Eine Diktatur lässt sich beenden, wenn nur genug Menschen den Mut dazu haben.
Anonym
Holger Thomas Lang
Der letzte Tag
Teil 3 Dunkle Machenschaften
Jedweder Aufstand, alle Aktivitäten gegen den Präsidenten und die Regierung werden aufs Härteste bestraft! Wer sich der Anweisung, zu bestrafen, widersetzt, gilt als aufständisch.
Gez.
D. Hohlfelder
Präsident des Weltrepublikenverbundes
Ronald Kämp
An diesem Montag treffen meine Frau Madlen, meine drei Kinder und ich die letzten Reisevorbereitungen. Überraschend hatte ich den Reisegutschein für mich und meine Familie bekommen.
Eine Woche vorher stand ich vor meiner Klasse. Einer meiner Schüler hatte „Hohlfelder ist dof“ geschrieben. Ich hatte ein zweites o eingefügt und dabei gesagt:
„So ist es richtig.“ Ich hatte nicht auf den Inhalt geachtet, sondern nur die Rechtschreibung gemeint.
Noch am selben Tag erfolgte dann die Lautsprecherdurchsage. Es war nur zwei Schulstunden später.
„Das Mitglied des Lehrkörpers, Ronald Kämp, bitte zur Direktion.“
Mein Chef saß hinter seinem Schreibtisch. Er blickte sehr ernst und wirkte erzürnt. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Dabei hatten wir immer ein gutes Verhältnis gehabt.
Links und rechts von ihm standen zwei Herren in schwarzen Anzügen.
„Diese Herrschaften sind von der Regierung. Sie haben heute in einer Ihrer Unterrichtsstunden einem Schüler gegenüber erwähnt, ... nun ... Sie sind ein Gegner des Präsidenten.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ihre Äußerung war eindeutig.“
Ich fragte ihn, ob sich dies auf das falsch geschriebene Wort, ich benutzte es nicht in Gegenwart dieser ernst blickenden Herren, bezog. Der Chef nickte nur.
„Ich muss Sie bis auf Weiteres beurlauben, Herr Kämp. Aber die Sache wird bald geklärt sein.“
Zwei Tage später war die Untersuchung abgeschlossen. Meine Aussage wurde für richtig befunden, die Vorwürfe galten als hinfällig. Man verzieh mir. Als Bonus erhielt ich einen Reisegutschein. Vier Autostunden von hier gibt es ein großangelegtes Gebiet am Meer. Wählen können wir leider nicht, denn unseren nächsten Urlaub hatten wir im Sommer machen wollen. Aber es ist eine gute Sache, kostenloser Urlaub ist bestimmt schön.
Somit beladen wir frohen Herzens unser Auto und fahren los. Die Fahrt ist wie immer eintönig. Das Märchen vom toten Wolf kenne ich nach zwei Stunden auswendig.
‚Ich kann es rückwärts aufsagen‘, denke ich. Aber die beiden Jüngeren wollen nur dieses hören, meine Große liest ein Buch, anstatt die Landschaft anzusehen. Dabei soll sie im Urlaub auch etwas von der Gegend kennenlernen.
"Wann sind wir endlich da?", fragt Roman ständig. Die Frage wird immer quengeliger und kommt in immer kürzeren Abständen.
"Bald", sagt meine Frau.
Staus, kilometerlang. Wir stehen mehr als wir fahren.
‚Urlaub mit den Kindern‘, denke ich. Wir fahren weg, endlich mal wieder. Aber momentan könnte ich sie erwürgen. Sofort verdränge ich diese Gedanken wieder, sonst verderbe ich allen die gute Laune. Und schließlich muss sie ja jemand aufmuntern.
"Wann sind wir endlich da?" ruft Roman wieder.
"Gleich", erwidere ich genervt.
"Nochmal den toten Wolf", verlangt er.
Resigniert starte ich die Wiedergabe.
‚Es begab sich, als das Wünschen noch geholfen hat‘, denke ich.
"Und es begab sich zu einer Zeit als das Wünschen noch geholfen hat."
Ok, perfekt bin ich also noch nicht.
"Sorry, Paps, ich muss aufs Klo", sagt Marina. Sie ist eigentlich still.
"Aber dann dauert es ja noch länger", mault Roman.
"Ich muss sowieso tanken", sage ich, nutze eine Lücke und biege auf einen Rastplatz mit Zapfsäulen ein.
Nachdem alles zufriedenstellend verlaufen ist, fahren wir weiter.
‚Das Wünschen noch geholfen hat‘, denke ich. ‚Flügel wachsen lassen, was?‘
Gegen Mittag treffen wir ein. Doch zunächst müssen wir an einem Tor anhalten. Das Areal ist eingezäunt und ummauert.
„Ist das hier ein Gefängnis?“, frage ich den Sicherheitsmann, der uns das Tor öffnet.
„Nein, wir schützen nur unsere Gäste. Man weiß nie“, antwortet er. Dennoch bleibt ein unangenehmes Gefühl.
Wir fahren auf das Gelände, die Kinder wirken verunsichert. Viele Parkplätze gibt es.
Ich parke und wir steigen aus, denn ich muss uns anmelden. Bei der Einfahrt wurde nur ganz kurz unsere Identität geprüft, mehr nicht.
Ein älterer Herr versucht, den Parkplatz zu überqueren. Ein weiterer Wagen schießt heran. Reflexartig reiße ich den Mann zurück. Dicht schießt der Wagen vorbei.
„Vielen Dank, Herr ...“
„Kämp“, stelle ich mich vor.
„Vielen Dank, Herr Kämp.“ Ich lasse den Mann los. Meine Kinder versuchen, mir etwas zu zeigen. Sie deuten auf das Meer, doch ich sehe nichts. Als ich mich umwende, ist der Mann verschwunden.
Wir melden uns an der Rezeption an.
Nachdem wir ausgepackt haben, wollen meine Familie und ich zum Strand. Auf dem Weg zum Wasser sehen wir in den Liegestühlen viele Menschen mit Wunden. Viele haben eine breite Narbe an der Stirn. Einige haben zusätzlich Narben am Handgelenk. Ich versuche, es auszublenden. Vielleicht hat es ja einen Unfall gegeben, aber das will ich lieber nicht wissen.
„Was haben die, Papa?“ fragt mein Roman. Gut, dass Jakob noch nicht sprechen kann. Sonst würde er auch ständig fragen.
„So was fragt man nicht, Roman.“
Ein älterer Mann nickt mir zu.
„Ihr Junge ist klug“, murmelt er. „Passen Sie gut auf ihn auf und sorgen Sie dafür, dass er nicht zu viel fragt.“ Ich denke, er meint das Meer und findet Romans Verhalten unhöflich.
"Wie meinen Sie das?", frage ich.
"Das werden Sie schon noch merken", murmelt er. "Passen Sie einfach gut auf.“
Ich versichere ihm, dass wir das tun werden.
An der Strandbar bestellen wir Getränke. Ich bin normalerweise kein großer Trinker, aber heute genehmige ich mir ein Bier. Es schmeckt seltsam, aber ich denke, dass das vielleicht mit einer örtlichen Brauerei zusammenhängt. Und wirklich gut fand ich es noch nie.
„Entschuldigen Sie“, werde ich plötzlich angesprochen. „Ihre Kinder sind unten am Strand. Vielleicht sollten Sie nach ihnen sehen.“
Ich mag es nicht, wenn man sich in unsere Erziehung einmischt. Meine Frau sagt, sie würde nach den beiden sehen. Ich bleibe mit Jakob zurück. Wie schön der Kleine schläft. Das sieht so niedlich aus, da könnte ich tatsächlich zur Glucke werden …
Es vergehen fünf Minuten, zehn Minuten. Weder meine Frau noch meine Kinder sind zurück. Ich mache mir Sorgen. Plötzlich wird mir übel.
Ich befinde mich nicht mehr am Strand, sondern in einem bequemen Bett, alleine. Jemand rüttelt mich.
„Wachen Sie auf, Herr Kämp.“
Ein Arzt steht neben mir.
„Was ist passiert?“
„Die Sonne“, sagt er. „Vermutlich in Kombination mit dem genossenen Alkohol.“
„Meine Frau, meine Kinder“, sage ich.
„Schlafen Sie ein wenig, Herr Kämp.“
Tatsächlich schlafe ich ein, sehr rasch.
Ich spüre, wie man mich einen weißen, langen Flur entlangträgt. Es ist dunkel, ein unangenehmer Traum.
„Hoffentlich wacht er nicht auf“, sagt eine barsche Stimme. Ist es wirklich ein Traum?
„Nein, bestimmt nicht.“
Ich werde in einen großen Raum gebracht. Dort schnallt man mich auf einen Operationstisch.
„Sind Sie wach, Herr Kämp?“, fragt eine Stimme von der Tür her. Ich weiß es doch selbst nicht. Wach oder im Schlaf. Realität oder Traum. Ich weiß es nicht. Die Grenzen der Wirklichkeit sind verschwommen, wach oder Traum – es gibt keinen Unterschied.
Der Arzt, der mich bereits behandelt hat, tritt neben den Tisch.
„Was haben Sie vor?“, frage ich. Operationssäle versetzen mich in Panik. Bislang habe ich damit nur schlechte Erfahrungen gemacht.
„Wir werden einen kleinen Versuch unternehmen. Halten Sie still.“
Mein rechter Arm wird festgehalten, und man jagt mir eine Nadel in die Armbeuge. Es ist sehr schmerzhaft. Ein Profi hätte das sanfter gemacht.
Mein Kopf ist ebenfalls fixiert. Ich kann mich nicht bewegen.
„So dann wollen wir beginnen“, sagt der Operierende. Ich glaube, er ist noch kein fertig ausgebildeter Arzt.
Er zieht eine kleine Säge von einem Instrumententisch und setzt das Blatt an. Kalt und scharf spüre ich es an meiner Stirn. Dann beginnen die Schmerzen.
Aber nicht lange. Irgendetwas, das sich wie Holzsplitter anfühlt, wird in die entstandene Wunde eingelegt. Dann wird meine Stirn verpflastert.
Die Schmerzen sind höllisch.
Man schnallt mich los. Grob werde ich auf die Beine gezerrt. Zwei Männer packen jeweils einen Arm und zerren mich aus dem Raum.
Auf dem Flur sehe ich ein Krankenhausbett. In ihm ein Kind. Ein kleiner Junge. Er scheint bei Bewusstsein zu sein. Sein Schädel ist geöffnet.
„Weiter“, bellt einer meiner Begleiter.
Ich werde in mein Zimmer verbracht. Das Zimmer, das ich mit meiner Familie bezogen habe. Die Tür fällt hinter den Männern ins Schloss.
Ich renne zur Tür. Sie lässt sich nicht öffnen. Ich bin eingeschlossen. Ich frage mich, ob ich jeden Moment aus diesem Albtraum aufwachen werde, aber offensichtlich ist das kein Traum.
Als ich die Klinke das nächste Mal berühre, trifft mich ein Stromschlag. Wie ein schwerer Sack falle ich zu Boden. Doch ich will kämpfen, stehe auf, durchwühle das Zimmer. Von meiner Familie oder auch nur ihren Sachen fehlt jede Spur. Einzig meine Kleidung ist hier.
Offensichtlich werde ich immer wieder betäubt. Ich habe kein Zeitgefühl mehr.
Grob wird mir der Verband von meiner Stirn gerissen. Ich schreie laut vor Schmerz. Man hält mir einen Spiegel vor das Gesicht. Wieder schreie ich laut, aber diesmal vor Entsetzen. Ich habe ähnliche Wunden schon gesehen. Meine ist ebenfalls breit. Es wird sich wohl eine Narbe bilden, unschön, hässlich.
Ich habe immer noch kein Zeitgefühl. Hoffentlich entzündet sich das nicht!
Doch die Dosierung der Betäubungsmittel, die mir offensichtlich verabreicht werden, wird reduziert. Es scheint jedenfalls so. Immer wieder werden mir Schnitte beigebracht. Offensichtlich wird bei dieser Gelegenheit ein Medikament verwendet, das die Schmerzen verstärkt.
Plötzlich bin ich hellwach.
„Herr Kämp?“
Ich blicke in das Gesicht des Arztes, der mich vielleicht die ganze Zeit behandelt hat.
„W-was?“ bringe ich hervor.
„Sie dürfen heute an den Strand, wenn Sie möchten. Versuchen Sie aufzustehen.“
Ich stehe langsam auf, und fühle, wie meine Kräfte zurückkehren. Seltsamerweise kein Schwindelgefühl, nichts.
„Sieht gut aus“, sagt der Arzt, der neben mir steht.
Wir verlassen mein Zimmer. Der Flur ist mit Bildern behängt, so, wie ich ihn von der Anmeldung her in Erinnerung habe.
„Ich wollte nur sehen, ob Sie alleine zurechtkommen. Falls Sie was brauchen, fragen Sie an der Rezeption nach mir.“
Der Arzt verschwindet in einer Biegung des Ganges. Ich verlasse das Hotel.
Am Strand ist es heiß. Was ist mit meiner Frau und den Kindern? Wieder viele Menschen mit Narben. Wir könnten jetzt Brüder sein, denke ich. Brüder und Schwestern.
Der alte Mann ist auch da, der, der gesagt hat, ich solle auf mich und meine Familie aufpassen.
„Hat's Dich jetzt auch erwischt“, murmelt er, als ich an ihm vorbeigehe.
„Weißt Du, wo meine Familie ist?“
„Tut mir leid, Junge. Keine Ahnung. Aber ich will Dir eine Geschichte erzählen. Ich bin vor sechs Monaten hier angekommen. Reisegutschein. Sie experimentieren hier mit uns. Aber das wollte ich gar nicht erzählen, wirst es ja selbst gemerkt haben. Ich bin mit meiner Frau und unserer Enkelin hier angekommen. Beide sind am ersten Tag verschwunden, wie Deine Familie. Weißt Du, was das Tolle ist? Ich hab sie seitdem nie wieder gesehen.“
Tränen steigen mir in die Augen.
Der Arzt kommt auf mich zu.
„War wohl zu viel“, murmelt er mitfühlend.
„N-nein, meine ... meine Familie. Was habt ihr mit ihr gemacht?“
Der Mann im weißen Kittel antwortet nicht.
„Sie brauchen Schlaf, Herr Kämp. Ich bringe Sie zurück in Ihr Zimmer.“
Alle sehen mich mitleidig an. Wäre schön, wenn sich jemand entsprechend kümmern würde!
"Ich will nicht schlafen."
"Sie brauchen Schlaf, Herr Kämp. Akzeptieren Sie das doch."
"Dass Sie wieder experimentieren können", fauche ich ihn an. Ich hasse es, wenn man mich für blöd erachtet.
Der Arzt schweigt.
In meinem Zimmer verabreicht er mir eine Spritze. Damit ich besser schlafen könne, meint er.
Kaum bin ich eingeschlafen, werde ich wieder geholt.
Weißer Flur. Kenne ich schon.
Und wieder das Behandlungszimmer.
„So, Herr Kämp. Dann machen wir mal weiter.“
Angst kriecht in mir hoch. Wann hört dieser Albtraum endlich auf?
Wieder der harte Einstich einer Nadel. Diesmal im linken Arm.
„Wir töten Sie jetzt, Herr Kämp“, wird mir mitgeteilt. „Ihre letzten Worte?“
„Wo ist meine Familie?“, schreie ich. „Ich will nicht sterben.“
Gelächter. Jemand senkt ein Gerät auf meinen fixierten Kopf herab. Ich beginne zu schreien.
"So, wir fangen dann an, Herr Kämp. Es wird langsam und qualvoll sein. Wer ist jetzt doof?"
Wieso doof, denke ich zusammenhanglos.
Der Arzt drückt einige Knöpfe auf einer Tastatur.
"Gut, wir fangen an. Achtung!"
Schmerzen. Ausgelöst durch Stromstöße. Immer heftiger. Ich schreie und schreie.
"Das ist längst nicht alles. Dreh mal noch ein wenig höher. Denkanstöße nenne ich das."
Die Schmerzen werden unerträglich.
"Er soll schreien, bis ihm die Kehle platzt", sagt der Assistent und grinst. Ich höre das aus seinem Ton. Sehen kann ich es durch die Schmerzen längst nicht mehr.
Noch einmal steigern sich die Schmerzen. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass dies noch möglich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mein Bewusstsein noch länger behalte.
„So, fertig.“
Keine Schmerzen mehr, sie haben plötzlich aufgehört.
"Wie fühlen Sie sich?"
Die Stimme klingt gedämpft. Ich nehme durch die Nebelschleier, die sich vor meine Augen gelegt haben, kaum noch etwas war. Ich werde brutal hochgerissen.
Ich bin wieder in meinem Zimmer. So langsam kann ich wieder normal sehen.
„Mitkommen. Der Direktor möchte Sie sehen.“
Wieder ist mir nicht schwindlig, als ich aufstehe. Aber komisch fühle ich mich. Irgendwie – falsch.
Der Direktor residiert im Erdgeschoss. Meine Eskorte bleibt vor der Tür zurück. Zögerlich trete ich ein.
Das Vorzimmer ist geräumig. Edle Teppiche bedecken den Boden. Eine Sekretärin blickt mich nur kurz an und drückt dann irgendeinen Knopf. Kein Wort, nichts. Mir ist sehr unbehaglich zumute.
Ich muss nicht lange warten. Die Tür zum Direktionsbüro öffnet sich. Ungläubig blicken wir uns an. Ich kenne ihn, weiß aber nicht mehr, woher.
„Herr... Kämp?“, fragt der Mann erstaunt.
„Ja.“
„Kommen Sie herein. Ich wusste nicht, dass Sie es sind.“
Er fordert mich auf, Platz zu nehmen.
„Kaum ist man mal nicht da, passieren solche Sachen. Sie haben mir das Leben gerettet. Kaffee?“
Ich bedanke mich. Der ältere Mann holt zwei Tassen aus einem Automaten.
„Unter diesen Umständen ... werden wir Sie entlassen, Herr Kämp. Es tut mir sehr leid, was Ihnen passiert ist.“
„Wo ist meine Familie?“
„Ich hoffe, wir kommen nicht zu spät“, murmelt er. Er befragt seinen Computer. Sein Gesicht hellt sich auf. Er tippt einige Anweisungen in die Tastatur, jedenfalls denke ich, dass es Anweisungen sind.
„Ich werde alles in Ordnung bringen, Herr Kämp.“
„Was ist das hier eigentlich?“, frage ich.
„Wenn Sie das wirklich wissen wollen, muss ich Sie hierbehalten“, antwortet der Direktor leise.
„Ich möchte es nicht wissen. Ich möchte nur mit meiner Familie nach Hause.“
„Sehen Sie? ... Ich lasse Ihr Gepäck herbringen. Es besteht kein Anlass, in Ihr Zimmer zurückzukehren. Ich denke, wir sind quitt, Herr Kämp.“
Kurz überlege ich, ob ich auch noch den alten Mann, seine Frau und seine Enkelin freibitten soll. Doch ich weiß keine Namen und möchte die Freundlichkeit nicht überstrapazieren.
Der Mann streckt mir seine Hand hin. Ich ergreife sie kurz.
„Wir werden uns nicht wiedersehen, Herr Kämp.“ Mit diesen Worten wendet er sich ab. Bedarf für ein erneutes Treffen habe ich nicht. Ich will hier nur noch fort.
Ich verlasse das Büro und durchquere das Vorzimmer. Die Sekretärin bemerkt mich nicht einmal. Vor der Tür steht meine Familie. Voller Freude umarmen wir uns. Keiner will den anderen mehr loslassen. Voller Freude sehe ich, dass auch Jakob hier ist und es ihm gut geht. Ich hatte Angst gehabt, dass er alleine nicht dabei wäre. Schließlich hatte ich ihn zuletzt beaufsichtigt.
„Komm, wir wollen weg hier“, sagt meine Frau leise. Ich nicke und suche schon nach einem Autoschlüssel.
Doch eine schwere Hand legt sich auf meine Schulter und hält mich zurück. Ich blicke zur Seite. Der Arzt, der mich behandelt hat, blickt mich an. Nicht gerade erfreut.
"Aber vorher müssen wir das Gesicht reparieren. Sie können gern dabei zusehen, wenn Sie möchten." Bedauernd zuckt er mit den Schultern. "Und dabei habe ich mir mit dem Gesicht sehr viel Mühe gegeben."
"Lassen Sie es, wie es ist", sagt eine andere Stimme. Ich erkenne den Mann nicht.
Der Arzt wendet sich ab. Ich werde die Narben immer behalten, denke ich. Aber vielleicht sind sie noch zu etwas nütze. Wenn diese verdammte Unterdrückung ein Ende hat. Doch ich glaube nicht, dass ich das noch erleben werde.
Dann plötzlich bekannte Gesichter. Meine Eskorte.
Die Männer, die mich hergebracht haben, sehen mich an, als fiele es ihnen sehr schwer, uns gehen lassen zu müssen.
Wir verlassen das Gebäude. Unser Wagen steht bereits wieder dort, wo wir ihn abgestellt hatten.
Die Kinder drängen ins Auto, auch wir steigen ein, und verlassen diesen grauenhaften Ort so schnell wie möglich.
Frau Kämp
Nachdem wir von meinem Mann getrennt worden waren, sagte man uns, er würde noch kurz wegen der Arbeit benötigt, wir sollten mitkommen, weil wir bestimmt Hunger hätten. Da die Kinder tatsächlich schon mit knurrenden Mägen kämpften und sich auch in meinem Bauch ein leichtes Hungergefühl einschlich, gingen wir mit der jungen und netten Animateurin mit. Hätte ich sie zu Hause kennengelernt, hätte ich sie glatt als Kindermädchen engagiert. Sie brachte uns in ein Restaurant, das direkt am anderen Ende des großen, wunderschönen Strandes lag und richtig edel war. Ohne den Gutschein hätten wir uns das bestimmt nicht leisten können. Sie brachte uns in eine hübsche, etwas abseits gelegene Ecke, in der wir in Ruhe sitzen und den Ausblick genießen konnten. Wir bestellten unser Essen – die Kinder wählten selbstverständlich auch viele Pommes frites, da es diese zu Hause kaum gibt, schließlich sind die nicht gerade gesund.
Bis das Essen kam, liefen die Kinder die zwanzig Meter zum Meer und tobten darin herum. Als der Kellner mit den Tellern kam, rief ich sie zu uns, die Animateurin und ich hatten uns sehr gut unterhalten. Es war ein wunderschönes Gespräch, endlich einmal wieder einfach über Frauenthemen gesprochen, die Kinder und die Familie und den Alltag hatte ich in diesen Minuten hinter mir lassen können. Halb verhungert stürzten sich die Kinder auf ihre Teller und ich hatte gerade erst angefangen, als sie auch schon Nachschub verlangten. Das war kein großes Problem, in der Küche war man darauf offenbar vorbereitet gewesen. Also bekamen sie ihren Nachschlag. Als wir schließlich satt waren, brachte uns die Animateurin in unser Bungalow, das wir mit meinem Mann gemeinsam bewohnen sollten.
Unser Gepäck war bereits da, lediglich der Koffer meines Mannes fehlte, da er für das Gespräch noch ein paar Unterlagen daraus benötigt hatte, er würde ihn später mitbringen. Auch er habe selbstverständlich bereits gegessen und würde sich gut amüsieren mit den Personen, die ihn befragen mussten. Die Kinder fielen sofort in ihre Betten und schliefen, noch in ihrer Straßenkleidung, einfach ein. Gemeinsam mit der Animateurin setzte ich mich noch auf die kleine Terrasse, die an unserem Bungalow angebracht war. Wir genossen die Ruhe und den Sonnenuntergang. Schließlich, es war gerade ein wunderschönes Licht, fragte sie mich, ob ich mich nicht wunderte, dass sie nicht gegessen habe. Ich sah keinen Grund dafür, da sie ja möglicherweise bereits vor unserer Ankunft etwas zu sich genommen haben könnte. Zu meinem Entsetzen erklärte sie mir, dass sie es mir eigentlich nicht sagen dürfe, mich und die Kinder aber sehr sympathisch finde und mich deshalb informieren wolle. Ich wusste nicht, worum es ging und hakte nach. Schließlich berichtete sie, dass sämtliche Speisen, die an uns ausgegeben worden waren, vergiftet gewesen seien. Sie habe nun Angst, dass wir tatsächlich daran sterben könnten und das wolle sie nicht. Ich sollte zusehen, dass wir uns alle übergaben, damit das Gift nicht länger in unseren Körpern sei. Allerdings war es bereits so spät, dass mit Sicherheit nur noch sehr geringe Mengen des Giftes auf diese Art entfernt werden könnten.
Um mich selbst machte ich mir keine Sorgen, aber wegen der Kinder wurde ich panisch. Allerdings wollte ich mir das nicht anmerken lassen. ‚Vielleicht war das ja nur ein schlechter Scherz …‘, dachte ich. ,So was würde schließlich niemand tun, richtig?‘
Ich bat sie so höflich, wie es mir möglich war – und das war nicht sehr -, mich jetzt alleine zu lassen. Als ich durch die einzelnen Zimmer ging und nachsah, ob die Kinder schliefen, stellte ich keine Unregelmäßigkeiten fest, maß aber zur Vorsicht bei allen Fieber und Blutdruck. Sie waren so müde, dass sie es gar nicht richtig mitbekamen. Vielleicht hatte ich mich doch nur in der Animateurin getäuscht und sie war ein verlogenes Ding, das sich einen Spaß daraus machte anständigen Familien, den Urlaub zu verderben. Das musste es sein. Doch der Gedanke daran, wie meine Kleinen am Morgen schlaff in ihren Betten liegen würden, mit blicklosen Augen, ließ mich nicht los. Doch egal an welche Tür ich hämmerte, niemand öffnete. An der Rezeption wurde ich freundlich abgewiesen.
„Hier vergiftet niemand Kinder“, sagte man mir in einem mitleidigen Ton. Ob ich ein Sedativum oder ein Gespräch mit dem Hauspsychologen wünsche, wurde ich noch gefragt. Ich konnte es nicht fassen, am liebsten hätte ich losgeschrien, aber dann hätte ich wirklich noch eine Spritze bekommen, wie irgend so eine Irre.
Und wo war eigentlich Ronald?
Vor Angst um meine Kleinen schlief ich die Nacht über nicht, sondern sah alle paar Minuten nach, ob es ihnen noch gut ging. Am Morgen klopfte es an der Türe. Schlaftrunken fand ich mich in einem Sessel in der kleinen Wohnstube wieder, ich war wohl eingenickt. Voller Sorge und Vorwürfe ließ ich den unbekannten Besucher vor der geschlossenen Türe noch warten und sah nach den Kindern. Sie schliefen unverändert, lediglich Marina erwachte und kam hinter mir her in die Küche. Ich hieß sie an, dort zu warten, während ich die Türe öffnete.
Die Animateurin stand freudestrahlend draußen und verkündete mir, dass wohl ausgerechnet unsere Speisen nicht vergiftet gewesen waren und wir uns somit keine Sorgen mehr machen zu brauchten. Ungläubig ließ ich sie stehen, warf die Türe zu und stolperte wutschnaubend in die Küche. Dort schüttete ich Marina mein Herz aus, die mich sofort verstand. Sie war aber noch zu müde, um sich länger mit mir zu unterhalten und ging deshalb wieder in ihr Bett. Ich selbst wollte zwar auch nur noch schlafen, doch fühlte ich mich nicht in der Lage dazu. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich etwas essen musste, da ich gestern ja nur wenig zu mir genommen hatte, wie fast immer am ersten Abend des Urlaubes.
Wie auf Kommando klopfte es erneut. Ich dachte schon, dass mein Mann endlich käme und uns nur nicht erschrecken wollte. Doch es war nur der Frühstücksmann. Er brachte uns alles, was für ein Frühstück so nötig ist, sogar für mich einen fertig gekochten Kaffee, der herrlich duftete und ein Gläschen Sekt. Ich gab ihm etwas Trinkgeld und trank zunächst einen großen Schluck aus meiner Tasse. Endlich durfte ich mal richtig guten Kaffee kennenlernen. Als ich mir gerade ein halbes Brötchen geschmiert hatte, wurde ich so müde, dass ich es noch gerade so in mein Bett schaffte. Bis heute wünsche ich, dass ich diesen Kaffee nie getrunken hätte und nicht geschlafen hätte …
Es war ein grauenvoller Traum. Mit meinem Jüngsten, Jakob heißt er, war ich mit dem Auto unterwegs, irgendwo an der Küste, gleichzeitig aber mitten im Dschungel. Da ich die Straße nicht gut kannte, diese aber immer wieder wegen Überschwemmungen leicht unter Wasser stand, fuhr ich sehr langsam, was die Einheimischen sehr aufregte und zu dichtem Auffahren animierte. Dies machte mir irgendwann so große Angst, dass ich einfach am Straßenrand anhielt und ausstieg. Ich wollte kurz verschnaufen und mir eine kleine Pause gönnen, der Schreck der Fahrt steckte mir in den Gliedern.
Nur wenige Minuten später hielt ein Geländewagen direkt hinter mir und es stiegen zwei muskelbepackte Männer aus, die mich in sehr schlechtem Deutsch ansprachen, ob ich denn verrückt sei, hier anzuhalten und das Auto auch noch offen zu lassen. Ob ich lebensmüde sei. Ich verstand das alles nicht. Erst jetzt hörte ich, dass unsere beiden Hund, zwei zuckersüße Welpen, bellten wie verrückt. Erklären konnte ich es mir aber nicht. Fragend blickte ich die Männer an, die ich als Polizisten oder etwas in der Art bezeichnen würde. Sie rissen die Türe auf, drückten mir die Hunde in die Arme und nur Sekunden darauf zerrten sie ein etwa einen Meter großes, aber kräftiges Krokodil aus dem Auto. Voller Panik lief ich zu meinem Wagen, schließlich saß Roman ja noch darin. Entsetzen ergriff mich und ich war wie erstarrt, als ich sah, dass unter dem Vordersitz ein weiteres dieser Tiere hervorkroch. Die Welpen in meinen Armen wimmerten vor Angst, ich selbst war einfach untätig, konnte die beiden nicht absetzen, wollte aber natürlich meinen Jungen auch nicht einfach so sitzen lassen und zusehen, wie er …
Ich konnte mich nicht rühren, spürte, dass mich die Männer festhielten, dass sie nicht zuließen, dass ich versuchte, meinen Kleinen dort herauszuholen, doch ich hatte keine Chance gegen diese Kraftpakete. Ich war einfach zu schwach. Als sich das Maul des Krokodils öffnete, schrie ich panisch auf und konnte mich endlich losreißen. Dabei bemerkte ich, dass die Hunde nicht länger in meinen Armen waren, sondern meine Bettdecke. Und Jakob saß fröhlich lachend auf dem Schoß meiner Tochter und quietschte vor Freude über die durch die Vorhänge tanzenden Sonnenstrahlen. Diese Angst, die werde ich nie vergessen.
Und die Schuldgefühle. Nicht einmal im Traum habe ich für mein Kind gekämpft. Ich bin keine gute Mutter …
Die Erinnerung fällt mir schwer, aber gleichzeitig drängt sie sich immer wieder auf.
"Bei mir war es auch nicht viel besser", erklärt mein Mann auf dem Weg zum Ausgang. Von meinem Traum werde ich ihm nie erzählen.
"Sie wollten mit den Kindern experimentieren", sage ich leise.
"Und dann?"
"Dann hat man uns geholt. Wir würden entlassen."
"Mama, warum fahren wir hier wieder weg? Es ist soooo schön hier." Ich sehe meinen Sohn lange an.
"Was hat der Papa da?"
"Er hat sich verletzt", sage ich schnell. „Aber es ist nicht schlimm.“
"Du musst zum Arzt, Papa", stellt meine Tochter besorgt fest. Sie klingt so erwachsen. Manchmal vergesse ich, dass sie noch ein Kind ist.
"Ja, Marina." An diese Möglichkeit haben wir beide noch nicht gedacht.
Ronald Kämp
Der Rückweg erfolgt problemlos. Wenig Verkehr und meine Narben sind interessanter. Kein toter Wolf diesmal. Nur Roman schimpft weiter, weil er lieber am Meer geblieben wäre. Wir werden bald einen schönen Urlaub planen. Doch fürs Erste haben alle außer Roman genug vom Urlaub. Ich wünsche mich in die Schule. Dort werde ich sowieso einige Dinge klären müssen.
Noch einmal halte ich an, um zu tanken. Roman möchte unbedingt aus dem Auto, also nehme ich ihn mit ins Gebäude, um zu bezahlen. Leider habe ich nicht daran gedacht, dass er ja noch ziemlich klein ist. Und jetzt kann ich mich mit ihm durch die Regale mit dem üblichen überteuerten Kram, der Kinder magisch anzieht, kämpfen. Wenigstens er hat seine Freude.
Wir alle sind froh, als wir unsere vier Wände erreichen.
Johann Gröll
Ich verlasse das Haus an diesem Montag gegen neun Uhr.
„Ihr seid vorsichtig, klar? Wir dürfen nicht auffallen“, sage ich zu meiner Familie und unseren Gästen.
Alle bestätigen mir, dass sie auf der Hut sein werden.
In der Garage versuche ich, meinen Wagen zu starten.
Der Motor rührt sich nicht. Ich schalte die Zündung ein. Der Akku ist aufgeladen. Ich rufe von meinem Telefon im Haus an.
Melanie meldet sich.
„Sag Mama, der Wagen muss in die Werkstatt. Sie soll jemanden anrufen, der ihn abholt. Ich nehme den Stadtzug.“
Ich lege auf.
Seufzend steige ich aus dem Wagen. Soviel zum Thema unauffällig … Wenn ich mich anders als gewohnt zur Arbeit begebe, ist das möglicherweise schon auffällig genug.
Die Zugstation ist nicht weit entfernt. Trotzdem gröle, ... Verzeihung, hege ich Groll gegen diese Panne. Ich hasse Menschenmassen am Morgen. Und der Zug wird voll sein.
Ich dränge mich in den Zug, der in Richtung meines Büros fährt.
Der Zug fährt an.
Neben mir steht jemand, der am Vortag getrunken haben muss. Er riecht wie eine ganze Schnaps-Brennerei. Zur anderen Seite steht jemand, der Knoblauch zu lieben scheint. Genial, denke ich. Ich weiß schon, weshalb ich wesentlich lieber mit meinem Wagen zur Arbeit fahre. Der Zug beschleunigt.
Jemand drängt sich neben mich.
„Morgen, Minister“, flüstert jemand. „Erst Dein Sohn, jetzt Du. Das ist ein Ding, was?“
Ich kann mich in dieser Menge nicht bewegen. Doch das ist nicht nötig. Eine kleine Faust trifft den potenziellen Angreifer am Hals. Umkippen kann er nicht. Die Menge ist zu dicht.
Mir wird schwindelig.
Dieselbe kleine Hand packt meinen Arm und zieht mich an der nächsten Haltestelle auf den Bahnsteig.
„Der Mann ist tot“, sagt eine junge Frau mit einem komischen Akzent, ich tippe auf Asien, obwohl ich das erst ein einziges Mal in meinem Leben gehört habe.
„Danke. Sie haben mir das Leben gerettet“, antworte ich heiser.
„Früher nannte man so etwas Zivil-Courage. Sagt man so?“
„Ja, das sagt man so. Wer sind Sie?“
„Wang Hua. Ich komme aus Beijing.“
„Bitte?“
„Verzeihung, töricht von mir. Aus Peking. Ich bin hier Studentin und bisher unentdeckt. Das war Kampftechnik. Sie müssen zu Ihre Büro in Ministerium?“
Ich nicke und frage mich wie jemand trotz seines Akzentes nicht auffallen kann.
„Sind Sie verletzt? Soll ich Sie zu eine Arzt bringen?“
„Nein, es geht schon.“
„Aber wir nehmen ein Taxi zu Ihre Büro. Ich bleibe besser bei Ihnen, bis Sie heil angekommen sind.“
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2014
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