Standardspruch, bevor er mit seinen „Spielen“ beginnt.
„Du weißt, ich mag Dich sehr gern, Hohlfelder. Deshalb machen wir ein kleines Quiz, hm?“
Ein Surren hebt an. Die Liege unter mir bebt leicht. Der Strom ist angeschaltet.
„Also, willkommen auf meiner Couch. Zehn Fragen bis zur Million.“ Er zitiert irgendeine Show aus dem 20. oder 21. Jahrhundert. „Jede falsche Antwort zählt. Das ist gut, nicht? Bei jeder falschen Antwort erhöhen wir den Einsatz.“
Ich zittere, nicht nur vor Kälte.
„Du zitterst ja“, sagt Weber gespielt mitfühlend. „Das ist nur die Aufregung. Wir stehen das zusammen durch. Also: Wer ist derzeitiger Präsident der WRV?“
„Johann Gröll“, antworte ich.
Ich schreie. Ein harter Stromschlag durchzuckt meinen Körper.
„Willst mich verarschen, Hohlfelder, was? Das kannst Du doch gar nicht wissen. Somit werte ich die Antwort mal als falsch, auch wenn sie richtig ist.“
„Schwein!“, brülle ich.
„Falsche ANTWORT.“
Ich schreie erneut. Diesmal ist der Schlag stärker.
„Wir erhöhen bei jeder falschen Antwort. Stufe zwei hast Du schon erreicht. Also weiter: Wer hat in diesem Gefängnis oberste Priorität? Wer hat das Sagen?“
„Sie, Herr Weber.“
Er grinst böse. „Das wäre schön“, sagt er freundlich. „Hm, aber die Antwort ist falsch. Direktor Föhrer hat hier das Sagen. Aber ist gut für Dich. Falsche Antwort.“
Der Schlag ist unerträglich. Ich brülle laut. Die Wände sind schalldicht. Mein Körper brennt. Schweiß läuft mir über den Körper.
„Bitte, Weber. Hör auf damit“, weine ich. „Bitte!“
„Aber wir sind doch erst bei Stufe drei. Du schaffst das, Hohlfelder. Was ist ein Kinderschänder?“
Was will er hören, denke ich schnell. Was möchte er? Eine Definition? Aber ich versuche es.
„Ein Kinderschänder ist ...“, setze ich an.
„Mööööök.“
Pause.
„Falsche Antwort. Daniel Hohlfelder ist die richtige Definition.“ Der nächste Schlag. Noch härter.
„Bitte“, brülle ich. „Weber, bitte.“
„Weber?“, fragt eine Stimme. Ich erkenne sie momentan nicht.
„Ja, Gärtner, was ist los?“
„Wir kriegen Besuch von der Erde. Mach schnell.“
„Inspektion?“
„Sieht so aus.“
„Gut, ich komme gleich zur Schleuse. Zehn Minuten.“
„OK.“
Er steckt das Funkgerät weg. Ein letzter harter Stromschlag raubt mir das Bewusstsein.
Ich liege in meiner Zelle. Wieder einmal bin ich davongekommen. Wie oft werde ich das durchhalten? Man kann sich nicht auf irgendetwas einstellen. Er holt mich manchmal mehrmals täglich oder nachts oder manchmal auch tagelang gar nicht. Und manchmal redet er einfach nur mit mir. Wie ihn dieser Job hier anödet. Dass er nach Hause möchte. Ich auch, habe ich gesagt. Kein Ärger, damals. Er hat eine Weile geschwiegen. Dann hat er leise gesagt, dass er das gut verstehen kann.
Zwei Stunden später hat er mich dann für ein „Spiel“ abgeholt. Manchmal sind es Fragen, manchmal auch nur eine Unterhaltung. Eine Diskussion, wie er es nennt. Bei jeder Antwort, die ihm nicht passt, fließt der Strom der Erkenntnis, wie er sagt. Und manchmal bringt er mich auch nur in den Raum. Entweder 50 grad Hitze, dann werde ich in Mäntel gehüllt. Wahlweise variable Kälte, dann bin ich nackt. Er ist nicht verlegen, sich neue Methoden auszudenken.
Was hat Hans gesagt, damals in seiner Rede? Niemand wird gefoltert? Irgendwie mag ich ihn noch immer, ich weiß bis heute nicht ganz, welche Rolle er gespielt hat. Vielleicht setzt er mein Werk fort? Unter der Tünche der Demokratie, sozusagen?
Ich bin abgeschnitten von der Erde. Nur manchmal dürfen wir uns Bilder oder Übertragungen ansehen. Nur dann, wenn es den Bewachern passt.
Meine Muskeln zittern nur noch leicht. Ich bin müde. Das Denken zermürbt mich. Die Einsamkeit frisst mich auf. Äußerlich ist es ruhig. Keine Geräusche. Mein Bewusstsein, mein Gehirn tobt vor Einsamkeit, Schmerz und Angst. Ich kann mir nicht mal das Leben nehmen. Die Zelle wird Tag und Nacht überwacht. Wieder die Gewissheit: Ich werde nie wieder hier herauskommen.
Kapitel 3
1. März
Bogdan Hagen
Flugorder: 3872F0
Nicht schon wieder, denke ich, als ich die Zahlen und Buchstaben lese. Ich bin mittlerweile Oberstleutnant, aber wir haben Personalknappheit. Deshalb werden die Crews zusammengestellt, wie es gerade passt, jedenfalls habe ich manchmal das Gefühl.
Die Bürotür der Flugabwicklung wird aufgerissen.
„Morgen, Bogdan“, sagt Wolfgang. „Hast Du unsere Flugorder schon?“
„Ja, hier.“
Mit spitzen Fingern übergebe ich ihm das Papier.
„Aber das betrifft doch nicht uns, oder?“, fragt er. Die mangelnde Begeisterung über diesen Auftrag, ist ihm wirklich anzuhören.
„Ich bin genauso begeistert von der Sache wie Du. Aber was bleibt uns übrig?“
„Fred könnte selbst fliegen.“
Hinter der Flugorder verbirgt sich die Inspektion von WR II.
Diese Aufgabe ist bei den Kollegen nicht sehr beliebt, weil die diensttuenden Kollegen auf der Station keinen besonders guten Ruf haben. Und der Gast, der auf dieser Station residiert, steht noch niedriger auf der Gunstskala. Und dieser Job noch vor dem Wochenende. Wir haben Donnerstag. Diese Order ist unaufschiebbar.
„Also los. Wir fahren zum Start rüber.“
Das ist das Einzige, das mich wirklich immer wieder erfreut. Die Space Explorer II ist vor Kurzem erst fertiggestellt worden. Ich liebe dieses Schiff.
Wir verlassen das Büro.
Vor meinem Wagen steht ein Mann.
„Wolfgang Schulz?“, fragt er.
„Ja“, antwortet mein Kollege.
„Das sollen Sie noch zur II mitnehmen. Eine Liste mit Lebensmittelbeständen. Die Lieferung ist schon an Bord.“
„Vielen Dank.“
Wenige Minuten später sind wir an Bord.
Eine Überraschung erwartet uns.
„Christian“, rufen wir beide überrascht aus.
„Da staunt ihr. Der Minister meint, wir sollten mal Präsenz zeigen. Nicht dass die da oben denken, sie könnten sich alles erlauben.“
Meister grinst uns an.
„OK, wir haben jetzt drei Kommandanten. Wer fliegt jetzt?“
Meister lümmelt sich in einen der hinteren Sitze.
„Macht ihr Beide das mal. Ihr könnt das so gut.“
Die gute Laune ist wiederhergestellt. Wir haben einen Auftrag, den wir nicht gerne machen, aber immerhin wird es lustig werden.
Wir starten ohne Zwischenfälle. Ich persönlich bin froh, dass wieder Englisch gesprochen wird. Dass der Tower Kontrollturm genannt werden sollte, daran konnte ich mich in der Fliegerei nie ganz gewöhnen.
„Reisegeschwindigkeit ist erreicht“, sage ich. Wolfgang nickt nur.
„Was glaubst Du, werden wir vorfinden?“, fragt Meister mich.
„Ach, das Übliche. Freundliches Getue, weiter nichts. Ich möchte nur zu gern wissen, was da oben wirklich vor sich geht.“
„Du glaubst, dass irgendwas nicht stimmt?“
„Das gab's schon in allen Gefängnissen. Nach Außen hin alles streng nach Vorschrift, und ansonsten misshandeln die Gefangenen sich gegenseitig oder werden von den Wärtern gepeinigt.“
Der weitere Flug verläuft weitgehend schweigend. Meister scheint zu dösen. Wolfgang und ich konzentrieren uns auf den Flug.
Dass Schiff verlangsamt automatisch auf Annäherungsgeschwindigkeit. Ich rufe die Station. Wir erhalten die Erlaubnis, auf einer der Landeplattformen zu landen.
„Es freut uns, Sie zu sehen.“ Das Händeschütteln will kein Ende nehmen. „Weber, aber Sie kennen mich ja noch.“
„Allerdings, Herr Weber. Wir sind wegen der Inspektion hier.“
„Jaja, die Inspektion. Nun, wir haben nichts zu verbergen. Kommen Sie.“
„Außerdem bringen wir neue Lebensmittel“, fährt Wolfgang fort.
„Ich lasse die Kisten von Bord schaffen.“
Wir folgen dem Mann an Bord der Station. Mehrere Sicherheitskontrollen.
Irgendwer hat ein Kabel verlegt. Ich stolpere. Weber kann gerade noch verhindern, dass ich stürze.
„Tut mir leid, Herr Hagen“, sagt er entschuldigend. Er lässt meine Jacke wieder los.
„Schon gut.“
Die Inspektion verläuft wie immer. Keine Beanstandungen. In einem fensterlosen Raum, offenbar der Untersuchungsraum für den Stationsarzt, ist es bitter kalt.
„Da wurde wohl vergessen, die Heizung höher zu stellen“, empört sich Weber. „Ich werde das melden. Da holt man sich ja sonst was.“
Wir nehmen das Angebot an mit Weber und seinem Kollegen, der bisher stumm geblieben ist, eine Tasse Kaffee zu trinken.
„Sagen Sie mal, Herr Weber. Wie ist das hier eigentlich? Man hört ja immer, dass Gefangene gern schlecht behandelt werden. Wie ist das hier?“
„Die Gefangenen haben keinen Zugang zueinander, was das Aggressionspotenzial deutlich verringert. Und wir pflegen einen menschlichen Umgang mit den Leuten hier. Wir versuchen sie aufzubauen, sozusagen.“
Es klingt ehrlich.
Wenige Minuten später verlassen wir die WR II und treten den Rückflug an.
Kapitel 4
1. März
Albert Rosner
Ich wanke zum Stationszimmer. Ich bin total übermüdet. Seit über 48 Stunden bin ich hier und nicht aus den Kleidern gekommen. Wir haben sehr viele kritische Fälle hier.
„Ah, Doktor Rosner“, ertönt eine freundliche Stimme. Ich mag den Mann. Chefarzt Dr. Sparer. „Wie fühlst Du Dich, Herr Oberarzt?“
„Müde“, sage ich nur.
„Dann habe ich gute Nachrichten für Dich.“ Erst jetzt sehe ich, dass er in Begleitung eines Mannes ist. Unauffällig, würde ich sagen. Alltagsgesicht. Er wirkt freundlich.
„Das ist Herr ... Doktor Schleifer. Ich möchte, dass Du ihn unter Deine Fittiche nimmst. Du weißt ja, dass wir kein Personal haben.“
„Gut, Mark, aber nicht mehr heute, oder?“
„Nein, ich wollte euch einander nur vorstellen.“
„Sehr erfreut“, sage ich. „Entschuldigen Sie, wenn ich aussehe, wie ... wenn ich übermüdet aussehe. Eines vorweg. Wir duzen uns alle hier. Ich bin Albert. Al, der Oberarzt.“
Er ergreift meine Hand.
„Doktor Schleifer, freut mich Sie kennenzulernen“, sagt er.
Ich ziehe meine Hand zurück.
„Gut, dann Herr Schleifer. Ich hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten.“ Ich sehe den Mann leicht böse an. Er fühlt sich offensichtlich nicht wohl.
„Alles Weitere könnt ihr ja am Montag besprechen. Schlaf Dich aus, Al.“
„Ich mache nur noch meine Berichte fertig. Wann fängt er an?“ Ich spreche bewusst in der dritten Person.
„Heute noch“, sagt Schleifer laut.
„Schön. Wir haben einige kritische Fälle hier. Ich schreibe meine Berichte noch und bin dann weg.“
Das Schreiben der Berichte dauert noch mal zwei Stunden. Ich verlasse anschließend die Klinik.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter.
„Was war da vorhin los?“, fragt Sparer.
„Hast Du das nicht mitbekommen? Ich sage ihm, dass sich hier alle duzen und er kommt mir mit dem Gesieze. Ach, Scheiß drauf, ich bin einfach übermüdet, Mark. Kommst Du am Sonntag zu uns, Herr Schwiegervater? Deine Tochter und ich, wir würden uns sehr freuen. Und bis dahin bin ich bestimmt ausgeschlafen.“
„Ich ruf euch morgen an. Carmen wird ja nicht mit ausschlafen, nehme ich an. Zumindest nicht die ganze Zeit.“
„Ja, ist gut.“
Ich steuere auf mein Auto zu, einen neuen Audi.
Ein kleiner Ford fährt auf den Parkplatz. Der Fahrer schafft es nicht, zu bremsen, und kracht seitlich in meinen Wagen.
Ich stürme los.
Der Mann will davonrasen, aber da habe ich die Autotür bereits aufgerissen und packe ihn unsanft an der Schulter.
„Du bleibst hier, kapiert? Fahrerflucht. Wäre ja noch schöner.“
„Mann, lass mich los. Das wird sowieso alles aufgezeichnet.“
Er hat natürlich recht, aber dass der Vorfall erfasst wird, ist kein Grund, den Anstand nicht zu wahren.
Doch bevor ich etwas Dummes tun kann, und meine Karriere einen Knick bekommt, packt mich wieder eine Hand an der Schulter.
„Schluss jetzt.“ Die Stimme ist laut und wieder ist es mein Schwiegervater.
„Aber er hat mein neues Auto geschrottet.“
Sparer blickt zu meinem Wagen. Es wird schwer sein, das zu reparieren, jedenfalls auf den ersten Blick.
„Gut, aber es ist nur ein Fahrzeug, Al. Der Mann hier wird sowieso für den Schaden aufkommen müssen, oder seine Versicherung.“
Mark hat recht. Ich lasse den Mann los.
Er schlägt die Tür zu und fährt davon. Ich bemerke, dass auch sein Wagen etwas abbekommen hat. Aber meiner sieht schlimmer aus.
Als ich eine weitere halbe Stunde später mit dem Taxi vor meinem Haus ankomme, liegen meine Nerven blank. Und wenn ich so weitermache, liegt mein Körper auch bald. Auf dem Boden nämlich.
„Hey, mein Süßer.“ Wenn meine Carmen das sagt, werde ich immer schwach. „Du siehst müde aus.“
„Ich gehe auch gleich ins Bett.“
Arm in Arm gehen wir ins Haus.
„Viel Stress gehabt? Wo ist Dein Auto?“
„Bald in der Schrottpresse“, sage ich. „Ich erklär's Dir morgen.“
„Na, dann will ich mal eine gute Frau sein, und meinen Mann ins Bett bringen.“
Dann küsst sie mich.
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014
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