Cover

Widmung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Kay.

Du bist mein Holunderküsschen.

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Das Glückliche-Braut-Team – Sie träumen, wir planen.

Wir sind stolz auf unseren langjährigen, exzellenten Service und auf unseren reichen Schatz an individuellen Hochzeitskonzepten. Hochzeitsvorbereitungen erfordern eine präzise Planung, eine genaue Kostenkalkulation und die Beachtung vieler Details.

Sie träumt von einem perfekten Brautkleid, einer eleganten Hochzeitsfrisur und dem romantischen Ambiente einer Hochzeit im Freien.

Er träumt von einem exklusiven Fahrzeug, dem besonderen Catering und einem rauschenden Fest, bei dem eine professionelle Band bis tief in die Nacht für Stimmung sorgt.

Das alles braucht Erfahrung und erfordert viel Zeit und Fingerspitzengefühl. Das Glückliche-Braut-Team ist dafür da, Ihre Träume in Erfüllung gehen zu lassen. Wir möchten, dass Sie schon die Hochzeitsvorbereitungen in vollen Zügen genießen können. Und behalten dabei Ihre Budgetplanung immer im Auge.

Wir vermitteln Ihnen zuverlässige Partner, die für außergewöhnliche Leistung einstehen, und behalten auf Wunsch, auch an Ihrem großen Tag, als Zeremonienmeister aus dem Hintergrund den Überblick.

So erarbeiten wir Ihr ganz persönliches Hochzeitsthema, bei dem sich viele kleine Details liebevoll zu einem unverwechselbaren Gesamtkonzept zusammenfügen. Angefangen bei der Einladungskarte und den Gastgeschenken über die Hochzeitstorte bis hin zur Tischdekoration.

Aus unserer Kartei mit über 1 000 traumhaften Locations finden wir gemeinsam mit Ihnen den perfekten Ort für Ihre Trauung. Damit Sie unbeschwert träumen können.

 

 

 

 

1.Julias Facebook-Status: Hochzeitsvorbereitungen!

 

Jajajajaaaaa! Die können Gedanken lesen. Wahnsinn! Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich die Zeilen auf dem Bildschirm lese. Das ist genau das, was ich mir schon als kleines Mädchen immer gewünscht habe. Alleine die Fotos! Ich seufze leise, während ich mir die mit Weichzeichner fotografierten Hochzeitsbilder an einem malerischen Strand ansehe. Genau das Richtige für mich und Johann.

Frau Julia Zoe Hartmann, jubiliere ich und lasse mir meinen zukünftigen Namen auf der Zunge zergehen. Zugegeben, das klingt nicht ganz so flüssig. Aber daran werde ich mich bestimmt gewöhnen. Julie Zoe Löhmer-Hartmann wäre durchaus eine Alternative für mich, aber Johann findet, dass mein Mädchenname irgendwie unsolide klingt. Ich starre weiter auf die Webseite von das Glückliche-Braut-Team. Inhaberin Rosalinde Rotermund, lese ich. Na, gegen diesen Namen ist Hartmann nicht mit Gold aufzuwiegen.

Johann und ich sind seit viereinhalb Jahren offiziell zusammen. Wir sind eines von diesen typischen Pärchen, das sich nachts im Löffelchen aneinander kuschelt und das sich mehrfach am Tag SMS schickt, obwohl es sich täglich sieht. In unserem Fall sogar während der Arbeitszeit, denn Johann ist sozusagen mein Chef. Ich greife zum Telefon und setze dabei eine möglichst gleichgültige Miene auf. Schließlich müssen ja meine Kollegen nicht mitbekommen, dass ich während meiner Arbeitszeit privat telefoniere. Ich wähle die Nummer von Katja, meiner besten Freundin. Leider lebt sie in Hamburg, seit sie die Stelle bei Blohm + Voss angenommen hat. Was bedeutet, dass unsere Kommunikation hauptsächlich über das Telefon stattfindet, da ich nun mal mit Johann in Freiburg wohne und ein Besuch zu Katja wie eine halbe Weltreise anmutet; vor allem, wenn man wie ich Flugangst hat und deshalb hauptsächlich auf Auto, Bus und Bahn angewiesen ist .

„Guten Tag. Katja Völkers am Apparat.“ Katjas Stimme klingt am Telefon immer unglaublich geschäftlich. Katja hat einen messerscharfen Verstand und mit ihren flachsblonden Haaren und den meterlangen Beinen sieht sie auch noch verdammt gut aus. Außerdem hat sie das Herz am rechten Fleck und ist immer für mich da, wenn ich sie brauche.

„Ich bin’s“, gebe ich mich mit leiser Stimme zu erkennen. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen.“

„Julia, was ist passiert?“ Katjas Stimme bekommt diesen strengen Unterton. „Bist du zu Hause? Bist du krank?“ Sie weiß genau, dass Privatgespräche während der Arbeitszeit bei Hartmann & Sohn strengstens untersagt sind.

„Nö“, versuche ich sie zu beruhigen. „Ich habe nur gerade diese Internetseite entdeckt und ich muss unbedingt deine Meinung dazu hören.“

„Du siehst dir nicht schon wieder heimlich den Weddingplaner an, oder?“

Ich sehe mich irritiert um. Immerhin wäre es ja möglich, dass hier eine Live Cam installiert wurde, um die Mitarbeiter zu überwachen. Liest man schließlich oft genug in den Medien.

„Julia?“, fragt Katja am anderen Ende der Leitung.

„Äh, ja – nein“, stammele ich. Katja hasst Froonck, den Wedding Planner. Ich hingegen finde es absolut toll, wie hingebungsvoll und mit wie viel Einfühlungsvermögen er sich den Herausforderungen einer Hochzeit stellt und für alles eine Lösung findet.

Katja schnaubt laut, um ihre Missbilligung über meine Handlungen kundzutun. Sie mag Johann nicht besonders und mit dem Gedanken, dass ich ihn bald heiraten werde, kann sie sich einfach nicht anfreunden. „Das ist doch nicht dein Ernst. Wenn du so weiter machst, feuern die dich noch!“

„Geht nicht“, rufe ich triumphierend in den Hörer, „schließlich ist der Juniorchef zufällig mein zukünftiger Ehemann!“ Nicht, dass ich mir darauf etwas einbilde, aber ein paar Vorteile bringt es schon mit sich.

„Ihr habt euch gerade erst verlobt. Bis zur Hochzeit ist es noch fast ein Jahr“, wirft sie hinterher. „Da kann noch sehr viel passieren!“

Gleich bin ich genervt. Katja tut ja gerade so, als ob bis zum Hochzeitstermin noch eine halbe Ewigkeit hin wäre, dabei sind es nur knapp acht Monate und es gibt noch so viel zu organisieren. So eine Hochzeit ist schließlich eine ernste Sache.

„Mit der Planung des schönsten Tags seines Lebens kann man gar nicht früh genug anfangen. Schließlich freue ich mich schon auf diesen Tag, seit ich ein kleines Mädchen bin“, appelliere ich an ihr schlechtes Gewissen. „Ich erinnere dich nur an die Hochzeit von Kronprinzessin Viktoria. Du hast damals Rotz und Wasser geheult und gesagt, dass du genau so heiraten möchtest. Dagegen bin ich mit meinen Wünschen direkt bescheiden.“

Ich werde diesen herrlichen Nachmittag zusammen mit dem schwedischen Königshaus nie vergessen. Katja und ich hatten es uns auf meinem roten Sofa so richtig gemütlich gemacht. Ich trug das schwarze Cocktailkleid, das mir Johann bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub auf Sylt geschenkt hat und Katja hatte dieses wahnsinnig ausgeflippte Kleid von Gaultier an, das sie von ihrem Russen geschenkt bekommen hatte. Dazu gab es unser beider Lieblingsgetränk: Prosecco mit Aperol.

Es war eine wunderschöne, herrlich romantische Hochzeit. Das Brautpaar wirkte so verliebt, und ihr Glück sprang einem förmlich durch die Mattscheibe entgegen. Nach der unterkühlten Hochzeit von Letizia Ortiz und Kronprinz Felipe war die Vermählung von Prinzessin Victoria und ihrem Daniel Balsam für die Seele und hat mir den Glauben an die wahre Liebe wiedergegeben. Katja und ich haben während der gesamten Zeremonie geweint. Eigentlich wollten wir hinterher noch in einen der angesagten Clubs feiern gehen, aber unser Make-up war völlig ruiniert und die Augen derart verquollen, dass wir darauf verzichtet und uns stattdessen Ein Herz und eine Krone angesehen haben. Ich liebe diesen alten Schinken! Audrey Hepburn sieht einfach traumhaft aus und welches Mädchen würde nicht gerne auf diesem Roller sitzen und sich an Gregory Peck festklammern, während sie durch das nächtliche Rom fahren?

Am Anfang meiner Beziehung mit Johann dachte ich, er würde genauso empfinden. Deshalb habe ich ihm einen gemeinsamen Videoabend vorgeschlagen. Johann war zunächst ganz begeistert von der Idee. Also bin ich losgezogen, habe den Film aus der Videothek besorgt, unsere Wohnung in romantisches Kerzenlicht getaucht und ein paar Leckereien auf den Tisch gestellt. Es sollte schließlich alles perfekt sein. Doch der Abend fing schon holprig an, als ich die DVD einlegen wollte und Johann mich fragte, ob das der neue Streifen mit Megan Fox sei. Sein begeisterter Gesichtsausdruck, während er ihren Namen aussprach, und eigentlich allein schon die Frage an sich sorgten bei mir für leichte Verstimmung.

Für jede normale Frau, und dazu zähle ich mich, ist Megan Fox mit ihren gemachten Brüsten und dem Dauer-Abo beim Schönheitschirurgen ein Angriff auf das Selbstwertgefühl.

Als ich Johann dazu meine Meinung sagte, zuckte er nur gelangweilt mit den Achseln: „Ist mir egal. Megan Fox ist eine echt scharfe Braut. Wenn das das Ergebnis ist, wenn man sich heutzutage unters Messer legt, kann ich nur sagen: Ein Hoch auf die plastische Chirurgie!“ Johanns Begeisterung schlug in herbe Enttäuschung um, als er merkte, was ich da für einen Film eingelegt hatte. Meine Bemerkung, dass Audrey Hepburn viel schöner und nicht operiert sei, quittierte er nur mit einem Achselzucken. Irgendwie konnte er sich danach auch nicht für die Handlung des Films erwärmen. Jedenfalls erwischte ich Johann genau bei der Szene, als Audrey Hepburn ihre Hand in den berühmten Mund der Wahrheit – den Bocca della Verita – steckt, wie er gelangweilt seine E-Mails auf dem iPhone checkte. Da wurde mir schlagartig klar: Liebesfilms sind nur etwas für Frauen! Männern fehlt häufig der emotionale Hintergrund. Ich seufze wehmütig bei dem Gedanken an jenen Abend.

„Hier.“ Ich tippe auf die Stelle auf meinem Desktop. Sofort ziert ein hässlicher Fingerabdruck die Scheibe. „Hier steht ... Ich zitiere: „ ... Hochzeitsvorbereitungen sind sehr zeitaufwendig und erfordern eine präzise Planung ... Du sagst doch immer, ich soll mich rechtzeitig um alles kümmern, und jetzt meckerst du.“ Ich schnaube beleidigt in den Hörer.

„Okay, okay“, seufzt sie und ich weiß, ich habe gewonnen. „Also sag schon, damit ich die Seite aufrufen kann.“

Genau darum könnte ich mir keine bessere Freundin als Katja wünschen. Claudia Rauenberg, mit der ich befreundet war, bevor Katja zu uns gekommen ist, hätte jetzt die Stirn gerunzelt und gesagt: „Das ist doch Quatsch.“ Oder noch schlimmer: „Das ist doch nur ein Kleinmädchentraum.“ Katja dagegen versteht mich voll und ganz, auch wenn sie oft einen auf vernünftig macht. Aber das liegt an ihrem Beruf. Sie ist eigentlich Wirtschaftsingenieurin, in letzter Zeit arbeitet sie allerdings im Marketing. Da gehören eine nüchterne Betrachtungsweise und ein kühler Kopf einfach dazu.

Ich nenne ihr die Webadresse.

„Oh, Julia“, flüstert sie, „das sieht ja hinreißend aus.“ Einen Moment lang schweigen wir beide andächtig.

Und dann macht Katja das gute Gefühl, das ich gerade aufgebaut hatte wieder zunichte. „Meinst du nicht, dass Johann die Krise kriegt, wenn er hört, was du so alles planst?“

„Warum?“, sagte ich leicht säuerlich. „Schließlich liebt mich Johann und will nur das Beste für mich.“ Ich spiele nervös mit meinem Kugelschreiber.

„Na ja, bei unserem letzten Treffen hatte ich den Eindruck, als würde Johann sich eher etwas Kleines vorstellen ... etwas Preiswerteres.“

„Hochzeiten am Strand sind ja schließlich nichts Ungewöhnliches mehr“, verteidige ich ihn, auch wenn mich der Verdacht beschleicht, dass Katja mit ihrer Einschätzung nicht ganz verkehrt liegt. Aber das kann ich natürlich unmöglich zugeben. Schließlich reden wir hier von meinem zukünftigen Ehemann. „Außerdem bieten die hier so ein Gesamtpaket an. Das ist deutlich günstiger und ich kann trotzdem noch meine Wünsche äußern.“

„Na dann“, lenkt Katja ein. „Sieht jedenfalls klasse aus. Sag mal, ist das da im Hintergrund auf dem Strandfoto ein Supermarkt?“

Ich kneife die Augen zusammen und komme so dicht an den Bildschirm, dass meine Nase ihn fast berührt. Tatsächlich sind im Hintergrund die Umrisse eines bekannten Discounters zu sehen. Ich schweige und ziehe mit den Zähnen einen Hautfetzen am Daumen ab. Eine schlechte Angewohnheit, wenn ich nervös bin.

„Mhm, ich muss ja nicht unbedingt diese Agentur nehmen. Es gibt schließlich hunderte davon im Netz.“

„Wenn du willst, kann ich mich ja mal umsehen“, schlägt Katja vor.

„Prima“, sage ich glücklich. Katja hat mal ein Praktikum bei einer PR-Agentur gemacht und ist ein echtes Organisationstalent.

„Gut, ich mach dann mal weiter. Vor mir liegt noch ein Riesenstoß Arbeit und der Russe hat sich heute Mittag zur Besichtigung angesagt.“

„Der Russe“, wie Katja ihn nennt, ist der größte Kunde von Blohm + Voss. Ihm hat sie letztendlich ihren Job dort zu verdanken. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass Katja und er ein Paar sind, auch wenn sie diesen Umstand zu verschweigen versucht. Aber als ihre beste Freundin kenne ich sie genau! Die Art und Weise, wie sie über den Russen redet, lässt eindeutig darauf schließen, das sie Hals über Kopf in den Mann verliebt ist.

„Okay, bis später“, verabschiede ich mich und hänge den Hörer ein.

Gertrud, die Chefin der Personalabteilung, wirft mir im Vorbeigehen einen strengen Blick zu. Hastig überprüfe ich mein Aussehen. Meine Bluse sitzt brav zugeköpft bis zum Hals. Mein Rock bedeckt sittsam meine Knie. Normalerweise trage ich lieber Jeans und T-Shirt, aber wenn man die zukünftige Schwiegertochter des Bosses ist, muss man auf sein Äußeres achten. Außerdem kaschiert der schwarze Rock meine überflüssigen Pfunde. Mein Körpergewicht war schon immer ein Problem. Bereits als Kind war ich ein Pummelchen. Eines von der niedlichen Sorte, mit großen blauen Augen und rosigen Wangen. Obwohl mir meine Mutter stets versicherte, das würde sich in der Pubertät verwachsen, ist der Babyspeck geblieben. Sämtliche Diätversuche meinerseits sind gescheitert, da mir einfach die nötige Willenskraft dazu fehlt und die Versuchungen im täglichen Leben zu groß sind.

Seufzend wende ich meinen Blick ab und versuche, besonders geschäftsmäßig zu wirken, während ich wieder im Internet surfe, um die Kommentare zu meinem letzten Status bei Facebook abzurufen.

 

 

„Frau Löhmer?“ Ich falle vor Schreck fast vom Stuhl. Vor mir steht mein zukünftiger Schwiegervater. „Haben Sie den Artikel über den Holunder fertig?“ Er kann sich mit dem Du nicht recht anfreunden. Mein Schwiegervater findet, dass es unprofessionell ist, wenn man seine Angestellten duzt. »Geschäft ist eben Geschäft« ist sein Leitspruch. Selbst bei den wenigen gemeinsamen Abenden, die wir bisher miteinander verbracht haben, herrschte deshalb eine eher angespannte Stimmung.

„Eigentlich schon“, sage ich. „Es fehlt nur noch eine winzige Kleinigkeit.“ Die Knopfäuglein meines Schwiegervaters ruhen auf mir, was mich leider schrecklich nervös macht. In der Hoffnung, ihn möglichst schnell abwimmeln zu können, fange ich an, hektisch auf der Tastatur herumzutippen. Leider ohne den gewünschten Erfolg, denn er schaut mir weiter gespannt zu. Von Johann keine Spur. Wo steckt der Mann nur? Ich habe ihn seit meinem Verlassen der Wohnung heute Morgen nicht mehr gesehen und jetzt ist es immerhin schon Mittag.

„Dieser, wegen seiner zum Verzehr geeigneten Blüten, sehr beliebte Busch ist dazu noch äußerst robust und selbst für unerfahrene Hobbygärtner geeignet“, tippe ich. Der Satz stammt aus dem Gartenbuch meiner Mutter, das sie mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat. Aber das muss ja mein Schwiegervater nicht wissen. „Außerdem ist der Holunderbusch winterhart.“

Endlich verlässt mein Schwiegervater seinen Kontrollstützpunkt neben meinem Schreibtisch mit einem zufriedenen Kopfnicken. Ich warte einen Moment, bis er um die Ecke in seinem Büro verschwunden ist, bevor ich erleichtert ausatme. Manchmal bin ich mir nicht so sicher, ob es eine gute Idee war, bei meinem zukünftigen Schwiegervater als Angestellte zu arbeiten. Aber was tut man nicht alles für die Liebe. Seufzend beende ich den Absatz.

Der Job als Journalistin bei einer Gartenzeitschrift ist nicht gerade das, was ich mir ursprünglich vorgestellt hatte. Eigentlich war es mein Traum, als Journalistin beim Fernsehen zu arbeiten, genauer gesagt als Reisejournalistin. Judith Adlhoch ist in jeder Hinsicht mein Vorbild. Die Frau sieht gut aus, auch mit ein paar Kilos zu viel auf den Hüften, und darf von den schönsten Plätzen der Welt berichten, während ich über Blumen, Saatgut und Baumschulen schreibe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand freiwillig über Gartenpflanzen schreibt. Viele Menschen aus meinem Umfeld haben einen Job, den sie nicht mögen, und behaupten allen Ernstes, es hätte sich einfach so ergeben. In meinen Augen ist das nur eine blöde Ausrede. Die Wahrheit ist doch, dass sie keine Alternative hatten und so versuchen sich zu rechtfertigen. Ich habe es gar nicht erst versucht und die Stelle bei Johanns Vater gleich nach dem Abschluss meines Studiums angenommen.

Johann und ich sind vor zwei Jahren zusammengezogen. Wir haben eine Wohnung ganz in der Nähe von seinem Elternhaus. Das ist praktisch für Johann, so kann er, wann immer ihm danach ist oder er mit seinen Eltern etwas Geschäftliches besprechen muss, einfach rübergehen. Und er tut das häufig. Für meinen Geschmack vielleicht ein bisschen zu häufig, aber als verständnisvolle zukünftige Ehefrau muss man eben auch zu Kompromissen bereit sein.

Ansonsten fühle ich mich in unserem Wohnviertel sehr wohl. Große Kastanienbäume säumen die Straße und tauchen im Sommer alles in saftiges Grün. Die Gehwege hier wirken sauber und gepflegt. Die Häuser sind im Stil der Fünfziger Jahre gebaut und mit gepflegten kleinen Vorgärten versehen. Jeder hier achtet peinlich darauf, seine Kehrwoche nicht zu vergessen. Manchmal frage ich mich, warum es die Stadtreinigung in Freiburg überhaupt noch gibt, wo doch die Bürger dieser bezaubernden Kleinstadt alles selbst erledigen und dies noch gründlicher und besser. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Firma Hartmann diesen Standort zu ihrem Hauptsitz erklärt hat. Wo sonst findet man so viele gepflegte private Grünanlagen, deren Besitzer ihr ganzes Geld für den Garten statt für schöne Klamotten oder teure Schuhe ausgeben? Aber das muss jeder selbst wissen. Ich persönlich investiere lieber in schöne Kleider und ein gepflegtes Äußeres. Das ist mindestens genauso wichtig – und macht zudem auch noch Spaß.

Die angesetzte Redaktionskonferenz fällt überraschend aus und so mache ich früher Schluss. Der Artikel über den Holunder kann schließlich warten, es gibt wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel meine Hochzeit organisieren.

Bevor ich gehe, schaue ich noch mal bei Johann im Büro vorbei. Seine Sekretärin lässt mich wissen, dass er zu einem wichtigen Kunden gefahren sei. Komisch, davon hat mir Johann gar nichts erzählt?! Na, dann eben nicht.

 

 

Auf dem Weg nach oben nehme ich noch die Post mit. Das meiste davon ist langweiliger Kram. Rechnungen, Geschäftsbriefe und ein paar Fachzeitschriften. Ah! Was erblicken meine Äuglein da – Scarlett, das Magazin für Bräute! Ich schnappe mir den Brautmoden-Katalog und lasse ihn zwischen den Werbeprospekten verschwinden. Sozusagen als Tarnung gegen neugierige Johann-Blicke!

Ich habe vor Johann zwar nichts zu verheimlichen, aber inspiriert durch meine verflossenen Liebhaber, habe ich diesbezüglich so meine eigene Theorie entwickelt. Früher habe ich meinen jeweiligen Lebensgefährten alles erzählt. Was ich denke, was ich fühle und woran ich glaube. Mittlerweile bin ich der Ansicht, dass zu viel Information einer Partnerschaft nicht gut tut und nur zu Irritationen und damit verbunden zu unnützen Fragen führt. Deshalb nehme ich es mir heraus, Dinge für mich zu behalten, die ich als Störfaktor in einer Beziehung erachte: Kreditkartenabrechnungen, Kostenvoranschläge, Spendenquittungen und aus aktuellem Anlass Brautmoden-Kataloge.

Wenn man es genau nimmt, müsste Johann mir dankbar dafür sein. Er hat mit der Firma seines Vaters genug um die Ohren, da muss ich ihn nicht noch mit Dingen belasten, die ich genauso gut selbst entscheiden kann.

Als ich unser Apartment aufschließe, spielt im Wohnzimmer leise Musik. Mir wird ganz warm ums Herz. Johann hat bestimmt früher Schluss gemacht, um mich mit einem romantischen Abendessen zu überraschen! Sofort habe ich das Bild von Johann in seinem schicken neuen Anzug von Armani vor mir, den wir zusammen bei unserem letzten Besuch in Hamburg gekauft haben. Wie er liebevoll die letzten Rosenblütenblätter auf dem perfekt gedeckten Tisch verteilt und die Flasche Rotwein öffnet, die uns sein Vater anlässlich unserer Verlobung aus seinem privaten Weinkeller geschenkt hat. Ich seufze leise. Ach, mein Johann ist einfach der perfekte Mann zum Heiraten, so viel ist sicher!

Ich betrete den Flur . „Hallo!“

Stille. Nur die melodische Stimme von Robby Williams ist zu hören.

„Johann?“

Immer noch nichts. Komisch.

Na ja, wahrscheinlich ist er so beschäftigt, alles hübsch zu machen, dass er nichts hört.

Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, drücke ich die Türklinke herunter und trete ein. Das Erste, was ich sehe, ist Johanns weißer Hintern, der in rhythmischen Bewegungen hinter unserem Sofa auftaucht. Wie in Zeitlupe erfasst mein Hirn die Einzelheiten um mich herum. Überall auf dem Boden liegen Kleidungsstücke verteilt, über meiner geliebten Tolomeo Lampe, die ich kostengünstig durch ein Zeitschriften-Abonnement erworben habe, hängt ein schwarzer Spitzenstring (keiner von meinen!), eine Flasche Champagner (doch nicht etwa die, die für unsere Hochzeit gedacht war?!) steht auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa, dazu zwei halb volle Gläser, in denen der Champagner nicht mehr perlt.

Jemand stößt einen spitzen Schrei aus – ich glaube, das bin ich. Jedenfalls taucht Johanns Kopf hinter unserem Sofa auf. Seine Haare stehen wild zu allen Seiten ab. Wo er doch sonst so viel Wert auf ordentlich zurückgekämmtes Haar legt! Er ist, soweit ich es von meinem Standpunkt aus erkennen kann, – nackt. Na ja, wenn man von der Krawatte absieht, die verloren um seinen Hals hängt. Fassungslos starre ich ihn an und überlege, welchen Teil des Films ich wohl verpasst habe.

„Johann?“, schreie ich entsetzt. „Was ist hier los?“ Zugegeben, eine äußerst dämliche Frage angesichts der Situation, aber ich finde sie dennoch berechtigt.

„Julia!“ Johann sieht aus, als würde er unter Drogen stehen. Rot unterlaufene Augen, glasiger Blick, halb geöffneter Mund. „Äh, warum bist du hier?“ Okay, die Frage ist mindestens genauso blöd wie meine.

„Das ist auch meine Wohnung. Falls ich dich erinnern darf?!“

In diesem Moment taucht ein zweiter Kopf inklusive einem Paar üppiger Brüste unter ihm auf.

„Annette?“ Ich glotze wie gebannt auf den gewaltigen Busen. Titten-Annette, wie Katja sie immer nennt, ist die Chefredakteurin von Der Gartenfreund und schon seit Längerem bei Hartmann & Sohn angestellt. Dadurch, dass wir Arbeitskolleginnen sind und uns täglich sehen, wusste ich zwar, dass Annette etwas üppiger gebaut ist als ich, aber dass es so viel ist, hätte ich nicht gedacht.

„Hallo Julia.“, begrüßt sie mich und bedeckt mit den Händen schamhaft ihre Oberweite, als sie meine Blicke bemerkt. Als ob das jetzt noch etwas nützen würde! Außerdem sehe ich durch den Tränenschleier, der meine Augen bedeckt, sowieso alles nur noch unscharf.

„Wie kannst du nur ...?“, schluchze ich. „Wir sind doch verlobt ...!“ Mir ist schwindlig und ich muss mich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mein Puls rast unregelmäßig. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Johann sieht mich betroffen an. „Hasilein, das ist ganz anders, als es aussieht. Das ist rein körperlich, das hat nichts mit uns zu tun.“ Er befreit sich aus den Krakenarmen von Annette, die erst mich und dann Johann mit finsterer Miene ansieht.

Ich versuche, alles zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Leider herrscht in meinem Kopf ein absolutes Vakuum. Die Situation ist absolut skurril und ich befinde mich mitten drin. So, muss sich Dr. Gretchen Haase aus der Serie Doctors Diary gefühlt haben, als sie ihren Verlobten am Tag der Hochzeit mit der Sprechstundenhilfe in einer eindeutigen Position und ebenfalls nackt vorgefunden hat. Kein Wunder, dass sie sich von der Brücke stürzen wollte. Ich will mich zwar nicht von der Brücke stürzen, aber sonderlich glücklich über das, was sich hier vor mir abspielt, bin ich auch nicht.

„Sag mal, spinnst du!“, faucht Annette ihn an. Für einen winzigen Augenblick finde ich sie sympathisch. „Heute Morgen hast du mir noch gesagt, du willst Schluss machen und jetzt?!“ Okay, damit ist es mit der Sympathie vorbei. „Die ganze Zeit jammerst du, wie Julia dich mit ihrem ewigen Getue nervt. Sag es ihr!“ Sie stemmt die Hände in die Hüften und baut sich vor Johann auf, der auf einmal winzig wirkt.

„Ich möchte Schluss machen“, sagt er schließlich und sieht dabei auf seine nackten Zehenspitzen. Also wegen seiner Füße habe ich mich nicht in Johann verliebt, die sehen nämlich aus wie Goofy-Füße, breit und unförmig, mit kleinen, saugnapfähnlichen Zehen. Aber diese Kleinigkeiten bekommt man ja meist erst zu sehen, wenn es schon zu spät ist und man die erste Nacht miteinander verbracht hat.

„Mit wem?“, rufen Annette und ich wie aus einem Munde.

Johann sieht erst Annette und dann mich an. „Ich wollte es dir schon seit Längerem sagen. Das mit unserer Verlobung ...“, er hebt die Hände, „... das war ein Fehler. Ich bin einfach noch nicht reif genug dafür. Ich möchte, dass du glücklich bist und mir ist klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin, um dich glücklich zu machen.“ Er hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sich der Knoten des Handtuchs, dass er sich notdürftig umgeschlungen hat, löst und von seiner Hüfte und zu Boden rutscht. Eine Frau hätte sich sofort bedeckt und zur Not die Hände schützend vor ihren Intimbereich gehalten. Nicht mein Johann! Breitbeinig steht er nackt vor mir, als wäre es die natürlichste Sache auf der Welt.

„Sag mal, nimmst du Drogen?“, platze ich heraus.

„Wie bitte?“ Johann macht ein Gesicht, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ja, weil ...“, rufe ich, „... warum sonst solltest du so etwas Gemeines tun? Wir führen eine glückliche Beziehung. Wir haben täglich Sex und ...“

„Waaas?“ schreit Annette und richtet sich auf, so dass ich ihre runden Hüften sehen kann.

Johann seufzt. „ Du hast immer eine so weibliche Sicht der Dinge.“

Was soll denn das nun wieder heißen? Als ob das etwas schlechtes wäre eine Frau zu sein. Männer neigen dazu, uns als hormongeschüttelte Wesen darzustellen, vor allem wenn ihnen die Argumente ausgehen. Im Streit sagt Johann auch gerne so Sachen wie: Du hast wohl deine Tage! Das ist eine klare Kampfansage an jede Frau, genau wie die Behauptung von eben.

Einer von uns hier ist offensichtlich verrückt geworden. Ich bin es jedenfalls nicht. Vielleicht Annette? Sie sieht jedenfalls so aus, als sie sich wie eine Furie auf Johann stürzt und ihm eine saftige Ohrfeige verpasst. Hey, das wäre eigentlich mein Part gewesen.

Die Ohrfeige kam auch für Johann ziemlich überraschend, denn er guckt völlig verdutzt und reibt sich die Wange. „Wofür war das jetzt?“

„Für den täglichen Sex!“, faucht Annette und ich verspüre so etwas wie Triumph.

„Aber Mäuschen, das war doch nur aus reiner Gewohnheit und um ...“, weiter kommt er nicht. Denn ich mache einen Schritt auf Johann zu, hole weit aus und versetze ihm die nächste schallende Ohrfeige.

„Bevor du fragst: Das war für die Gewohnheit“, schleudere ich ihm entgegen.

Dann, ohne auf seine Reaktion zu warten, mache ich auf dem Absatz kehrt und verlasse die Wohnung erhobenen Hauptes und mit dem letzten Rest an Würde, der mir noch geblieben ist, um erst vor der Haustür in Tränen auszubrechen.

 

***

 

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit lang heulend durch die Innenstadt von Freiburg geirrt bin, bleibe ich vor dem Zufluchtsort meiner Jugend stehen, das Dusk till Dawn! Die Kneipe ist nach dem gleichnamigen Film benannt und in seiner Einrichtung ähnlich gehalten. Allerdings ist die Einrichtung das Einzige, was diese üble Spelunke mit dem Film gemeinsam hat. Anstatt megacooler Vampire hängen hier nur Typen herum, die kein Zuhause haben und ihre Körper mit unzähligen Tattoos zupflastern. Für meine Eltern war das Dusk till Dawn eine Art Sündenpfuhl, den es unter allen Umständen zu meiden galt, was einen Besuch dort für Katja und mich umso reizvoller machte. Also stahlen wir uns jeden Freitagabend aus dem Gemeindejugendzentrum, wo wir uns zuvor hatten absetzen lassen, um uns wenig später mit einigen Jungs aus der Oberstufe im Dusk till Dawn zu treffen.

Ich setze mich mit einem lauten Seufzer auf den Barhocker und starre mein trauriges Spiegelbild oberhalb des Tresens an. Meine Haare sehen aus, wie das Fell eines unter Strom stehenden Hamsters. Mein Make-up ist verschmiert und meine Augen sind rot und verquollen. Ich sehe ganz grauenvoll aus. Der Kneipenwirt bringt den bestellten Gin Tonic. Normalerweise trinke ich keine harten Sachen oder Mixgetränke, aber dies ist eine Ausnahmesituation und die erfordert nun mal besondere Maßnahmen.

Ich greife wortlos nach dem Glas, wie eine Ertrinkende nach dem Rettungsring und leere es mit einem Zug. Der Wirt sieht mich mit großen Augen an.

„Noch einen“, sage ich und knalle das Glas in alter Westernmanier auf den Tresen. John Wayne, der Held meiner Kindheit, wäre stolz auf mich.

Der Wirt scheint kein Mann großer Worte zu sein. Jedenfalls dreht er sich um und füllt schweigend mein Glas erneut auf.

Dankbar nehme ich den Drink entgegen.

„So ein zartes Persönchen wie Sie sollte vielleicht nicht alles auf einmal trinken, sonst sind sie gleich betrunken.“ Wow, der Mann kann also doch reden!

„Genau das ist der Plan“, entgegne ich.

Der Mann zuckt mit den Achseln. „Na dann. Prost. Ich bin den ganzen Abend da!“

Ich fühle, wie sich eine angenehme Wärme in meinem Magen ausbreitet. Mir ist ein bisschen schwindelig. Ich stelle das halbleere Glas auf den Tresen.

In diesem Moment klingelt mein Handy.

„Katja“, schluchze ich laut. Manchmal erschreckt mich Katjas Gespür, genau im richtigen Moment anzurufen!

„Julia? Was ist passiert?“ Ihre Stimme klingt, als ob sie durch einen dicken Wattebausch sprechen würde. Ich schüttele mein Handy, aber das Wattegefühl bleibt. Komisch!

„Hartmännchen ...“ Ich heule laut auf: „Johann hat mich mit Annette betrogen.“

„Bitte? Mit der Dicken mit den Monsterbrüsten? Dieses Schwein! Soll ich kommen und ihm den Schwanz abschneiden?“ Meine beste Freundin findet eben immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Für ihre Schlagfertigkeit habe ich Katja schon immer bewundert. Mir fallen die guten Sprüche immer erst ein, wenn die Situation schon lange vorbei ist und ich Stunden später im Bett liege. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich versucht, ihr Angebot anzunehmen.

„Oh! Ähm ... nein.“

„Du hast doch nicht etwa Mitleid mit dem Arsch?“ Warum ist Katja nur immer so misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht“, schniefe ich und wische mir anschließend mit dem Hemdsärmel über die Nase. Frustriert gebe ich dem Mann hinter der Theke ein Zeichen.

„Julia? Wo steckst du eigentlich?“ Katja ist zu diesem mütterlichen Ton übergewechselt, den sie immer dann bekommt, wenn sie sich Sorgen um mich macht.

„Im Dusk till Dawn“, schluchze ich und nehme den dritten Drink entgegen, den mir der Barkeeper reicht.

„Ach du meine Güte! Dir muss es ja echt dreckig gehen, wenn du in dem Schuppen gelandet bist.“ Ich kann förmlich hören, wie sich Katja am anderen Ende der Leitung vor Grausen schüttelt. „Und, was hast du jetzt vor?“, bohrt sie weiter. „Du kannst ja schließlich nicht die ganze Nacht da sitzen bleiben und hoffen, dass alles wieder gut wird.“

„Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du an meiner Stelle auch hier sitzen und dich betrinken“, sage ich bestimmt und genehmige mir noch einen Kurzen, den mir der Barkeeper in weiser Voraussicht reicht.

„Julia, jetzt sei doch mal vernünftig. Du musst doch irgendwo unterkommen, du kannst ja schließlich nicht die ganze Nacht im Dusk till Dawn verbringen.“

Warum eigentlich nicht? Ich blinzele, als mir der Typ neben mir seinen Rauch ins Gesicht bläst und mir dabei verheißungsvoll zuzwinkert. Vielleicht lieber doch nicht!?

„Ich gehe auf keinen Fall zurück in Johanns Wohnung“, beharre ich und versuche, dem Zigarettenrauch zu entkommen, indem ich meinen Kopf zur Seite drehe.

„Du könntest ins Hotel gehen. Und wenn du morgen wieder nüchtern bist, sieht die Welt schon ganz anders aus. Und außerdem kannst du dich in Ruhe nach einem neuen Job umsehen und die ganze Sache mit Johann klären.“

„Hilfeeee“, schrillt es in meinem Kopf. „Glaubst du, dass die mich bei Hartmann & Sohn rausschmeißen?“

„Was hast du denn gedacht? Johann wird auf keinen Fall wollen, dass du noch weiter in der Firma seines Vaters arbeitest.“

Was ich jetzt brauche, ist mehr Alkohol und den am besten intravenös. Ich gebe dem Barkeeper ein Zeichen. Der Mann ist wirklich aufmerksam, denn keine Minute später steht ein volles Glas vor mir. Das Leben ist wirklich ungerecht. Titten-Annette hat den besseren Job und bekommt jetzt als Dreingabe noch meinen Johann dazu.

„Julia?“

„Ja, ähm.“ Ich nehme einen kräftigen Schluck.

„Sag mal, trinkst du schon wieder? Wie viel hast du eigentlich schon intus?“

„Wieso?“

„Weil du irgendwie komisch klingst. Du, ich mache mir jetzt wirklich Sorgen.“ Katja wird bestimmt mal eine tolle Mutter. Ich sehe sie förmlich vor mir stehen, umringt von einer Schar Kinder, die artig miteinander spielen und immer „Bitte!“ und „Danke!“ sagen, wenn Katja ihnen etwas sagt.

„Ach was!“, winke ich ab. „Hier ist alles unter Kontrolle.“ Ich stelle mein Glas auf den Tresen, dabei – ups – rutsche ich von meinem Stuhl und das Glas geht klirrend zu Boden. Hastig rappele ich mich wieder auf.

„Julia? Juliaaaaa?“ Katjas Stimme schrillt durchs Telefon.

„Ja, ja, alles okay“, versuche ich meine Freundin zu beruhigen. „Ich bin aus Versehen vom Stuhl gerutscht.“ Ich streiche meinen Rock glatt.

„Soso, aus Versehen. Komisch, dass dir das sonst nicht passiert. Ich finde, du solltest langsam Schluss machen und nach Hause gehen.“ Sie macht eine Pause, die ich nutze, um mich wieder auf den Hocker zu setzen und dem Barkeeper ein Zeichen zum Nachschenken zu geben. „Ich habe eine Idee. Du gehst jetzt zu deinen Eltern, pennst dich mal richtig aus und dann setzt du dich morgen in den Zug und kommst mich in Hamburg besuchen. Ich könnte mir die Woche freinehmen und mich um dich kümmern.“

Von so viel Freundschaft bin ich derart gerührt, dass mir die Tränen erneut in die Augen steigen. „Dubisteinfachzugutzumir“, nuschle ich in den Hörer. „EinewahreFreundin und isch hab disch gaaanz doll lieb.“

„Prima. Dann hör wenigstens einmal auf mich und geh nach Hause“, sagt Katja bestimmt.

Ich seufze leise und lächle meinen Sitznachbarn tapfer an. Was sich als Fehler herausstellt, denn der Typ »Marke Loser« fühlt sich dadurch sofort ermutigt und rutscht dicht zu mir auf. Sein Atem bläst mir ins Gesicht und es riecht, als ob jemand den Deckel einer Mülltonne abgenommen hat. Seine Gesichtstönung ist die von geronnener Milch und seine Haare haben die Farbe von Hundekacke.

„Na Süße, was macht denn eine heiße Braut wie du so alleine hier?“ Er lächelt mir siegessicher zu. Hilfe! Seine Zähne sehen aus, als ob Moos auf ihnen wächst. Mir wird leicht schlecht und für einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob vom Alkohol oder von dem Gestank, der mir jedes Mal um meine Nase weht, wenn der Typ ausatmet. Ich winke den Barkeeper herbei, der mir wortlos nachschenkt. Der Mann ist wirklich zu Höherem berufen! Dankbar stürze ich den Gin Tonic hinunter. Schon besser. So lässt sich auch der Anblick meines Gegenübers besser ertragen.

„Kann ich dich auf ein Bierchen einladen?“ Sein Triefauge zwinkert mir aufmunternd zu. So wie er es sagt, klingt es irgendwie mehr wie eine Aufforderung zum Gruppensex. Ich starre verwegen in mein Longdrink-Glas, während in meinem Hirn ein Gedankenfeuerwerk im Gange ist. Eines ist sicher! Ich muss hier weg, bevor der Kerl über mich herfällt. Und das kann, seinem Sabberblick nach zu urteilen, nicht mehr lange dauern.

Aber wohin? Zu meinen Eltern?

Das letzte Mal, als ich dort länger zu Besuch war, hat meine Mutter mich morgens beim Frühstück gefragt, ob ich meine Zähne auch ordentlich geputzt habe und mir nach dem Essen den Mund mit einem Taschentuch, worauf sie vorher gespuckt hatte, abgewischt. Brrrr ... auf keinen Fall gehe ich nach Hause! Aber zu Johann und Titten-Annette will ich auch nicht. Ich überlege, was ich als Nächstes tun könnte. Meine Hirnzellen stehen noch unter Schock, jedenfalls bekomme ich keinen vernünftigen Gedanken zustande. Der Todesatem-Mann prostet mir mit sabberndem Blick zu. Ich muss hier raus. Also bestelle ich die Rechnung. Hier zeigt der Barkeeper erste Schwächen. Denn bis die Rechnung endlich kommt, vergeht eine gefühlte Ewigkeit, die der Todesatem-Mann nutzt, um mir ein Gespräch aufzuzwingen.

„Na Süße, du willst doch nicht schon gehen, jetzt wo wir uns gerade erst kennengelernt haben?“ Der Gestank ist wirklich unerträglich. Ich simuliere einen Niesanfall und krame in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Der Typ ist zwar nicht weg, aber der Gestank lässt sich so wenigstens einigermaßen ertragen.

„Ich habe noch eine Verabredung“, erkläre ich mich kurz.

Dass dies eine Lüge ist, merkt selbst Todesatem-Mann, denn er zieht die buschigen Augenbrauen nach oben und sieht mich zweifelnd an. Dabei fällt mir auf, dass der Mann zu allem Übel auch noch schielt.

Der Barkeeper kommt endlich mit der Rechnung. Als ich einen Blick darauf werfe, stockt mir der Atem. Meine Güte, für solch eine Summe gehe ich normalerweise essen! Eine Frau muss eben wissen, wann es an der Zeit ist, sich selbst etwas zu leisten.

Als ich gehe, wirft mir der Barkeeper ein bedauerndes Lächeln zu, da er mit mir wahrscheinlich den zahlungskräftigsten Kunden des Abends verloren hat.

Draußen schlägt mir die kühle Nachtluft entgegen und ich bin mit einem Schlag nüchtern. Das ganze Elend meiner Situation wird mir wieder bewusst. Ich muss hier weg! Sofort! Ein Blick auf die Uhr genügt, um mich noch mehr in Panik zu versetzen. Es ist erst acht Uhr! Was soll ich nur die ganze Nacht über tun?

Der alte Spruch von Oma Trude fällt mir wieder ein: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Plötzlich habe ich eine Idee.

Genau! Hatte Katja nicht am Telefon gesagt, dass ich zu ihr nach Hamburg kommen soll. Ha, das ist es! Warum bis morgen warten!? Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und verdrängt die Tränen.

„Ich fahre nach Hamburg! Ich fahre nach Hamburg!“, jubiliert es in meinem Kopf. Ich zücke mein iPhone, ein Geschenk von Johann, und rufe die Seiten der Deutschen Bahn auf. Der Nachtzug von Freiburg nach Hamburg geht in knapp einer Stunde. Ich werfe einen hastigen Blick auf meine Armbanduhr. Wenn ich mich beeile, kann ich es noch rechtzeitig schaffen. Ohne zu überlegen, haste ich zum nächsten Taxistand.

 

 

 

Julias Facebook-Status: Ich bin dann mal weg!

Ich fühle mich leicht und beschwingt. Die Wartezeit bis zur Abfahrt habe ich mir in der Bahnhofskneipe in der illustren Gesellschaft von zwei Obdachlosen, einer Kettenraucherin und zwei weiteren Gin Tonic vertrieben. Als ich die Kneipe verlasse, schlägt mir die kühle Nachtluft entgegen. Mir ist schwindelig und meine Tasche fällt mir aus der Hand. Ich bücke mich, um sie aufzuheben.

Etwas reißt ... doch nicht ... oh je?!

Ich taste mit der Hand vorsichtig meinen Rock ab. Ach du meine Güte! Meine Finger entdecken einen kleinen Riss entlang der Mittelnaht. Ich verdrehe meinen Kopf, soweit das anatomisch überhaupt möglich ist, um den Schaden zu begutachten. Leider ohne Erfolg – der Riss liegt außerhalb meines Sichtfeldes. Außerdem wird mir dabei noch schwindeliger. Schnell richte ich mich wieder auf. In diesem Moment verkünden die Lautsprecher die baldige Abfahrt meines Zuges. Ich ziehe an meiner Bluse und lasse sie über meinen Rock hängen.

Ja, so müsste es gehen. Ein Mann bleibt stehen und sieht kopfschüttelnd zu mir rüber. Was gibt es da zu glotzen? Blödmann! Ich straffe den Rücken, setze ein Lächeln auf und gehe weiter in Richtung Bahngleis.

Mein erster Klasse-Ticket nach Hamburg habe ich schon in der Tasche. Ich habe zwar nicht genau verstanden warum, aber der Bahnangestellte am Schalter behauptete, dass der Spartarif der ersten Klasse billiger sei als der Normaltarif der zweiten Klasse. Meine Mutter meint immer, man solle nehmen, was man kriegen kann. Also habe ich den Mann nicht länger mit Fragen belästigt und gezahlt. Wenigstens begehe ich meinen Abgang aus Freiburg mit Stil.

Ich gerate ein bisschen aus dem Gleichgewicht, als ich versuche, die Schiebetür zwischen den Waggons zu öffnen. Zwei Mitreisende kommen mir lächelnd entgegen. Ich recke meinen Kopf und lächele freundlich zurück. Es muss ja schließlich nicht jeder merken, dass ich zu viel getrunken habe. Zu mehr bin ich eh nicht mehr fähig. Mein Abteil habe ich immer noch nicht gefunden. Ich versuche erneut, die Nummer auf dem Ticket zu erkennen, das ich in meiner Hand krampfhaft festhalte. Warum werden die wichtigen Dinge immer so klein gedruckt? Ich kneife meine Augen zusammen, um die Zahl zu entziffern, die unter der Reservierung steht. Alles verschwimmt zu einem Buchstabenbrei.

Ein Mann drängelt sich an mir vorbei. Für einen Moment passe ich nicht auf und das Ticket gleitet mir aus der Hand. Ich will mich danach bücken, verliere bei der Aktion aber fast das Gleichgewicht. Leicht schwindelig und etwas unsicher auf den Beinen stütze ich mich an der gegenüberliegenden Wand ab. Vielleicht war der letzte Gin Tonic doch keine so gute Idee? Der Mann bleibt stehen und bückt sich nach meinem Ticket. Als er es mir reicht, starrt er mich an.

Er sieht gut aus. Verdammt gut, um ehrlich zu sein. Dunkles welliges Haar, braune Augen, einen Dreitagebart und einen Mund zum Niederknien. Als er mich ansieht, lächeln seine Augen belustigt. Er hat ein Jackett lässig über seine Schulter geworfen. Süß! Er sieht aus wie ein Student.

„Danke“, murmele ich und streiche mir betont lässig eine Strähne aus dem Gesicht. Mein Hormonhaushalt ist in heller Aufregung.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Er hat eine leicht raue Stimme. Klingt irgendwie sexy.

Ich versuche, ein Lächeln zustande zu bringen. „Ja – äh … nein. Ich hatte einen beschissenen Tag. Einen von der Sorte, die man am liebsten ganz schnell wieder vergessen möchte.“ Ich habe ein wenig Probleme, meine Worte klar zu formulieren. Aus meinem Mund kommt ein undeutlicher Brei an Wörtern, der mit denen in meinem Kopf nicht mehr viel gemein hat. Ich schicke mich an zu gehen. „Aber trotzdem noch mal: Danke!“ Ich mache einen Schritt von ihm weg.

„Warten Sie!“, holt mich seine Stimme zurück. Ich bleibe erneut stehen und sehe mich um.

Er grinst mich breit an – geradezu unverschämt.

„Sie haben da ...“ Er lächelt.

„Was?“

„Ihr Rock ...“ Er macht einen Wink mit dem Kopf.

„Oh Gott!“ Meine Hand schnellt nach hinten an meinen Po. Mist! Der Riss ist riesig geworden und erstreckt sich über meinen gesamten Hintern. Wahrscheinlich kann man meine Hello Kitty-Unterhose sehen, die ich unbedingt haben musste, obwohl ich mit Ende zwanzig eigentlich schon viel zu alt dafür bin. Aber ich stehe nun mal auf Hello Kitty. Ich habe auch einen Hello Kitty-Anhänger für mein Handy. Einen mit Glitzersteinen. Ein Laster muss der Mensch doch haben dürfen. Jetzt, in diesem Moment, ist es mir allerdings peinlich.

Eine kleine Ohnmacht käme mir jetzt gelegen. Aber nichts dergleichen passiert. Als ich hochblicke, grinst der Typ immer noch. Ich spüre, wie mein Gesicht von flammender Röte überzogen wird. Instinktiv presse ich mich mit meinem Rücken gegen die Glaswand des Abteils.

„Das sollten Sie besser nicht tun.“ Der Typ grinst verschmitzt und deutet mit dem Zeigefinger hinter mich auf das Abteil.

„Warum?“ Ich drehe meinen Kopf und im gleichen Moment ist mir klar, was er damit gemeint hat.

Zwei Männer starren mir durch die Glaswand entgegen. Ihre Augen sind fest auf mein Hinterteil gerichtet. Ich stoße einen Schrei aus und schnelle herum. Warum passieren solche Dinge immer mir? Warum kann in meinem Leben nichts einfach glatt laufen?

„Ich bin mir sicher, dass die hier im Zug irgendwo Nähzeug haben.“ Der Typ sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch noch nett. Eine äußerst seltene Kombination bei Männern. Die meisten gut aussehenden Männer, die ich in meinem Leben getroffen habe, waren eingebildete Gockel mit dem IQ einer Ameise.

Ich nicke, krampfhaft bemüht, den Riss mit meiner Handtasche abzudecken. Die Männer aus dem Abteil gaffen noch immer interessiert zu uns rüber.

Der Typ sieht auf meine Reservierungskarte in meiner freien Hand. „Darf ich mal?“

Ich reiche sie ihm wortlos, was gar nicht so einfach ist, wenn sich alles um einen herum dreht. Mann, der ist echt total süß. Er schweigt, während er meine Sitzplatzreservierung überprüft.

„Das nenne ich einen Zufall.“ Er reicht mir meine Karte. Da ist es wieder, dieses freche Grinsen auf seinem Gesicht.

„Was?“

„Wir sind im gleichen Schlafwagen ... äh … genauer gesagt teilen wir uns das gleiche Abteil.“

„Echt?“ Ich kann mein Glück kaum fassen. Das letzte Mal, als ich mein Zimmer mit jemand anderem teilen musste, war ich im Krankenhaus und bekam meinen Blinddarm herausoperiert. Meine Zimmernachbarin war damals eine hysterische Mittdreißigerin, die am Knie operiert worden war. Davon abgesehen, dass sie die Schwestern wie Menschen zweiter Klasse behandelte, hing sie ständig an ihrem Telefon und führte lautstarke Gespräche mit ihren Geschäftspartnern, was mich wiederum vom Schlafen abhielt. Auf meine Bitte, ihre Geschäftsgespräche doch bitte nach draußen oder auf später zu verlegen, antwortete sie schnippisch: Es könne sich schließlich nicht jeder einfach so faul ins Bett legen wie ich. So war es eine Minute des Triumphes, als die Schwester am Morgen des zweiten Tages gut gelaunt neben ihrem Bett auftauchte, um ihr die Drainage aus dem Kniegelenk zu ziehen.

„Wenn ich »Jetzt« sage, husten Sie“, forderte die Krankenschwester die Mittdreißigerin auf und zwinkerte mir dabei zu. Von meiner Position aus würde ich behaupten, dass um den Mund der Schwester ein geradezu sadistisches Lächeln spielte, als sie den Schlauch mit einem Ruck aus dem Gelenk zog. Das verblüffte Gesicht der Managerin und den darauffolgenden Schrei werde ich nie vergessen. Gefolgt von Tränen und einer wohltuenden Schweigsamkeit, die bis zu ihrer Entlassung am nächsten Morgen anhielt. Der kleine Zwischenfall hat allerdings auch bei mir Spuren hinterlassen: Erstens werde ich mich niemals an meinem Knie operieren lassen und zweitens vermeide ich es seitdem, mir ein Zimmer mit Fremden zu teilen.

Der Typ lächelt mich verschwörerisch an. „Kommen Sie, ich führe Sie zu unserem Abteil.“ Wie das klingt! Fast ein bisschen anzüglich. Er wirft einen Blick hinter meinen Rücken. Ich sehe ihn irritiert an.

„Haben sie außer der Tasche kein Gepäck?“

„Meine Abreise kam sehr überraschend“, nuschele ich und ringe mir ein Lächeln ab.

Mein Gott, der Typ hat genau die Augen, wegen denen ich meine Eltern in der zwölften Klasse überredet habe, Urlaub in Italien zu machen.

Er nickt: „Verstehe. Hier.“ Er reicht mir sein Jackett. „Wickeln Sie sich das um die Hüfte, dann sieht man nichts mehr. Sobald wir im Abteil sind, besorgen wir Nähzeug.“

Dankbar schlinge ich mir den rauen Stoff um die Hüfte.

Er führt mich in den hinteren Teil des Waggons und zeigt auf eine Schiebetür: „Hier ist es.“ Er öffnet die Tür.

Der Raum ist zwar nicht besonders groß, aber besser, als ich die Schlafkabinen der Bahn in Erinnerung habe. Das Stockbett bietet genügend Platz und ich entdecke sogar eine kleine Waschgelegenheit mit Spiegel. Die gesamte Einrichtung ist in hellen Farben gehalten.

Alles dreht sich in meinem Kopf und der Boden unter meinen Füßen schwankt. Das muss die Bahn wirklich noch in den Griff kriegen, denke ich. Man fühlt sich ja wie auf einem Schiff.

„Der Lokführer fährt ja wie ein Henker“, gebe ich von mir und lasse mich in den einzigen vorhandenen Stuhl fallen.

Der Typ zieht überrascht die Augenbrauen nach oben. „Fahren?“ Er sieht aus dem Fenster. „Wir stehen noch immer.“

Ups! „Da hab ich mich wohl geirrt“, kichere ich verlegen. Er nickt. Hat er sich eigentlich schon vorgestellt?

„Wenn wir schon miteinander schlafen, können wir uns doch wenigstens unsere Namen verraten. Finden Sie nicht?“, sage ich kokett und im selben Moment wird mir bewusst, wie es in seinen Ohren geklungen haben muss. Meine Wangen fühlen sich an, als wäre ein Bunsenbrenner direkt darauf gerichtet. Er hat es auch gemerkt, jedenfalls sieht er mich ein wenig belustigt, aber auch irritiert, an.

„Ähm, ich meine natürlich ...“, stottere ich etwas unbeholfen, „... wenn wir schon gemeinsam die Nacht in diesem Schlafwagen verbringen.“ Ich wende meinen Blick ab und tue so, als würde ich etwas Wichtiges in meiner Handtasche suchen.

Er räuspert sich. „Ich heiße Benjamin ...“

„... Blümchen“, pruste ich los und schütte mich aus vor Lachen. „Törröööö!“, setze ich noch einen drauf.

Er verzieht keine Miene, während er zu mir herübersieht. Dem Mann fehlt definitiv eine Portion Humor. Er nimmt seinen Koffer und stellt ihn in der anderen Ecke der Schlafkabine ab.

„Ach komm schon, Benni“, flöte ich, „das war doch nur ein Scherz. Ich heiße übrigens Julia.“ Ich reiche ihm betont lasziv die Hand und winke mit meinen Fingern.

„Freut mich.“ Er erwidert meinen Händedruck und wieder spielt ein Lächeln um seinen Mund.

„So, jetzt, da wir das hinter uns gebracht haben“, fange ich an, „was hältst du davon, wenn ich uns etwas zu trinken organisiere. Hier drinnen ist es furchtbar stickig und ich habe das Gefühl zu verdursten.“ Ich fächle mir zur Bekräftigung meiner Worte mit der Handtasche Luft zu. Klong! Mein Handy fällt zu Boden. Ich bücke mich und will es aufheben. Benni scheint das Gleiche vorgehabt zu haben, jedenfalls stoßen wir mit den Köpfen aneinander. Autsch! Ich reibe mir die schmerzende Stelle am Schädel. Benni hat es ebenfalls am Kopf erwischt. Auch er hat einen feuerroten Fleck auf der Stirn.

„Tschuldigung“, murmele ich leise und fange gleich wieder an zu kichern. Ich kann nichts dafür. Es ist so ein innerer Drang, als ob ich Brausepulver auf den Handflächen habe.

„Na, das muss ja komisch sein“, murrt er etwas ungehalten. „Ich schlage vor, ich hole uns etwas zu trinken. In Ihrem ...“ Er sieht, wie ich ermahnend den Zeigefinger hebe. „Ähm ... in Ihrem ... deinem Zustand ist es vielleicht besser, wenn du hier wartest.“

Ich nicke huldvoll. Der Mann weiß, was sich gehört. Wobei, was meint er eigentlich mit »meinem Zustand«? Zugegeben, ich habe vielleicht ein bisschen viel getrunken, aber deswegen bin ich immer noch voll und ganz Herr meiner Sinne.

„Prima“, sage ich.

„Gut, dann bis gleich.“ Er dreht sich um und ich erhasche einen kurzen Blick auf seinen Hintern. Die meisten Männer aus meinem Bekanntenkreis, und da schließe ich Johann nicht aus, haben ein eher mickriges Hinterteil vorzuweisen. Eines von denen, wo der Po nahtlos in den Rücken übergeht. Einer der Gründe, warum der Film Magic Mike in den deutschen Kinos so erfolgreich lief, war die Tatsache, dass man als Frau in dieser Beziehung voll auf seine Kosten gekommen ist. Channing Tatum im Stringtanga war einfach eine Augenweide. Nicht umsonst wurde der Typ noch im selben Jahr zum Sexiest Man Alive gewählt. Benni braucht sich jedenfalls darüber keine Sorgen zu machen. Sein Po ist ein absolutes Prachtexemplar und knackig rund. Schon ist er aus der Tür. Da fällt mir auf, dass er mich gar nicht gefragt hat, was ich eigentlich trinken möchte.

 

 

Es dauert ewig, bis Benni wiederkommt. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, zumindest glaube ich das. Zur Sicherheit sehe ich aus dem Fenster. Tatsächlich zieht der Bahnhof am Fenster vorbei und der Zug rattert über die Gleise hinaus in die Dunkelheit.

Ich fahre – ich fahre tatsächlich nach Hamburg! – summt es leise in meinem Kopf. Herr Johann Hartmann ade! Instinktiv angele ich nach meinem Handy, um Katja anzurufen. Kein Netz, nur Notruf möglich. Unglaublich! Die ganze Welt ist miteinander vernetzt, nur hier in Freiburg gibt es Funklöcher. Frustriert lasse ich es zurück in die Tasche gleiten.

Mein Gott, wie lange braucht der denn? Gelangweilt stehe ich auf und gehe zu dem kleinen Spiegel. Erschreckt weiche ich zurück, als ich mein bleiches, mit schwarzer Mascara verschmiertes Gesicht darin erblicke. Ich sehe aus, wie ein verschrecktes Pandabärchen. Ich schnappe mir meine Schminktasche, ohne die ich nie aus dem Haus gehe. Als ich sie öffne, quellen mir bereits die verschiedenen Tübchen und Stifte entgegen. Seit es für Flugreisen strenge Regeln gibt was das Mitnehmen von Flüssigkeiten anbelangt, gibt es Gott sei Dank eine reichhaltige Auswahl an Pflegeprodukten in Miniaturformat. Ich bin geradezu süchtig danach. Diese kleinen Dinger sind in jeder Lebenslage extrem nützlich und vor allem passen sie in jede Handtasche Auf diese Weise bin ich für alle Eventualitäten in Sachen Kosmetik gewappnet. Körperlotion (riecht nach Vanille), Enthaarungscreme (man weiß ja nie!), feuchtes Klopapier (ohne das könnte ich nicht leben), Deo ... nein, auch nicht das, was ich suche.

Ich stecke das kleine Tütchen zurück in die Tasche und wühle weiter. Ah, da ist es ja. Ein Abschminktuch. Hastig beginne ich mit den Restaurationsarbeiten, was sich bei dem Geschaukel als gar nicht so einfach gestaltet. Ein paar Minuten später sehe ich wieder aus wie ein Mensch.

„Sehr geehrte Fahrgäste“, dringt eine Stimme zu mir. Ich hebe den Kopf. „Hier spricht ihr Zugführer. Wir haben soeben Freiburg verlassen und befinden uns nun auf direktem Weg nach Hamburg über ...“

Wo sind denn die Lautsprecher versteckt?

Ich taste mit den Augen meine Umgebung ab. Schon nach kurzer Zeit habe ich die typischen Membranen in der Zugdecke entdeckt. Die Bahn ist deutlich moderner geworden, das muss ich schon sagen. Wer weiß, was die noch alles versteckt haben, ohne dass es der Kunde

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martina Gercke
Bildmaterialien: Shutterstock/Martina Gercke
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3118-9

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