Cover

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

Dünenglück

von Martina Gercke und Katja Schneidt

 

 

 

© 2014 by Martina Gercke Hamburg, Katja Schneidt Büdingen

Gercke.Schneidt@gmail.com

 

Umschlaggestaltung: Martina Gercke, Maximilian Gercke

Umschlagabbildung: Teilweise Shutterstock

 

 

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendwelcher Form (Fotokopie, Mikrofilm oder anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung von Martina Gercke und Katja Schneidt reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, oder verbreitet werden. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschrift und Zeitung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

Inhaltsangabe








1. Kapitel

 

 

Mia

Ich werfe einen letzten prüfenden Blick in meinen Badezimmerspiegel, schließlich will man ja bei dem ersten Date einen guten Eindruck hinterlassen. Zumal es sich heute um ein besonders wichtiges Date handelt, das vielleicht das Ende meines zweijährigen Singledaseins bedeuten könnte. Zwei Jahre Single. Bei dem Gedanken bildet sich zwischen meinen Augenbrauen eine tiefe Falte. Wie konnte es nur so weit kommen?

Nachdenklich betrachte ich mein Gesicht aus der Nähe. Also, für meine zweiunddreißig Jahre sehe ich eigentlich ganz passabel aus. Ich habe hellgrüne Augen, eine ziemlich gerade Nase und volle Lippen. Einziges Manko sind meine leicht abstehenden Ohren, die mir in der Familie den Spitznamen Spoki eingebracht haben. Ein Grund, warum ich niemals im Leben kurze Haare tragen werde. Außerdem habe ich im Laufe meiner Zeit mit Männern festgestellt, dass die meisten von ihnen auf lange Haare stehen, bis auf wenige Ausnahmen. Mein Bruder Jan ist einer dieser Männer, die gezielt Jagd auf Frauen mit Kurzhaarfrisuren machen. Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er nur lässig mit den Schultern gezuckt und behauptet, das sei ganz alleine meine Schuld, schließlich hätte ich ihn in jungen Jahren derart geärgert, dass er es bei langhaarigen Frauen immer mit der Angst zu tun bekomme.

Ich muss sagen, dass mich diese Aussage meines Bruders ein wenig getroffen hat. Ich meine, dass man seinem kleinen Bruder als Schwester mal die Haare schneidet, ist doch wohl normal. Ich hätte auch meinen Puppen die Haare schneiden können, aber die wachsen ja nicht nach! Auch seinen Vorwurf, ich hätte in seinem Tagebuch gelesen, musste ich entschieden zurückweisen. Ich erinnere mich nämlich noch genau an diesen Zwischenfall von damals. Ich hatte mich während Jans Abwesenheit in sein Zimmer geschlichen, um ein bisschen in seinen Sachen zu schnüffeln. Dabei fiel mir sein Tagebuch in die Hände. Auf den meisten Seiten stand langweiliger Kram geschrieben, bis ich an die Stelle kam, in der sich Jan über die Einträge in meinem Tagebuch lustig machte. Man kann sich vorstellen, dass ich nicht sonderlich erfreut darüber war. Mein nächtlicher Eintrag daraufhin lautete: „Heute habe ich in Jans Tagebuch gelesen, dass er in meinem Tagebuch gelesen hat! Das finde ich gemein!“

Ansonsten haben mein Bruder und ich mittlerweile ein recht freundschaftliches Verhältnis. Im Gegensatz zu mir ist Jan bereits verheiratet und Vater einer kleinen Tochter und eines Sohnes. Ich liebe meine Nichte Emily und meinen Neffen Karl sehr. Annette, meine Schwägerin, ist zwar eine recht gut aussehende Frau, wenn man von den zehn Kilo Übergewicht absieht, die sie seit Emilys Geburt mit sich herumträgt, aber hingegen zu dem Rest der Familie ein echter Drachen. Den ganzen Tag nörgelt sie an allem herum, und ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, sich über meinen Bruder lustig zu machen. Ich verstehe bis heute nicht, wie mein Bruder Annette überhaupt heiraten konnte.

Seufzend wende ich mich wieder meinem Spiegelbild zu und trage noch etwas Lipgloss auf. Anschließend pudere ich mein Gesicht ab. Ich will schließlich bei meinem ersten Date mit meinem Traummann nicht glänzen wie eine Speckschwarte. Nachdem ich mich ein letztes Mal davon überzeugt habe, dass mein Make-up perfekt ist, befördere ich die Schminksachen, die Bürste und eine Ersatzunterhose in meine Handtasche. Schließlich muss man als Frau von Welt für alle Eventualitäten gerüstet sein. Eigentlich bin ich ja kein Freund von One-Night-Stands, aber prinzipiell ausschließen würde ich es von vornherein nicht. Wenn der Traumprinz vor einem steht, sollte man zugreifen, damit er nicht abhaut. Summend klappe ich die Tasche zusammen und hänge sie mir über die Schulter. Da es draußen für die Jahreszeit schon relativ warm ist, habe ich auf eine Hose verzichtet und stattdessen mein rotes Wickelkleid angezogen. Ich liebe dieses Kleid, da es meine Oberweite vorteilhaft zur Geltung bringt und meine Hüfte auf wundersame Weise verkleinert. Pfeifend schließe ich die Wohnungstür hinter mir zu und eile die Treppen nach unten.

 

Das Bolero in Hamburg liegt direkt neben dem Medienzentrum und eignet sich bestens für ein erstes Treffen. Die Atmosphäre ist locker, die Cocktails gut gemixt und das Publikum jung und modern. Außerdem trifft man dort auf jede Menge Promis und solche, die es gerne wären, was ein herrliches Lästerpotenzial zur Folge hat. Heute ist Freitag und der Laden ist brechend voll. Aufgrund der sommerlichen Temperaturen sitzen die meisten Gäste draußen. Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und meine Hände sind vor Aufregung ganz feucht. Bisher kenne ich meinen Traumprinzen ja nur vom Foto und da ist dank Photoshop alles möglich. Mein Handy vibriert zornig in meiner Handtasche. Wer kann das sein? Mein Traumprinz wird doch nicht in letzter Minute kalte Füße bekommen haben? Nervös suche ich in meiner Tasche nach dem Handy. Wo steckt das Mistding nur? Endlich habe ich es gefunden. Das Gesicht meiner Freundin Uli lacht mir entgegen. Uli Gepard ist der liebste Mensch auf der Welt, mit einem fast unnatürlichen Gespür, immer im falschen Moment anzurufen.

„Hallo, Uli?“, flüstere ich und suche weiter mit den Augen die Tische ab.

„Warum flüsterst du?“

„Gar nicht“, räuspere ich mich. „Ich bin nur gerade auf der Suche nach Andreas.“ Andreas König ist mein Herzangebeteter und hoffentlich zukünftiger Lebenspartner. Wenn dieser Mann nur annähernd so reden kann, wie er schreibt, dann bin ich hoffnungslos verloren. Bisher haben wir uns ja nur schriftlich miteinander ausgetauscht. Zuerst waren es E-Mails und später WhatsApp-Nachrichten. Der Mann hat eine Gabe, seine Gefühle mit Worten zu transportieren. Bei dem Gedanken an seine gestrige Nachricht bekomme ich immer noch weiche Knie.

 

Liebste Mia,

als ich mir gestern dein Foto noch einmal angesehen habe, hat mein Herz wie verrückt geschlagen. Du bist so wunderschön, und dein Lachen ist wie ein Sonnenstrahl, der direkt in mein Herz trifft. Ich kann es gar nicht abwarten, dir endlich persönlich gegenüberzustehen und in deine wunderschönen grünen Augen zu schauen.

Schlaf gut, meine Liebste. Bis morgen Abend, wenn meine Träume endlich in Erfüllung gehen.

Dein Andreas

 

 

Die Idee mit dem Datingportal kam übrigens von Uli. Ich selbst wäre niemals auf den Gedanken gekommen, mich dort anzumelden. In dieser Beziehung bin ich recht altmodisch veranlagt. Deshalb habe ich mein Glück zunächst auch auf die traditionelle Art und Weise versucht. Regelmäßige Besuche in einem angesagten Sportclub, Joggen um die Alster zur offiziellen Flirtzeit, Besuche im Toom Markt samstagnachmittags, wenn sich die Singles um die Käsetheke tummeln, und zu guter Letzt nächtliches Abhängen in einschlägigen Clubs. Alle meine Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt, außer dass ich eine Menge Männer kennengelernt habe, die ich lieber nicht kennen möchte. Als Uli dann mit der Idee zum Datingportal ankam, war ich schon derart verzweifelt, dass ich zugesagt habe. Es kommt mir bis heute wie ein Armutszeugnis vor, dass eine gestandene Frau wie ich, mit einem wundervollen Beruf, einer hübschen kleinen Wohnung in Harvestehude und einem Mini Cooper in ihrem Besitz, sich im Internet anpreisen muss wie eine alte Jungfer.

Uli ist im normalen Leben ziemlich chaotisch veranlagt, aber was solche Dinge anbelangt, ist sie bestens organisiert. Keine Stunde nach meiner Zusage hatte sie ein Profil von mir erstellt und auf der Datingplattform hochgeladen.

„Und … gefällt es dir?“, hatte mich Uli damals gefragt.

„Hm, Partnerbörse für Singles mit Niveau.“ Ich knabberte an meiner Unterlippe, während ich auf den Bildschirm starrte.

„Ja, ich habe extra darauf geachtet, eine Partnerbörse zu nehmen, die auf den Bildungsstand ihrer Kunden achtet. Du willst ja schließlich jemanden an deiner Seite haben, der mit dir mithalten kann. Oder?“

„Ja, schon“, nickte ich nachdenklich.

„Dann ruf mal deine Seite auf.“ Sie nannte mir das Passwort. Mir war ein wenig mulmig zumute, als keine Sekunde später ein Bild vor mir auftauchte, darunter eine Beschreibung meiner Person.

„Ich habe mir wirklich Mühe gegeben.“

„Hm, meinst du nicht, wir hätten lieber ein etwas seriöseres Foto nehmen sollen?“, sagte ich und betrachtete das Foto, das Uli hochgeladen hatte. Das Bild stammte aus meinem letzten Urlaub in Griechenland. Meine braunen Locken waren vom Wind zerzaust und mein Gesicht sah aus wie von der Sonne geküsst – irgendwie wild.

„Hey, das ist kein Bewerbungsschreiben für einen Job, hier geht es darum, dich so gut wie möglich zu präsentieren. Also, wenn ich ein Mann wäre – ich würde mich sofort in dich verlieben“, meinte Uli trocken.

„Das beruhigt mich. Ich hoffe, die Männer sehen das genauso.“ Ich las meine Personenbeschreibung.

„Selbstständige Unternehmerin. Sportlich, aufgeschlossen und intelligent. Mm.“

„Stimmt doch. Du bist eine erfolgreiche Geschäftsfrau.“

„Ich würde mich nicht als Unternehmerin bezeichnen.“

„Ach komm schon, jetzt werd nicht päpstlicher als der Papst. Das ist alles eine Sache der Auslegung. Autorin von Liebesromanen klingt nach einer übergewichtigen Frau, die den ganzen Tag hinterm Schreibtisch sitzt mit völlig verklärten Ansichten über die Liebe. Das ist den meisten Männern suspekt.“

„Also, wenn man dich so hört, könnte man meinen, ich bringe die Männer haufenweise persönlich um, als darüber zu schreiben.“

„Du wirst sehen, du kannst dich bald vor Angeboten nicht mehr retten.“

Uli sollte recht behalten, denn noch am selben Tag hatte ich bereits mehrere Anfragen für ein Date in meinem Postfach. Ich muss sagen, ich war überrascht, wie viele gut aussehende Männer sich dort tummeln und die Frau fürs Leben suchen. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, was ich falsch gemacht hatte, dass ich keinem dieser Männer bisher begegnet war?

„Und … siehst du ihn?“, holt mich Ulis Stimme zurück in die Gegenwart.

„Nein“, brumme ich missmutig in den Hörer.

In diesem Moment sehe ich, wie jemand die Hand in die Höhe hebt und mir zuwinkt. Ich blinzele, da ich meine Brille nicht auf habe. Ich leide seit der Pubertät an einer Weitsichtigkeit, so dass ich für gewöhnlich Kontaktlinsen trage. Ausgerechnet heute waren meine Augen so gerötet, dass ich auf die Kontaktlinsen verzichten musste. Ich habe für solche Fälle natürlich immer eine Brille bei mir, eines von diesen schicken Hornbrillen-Modellen, wie sie gerade angesagt sind. Meine Freunde finden, dass ich mit der Brille sehr intelligent und sehr distinguiert aussehe, was im Klartext bedeutet: Ich sehe aus wie eine Oberlehrerin. Deshalb wollte ich das Risiko nicht eingehen, dass Andreas mich genau so empfinden könnte, und habe die Brille sorgfältig in meiner Tasche versteckt – für Notfälle sozusagen.

„Mia?!“

„Da ist er!“, quietsche ich und kann nur mit Mühe den Reflex unterdrücken, ihm wie verrückt zurückzuwinken.

„Und wie sieht er aus?“

„Uli, ich muss Schluss machen.“ Ich winke Andreas zu.

„Hey, du kannst mich doch nicht einfach abwürgen – jetzt, wo es spannend wird!“

„Doch, kann ich. Bis später!“ Ich drücke den Knopf, um das Gespräch zu beenden. Dann atme ich einmal tief durch. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich mich dem Tisch nähere. Meine Güte, der Mann sieht umwerfend aus. Seine braunen Haare glänzen seidig im Dämmerlicht. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug und darunter ein hellblaues Hemd. Seine Schuhe kann ich nicht erkennen. Erleichtert stelle ich fest, dass Andreas genauso aussieht wie auf den Fotos, die er mir geschickt hat. Braunes lockiges Haar, feuchtbraune Augen und ein markantes Gesicht. Wenigstens hat er nicht gelogen wie die anderen zwei Männer, mit denen ich mich zuvor getroffen habe, bevor sich Andreas bei mir gemeldet hat.

Ich gehe mit langen Schritten auf den Tisch zu. Andreas’ Gesicht leuchtet, als er mich entdeckt. Das werte ich als gutes Zeichen. Er steht auf, um mich zu begrüßen. Manieren hat er also, mein Traumprinz. Eine klitzekleine Überraschung ist seine Größe, denn Andreas ist kleiner als gedacht. Um ehrlich zu sein, ist er gerade mal so groß wie ich. Sollte ich mich in seiner Personenbeschreibung verlesen haben? Ich bin mir ziemlich sicher, dass bei der Größenangabe 1,83 m geschrieben stand, und auf seinen Fotos wirkte er auch deutlich größer als in echt. Eigentlich stehe ich ja nicht auf kleine Männer. Ich mag es, zu einem Mann hochzusehen, egal, ob ich hohe Absätze trage oder flache Pumps. Aber da der Rest zu stimmen scheint, will ich mal gnädig sein und darüber hinwegsehen, dass er bei der Beschreibung ein wenig geschummelt hat. Schließlich war ich bei meiner Berufsbeschreibung auch nicht ganz ehrlich.

Seine Augen ruhen auf mir, und er lächelt. Meine Güte, sein Lächeln ist einfach unglaublich. Da spielen die paar wenigen Zentimeter doch wirklich keine Rolle mehr.

„Hallo.“ Ich räuspere mich verlegen. Das ist wieder typisch für mich. Immer wenn ich einem attraktiven Mann gegenüberstehe, verwandele ich mich in einen stotternden Trottel ohne Selbstbewusstsein.

„Hallo, Mia“, kommt es prompt zurück. Ich bekomme Gänsehaut. Aber nicht eine, wie man sie bekommt, wenn man ein besonders ergreifendes Lied hört, sondern der Art, wie man sie bekommt, wenn man einen Horrorfilm sieht und der Hauptfigur gerade langsam der Kopf abgeschnitten wird. Der Mann hört sich an wie eine missgestimmte Geige! Ich schlucke trocken. Andreas’ Gesicht schwebt dicht vor meinem, und ehe ich protestieren kann, gibt er mir einen Kuss auf die Wange.

„Schön, dass du da bist“, schrillt es mir in mein Ohr. Ich nicke geschockt durch den Klang seiner Stimme. Die Frau am Nachbartisch wirft mir einen bedauernden Blick zu. Andreas zieht den Stuhl zur Seite, und ich lasse mich – immer noch erschüttert angesichts seiner Fistelstimme – darauf fallen. Bevor ich meinen Schock überwunden habe, fängt Andreas wieder an zu sprechen.

„Du siehst in echt noch netter aus als auf dem Foto.“

Nett? Nett ist die kleine Schwester von scheiße! Ich schlucke und nicke, unfähig etwas zu sagen.

Andreas scheint meine momentane Sprachlosigkeit nicht zu stören, denn er fährt ungerührt mit seinem kleinen Begrüßungsmonolog fort.

„Ich war schon sehr gespannt, wie du wohl in Wirklichkeit bist. Weißt du, auf diesen Datingplattformen wird so viel gelogen und die Wenigsten sind ehrlich“, quakt er mit der Stimme einer breitgetretenen Kindertrompete weiter und lehnt sich selbstgefällig im Stuhl zurück. „Aber du bist genau mein Typ.“

Na prima! Obwohl mein erster Impuls ist aufzustehen und zu gehen, beschließe ich, dem Mann noch eine Chance zu geben. Wer solche E-Mails schreiben kann, kann einfach kein schlechter Mensch sein, und eine Stimme ist letztendlich nicht alles! Tom Cruise hört sich in echt auch nicht viel besser an, und der hat es schließlich bis an die Weltspitze gebracht. Ob man eine Stimme operativ verbessern kann?

„Aber du sagst ja gar nichts.“ Andreas sieht mich mit seinen zugegeben schönen Augen an.

„Tja, weißt du“, stammele ich, „ich bin noch völlig von unserer Begegnung überwältigt.“ Das ist zumindest nicht gelogen!

„Das kann ich verstehen.“ Andreas lächelt mich selbstzufrieden an. „Geht mir genauso.“

Wie so oft in meinem Leben frage ich mich, warum ich nicht mit einem solchen Selbstbewusstsein ausgestattet bin, sondern immer voller Selbstzweifel durch das Leben stolpere. Das muss an meiner Erziehung liegen.

Seit ich denken kann, hat meine Mutter darauf geachtet, dass ich mich gesund ernähre und mein Gewicht halte. Kleine körperliche Defizite wurden sofort von ihr kommentiert mit Bemerkungen wie:

„Meine Güte, du siehst ja aus wie ein Streuselkuchen mit den vielen Pickeln in deinem Gesicht. Wir müssen unbedingt einen Termin beim Hautarzt machen“, oder „Sag mal, Liebes, kann das sein, dass du zugenommen hast, oder liegt es an der Hose, die eine so unglückliche Figur macht?“ Da ist es mehr als verständlich, dass ich schon als Teenager mit Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. Bis heute sehe ich unauffällig zur Seite, wenn ein Mann mich bewundernd ansieht, nur um sicherzugehen, dass er auch wirklich mich meint und nicht irgendeine andere schöne Frau, die sich gerade zufällig neben mir im Raum befindet.

„Was möchtest du trinken?“, scheppert es an meine Ohren.

„Einen Gin und Tonic, bitte.“ Ich brauche Alkohol, am besten literweise, ansonsten überstehe ich den Abend nicht. Ich werde mir die Stimme einfach schön trinken.

„Oha, eine Frau, die gerne harte Sachen trinkt“, sagt er, dabei sieht er mich an, als ob ich ihm soeben mit meiner Bestellung gestanden hätte, dass ich Alkoholikerin bin.

Ich beschließe, nicht weiter darauf einzugehen, das würde die Sache wahrscheinlich noch schlimmer machen. Außerdem bin ich Andreas keine Rechenschaft schuldig.

Andreas gibt dem vorbeilaufenden Keller ein Zeichen, während ich krampfhaft überlege, wie ich aus der Nummer herauskomme. Eins ist sicher: Das war das letzte Mal, dass ich mich mit einem Kerl aus dem Internet treffe. Ich habe keine Lust mehr, irgendeinem Idioten gegenüberzusitzen, der sich für den Nabel der Welt hält. Wie konnte ich nur glauben, dass Andreas mein Traumprinz ist? Wobei er mit seinen braunen Augen, den langen dunklen Wimpern und der sportlichen Figur (wenn man mal von den fehlenden Zentimetern absieht) ganz meinem Bild von einem Idealmann entspricht – zumindest äußerlich. Aber so ist das eben, wenn man sein Schicksal in die Hände eines Computers legt. Da werden nur die harten Fakten abgeglichen und so etwas wie die Stimme eines Menschen fällt einfach unter den Tisch. Das merkst du eben erst, wenn du dem Menschen gegenübersitzt. Ebenso verhält es sich mit dem Körpergeruch. Es gibt Menschen, die kann ich im wahrsten Sinne des Wortes „gut riechen“ und andere wiederum stoßen mich ab.

Die Bedienung bringt unsere Drinks. Einen Gin und Tonic für mich und einen Weißwein für Andreas. Hastig greife ich nach meinem Glas.

„Auf einen wunderschönen Abend.“ Andreas zwinkert mir zu.

„Ja, auf den Abend.“ Und dass er bald aufhört, füge ich innerlich hinzu. Wir nehmen einen Schluck, das heißt, Andreas nimmt einen Schluck, ich stürze drei Viertel meines Glases in einem Zug hinunter. Ich kann nur hoffen, dass der Alkohol schnell anfängt zu wirken, weil ich bei der Stimme sonst für nichts mehr garantieren kann.

Der Gin brennt mir in der Kehle und ich fange an zu husten.

„Alles okay?“ Andreas beugt sich über den Tisch und tätschelt mir unbeholfen den Rücken.

Ich nicke, darum bemüht, nach Luft zu schnappen. Endlich ist mein Hustenanfall vorbei.

„Was hältst du davon, wenn wir uns etwas zu essen bestellen?“ Andreas reicht mir die Speisekarte.

„Das klingt nach einer guten Idee.“ Wenigstens kann Andreas beim Essen nicht reden und meine Ohren bekommen eine kleine Auszeit gewährt.

Keine zwei Minuten später steht die Bedienung, eine hübsche junge Frau, bei uns am Tisch.

„Was darf ich Ihnen bringen?“ Die junge Frau lächelt Andreas aufmunternd zu.

„Ich hätte gerne ein Steak, bitte medium gebraten, und anstatt der Kartoffeln hätte ich gerne einen gemischten Salat“, bestelle ich. Die Frau nickt, während sie meine Bestellung notiert. „Ach ja, und bitte das Dressing extra an die Seite.“

Ich gehöre leider zu den Frauen, die einen trägen Stoffwechsel besitzen. Ich brauche Essen nur anzuschauen, und schon habe ich ein Kilo mehr auf den Rippen, deshalb habe ich mir in den letzten Jahren meines Alleinseins angewöhnt, nach achtzehn Uhr keine Kohlenhydrate mehr zu mir zu nehmen. Eine Methode, die sich bewährt hat und mir bei einer Größe von 1.75 m ein Idealgewicht von 59 Kilo beschert hat. Das ist einer der weiteren Nachteile als Single. Man muss ständig darauf achten, sich in der Öffentlichkeit von seiner besten Seite zu zeigen. Ich gehe, seit Holger mich vor zwei Jahren verlassen hat, nicht mehr aus dem Haus, ohne mich vorher ausgiebig gestylt zu haben. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich abends gemütlich mit Holger bei einem Glas Wein und einem Teller Spaghetti auf dem Sofa saß. Heutzutage tummele ich mich auf After-Work-Partys oder im Fitnessclub herum, auf der Suche nach einem geeigneten Sexualpartner.

Die Bedienung bringt unser Essen, und ich ertappe Andreas dabei, wie er ihr auf ihren wohlgerundeten Po glotzt, während sie den Teller vor mir abstellt.

„Und … gefällt sie dir?“

Andreas sieht mich verwirrt an. „Na, die Bedienung.“

„Habe ich gar nicht bemerkt“, brummt Andreas und beginnt sein Hähnchen zu zerteilen.

Lügner. Ich nehme das Besteck zur Hand. Ich bin bekennende Fleischesserin und das Steak sieht absolut köstlich aus. Uli hat schon mehrfach versucht, mich von der vegetarischen Küche zu überzeugen, allerdings ohne Erfolg. Entweder sind meine Geschmacksnerven nicht gut ausgebildet oder Tofu schmeckt tatsächlich nach Nichts. Uli jedenfalls ist völlig begeistert davon. Erst letzte Woche, als wir zusammen mit ein paar Freunden gegrillt haben, spendete Uli großzügig ein paar Tofuwürstchen. Die Dinger schmeckten nach Pappe mit Ketchup und hatten dazu noch die Konsistenz von Kaugummi.

„Du bist also Unternehmerin?“, eröffnet Andreas die Smalltalkrunde mit einer weiteren Frage.

Ich räuspere mich. „Ja, so könnte man es bezeichnen.“

„Was genau muss ich mir darunter vorstellen?“ Uli hat mir zwar eingebläut, nicht gleich alles über mich zu sagen, aber ich beschließe, bei der Wahrheit zu bleiben. Schließlich kann ich Andreas schlecht Vorwürfe wegen seiner Stimme machen und selbst lügen, was meinen Beruf anbelangt.

„Ich schreibe Bücher.“ Ich nehme einen weiteren Schluck aus meinem Glas. „Um genau zu sein Krimis.“

„Tatsächlich? Du meinst so à la Rita Falk?“ Andreas hebt erstaunt die Augenbraue und ich mein Glas, um einen weiteren Schluck daraus zu nehmen.

„Rita Falk?!“ Ich winke ab. „Das ist doch netter Kinderkram. Nein, ich schreibe Krimis, in denen das Blut nur so aus den Seiten tropft. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Ich schneide mit dem Messer ein Stück Fleisch ab. Sofort läuft der rotbraune Saft über meinen Teller. Ich grinse.

Andreas rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Das hätte ich gar nicht von dir vermutet.“

„Was? Dass ich blutrünstige Geschichten schreibe?“

Er nickt.

„Je mehr Blut, umso besser.“

„Aha. Und woher holst du deine ... äh Inspiration?“

„Das wahre Leben ist meine Inspiration.“ So langsam gewinne ich Spaß an der Unterhaltung.

„Das wahre Leben ... so, so.“ Die Selbstsicherheit von Andreas ist wie verflogen. Er mustert mich aufmerksam, während ich aus meinem Schreiballtag plaudere. „Ja, die Zeitungen sind voll mit Mordfällen, wenn man mal genau hinschaut.“ Ich schneide mir ein weiteres Stück Fleisch ab. Andreas verfolgt jede meiner Bewegungen aufmerksam. „Letzten Monat ist in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ein junger Mann ermordet worden – um genau zu sein: erstochen. Keiner hat es zunächst bemerkt. Erst, als sich die Post vor der Haustür gestapelt hat und der Verwesungsgeruch im Treppenhaus zu riechen war, haben die Nachbarn die Polizei geholt. Der Mörder läuft noch immer frei herum.“ Ich lächele. Andreas lächelt nicht. „Das ist die beste Inspiration, die man als Autorin bekommen kann“, schließe ich meine kleine Ausführung ab.

Andreas kaut schweigsam an seiner Enchilada. Mit jeder Minute des Schweigens steigt meine Laune und ich genieße mein Steak bis zum letzten Biss.

 

„Tja, es war schön, dich kennengelernt zu haben“, verabschiede ich mich höflich, nachdem wir die Rechnung bezahlt haben. „Ich muss dann mal los.“ Ich möchte keine Sekunde länger als nötig mit diesem Mann an einem Tisch verbringen. Dass er eine Fistelstimme hat, ist eine Sache, aber dass er mich für das Essen zahlen lässt, geht gar nicht! In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Wenn mich ein Mann um ein Date bittet, erwarte ich von ihm, dass er mich einlädt. Nicht, dass ich es mir nicht leisten könnte, aber das ist eine Prinzipsache.

„Ja, fand ich auch.“ Andreas beugt sich nach vorne und macht Anstalten, mich zu küssen. Ich weiche instinktiv zurück. Andreas runzelt die Stirn. „Tja äh … sehen wir uns wieder?“

„Ich glaube nicht.“ Ich sehe Andreas fest in die Augen.

„In Ordnung, ist vielleicht auch besser so.“ Andreas wirkt irgendwie erleichtert. „Ich habe mir gleich gedacht, dass wir nicht zusammenpassen.“

„Aha!“

„Ja, Frauen wie du sind mir viel zu selbstbewusst.“

„Du suchst also ein hübsches Mäuschen, das in Bewunderung ausbricht, wenn du ihr von deinem langweiligen Tag im Büro erzählst.“

„Das ist mal wieder typisch Frau.“ Andreas verzieht das Gesicht und sieht mit einem Mal gar nicht mehr so attraktiv aus.

„Was?“

„Ihr reagiert immer so emotional.“

„Wenn du es so siehst. Auf Wiedersehen.“ Ich mache auf meinem Absatz kehrt, ohne Andreas noch eines Blickes zu würdigen. Der Depp kann mir mal im Mondschein begegnen.

 

Lena

Seufzend werfe ich einen Blick auf die Uhr. Sie zeigt mir unbarmherzig an, dass es in wenigen Minuten einundzwanzig Uhr sein wird, und ich begrabe die Hoffnung, dass mein Mann Chris heute noch zum Abendessen erscheint. Somit wäre es dann schon das dritte Mal in dieser Woche, wo er mich mit fadenscheinigen Begründungen, wie Überstunden und wichtige Besprechungen in der Firma, abspeisen wird und ich quasi umsonst gekocht habe.

Als ich den gedeckten Tisch abräume und das unbenutzte Geschirr wieder in den Schrank stelle, kann ich nicht verhindern, dass mir einige dicke Tränen die Wangen runterkullern. Ist es das, was von über zwanzig Jahren Ehe übrig bleibt? Seit unsere Zwillinge Till und Lilly vor drei Monaten in eine WG gezogen sind und ihr Studium begonnen haben, ist es zwischen mir und Chris rapide bergab gegangen.

Unsere Unterhaltungen bestehen meist nur noch aus „Guten Morgen“ oder „Hast du meinen Anzug in die Reinigung gebracht?“. Irgendwie hatte ich mir das alles anders vorgestellt. Ich habe wirklich geglaubt, dass, wenn unsere Kinder ausgezogen sind, wir wieder mehr Zeit für uns haben und auch unser Sexleben einen Aufschwung erfährt. Nicht mehr diesen Sex nach Plan, alle vier Wochen, im dunklen Schlafzimmer und immer darauf bedacht, bloß leise zu sein, damit die Kinder uns nicht hören. Nein! Stattdessen spontanen Sex auf dem Esstisch oder auf dem Wohnzimmerfußboden und ohne irgendwelche Hemmungen. Auf unsere Nachbarn müssen wir dabei keine Rücksicht nehmen.

Wir bewohnen eine Doppelhaushälfte am Stadtrand von Frankfurt am Main und die Besitzer der anderen Haushälfte sind beide schon Ende siebzig und äußerst schwerhörig. Davon haben auch immer Till und Lilly profitiert, da wir niemals Beschwerden bekommen haben, wenn die beiden mal eine Party gefeiert oder die Musik zu laut aufgedreht haben. Das Ehepaar Schulze ist wirklich total pflegeleicht und sie sind absolute Traumnachbarn. Sie haben sogar früher ab und zu auf unsere Kinder aufgepasst, wenn Chris und ich mal spontan beschlossen haben, ins Kino zu gehen oder auf ein Glas Wein zu unserem Lieblingsitaliener wollten. Dafür habe ich dann ihren Briefkasten geleert und die Blumen gegossen, wenn Schulzes zu ihrem jährlichen Kururlaub nach Tschechien gefahren sind.

Ich bin gerade dabei, das Abendessen in Tupperschüsseln zu füllen, als ich Chris’ Auto auf unser Grundstück fahren höre. Schnell wische ich mir die Tränen aus meinem Gesicht und atme ein paarmal tief durch. Ich spüre sofort, wie sich mein ganzer Körper anspannt. Auf der einen Seite bin ich wirklich wütend auf meinen Mann, weil ich sein Verhalten mir gegenüber einfach nur respektlos finde, aber gleichzeitig bin ich auch froh, dass er nun endlich zuhause ist. Ich hasse es, alleine zu sein, und auch wenn Chris jetzt sofort wie fast jeden Abend in sein Arbeitszimmer verschwindet und ich ihn wahrscheinlich den Rest des Tages nicht mehr zu Gesicht bekomme, so weiß ich aber doch, dass er da ist, und das gibt mir ein beruhigendes Gefühl.

„Hallo, Lena. Es tut mir leid, dass es schon wieder so spät geworden ist. Ich hoffe, du hast nicht mit dem Essen auf mich gewartet?“

Chris ist in die Küche gekommen. Ich drehe mich langsam zu ihm um und ringe mir ein Lächeln ab. Als ich direkt in seine tiefblauen Augen sehe, verkrampft sich mein Herz, und ich habe das Gefühl, für einen kurzen Moment keine Luft zu bekommen. Natürlich ist das Blödsinn, denn würde ich keine Luft mehr bekommen, dann wäre ich mit größter Wahrscheinlichkeit umgefallen, aber ich stehe immer noch und sehe Chris einfach nur an. Auch nach über zwanzig Jahren finde ich meinen Mann äußerst attraktiv, und mein Herz schlägt Purzelbäume, wenn er mich liebevoll ansieht.

Chris ist einfach eine Erscheinung. Wenn er einen Raum betritt, zieht er automatisch alle Blicke auf sich, und das liegt nicht nur daran, dass er mit seinen ein Meter dreiundneunzig Körpergröße überdurchschnittlich groß ist, sondern am Gesamtpaket. Seine Haut ist auch mit 44 Jahren immer noch fast faltenfrei und seine dunkelblonden Haare ziert nicht ein einziges graues Haar. Dass er mindestens zweimal die Woche ins Fitness-Studio geht, ist ebenfalls nicht zu übersehen, denn er ist muskulös und durchtrainiert. Obwohl ich weiß, dass ich trotz meiner leicht molligen Figur und meinen langen blonden Haaren durchaus ganz passabel aussehe und mich nicht zu verstecken brauche, überkommt mich manchmal die Angst, dass Chris sich irgendwann in eine andere verlieben könnte. Jetzt, nachdem unsere Kinder ausgezogen sind und wir uns noch mehr auseinandergelebt haben, sind diese Ängste schlimmer denn je.

„Was schaust du mich denn so an? Stimmt irgendetwas nicht mit mir?“

Ich zucke zusammen. Ganz so, als ob ich etwas Verbotenes getan hätte. „Nein. Es ist alles okay. Es ist nur …“

„Ja?“

„Na ja, ich bin ziemlich wütend, dass du nun schon das dritte Mal in dieser Woche nicht zum Essen zuhause warst und es noch nicht einmal für nötig gehalten hast, mir kurz Bescheid zu sagen.“

Ich deute auf die Tupperschüsseln. „Wenn ich jedes Mal das übrig gebliebene Essen einfrieren muss, dann können wir uns bald noch einen zusätzlichen Gefrierschrank kaufen.“

Chris schaut mich einen Moment lang an und ich glaube so etwas wie Mitleid in seinem Blick zu erkennen. Das ist gar nicht gut, schießt es mir durch den Kopf.

„Lena, ich glaube es wird Zeit, dass wir beide miteinander reden. Es gibt da etwas, das du wissen solltest.“ Chris fährt sich nervös mit seiner Hand durch die Haare.

Mir wird schlagartig übel. Ist das nicht der Satz, mit dem in Büchern und Filmen immer die große „Ich habe eine andere Frau kennengelernt und werde dich jetzt verlassen“-Beichte eingeleitet wird?

„Was sollte ich wissen?“, frage ich mit zitternder Stimme, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob ich die Antwort wirklich hören möchte.

Chris geht an den Kühlschrank und holt sich ein Bier raus. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis er den Flaschenöffner aus der Schublade gekramt hat und mit einer schnellen Handbewegung den Kronenkorken von der Flasche hebelt.

„Wollen wir uns nicht lieber setzen?“ Chris deutet auf den Esszimmertisch.

Ich nicke stumm und fast schon mechanisch lasse ich mich auf einen der leeren Stühle fallen. Chris setzt sich mir gegenüber und knibbelt nervös das Etikett von der Bierflasche. Eine Weile sitzen wir einfach nur so da und schweigen uns an.

„Mm … wolltest du mir nicht etwas sagen?“, erinnere ich ihn an den Grund, warum wir uns zusammen an den Tisch gesetzt haben.

Chris räuspert sich mehrmals. Es ist fast so, als ob er Angst hätte, dass seine Stimme versagen könnte.

„Lena, was ich dir jetzt sagen muss, fällt mir alles andere als leicht, aber du hast es einfach verdient, die Wahrheit zu kennen.“ Er nimmt einen großen Schluck aus der Bierflasche, bevor er weiterredet. „Du bist eine intelligente Frau, und wahrscheinlich ahnst du ohnehin schon etwas.“

In meinem Kopf dreht sich alles, aber irgendwie bringe ich es trotzdem fertig, meinem Mann direkt in die Augen zu sehen. „Was sollte ich ahnen? Chris, du sprichst in Rätseln. Jetzt mache es nicht so spannend und sag mir bitte, worum es geht.“

„Wir sind jetzt über zwanzig Jahre zusammen, und das ist eine verdammt lange Zeit. Wir haben viele schöne Dinge gemeinsam erlebt und zwei wunderbare Kinder in die Welt gesetzt. Aber seit Till und Lilly ausgezogen sind, ist mir auch bewusst geworden, dass es das noch nicht gewesen sein kann. Das Leben muss doch noch mehr bereithalten als nur Arbeit und die gelegentlichen Besuche unserer Kinder, bei denen sie hier Berge von schmutziger Wäsche abliefern.“

Einen Moment lang überkommt mich das Gefühl von Hoffnung. Vielleicht will Chris mir ja gar nicht mitteilen, dass er sich in eine andere verliebt hat. Vielleicht eröffnet er mir jetzt, dass er sich ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub genommen und für uns beide eine Weltreise gebucht hat. Ich greife über den Tisch nach seiner Hand und nehme sie fest in meine.

„Ich sehe das ähnlich wie du, Chris. Ich bin ebenfalls nicht glücklich mit der momentanen Situation und würde gerne noch einmal von vorne anfangen.“

Schlagartig erhellt sich sein Gesicht. „Ist das dein Ernst, Lena? So habe ich dich gar nicht eingeschätzt. Ich habe geglaubt, dir genügt das Leben, das wir führen.“

Heftig schüttele ich den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. So möchte ich auch nicht die nächsten dreißig Jahre weiterleben.“

Chris atmet laut hörbar aus. „Einen Neuanfang. Genau das möchte ich. Noch sind wir nicht zu alt, um unserem Leben noch mal eine Wendung zu geben.“

In Chris’ Augen ist ein Leuchten, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe.

„Seit ich Anna kennengelernt habe, weiß ich wieder, wie sich Unbeschwertheit und Lebenslust anfühlen. Seit Wochen quäle ich mich damit herum, wie ich dir reinen Wein einschenken kann, ohne dich zu verletzen. Ich habe doch nicht im Geringsten geahnt, dass du auch nochmal von vorne anfangen möchtest.“

Wumm! Ich habe das Gefühl, als ob sich eine Faust in meine Magengrube gebohrt hätte. Wer zum Teufel ist Anna?

 

Mia

„Bist du allein? Kannst du sprechen?“, flüstert Uli mit Verschwörerstimme ins Telefon.

„Du kannst ruhig laut sprechen, ich bin alleine.“ Ich schenke mir ein Rotwein ins Glas und lasse mich auf mein gemütliches Sofa fallen. „Gott sei Dank!“

„Dann war dein Traumprinz also kein Traum?“

„Doch, ein Alptraum, wenn du es genau wissen willst.“ Ich setze das Glas an meine Lippen und nehme einen Schluck. „Das Date war der absolute Höhepunkt meiner erfolglosen Treffen mit Männern in den letzten Jahren. Nicht nur, dass der Typ gerade mal so groß war wie ich … nein, er hatte dazu noch eine Stimme wie eine rostige Kreissäge und den Charme eines Abfalleimers.“

„Oh, oh, das hört sich aber gar nicht gut an.“

„War es auch nicht“, brumme ich. „Es will mir nicht in den Kopf, wie ein Mann so nette E-Mails schreiben kann und sich dann als derartiger Loser entpuppt.“

„Das tut mir leid, Süße.“

„Braucht es nicht, ich hatte auch meinen Spaß“, kichere ich. „Du hättest mal sein dämliches Gesicht sehen sollen, als ich ihm von meinem Beruf als blutrünstige Krimiautorin erzählt habe.“

„Du hast gesagt, du seist Krimiautorin?“ Jetzt ist Uli ein bisschen fassungslos.

„Na klar. Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht.“ Ich kichere leise. „Dem sind fast die Augen ausgefallen, als ich ihm von diesem Mordfall aus der Nachbarschaft erzählt und dabei mein Steak geschnitten habe.“

„Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Du bist ein ganz schönes Miststück, weißt du das?“

„Deshalb liebst du mich doch so.“

„Stimmt genau“, kichert Uli.

„Und wann hast du dein nächstes Date?“

„Spinnst du jetzt völlig!“, kreische ich in den Hörer. „Ich habe die Nase gestrichen voll.“

„Ach, das ist doch Blödsinn. Das sagst du nur, weil sich dein Traumprinz als Idiot herausgestellt hat.“

„Nein, das sage ich nicht einfach nur so. Du solltest mich nach all den Jahren besser kennen. ICH WILL AUF KEINEN FALL MEHR EIN DATE MIT IRGENDEINEM MANN!“, sage ich betont langsam und mit fester Stimme.

„Du brauchst mit mir nicht zu reden, als wäre ich schwer von Begriff“, mault Uli. „Ich habe die Message verstanden. Und was ist der Plan?“

Ich zucke mit den Schultern. „Kein Plan.“

„Okay. Das ist nicht gerade viel.“

„Ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass ich mich nicht länger auf irgendwelchen Plattformen feilbieten werde, als wäre ich eine minderwertige Ware. Ich möchte nur noch meine Ruhe und meine Macken ausleben.“

„Ist mir durchaus bewusst, und Macken hast du ja genug.“

„Genau wie du!“

„Wer dich zur Freundin hat, braucht wirklich keine Feinde mehr“, kontert Uli.

„Ach Uli, das ist doch normal. Sag mir einen in unserem Bekanntenkreis, der keine Macke hat.“

Uli schweigt einen kurzen Moment. „Lennard!“, sagt sie schließlich.

„Du meinst Lenny, Lennard?“

„Genau den.“

„Also von seiner Freundin weiß ich, dass Lennard nachts immer ins Waschbecken pinkelt, weil er zu faul ist, aufs Klo zu gehen.“

„Igitt! So etwas erzählt die dir?“

„Ja, unter dem Einfluss von zu viel Rotwein werden die Leute manchmal ganz schön gesprächig“, kichere ich und nehme einen Schluck aus meinem Glas.

„Das hätte ich nicht gedacht. Lennard ist doch Lehrer. Der sollte eigentlich ein Vorbild sein.“

„Na ja, ich denke mal nicht, dass er das in der Schule genauso macht.“ Ich angele mit den Zehen nach der Myself.

„Hm. Ich glaube, ich kann Lennard nie wieder in die Augen sehen, ohne dabei hysterisch zu kichern.“

„Dann geht es dir wie mir.“ Ich ziehe an der Myself und stoße dabei gegen mein Weinglas. Klirrend landet das Glas auf dem Holzboden und eine rote Lache breitet sich darauf aus. „Mist!“, fluche ich laut und springe auf, den Hörer ans Ohr geklemmt.

„Was ist los?“

„Du, ich muss Schluss machen, ich habe mein Rotweinglas umgeschmissen.“ Ich haste in die Küche.

„Alles klar, bis morgen.“

Ich lege auf und hole mir eine Küchenrolle, um damit bewaffnet zurück ins Wohnzimmer zu rennen.

Bis auf das zerbrochene Glas ist weiter nichts passiert. Ich beseitige den Rotweinfleck. Anschließend fege ich die Glassplitter zusammen und bringe sie in die Mülltonne. Da ich keinen Rotwein mehr habe, nehme ich mir ein Glas Wasser und fläze mich auf das Sofa. Lustlos zappe ich ein paar Minuten durch das Fernsehprogramm. Wie immer, wenn ich mal einen Film schauen will, läuft nichts. Nur öde Talkshows und langweilige Fernsehfilme auf dem Niveau einer Abschlussklasse der Filmakademie.

Ich schnappe mir die Myself und blättere ein wenig darin, als mein Blick auf der Reiseseite mit der Überschrift „Ferien auf der Sonneninsel Sylt“ hängen bleibt. Das Titelbild zeigt eine herrlich sonnenbeschienene Dünenlandschaft mit einem typischen Reetdachhaus darin. „Lassen Sie sich richtig vom Wind durchpusten und die Seele baumeln …“

Hört sich gar nicht so schlecht an. Interessiert fliegen meine Augen über die Zeilen. Obwohl ich keine drei Stunden entfernt von Sylt wohne, war ich noch nie dort. Unsere Urlaube mit der Familie haben wir meistens im Wohnwagen in Frankreich und Österreich verbracht. Die Ostsee haben wir nur am Wochenende besucht. Samstagmorgen wurde sich in aller Herrgottsfrühe ins Auto gesetzt, um möglichst dem Stau zu entkommen, der sich allwöchentlich auf den Autobahnen in Richtung Ostsee bildet. Im Gepäck ein prall gefüllter Picknickkorb, Handtücher und diverse Strandspielsachen. Wir lagen den ganzen Tag mit meinen Eltern am Strand, haben Sandburgen gebaut und in der kalten Ostsee gebadet. Wunderbar. Abends, wenn alle müde vom Tag waren, haben wir uns ins Auto gesetzt und mein Vater hat uns sicher nach Hause gefahren. Ich habe immer einen warmen Kloß im Bauch, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Sylt?! Ich seufze, denn eigentlich kann ich mir im Moment keinen Urlaub leisten. Meine Agentin hat schon dreimal angerufen und nach dem angekündigten Manuskript gefragt. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, dass ich in den ersten hundert Seiten feststecke. Irgendwie bin ich blockiert, seit Holger sich von mir getrennt hat. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mit kleinen Auftragsarbeiten oder historischen Liebesromanen, die man in jedem Kiosk an der Ecke kaufen kann. Nichts, worauf ich sonderlich stolz bin, aber es bezahlt meine monatlichen Unkosten. Dieses Buch, an dem ich gerade arbeite, soll mein Durchbruch als ernst zu nehmende Schriftstellerin werden. Allerdings nicht, wenn es so läuft wie bisher, nämlich beschissen, um es mal in klare Worte zu fassen.

Du musst arbeiten, ermahne ich mich selbst wie ein kleines Kind. Frustriert klappe ich die Myself zusammen und stehe auf. Zeitgleich, als ich das Licht ausmachen will, klingelt mein Handy.

Das Gesicht meiner Mutter lacht mir vom Display entgegen. Ich stöhne innerlich.

Nicht, dass ich meine Mutter nicht liebe, aber in der Regel dreht sich in den Telefonaten mit ihr alles um das Thema Krankheiten oder Jan. Für einen kurzen Moment bin ich versucht, das Gespräch nicht anzunehmen, aber dann siegt mein schlechtes Gewissen.

„Hallo, Mama.“

„Hallo, meine Süße. Na, wie geht es dir?“ Diese Frage stellt sie immer, damit ich sie frage, wie es ihr geht und sie mir von ihren neusten Krankheiten erzählen kann.

„Gut. Ein bisschen müde. Ich wollte gerade ins Bett gehen“, sage ich in der Hoffnung, das Gespräch weg von den Krankheiten zu lenken.

„Ach, ich wünschte, ich könnte auch endlich wieder schlafen“, stöhnt es am anderen Ende. Wusste ich es doch!

„Warum? Du musst dich doch nur ins Bett legen und dann kannst du auch schlafen.“

„Als ob das so einfach wäre.“

„Eigentlich schon.“

„Für dich vielleicht“, kommt es spitz zurück. „Du leidest ja nicht wie ich seit Jahren an Schlafstörungen.“

„Du hast Schlafstörungen?“ Die Aussage meiner Mutter versetzt mich nun doch in Erstaunen, denn, wenn es einen Menschen auf dieser Welt gibt, der gut schläft, dann ist es meine Mutter. Es gibt unzählige Bilder in unserem Familienalbum, die meine Mutter in den verschiedensten Positionen schlafend zeigen.

„Aber Mia, das weißt du doch. Ich wandere fast jede Nacht durch die Wohnung, während euer Vater schnarchend im Bett liegt.“

„Woher soll ich das wissen, ich wohne schon seit Jahren nicht mehr bei euch. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist.“

„Was bist du denn heute so gereizt?“

„Ich bin nicht gereizt nur weil ich nichts von deinen Schlafstörungen weiß.“

„Immer diese Widerworte von dir. Du warst schon als Kind störrisch.“

„Mama, ich habe wirklich keine Lust mich mit dir zu streiten“, versuche ich sie zu beruhigen. Wenn meine Mutter sich erst einmal in Rage geredet hat, kann es für gewöhnlich Stunden dauern, bis sie sich wieder beruhigt hat.

„Mm“, schnaubt es.

„Du könntest es ja mal mit einer Tasse Baldriantee versuchen.“

„Gegen Baldrian bin ich allergisch. Außerdem riecht das ganze Haus anschließend danach.“

„Warst du mal beim Arzt?“

„Der alte Quacksalber hat doch keine Ahnung.“

„Aber warum gehst du dann überhaupt dorthin? Es ist ja nicht so, als ob wir in Hamburg keine Ärzte hätten.“

„In Hamburg vielleicht. Hier draußen ist die Auswahl deutlich begrenzt.“

Meine Eltern sind vor Jahren an den Stadtrand von Hamburg aufs Land gezogen und nennen nun einen kleinen Aussteigerhof mit einem riesigen Grundstück ihr Eigen. Der kleine Ort ist bestens an das Stadtgebiet angebunden und von ihrem Haus bis in die Innenstadt brauchen meine Eltern knapp 30 Minuten. Der wahre Grund für den Ärztemangel ist die Tatsache, dass meine Mutter ausschließlich Ärzte aufsucht, die ihr nach dem Mund reden. Sobald ein Arzt ihrer Theorie widerspricht, erklärt meine Mutter ihn für unfähig und sucht ihn nie wieder in seiner Praxis auf. Im Laufe der Jahre hat sie so eine beachtliche Anzahl von Ärzten verschlissen.

„Das ist ja doof.“ Widersprechen hätte eh keinen Zweck, also schlage ich die Zustimmungstaktik ein.

„Ja, genau. Dein Vater ist schon ganz unglücklich, weil es mir so schlecht geht.“

„Der arme Papa.“

„Und mich bedauerst du nicht.“ Jetzt ist sie beleidigt.

„Natürlich tust du mir leid“, antworte ich matt. „Ich weiß nur nicht, wie ich dir helfen kann.“

„Da kann mir niemand helfen“, seufzt es am anderen Ende der Leitung. Ich kann förmlich sehen, wie sich ihre graublauen Augen mit Wasser füllen und sich ihr Gesicht voller Selbstmitleid verzieht. Manchmal frage ich mich, wie mein Vater das schon seit Jahren mit ihr aushält. Ich habe ihn in einer ruhigen Minute mal drauf angesprochen und er hat nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Ich liebe deine Mutter so, wie sie ist, und da werden ein paar Krankheiten nichts daran ändern.“ Soweit ich zurückdenken kann, hat mein Vater bedingungslos zu meiner Mutter gehalten. Auch uns Kindern gegenüber hat er sie immer verteidigt, was nicht ganz einfach für uns war, da wir nie gewinnen konnten.

„Ach Mama. Lass den Kopf nicht hängen. Ich bin mir sicher, das gibt sich wieder. Haben wir nicht gerade Vollmond?“ Ich schiele vorsichtig aus dem Fenster. Tatsächlich hängt der Mond wie ein leuchtender weißer Ball am Himmel.

„Keine Ahnung. Vielleicht.“

„Siehst du, das ist bestimmt der Grund. Ich habe in den letzten Tagen auch schlecht geschlafen.“

„Wirklich?“ Misstrauen klingt in ihrer Stimme mit.

„Wirklich.“

Es herrscht kurzes Schweigen.

„Hast du was von deinem Bruder gehört?“

„Jan? Der meldet sich doch nie bei mir.“

„Das stimmt doch nicht. Dein Bruder hat einfach viel zu tun.“

„Na ja, auch wenn er viel arbeitet, könnte er mal wenigstens kurz anrufen und fragen, wie es mir geht. Ich meine, er ist ja schließlich nicht der Bundeskanzler, sondern angestellter Ingenieur.“

„Du kennst doch deinen Bruder.“ Jan ist der Liebling meiner Mutter. Nicht, dass sie einen von uns beiden offensichtlich bevorzugen würde, aber wenn es um die Schwächen meines Bruders geht, ist meine Mutter absolut resistent. „Dein Vater und ich wollten euch morgen zu uns zum Kaffee einladen.“

Ich überlege krampfhaft nach einer Ausrede, aber entweder die Müdigkeit oder der übermäßige Alkoholgenuss haben meine Synapsen in eine Art Starre versetzt. Jedenfalls fällt mir nicht ein, was ich dagegensetzen könnte.

„Wie nett von euch. Um wie viel Uhr soll ich kommen?“

„Wir hatten so an drei Uhr gedacht.“

„Drei Uhr klingt gut. Dann sehen wir uns morgen.“

„Gut, mein Liebes ...“

Ich öffne den Mund, um meiner Mutter eine Gute Nacht zu wünschen, schließe ihn jedoch gleich wieder angesichts der damit verbundenen Komplikationen.

„Bis morgen“, sage ich stattdessen und lege auf.

 

 

 

2. Kapitel

 

Lena

Meine diffusen Ängste sind also traurige Gewissheit geworden. Inzwischen sind drei Tage vergangen und Chris ist ausgezogen. Einfach so! Zu seiner Anna!

Ich sitze in unserem abgedunkelten Wohnzimmer und bin unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich habe das Gefühl, mein Leben ist mit einem Schlag vorbei.

Dieser Raum war immer der Treffpunkt der Familie. Hier haben Chris und ich eng aneinander gekuschelt auf unserer schwarzen Ledercouch gesessen und gemeinsam Fernsehen geschaut. Unzählige Abende, an denen wir mit Till und Lilly „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Mikado“ gespielt haben.

Auch unser regelmäßiger Familienrat hat hier immer getagt. Es wurden Probleme besprochen und Urlaube geplant.

Und nun kommt mir dieser Raum so fremd vor, und die Familienbilder aus glücklichen Tagen, die ich auf dem Sideboard und dem Kaminsims platziert habe, erscheinen mir wie ein Hohn. Unablässig kullern mir dicke Tränen über meine Wangen. Immer und immer wieder sehe ich die Bilder vor mir, als Chris seine Klamotten und ein paar persönliche Sachen in Koffer und Kisten packt und sie anschließend zu seinem Kombi trägt, um sie in dem geräumigen Kofferraum zu verstauen. Ich habe während dieser ganzen Zeit wie in Trance an unserem Esszimmertisch gesessen. Nie mehr werde ich Chris’ schuldbewusste Blicke vergessen, mit denen er mich anschaute, wenn er mit einem gepackten Karton an mir vorbeilief.

Als er fertig war, ist er noch einmal zu mir gekommen und hat mir sanft mit der Hand über meine Haare gestreichelt. Es lag so viel Distanz in dieser Geste, dass ich das Gefühl hatte, dass es nicht Chris’ Hand war, die mich da berührte. Nein! Es fühlte sich eher so an, als ob mir jemand eine Drahtbürste über den Kopf ziehen würde.

„Melde dich, wenn etwas ist. Ich bin trotzdem immer für dich da“, hatte er noch gesagt, bevor er gegangen ist. Das war der Moment, wo ich anfing, ihn anzubrüllen. „Wenn etwas ist? Ja, es ist etwas! Du Idiot schmeißt gerade unser ganzes bisheriges Leben in den Müll und mir geht’s ziemlich schlecht damit. Bist du jetzt für mich da?“

Chris hatte nur wortlos mit den Schultern gezuckt, seinen Haustürschlüssel auf den Esszimmertisch gelegt und ist gegangen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Die ersten zwei Tage nach seinem Auszug habe ich heulend in meinem Bett verbracht. Heute habe ich es immerhin schon auf das Sofa geschafft. Kann man da schon von einer Aufwärts-Tendenz sprechen?

Das Klingeln des Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. Das tut es heute schon ungefähr zum zwanzigsten Mal. Wie schon bei den letzten Anrufen, fehlt mir die Kraft, das Gespräch anzunehmen. Ich habe keine Ahnung, wem Chris in der Zwischenzeit schon alles von unserer Trennung erzählt hat, und das Letzte was ich jetzt gebrauchen kann, sind Anrufe von Menschen, die mir wortreich erklären, wie leid ihnen das alles tut und dass sie gar nicht verstehen können, wie Chris eine Frau wie mich verlassen kann. Das waren in der Regel nämlich auch die Menschen, die sich nach diesem Telefonat umdrehten und ihrem Partner erzählten, dass sie das ja schon immer haben kommen sehen und dass ich ja auch ein ziemliches Hausmütterchen sei und es kein Wunder sei, dass Chris sich etwas anderes gesucht hätte.

Als das Telefon wieder verstummt ist, schnappe ich mir eine Wolldecke, die zusammengefaltet über der Sofalehne hängt, und wickele mich fest darin ein. Dann nehme ich mir noch eines der Kissen und ziehe es mir über den Kopf. Nichts hören und nichts sehen. Das ist es, was ich jetzt brauche, um diesen Schock zu verdauen, dass ich Chris verloren habe und noch einmal ganz von vorne anfangen muss.

 

Als ich wieder zu mir komme, klingelt es an meiner Haustür Sturm. Irgendwie muss ich wohl vor lauter Erschöpfung eingeschlafen sein. Total benommen setze ich mich auf und versuche mich erst einmal zu orientieren. Ich habe nicht die geringste Lust aufzustehen und nachzusehen, wer mich besuchen möchte, aber wer auch immer es ist, er besitzt Durchhaltevermögen! Im Sekundentakt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martina Gercke, Katja Schneidt
Bildmaterialien: shutterstock
Lektorat: SW Korrekturen
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2015
ISBN: 978-3-7368-6850-2

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /