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Zitat

 

 

 

Nationalsozialismus ist wie ein Geschwür. Er saugt die Seele aus dem Land

und tötet das eigene Volk.

 Anonym

 

Titel

Holger Thomas Lang         

 

 

Der letzte Tag

 

 

Teil 1

      

 

 

 

 

Imprint

Imprint

Der letzte Tag

Holger Thomas Lang

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Holger Thomas Lang Umschlaggestaltung: Eva-Maria Stekl

ISBN 978-3-8442-7871-2

Kapitel 1

GERHARD HALDER 

Um die Überbevölkerung und die Verschuldung dieses Staates in den Griff zu bekommen, muss jeder Arbeitnehmer seinen Teil beitragen. Notfalls muss er mit dem höchsten Gut bezahlen, seinem Leben.

 

D. Hohlfelder

Präsident des Weltrepublikenverbundes

***

Ich werde heute 74 Jahre alt. Heute soll mein letzter Arbeitstag sein, aber die Firma habe ich schon seit einer Woche nicht mehr betreten. Bei welcher Firma ich arbeite? Bei World Net, einem Unternehmen, das sich auf den weltweiten Ausbau des Computernetzwerks ohne Internet spezialisiert hat, deshalb hat es auch einen englischen Namen.

Heute soll nun mein letzter Tag sein. Ich habe Angst, wie ich gestehen muss. Aber man hört, dass es schnell gehen wird. Weshalb ich heute sterbe? Das erzähle ich Dir später. Zuerst musst Du etwas über die Zeit erfahren, in der ich lebe. Denn Du wirst wahrscheinlich niemanden kennenlernen, der sie erlebt hat.

Ich lebe im Jahre 2436 n. Chr. also faktisch im Jahre 0 vor Weltuntergang. Jedenfalls dann, wenn der Staat, in dem ich lebe, genannt Weltrepublikenverbund, weiter so funktioniert. Zum Glück haben wenigstens die USA, Großbritannien, ganz Asien und Russland erkannt, dass das keine gute Idee ist und sind nicht beigetreten. Denn die Regierung rottet ihre Bürger nach und nach aus und behauptet etwas von Überbevölkerung, obwohl die meisten Häuser schon leer stehen und die Einwohnerdichte um gute achtzig Prozent zurückgegangen ist. Was ich sehr schlimm finde, ist die Tatsache, dass nur noch Deutsch als Sprache innerhalb des Staates erlaubt ist. In der Schule lernen die Kinder kein Englisch mehr und können sich mit den Bürgern der anderen Nationen nicht unterhalten. Und allen wird die Kultur geraubt. Nur die früher „deutsche Gründlichkeit“ und Traditionen von dort werden noch geduldet. Religion? Das kennen die Kinder nur noch aus Märchen und Geschichtsbüchern. Die heutige Religion ist unser Staat. Jeder wird auf verschiedenste Art seiner Identität beraubt. Und wer nicht an den Staat glaubt und dies zu laut sagt, wird kurzerhand aus dem Weg geschafft.

Jetzt aber will ich mein Versprechen einhalten und Dir meine Geschichte erzählen.

Vor einer Woche also erhielt ich einen Anruf der Abteilung Versicherungs-, Lohnabwicklungs-, und Risiko-Management, kurz VLR. Sämtliche Zahlungen werden bei dieser staatlichen Abteilung überprüft. Mein Name ist Gerhard Halder. Aber im Zuge der Namensabgabe, es wird damit begründet, dass wir alle sowieso nur Nummern seien, erhielt ich die Nummer 62451.

 „Nummer zwoundsechzig-vier-einundfünfzig?“ fragte der Mann sehr freundlich.

„Ja“, antwortete ich.

„Ihr letzter Arbeitstag steht in Kürze bevor. Wir müssen einiges regeln, bevor Sie in die verdiente Ruhezeit eintreten. Sie sind im Bilde?“

„Sprechen Sie“, forderte ich den Mann auf. Nach seinem Namen zu fragen, wäre sinnlos. Ich hätte nichts erreicht. Höchstens ein paar Probleme.

„Nun, Sie haben in Ihrem Betrieb 50 Jahre treu gearbeitet, richtig?“

„Ja.“

„Und dabei sind Gelder angespart worden, die Sie jetzt ausbezahlt bekommen sollen. In Form eines Ruhegeldes.“

Ich schwieg.

„Nun“, fuhr mein Gesprächspartner fort, „Sie haben nun zwei Möglichkeiten.“ Kurze Pause. „Sie verzichten auf die angesparten Bezüge, die im Übrigen sehr hoch sind, Gratulation“, er lachte, „und spenden diese der Regierung. Vollständig. Stattdessen werden Sie in einem Wohnheim untergebracht, das alles für Sie regeln wird. Sie erwartet ein ruhiges Leben, sofern Ihre Ansprüche nicht zu hoch sind. Und vor allem können Sie noch bis zu Ihrem Geburtstag in Ruhe Abschied von ihren Kollegen nehmen, weil Sie noch arbeiten dürfen.“

„Und die zweite Möglichkeit?“

„Sie erhalten die volle, angesparte Summe, sowie einen einwöchigen Urlaub, beginnend ab sofort.“

Schweigen.

„Eine Summe, die ich natürlich dann für meine verdiente Ruhezeit verwenden kann und meinen Urlaub verbringen kann, wo ich möchte, oder?“

Ein angenehmes Lachen.

„Ihr Humor gefällt mir. Sie werden mit diesem Geld für Ihre weitere Zukunft planen. Sie werden Ihre letzten Rechnungen begleichen. Sie werden Ihre Injektion, Rezept für das Medikament, Spritzen und selbstverständlich den Arzt oder Pfleger, der sie durchführt, bezahlen. Und die Beerdigungskosten, selbstverständlich. Der Rest geht an die Regierung. Und Ihren Urlaub werden Sie wohl hier verbringen müssen, da Sie gar keine Zeit für andere Dinge haben werden.“

Selbstverständlich war mir bewusst, dass es dagegen keinen Einspruch gab. Die einzige Möglichkeit, meinem Tod zu entgehen, wäre eine sehr große Spende an den Staat gewesen. Und das wollte ich auf keinen Fall zulassen. Dafür war mein Stolz zu groß. Es war mir aber auch bewusst, dass ich niemanden benennen konnte, dem ich das Geld jetzt, noch vor dem Vollzug dieses angekündigten Urteils, hätte überlassen können. Das wäre sofort aufgefallen und derjenige hätte auch große Probleme bekommen. Außerdem hatte ich wirklich niemanden, dem ich es hätte geben können. Freunde und Verwandte hatte ich schon lange nicht mehr. Und ansonsten wusste man nie, wem man trauen konnte und wem nicht.

Also überlegte ich mir wie ich dem Staat möglichst wenig überlassen konnte. Die Aufgaben, die auf mich zukamen, würde ich von der Agentur für letzte Angelegenheiten (ALA) übernehmen lassen. Sie regelten alles gegen einen Pauschalpreis, der weit unter dem lag, was ich einzeln bezahlen müsste. So könnte ich mir wenigstens noch ein paar letzte schöne Tage machen und würde noch möglichst viel Geld durchbringen.

Zwei Tage nach dem Anruf erhielt ich meine Ersparnisse in Form eines Schecks.

„Wenn Sie hier unterschreiben würden, das ist die Empfangsbestätigung. Sonst heißt's wieder, wir vom Beförderungswesen hätten was unterschlagen. Passiert ja bei solchen Sendungen öfter, diese Unterstellungen.“

Ich unterzeichnete, während ich mir dachte, dass diese Gerüchte wohl auch nicht aus dem Nichts entstanden sein dürften. Da ich noch etwas Kleingeld in bar bei mir hatte, entschied ich, diesem jungen und zum Glück ehrlichen Burschen ein kleines Trinkgeld zu geben – immerhin wieder etwas, das der Staat nicht kassieren konnte.

„Vielen Dank. Und Ihnen viel Spaß mit Ihrem Scheck. Bestimmt verreisen Sie. Am besten setzen Sie sich einfach ab!“, meinte der Bote lachend und verschwand.

Er wusste mit Sicherheit sowieso, was auf mich zukam.

Kurz überlegte ich, ob ich nicht wirklich das Land verlassen sollte. Aber seit durch Staatszusammenlegungen und den Krieg die Ausmaße größer waren als die der USA, wodurch ich zu viel Zeit benötigen würde und noch dazu die Grenzen überall nahezu hermetisch abgeriegelt waren und auf Flüchtlinge kontrolliert wurden, indem die Bürgeridentifikationskarte vorzulegen war, war es quasi unmöglich, zu entkommen. Und die Strafe, die auf einen Fluchtversuch stand, war weit schlimmer als eine Spritze, die meinem Leben wahrscheinlich geplanter Weise ein Ende machen sollte. Ich würde gefoltert werden, bis ich halb tot war und, wenn ich bis dahin nichts gesagt hätte, dann käme ich bei Wasser und Brot in eines dieser Arbeitslager. Wahrscheinlich dann gleich in einen Bereich, in dem ich zwar noch lange genug nützlich wäre, aber auch auf keinen Fall länger lebte, als unbedingt nötig. Allein die Vorstellung beendete meine Gedanken schlagartig. Schließlich wollte ich nicht auf diese Art und Weise sterben. Es wäre eine Mischung aus Verhungern, Verdursten, Überanstrengung und wahrscheinlich auch Krankheit, die mich dahinsiechen lassen würde.

Solche Methoden hatte es zuletzt vor mehreren Hundert Jahren gegeben in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach. Bis etwa 2150 n. Chr. ein neues Abkommen geschlossen worden war, dass jeder, der solche Dinge anordnete, als vogelfrei galt und von jedem, der ihm begegnete, getötet werden konnte. Und zwar auf jede beliebige Art und Weise.

Ein paar hatten es noch versucht, waren jedoch nicht weit gekommen. Meist war es dann jemand aus den eigenen Reihen, der sich einen Ruck gab. Besonders gut bewacht oder beliebt waren diese Leute sowieso nie.

Erst durch den dritten Weltkrieg, den ich noch als Kind miterlebte – und heute schreiben wir ja wie erwähnt das Jahr 2436 n.Chr. – konnten wieder solch skrupellose und machtgierige Menschen in die Regierung gelangen. Und es war passiert. Bei uns war das nun so geschehen und jeder hatte sich diesem Menschen unterzuordnen. Dabei hatte es nach dem Krieg, den damals noch Jakob Müller, einer der schlimmsten Diktatoren der Menschheit, angezettelt hatte, nicht annähernd danach ausgesehen, als ob hier jemals wieder jemand mit diesen Methoden die Macht ergreifen könnte.

Das Telefon klingelte. Doch ich erreichte es nicht rechtzeitig. Langsam fand ich zurück in die aktuelle Zeit und begriff, dass es höchste Zeit war, mich auf den Weg zu ALA zu machen. Ich wusste ja nicht, wie lange ich warten müsste und wie schnell sie alles fertigmachen könnten. Ich fuhr also los und merkte schon auf dem Parkplatz, dass ich mit langen Wartezeiten zu rechnen hatte. Obwohl hier die Parkplätze schon so konzipiert waren, dass durch das Aufzugsystem sieben, an manchen Stellen zehn Autos parken konnten, fand ich keinen freien Platz. Ich musste also in einer der Nebenstraßen, in eine dieser überteuerten Garagen, fahren. Unglaublich. Aber wieder – das Geld würde an Privatpersonen gehen und ich müsste es nicht dem Staat überlassen.

Das bedeutete allerdings auch noch mehrere Minuten Fußmarsch und das könnte noch längere Wartezeiten mit sich bringen. Aber was konnte ich schon dagegen tun?

Als ich endlich an die Reihe kam, waren wohl mindestens fünf Stunden vergangen, seit ich das Gebäude betreten hatte. Gut, dass mittlerweile rund um die Uhr gearbeitet wurde in der ALA. Sonst wäre ich wohl nicht mehr an die Reihe gekommen.

„Wir haben hier noch einige Formulare und Ermächtigungen, die Sie ausfüllen und unterzeichnen müssen“, grunzte mich der Sachbearbeiter unfreundlich an.

Ich nahm ohne ein weiteres Wort die Formulare und verließ sein Büro. Es war klar, dass ich keine Fragen stellen konnte, falls etwas unklar war. Dafür hätte ich nochmals warten müssen.

Die Formulare allein umfassten 30 Doppelseiten, die verschiedenen Ermächtigungen wollte ich gar nicht mehr zählen und ich las auch gar nicht mehr genau durch, was ich in den Händen hielt, ich war auch so einige Zeit beschäftigt. Ich füllte aus und unterschrieb ohne einen blassen Schimmer davon, was es eigentlich beinhaltete und wofür das alles nötig war. Nun ja – der Hauptgrund war mir natürlich schon klar. Der Staat wollte möglichst viel bekommen, ohne zu viele Ausgaben zu haben durch mich. Aber deshalb gab ich auch die Werte meines Sachvermögens weit niedriger an, als sie hätten sein müssen. Es war auch so noch genug. Und das würde nicht überprüft werden, wie mir ein junger Mann verriet, der neben mir seinen Stapel Papiere ausfüllte. Wir berieten also leise, welche Vermögenswerte wir eintragen sollten und schrieben beide auf unsere Formulare nur den Bruchteil des eigentlichen Wertes. Nachdem wir fertig waren, mussten wir beide noch warten und in dieser Zeit unterhielten wir uns leise, denn wir hatten bemerkt, dass wir einige wichtige Gemeinsamkeiten hatten. Zum Beispiel den Gedanken, dass der Staat nicht noch gefördert werden musste.

„Wieso ist ein so junger Mann wie Du hier, um diese Formulare auszufüllen?“, fragte ich ihn ungläubig.

„Naja, wenn man heutzutage aus der Schule kommt und ins Arbeitsleben eintritt, dann wird das gleich mal verlangt. Offiziell nur dann, wenn die Regierung Angst haben muss, man könnte aufgrund seiner Arbeit frühzeitig sterben oder empfindliche Daten zu Gesicht bekommen. Aber alle aus meiner Klasse mussten kurz nach den Prüfungen hierher. Bei mir war es sowieso klar. Ich werde bei World Net anfangen – in wenigen Tagen schon. Da kommt-“

„Bei World Net?“, unterbrach ich ihn, wofür ich mich gleich schämte, „Da arbeite ich, oder anders gesagt, habe ich dort gearbeitet. Um genau zu sein, war ich bis vorgestern noch jeden Tag dort und habe meine Leistung erbracht. Es ist ein guter Job, aber pass auf, dass Du Dich nicht mit den falschen anlegst. Das könnte böse enden. Und erzähle niemandem – nicht einmal Deiner Familie – was Du dort alles erfährst. Versprich mir das!“

Verwirrt nickte er, denn damit hatte er wohl nicht gerechnet. Ich schätzte ihn zwar als klug genug ein, dass er auch so nichts erzählt hätte, nachdem er diese Formulare hatte ausfüllen müssen, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen.

„In welcher Abteilung und Position hast Du denn genau gearbeitet?“, fragte er mich nach kurzem, nachdenklichem Schweigen.

„Ich war in der Zukunftsabteilung der Abteilungsleiter und außerdem stellvertretender Geschäftsführer, wenn der Chef mal nicht da war, dann hatte ich wirklich alles unter mir. Ein harter Job“, erklärte ich im Flüsterton.

„Genau diese Position soll ich übernehmen. Davor habe ich schon richtig Angst. Aber Du hast es ja auch geschafft und lebst immer noch.“

„Tja, aber für mich ist jetzt auch Schluss. Und zwar mit allem. Noch lebe ich, ja. Aber bei mir war das kein vorsorgliches Formular mehr. Für mich ist in wenigen Tagen alles zu Ende. Mach Deine Arbeit gut. Wenn Du schon so weit oben einsteigst, dann kannst du womöglich noch sehr viel erreichen.“ Eigentlich war mir ja nicht danach zu Mute, aber ich wollte ihn aufmuntern. Denn er hatte eine harte Arbeit vor sich.

Endlich wurde ich wieder aufgerufen und wünschte dem Jungen noch viel Glück in dem Wissen, dass ich ihn wohl nie wieder sehen würde und hoffte, dass sein Leben nicht so enden würde wie meines.

Ich musste mich beeilen, den Raum zu betreten, denn sonst würde der Sachbearbeiter das als Verweigerung werten und ich würde das gesamte Geld, das ich durch den Scheck erhalten hatte, ihm geben müssen, damit es dann auch sicher bei der Regierung ankommen würde.

Also sah der Sachbearbeiter die Formulare durch und blickte mich immer wieder prüfend an. Wahrscheinlich wollte er sehen, ob ich so wirkte, als ob ich nicht wahrheitsgemäß geantwortet hatte.

„Scheint alles in Ordnung zu sein. Lösen Sie Ihren Scheck ein. Wir buchen unser Honorar von Ihrem Konto ab. Außerdem kümmern wir uns um Ihre Rechnungen und Ihre Beisetzung... und die noch anstehenden Angelegenheiten. Gehen Sie jetzt!“

Ich verließ das Gebäude und verspürte dabei eine unendliche Müdigkeit und auch die nun aufkommende Angst peinigte mich. Denn jetzt, wo alles geregelt war, hatte ich noch genau fünf Tage zu leben.

Diese Zeit würde entweder sehr langsam oder sehr schnell vergehen, sinnierte ich, während ich meinen Mercedes – meinen wunderschönen Oldtimer - durch die Straßen steuerte. Sollte ich den Akku für den Elektromotor noch aufladen?

„Nein! Das können die von der Regierung auf ihre Kosten erledigen!“, entschied ich. Es war schon schlimm genug, dass ich noch nicht einmal dieses Fahrzeug vor ihnen retten konnte. Dabei war es für mich so viel mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Es war das Einzige, das mir noch von meinem Vater geblieben war. Denn er hatte mir damals, vor vielen Jahren, als er und Mutter sich entschlossen, in die USA auszuwandern, um dort einen ruhigen Lebensabend zu verbringen, nur dieses Auto hinterlassen. Wenige Wochen nach ihrer Ausreise bekam ich damals Besuch durch einen Beamten, der mir mitteilte, dass meine Eltern in den USA ums Leben gekommen waren. Damals gab es den heutigen Staat noch nicht und es war bekannt, dass es ein natürlicher Tod gewesen war. Heutzutage wäre ich vom Gegenteil ausgegangen. Denn da war es fast sicher, dass in Wahrheit unser toller Vater Staat – was für ein Rabenvater – die Finger im Spiel gehabt hätte.

Die Nacht verbrachte ich, durch verschiedene, legale Mittelchen aufgeputscht, in ein paar Lokalen, wo ich noch einmal das Leben so richtig genießen wollte. Am Morgen hätte ich meinen Termin beim Arzt und danach würde ich nicht mehr so leicht genießen. Ab da würde wahrscheinlich alles durch eine andauernde Todesangst überschattet werden.

Mittlerweile doch etwas müde, fand ich mich schließlich beim Amt für letzte medizinische Untersuchungen ein.

„Wir müssen sehen, wie Ihr Gesundheitszustand ist, dass wir die Medikamente auch ganz genau dosieren können. Wir wollen ja nicht zu viel oder zu wenig verbrauchen, nicht?“, fragte mich der Arzt scheinheilig und schloss mit schallendem Gelächter.

Obwohl er einen grausamen Job machte, hatte er etwas Sympathisches an sich. Auf der Straße hätte ich ihn bestimmt gefragt, ob er mit mir etwas trinken gehen wollte, aber so war das für mich nicht denkbar. Seine Arbeit hatte mich abgeschreckt.

Ein Kardiogramm wurde erstellt, bei dem nicht nur, wie früher, die Schläge meines Herzens aufgezeichnet wurden, sondern auch ganz genau die Kraft, mit der es schlug, der Blutdruck bei jeder einzelnen Pumpbewegung, die Geschwindigkeit des Blutflusses und noch viele weitere Dinge, die ich nicht verstand. Auf jeden Fall sollte jede noch so geringe Veränderung sorgfältig aufgezeichnet und mit eingerechnet werden können. Auch ein Blut-Schnelltest wurde durchgeführt. Dafür wurde nicht, wie für eine normale Blutentnahme üblich, einfach mit einer Spritze eine Ampulle befüllt, die dann ins Labor ging. Nein, mein Blut wurde aus meinem Körper hinaus durch verschiedene Substanzen geleitet, die Auffälligkeiten sofort sichtbar gemacht hätten. Bevor es wieder zurück in meinen Körper floss, wurde es von den Mittelchen gereinigt, damit diese wiederverwertet werden konnten. Während der ganzen Prozedur verblieb immer nur genau so wenig Blut im Körper, wie ich dringend benötigte, damit ich nicht bereits jetzt starb. Aber die ganze Zeit hindurch befand ich mich immer am Rande der Bewusstlosigkeit.

Nach insgesamt sechs Stunden körperlicher Untersuchung, die noch weit mehr als die erwähnten Punkte umfasste, wurde ich wieder zu meinem Arzt gerufen.

„Sie sind geradezu unverschämt gesund, theoretisch könnten sie locker noch weitere zwanzig Jahre arbeiten. Aber das hätten Sie früher klären sollen. Sie bezahlen die Medikamente und die Tests selbst?“

„Das regelt die ALA“, sagte ich und dachte im Stillen, dass ich doch im Frühjahr meinen Gesundheits-Check-Up hätte machen sollen. Dann hätte ich jetzt nicht sterben müssen.

„Fein, Ihre Kundennummer dort? Wir regeln das dann mit dem Amt. Das geht ganz schnell. Erstaunlicherweise. Sonst sind die dort ja immer ziemlich langsam. Ich kann Ihnen das Rezept gleich ausstellen, oder nein, warten Sie!“

Er verschwand in einem Nebenraum, während ich ein Papier mit meiner Kundennummer der ALA heraussuchte.

„Ich habe das Medikament hier!“, strahlte er als er zurückkam. „Wir müssen die letzte Injektion von Amtswegen hier durchführen, aber da gibt es einen speziellen Trakt. Man wird Sie dorthin führen. Sie kommen in vier Tagen wieder hierher. Ihr Arbeitgeber, Ihr Sachbearbeiter bei der ALA, Ihr Sachbearbeiter bei der VLR, ein Regierungsvertreter und ich werden bis zuletzt bei Ihnen sein.“

Ich verbiss mir einen zynischen Kommentar, denn jetzt war es das nicht mehr wert, wegen einer Aussage noch Probleme zu bekommen.

„Ich schicke Sie nun noch zu einem Kollegen, der Sie psychologisch vorbereiten wird. Allerdings kann die Wartezeit dort sehr lange sein.“

Also erneut warten. Mittlerweile war ich müde genug, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können, denn die Wirkung der Aufputschmittelchen ließ endgültig nach. Sie waren zwar legal, aber ich wollte mir nicht die Blöße geben, dass ich in diesen letzten Tagen so etwas benötigte, weil ich nicht hatte schlafen wollen.

Als endlich die Reihe an mir gewesen wäre, erfuhr ich, dass der zuständige Arzt dringend etwas außer Haus zu erledigen hätte und sein Vertreter im Urlaub sei. Deshalb sei es unmöglich, dass ich jetzt noch ein Gespräch bekäme und ich könnte in vierzehn Tagen einen Termin erhalten.

Ich wies darauf hin, dass dies absolut unmöglich sei und ich ein Recht auf mein Gespräch hätte.

„Dann kann ich Ihnen nicht helfen“, schnauzte die Frau an der Anmeldung. „Wenn Sie das nicht einrichten können ...“

Resigniert und erschöpft verließ ich das Gebäude. Wenigstens konnte ich jetzt endlich in mein Bett gehen und ein wenig schlafen. Erschöpft genug war ich ja dafür. Doch an meinen Wagen gelehnt wartete ein Herr in einem edlen schwarzen Anzug. Die Krawatte war absolut korrekt gebunden und die Haare lagen trotz des Windes so geordnet, dass klar war, dass er in irgendeiner Form für die Regierung tätig war.

„Herr Halder?“, fragte er freundlich.

Ich kannte weder ihn noch seine Stimme oder sonst etwas an ihm und war erstaunt, mit meinem Namen angesprochen zu werden.

„Ja“, antwortete ich und setzte im selben Atemzug an: „Meine Nummer ist ...“

„Sie haben noch ein paar Tage. Ich möchte Ihnen ein Stück Würde zurückgeben, jetzt, wo Sie nicht viel Zeit haben. Vergessen Sie Ihre Nummer einen Moment.“

Er lächelte mich an und winkte mich zu sich.

„Kommen Sie mit mir. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Immer noch ohne etwas über diesen Menschen zu wissen, weder wer er war, noch was er von mir wollte, folgte ich ihm. Ich hatte ja keine andere Wahl. Wenn er wirklich von der Regierung war, wovon ich immer mehr ausging, dann hatte er auch Mittel, mich zu zwingen, damit ich tat, was er wollte.

An einer wunderschönen BMW-E-Limousine hielten wir an. Ein schmuckes Ding, wie ich fand, aber mein Mercedes gefiel mir besser und war bestimmt stromsparender. Mercedes war da in der Entwicklung deutlich weiter und außerdem war mein Gefährt nicht so schwer und pompös.

Er bedeutete mir, dass ich einsteigen sollte. Fasziniert von diesem geräumigen Gefährt merkte ich fast nicht, dass er begann, mit mir zu sprechen.

„Mein Name ist Johann Gröll. Wie Sie wahrscheinlich schon bemerkt haben, arbeite ich für die Regierung. Ich möchte mit Ihnen noch einige Dinge besprechen, die Sie interessieren dürften. Ihre Unterlagen sind alle in Ordnung, Ihre letzten Angelegenheiten mittlerweile geregelt. Sie haben 50 Jahre für Ihre Firma loyal und sehr treu gearbeitet und sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Sie sind topfit. Wieso haben Sie sich eigentlich nicht dafür entschieden, erst später in Ruhezeit zu gehen?“

„Nun, ich hatte mich bereits auf die Ruhezeit gefreut und deshalb meinen Check-Up im Frühjahr nicht gemacht. Und damals war ja noch eine andere Partei die Regierung und deshalb hätte ich nicht gedacht, dass es jetzt so anders laufen würde, als noch vor einem halben Jahr.“

„Tja, die Zeiten ändern sich eben, Herr Halder. Also, Sie hatten fast keine Fehl- oder Krankheitstage. Sie sind die Karriereleiter nach oben geklettert. Mit viel Fleiß. Sprosse für Sprosse. Dies hat auch sehr viel Zeit und Nerven in Anspruch genommen. Und jetzt? Was geschieht jetzt?“

Ich zuckte mit den Schultern, da ich nicht wusste, worauf er hinauswollte und kein falsches Wort riskieren wollte.

„Sie fallen innerhalb weniger Sekunden von ganz oben nach ganz unten. Weiter unten als sie jemals standen. Können Sie mir folgen?“

Mittlerweile hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt und ich blickte traurig auf die Häuser, die langsam an uns vorbei glitten.

„Natürlich kann ich Ihnen folgen, Herr Gröll.“ Meinen sarkastischen Unterton konnte ich nur sehr schwer unterdrücken. Aber ich musste es mir ja nicht mit ihm verscherzen.

„Nun, Herr Halder, ich bin Ihr zuständiger Mitarbeiter seitens der Regierung und werde Sie bis zuletzt begleiten. Ich wollte nur, dass wir uns noch kennenlernen. Haben Sie noch irgendwelche Beschwerden? Kann ich Ihnen etwas Gutes tun?“

„Meine psychologische Untersuchung hat nicht stattgefunden. Ich denke doch, das steht mir zu. Oder können Sie vielleicht etwas tun, damit ich doch noch zurück ins Arbeitsleben gehen kann? Ich würde wirklich jede Arbeit übernehmen.“

„Nun mal langsam Herr Halder. Eins nach dem anderen. Wieso ist denn Ihr Termin nicht zustande gekommen?“

„Mir wurde mitgeteilt, dass der Arzt dringend zu einem Notfall musste und sein Stellvertreter im Urlaub ist. Als einziger anderer Termin wurde mir ein Zeitpunkt in vierzehn Tagen ange…“

Gröll brach aus einem unersichtlichen Grund in schallendes Gelächter aus.

„Das ist wirklich komisch, nicht? Das machen die beim Amt für letzte medizinische Untersuchungen fast immer, weil sie so wenig Geld wie möglich ausgeben möchten. Sie sollten versuchen, privat jemanden zu finden. Ob Sie da allerdings noch rechtzeitig Erfolg haben, wage ich zu bezweifeln. Ich kann Ihnen dabei auch nicht weiterhelfen. Deshalb kann ich es nur zu den vielen Beschwerden legen, aber das wird auch nichts ändern.“

„Und mit der Arbeit?“

„Also wirklich! So einfach ist das nicht. Sie haben sich entschlossen, sich zur Ruhe zu setzen und haben deshalb Ihren Arbeitsplatz verlassen. Außerdem ist Ihr Geld schon ausgezahlt worden und alle Angelegenheiten sind geregelt. Soweit ich weiß, ist auch Ihre Stelle bereits neu besetzt und Sie können nicht so einfach zurück. Haben Sie denn Familie?“

„Nein, habe ich schon seit Jahren nicht mehr“, erwiderte ich traurig.

„Dann kann ich wirklich nichts für Sie tun. Wir sind jetzt bei Ihrem Wagen. Ich wünsche Ihnen noch ein paar angenehme Tage. Genießen Sie sie und denken Sie nicht an das, was Ihnen bevorsteht.“

Ich stieg aus, nachdem mir Gröll die Hand geschüttelt hatte und fragte mich, wieso ein so freundlicher Mensch bei der Regierung arbeitete.

Nachdem ich noch ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, als ob ich so viel Leben wie möglich in meinen Körper holen wollte, damit sie es nicht auslöschen konnten, stieg ich in mein geliebtes Auto. Als ich gerade den Motor starten wollte, sah ich auf dem Beifahrersitz einen Umschlag, der mit meinem Namen beschriftet war. Er enthielt einen kleinen Zettel, auf dem stand:

„Damit Sie die letzten Tage noch schlafen können.“

Hinweis zur Leseprobe

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Impressum

Texte: Holger Lang
Bildmaterialien: Eva-Maria Stekl
Lektorat: Eva-Maria Stekl
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

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