Dirk Prüter
Island mal anders
Impressum
Ausgabe 7.9.2022
Texte: © Copyright by Dirk Prüter
Umschlaggestaltung: © Copyright by Dirk Prüter
Verlag: Dirk Prüter, Lilienweg 40, 51143 Köln
Fragen & Anregungen: info@dirk-prueter.de
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Island rockt, Island fasziniert, Island weckt Sehnsüchte. So wie Sie dieses Buch in der Hand halten, so erging es auch Dirk Prüter. 2016 hält ihn nichts mehr. Mit einem Liegedreirad sowie Zelt und Kocher im Gepäck bricht er auf in den Norden Dänemarks, setzt von dort aus mit der Fähre über, dann liegen acht Wochen auf der Vulkaninsel vor ihm. Acht Wochen, in denen er das Land so gut wie umrundet, einmal durchquert, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit strampelt und für sich feststellt: Nicht die Touristenmagnete sind es, die ihn begeistern, sondern die Kilometer dazwischen.
Island mal anders entführt Sie auf diese Reise. Island mal anders lässt Sie vor Wasserfällen aufwachen, in Vulkanlandschaften eintauchen und fast schreiend vor einer Gletscherlagune davon rennen. Island mal anders nimmt Sie mit auf die Pisten des Landes, in Hot-Pots sowie in Begegnungen. Island mal anders kurbelt an Ihrem Gedankenkarussell, beflügelt Ihre Fantasie und rüttelt an Werten.
Ich habe noch keinen festen Boden unter den Füßen, da bin ich bereits begeistert. Meine Anreise gleicht einer perfekten Inszenierung. Schritt für Schritt wuchs die Spannung, bevor der Knoten platzt, wird der Höhepunkt noch eine gefühlte kleine Ewigkeit gehalten.
Beginnen taten die drei Tage an Bord der Norröna harmlos. Menschen strömten auf das Schiff, suchten ihre Kabinen, man knüpfte erste Kontakte, schaute, wie man die Zeit tot schlägt. Ich wollte mir den ersten Abend damit vertreiben, 22 Herren zuzuschauen, wie sie über einen Rasen rennen, einer Lederpocke hinterher, wollte Fußball gucken. Am Tresen einer Rezeption erfuhr ich, dass dem nichts entgegen stünde. Man übertrage eine Begegnung. Manchester United gegen Arsenal London. Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Manchester? Arsenal? Klar, man beförderte internationales Publikum, doch ich war als Deutscher nicht allein. An dem Abend wurde in Berlin das DFB Pokalfinale ausgetragen. Gegeneinander an traten Bayern München und Borussia Dortmund. Ich insistierte, die Dame mir gegenüber jedoch hielt sich unverbindlich. Sie wolle schauen, was sich machen ließe.
Als der Anpfiff näher rückte, schlenderte ich durch die Salons. Aus einem schallten vertraute Fangesänge. Man hatte improvisiert, Leinwand und Beamer aufgestellt und übertrug die Partie. Klasse. Abend gerettet. Zudem, wie sich zeigen sollte: Unterhaltung vom Feinsten. Trotz torloser regulärer Spielzeit. In der Verlängerung fiel ebenfalls kein Treffer. Dennoch, die Männer auf dem Platz gaben alles. Dass am Ende die Spieler des falschen Teams die Trophäe in den Nachthimmel reckten? Egal. Ansichtssache, Schicksal. Glück für die Einen, Pech für die Anderen, gewollte und grausame Konsequenz des Elfmeterschießens. Hinderte aber auch die Unterlegenen nicht daran, das Spielfeld hoch erhobenen Hauptes zu verlassen. Mindestens ebenso schön: Der Funke sprang über. Die nicht gerade wenigen, die das Geschehen mit verfolgten, waren in ihrer Leidenschaft vereint. Man litt, man hoffte, man bangte, man fieberte, am Ende: Erlösung.
Weniger aufreibend der Sonntag. Ein kompletter Tag auf See. Das Wetter meinte es gut. Sanftes Wogen, blauer Himmel. Ich unterhielt mich mit Mitreisenden, wir ließen uns aus über Gott und die Welt, philosophierten, gaben Anekdoten voran gegangener Reisen zum Besten. Am Nachmittag zogen in einigen Kilometern Entfernung die Shetlands vorbei. Schön. Wer es rechtzeitig geschafft hatte, saß im Liegestuhl, streckte die Beine aus, genoss die Sonne sowie den Anblick der Inseln in der Ferne, während über den Köpfen die Basstölpel kreisten. Ich schaffte es rechtzeitig. Dass mich am Abend mit dem Gang zum Buffet ein flaues Gefühl beschlich? Ein Grund erschloss sich mir nicht. Weder war das Meer aufgewühlt, noch peitschten Stürme darüber hinweg. Wahrscheinlich der Wink mit dem Zaunpfahl, mich in Dankbarkeit und Demut zu üben. Nicht jede Überfahrt dürfte so harmonisch verlaufen. In der Koje und nach Einwurf einer Reisetablette legte sich das Unwohlsein schließlich ebenso schnell, wie es aufkam.
Als ich am Montag erwachte ruhte das Schiff. Zwischenstopp auf den Faröern. Gänsehaut. An über 300 Tagen im Jahr regnet es auf den Schafsinseln. Ich lerne das Archipel an einem der verbleibenden Tage kennen. Sonnenaufgang in Tórshavn, der Hauptstadt der Inselgruppe – welch ein Erwachen. Kleine bunte Häuschen erstrahlten im Licht des anbrechenden Tages, Hafenkulisse und Himmel spiegelten sich im Wasser – Anblicke wie in einem Bilderbuch.
Die Fahrt am Nachmittag durch den nordöstlichen Teil der Inselwelt? Nicht minder spektakulär. Die Fähre glitt vorbei an schroffem Gestein, grünen Hängen und Schnee bedeckten Gipfeln. Was sich mal steil aus dem Meer erhob und scheinbar zum Greifen nah war, schmiegte sich anderswo sanft in die Fluten. Ein Vorgeschmack vom Feinsten!
Dienstag Morgen schließlich das Finale. Ein grandioses. Ein Wiederholungstäter riet mir, früh aufzustehen. Das langsame Zusteuern auf Island sei etwas Einmaliges. Ich sollte es mir nicht entgehen lassen. Entsprechend stellte ich mir den Wecker. Fünf Uhr ist keine Zeit, zu der ich von alleine wach werde. Doch was tut man nicht alles, bekommt man dafür etwas geboten. Als ich an Deck stand hätte ich heulen können. Ich sah: Nichts. Um mich herum nur Suppe. Graue, dichte Schwaden. Nebel. Sichtweite? Keine Ahnung. Zehn Meter, zwanzig Meter, Fünfzig Meter? Wahrscheinlich je nach Wolke, durch die wir gerade fuhren. Das Einzige, was zu sehen war, war die Bordwand. Ansonsten nichts, das näher rückte. Irgendwann schließlich mehrten sich Stimmen, dass es nicht mehr weit sein könne. Stimmen derer, die mit ihren Handys Signale empfingen. Signale isländischer Mobilfunknetze. Augenblicke später war es dann so weit. Der Schleier lichtete sich, der Vorhang fiel. Ein Paukenschlag für großes Kino.
Als wir im Osten Islands in den Fjord einlaufen, schaudert es mich. Würden sich weniger Härchen sträuben, wäre der Fahrtwind nicht gar so frisch oder läge die Temperatur höher als gefühlt nur knapp über dem Gefrierpunkt? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich nicht. Was wir sehen verschlägt nicht nur mir die Sprache – das ersehnte Land. Wie an einem Schaufenster gleiten wir daran vorbei. Für den Moment dürfen wir nur gucken. Anfassen? Begreifen? Später. Alles zu seiner Zeit.
Die Situation hat etwas Unwirkliches. Der Anblick ist fast kitschig. Der strahlend blaue Himmel, letzte sich auflösende Wolkenfetzen, rechts und links Felswände – einige hundert Meter empor ragend, vor uns der Fjord. Seyðisfjörður. Auf gut 15 Kilometern Länge zieht er sich immer enger zu, am Ende liegt der gleichnamige Ort.
Ich komme mir vor, als tauche ich ein in eine Modellbaulandschaft. Bunte Häuser finden sich fast liebevoll lose arrangiert am Fuße Schnee bedeckter Hänge, hier und da ist in Ufernähe ein Fischkutter zu sehen. Über Nacht ausgelegte Netze wollen wieder eingeholt werden. Mittendrin der mächtige Pott, auf dessen Außendeck nicht nur ich, sondern die meisten der an Bord befindlichen Passagiere die Szenerie andächtig bestaunen.
Eine gute Stunde später liegt der Stahlriese fest vertäut am Anleger. Die tiefe Ergriffenheit des ersten Eindrucks weicht einer Aufbruchstimmung. Der Dampfer ist zu verlassen. Hände werden geschüttelt, man schließt sich in die Arme, tauscht Adressen, posiert für ein gemeinsames Foto, dann sind Kabinen zu räumen, zieht es Menschen zu ihren Fahrzeugen. Wege, die sich erst vor kurzem kreuzten, trennen sich wieder. Auch wenn die ersten Kilometer an Land noch für alle die gleichen sein werden, fortan geht nahezu jeder seiner eigenen Wege.
Meine Idee, quasi als letzter Seyðisfjörður zu verlassen, dem Pulk hinterher zu fahren, erweist sich als hinfällig. Ich hatte nicht bedacht, dass der Zoll ein wachsames Auge wirft auf die mehr oder weniger voll beladenen Fahrzeuge, die aus dem Schiffsrumpf drängen. Mich winkt man an den Schlangen vor den Abfertigungsschaltern freundlich vorbei. Zwar ist auch mein fahrbarer Untersatz gut bepackt, doch dass Unmengen an Alkohol oder sonstigen nur limitiert einführbaren Lebens- wie Genussmitteln die Taschen füllen, hält man für unrealistisch. Wer mit einem Liegedreirad daher kommt, wird anderes nötiger haben. Das nächste Mal das ich denke: Wow, Island - Respekt. Hier sind Menschen am Werke, die nicht Dienst nach Vorschrift leisten, hier wird mitgedacht. Die Folge? Unbeabsichtigt rücke ich in eine fordere Startposition. Der Versuch, mich an das Ende des Fahrerfeldes fallen zu lassen? Er scheitert. Das Wiederherstellen der ursprünglichen Ordnung im Gepäck sowie ein erstes Frühstück in der Morgensonne nehmen weniger Zeit in Anspruch als die Kontrollen der mit mir Angelandeten – trotz Wasser kochen, Cappuccino schlürfen und Müsli löffeln. Da alles seine Grenzen hat trete ich wieder in die Pedale, noch lange bevor das letzte motorisierte Vehikel inspiziert ist.
Einen Schlenker durch den Ort erspare ich mir. Er erscheint überschaubar. Ich entdecke nichts, was mir eingehender Blicke wert wäre. Ein paar Wohn- und Gästehäuser, Lagerhallen, eine Fabrikanlage, eine Tankstelle? Unscheinbar. Der Reiseführer listet zudem ein Technikmuseum auf sowie zwei Cafés. Auch nichts, was mich im Moment interessiert oder wohin es mich zieht. Es sind andere Dinge, die mich an dem Land reizen.
Meine Bedenken, der Erste eines Staus zu sein oder ein mehr oder minder stehendes Hindernis darzustellen, erweisen sich als gegenstandslos. Nicht, dass mich die kalte, klare Polarluft beflügelt Rekord verdächtige Geschwindigkeiten zu erreichen, nein, die gut 600 Meter Höhenunterschied, die sich auf zehn Kilometer verteilen, lassen mich eher Gefahr laufen, zu Fuß überholt zu werden. Nichts desto trotz fühle ich mich prächtig bei der Kurbelei im Schneckentempo.
Den ersten Pass bewältige ich ohne schieben zu müssen. Dass die Steigung zwischenzeitlich zehn Prozent erreicht? Macht nichts. Ich habe dennoch meinen Spaß. Es ist ein Festival für die Sinne: Die trockene, frische Luft, der knatscheblaue Himmel, die Sonne, der erste kleine Wasserfall am Straßenrand nach nur vier Kilometern, die Wasser gefluteten Wiesen, die geschlossene Schneedecke ab 400 Meter Höhe, der Blick auf die umliegenden Gipfel vom Pass aus, die Ruhe – überholt mich nicht gerade ein Auto oder kommt mir eines entgegen, ich höre nur mich. Tiefes Atmen, bisweilen auch Keuchen und Schnauben. Bestenfalls rauscht noch irgendwo Wasser. Sonst nichts. Nichts als Stille. Es ist herrlich. Selbst in meinen kühnsten Vorstellungen hatte ich es mir schöner nicht erträumt.
Ganz anders bereits die anschließende Abfahrt. Hinsichtlich des Gefälles unterscheidet sie sich vom Anstieg nicht. Passierte ich steile, enge Kehren bergauf jedoch gefahrlos, so ist es in umgekehrter Richtung deutlich ungemütlicher. Mühelos erreiche ich Geschwindigkeiten von 60 km/h. Eine gefühlte Schallmauer ab der ich mir einbilde, das Fahrzeug sei jenseits davon nicht mehr zu beherrschen. Zudem ein Tempo, das Konzentration erfordert. Meine volle. Einmal nicht aufgepasst und mein Abenteuer Island unterscheidet sich gänzlich von dem, was mir vorschwebt. Die Konsequenz: Ich nehme die beeindruckende Kulisse nur noch sehr beiläufig wahr. Welch ein Frevel!
Als weiteres Manko erweist sich meine Bekleidung. Über T-Shirt und Trikot trage ich eine Jacke. Der Hersteller verkauft sie als Windstopper. Bei dem Fahrtwind hält sie jedoch nicht, was sie verspricht. Ab 30 Stundenkilometern versagt die Eigenschaft, mir den Luftzug vom Körper fern zu halten. Verschwitzt wie ich vom Anstieg noch bin, beginne ich zu frösteln. Entsprechend bleibt mir nur Eines: Ich bremse. Ohnehin nicht verkehrt. Das Problem dabei? Auch zehn Kilometer bergab ziehen sich. Schnell quietschen Beläge auf Scheiben und ich weiß nicht, was effektiver ist: Stotterbremsen? Intervallbremsen? Dauerbremsen? Egal was ich probiere, das Resultat scheint das Gleiche: Eine Geräuschentwicklung, als ziehe jemand im Zug die Notbremse – Metall reibt auf Metall. Ein ohrenbetäubender Lärm. Krach! Stille? Keine Spur. Zudem glühen, zumindest vor meinem geistigen Auge, nur eine handbreit entfernt von meinen Kniescheiben: Die Bremsscheiben. Dass keine Funken sprühen? Ein Wunder. Dennoch, als vor mir ein Auto leicht die Geschwindigkeit reduziert und kurz eine Staubwolke aufwirbelt ist mir klar: Glück gehabt, alles richtig gemacht. Für ein paar Meter unterbricht der Asphalt. Kleiner Absatz, Schotter. Wie es aussieht, ungebremst mit meinem Vehikel in eine derartige Schikane zu rasen? Ich male es mir besser nicht aus.
Nach einer Viertelstunde ist der Spuk überstanden. Glücklich. Vor mir liegt Egilsstaðir, die größte Stadt im Osten Islands. Stadt? Nun ja. Für isländische Verhältnisse vielleicht, für den im Ballungsraum lebenden Mitteleuropäer ein eher überschaubares Örtchen. Bevor ich mich auf die Suche begebe nach Geldautomat, Supermarkt und Campingplatz, brauche ich zunächst einen Moment für mich allein. Durchatmen. Mir ist danach inne zu halten, im Kopf zu sortieren. Innerhalb kürzester Zeit kam einiges zusammen an intensiven Eindrücken. Außerdem: Ich könnte mich mal wieder bei Ute melden, meiner Frau. Sie sitzt Zuhause und hat seit vier Tagen nichts mehr von mir gehört.
Schnell ist sie auf dem Smartphone angetippt. Als die Verbindung steht, bekomme ich kaum ein Wort hervor. Kloß im Hals. Mehrmals muss ich schlucken. Nachdem das Wesentlichste raus ist und ich auflege gibt es kein Halten mehr: Der Druck auf die Tränendrüse ist zu groß. Ich bin einfach überwältigt. Die Anreise mit der Fähre, das Einlaufen in den Fjord, der Schnee bedeckte Pass – Bilder, die erst einmal verarbeitet werden wollen.
Bis ich wieder aufbreche dauert es dennoch nicht lange. So schön der Rastplatz ist, mit seinem bisschen Gestrüpp, der Aussicht über den Ort und keiner Menschenseele um mich herum, er hat einen Haken: Er ist nicht windgeschützt. Es gibt keinen Baum, keine Mauer, keinen Fels. Nichts, wohinter ich mich kauern könnte. Permanent bläst mir einfach nur frische Luft um die Ohren. Nach einer halben Stunde bin ich durchgepustet und habe nur noch ein Verlangen: Raus! Raus aus dem Wind beziehungsweise zurück auf das Rad. Bewegen. Wärme produzieren. Unweigerlich muss ich dabei an Worte denken, die ich vor nicht all zu langer Zeit aufschnappte. Sie sollen mir auch in den nächsten Tagen immer wieder durch den Kopf spuken …
„Das Geheimnis Islands ist es, aus dem Wind zu kommen.“
Der Mann, der mir diese Worte mit auf den Weg gibt, ist Egid. Egid ist zehn Jahre älter als ich und bereiste Island quasi einmal in jedem dieser Jahre. Oder waren es bereits elf Besuche? Oder zwölf? So ganz sicher ist er sich nicht, doch bezüglich dessen, worum es geht, ist es auch unerheblich. Ich lerne Egid in der Warteschlange am Anleger in Hirtshals kennen, dem kleinen Ort im Norden Dänemarks, an dem keiner vorbei kommt, der die Insel im Nordatlantik auf dem Seewege erreichen will. Gespannt stehen wir vor unseren Fahrzeugen, blicken verstohlen hinüber zur Fähre, auf die wir noch nicht gelassen werden, und betreiben Smalltalk. Woher kommst du (das „wohin“ ist ziemlich klar und erübrigt sich), wie lange bleibst du, wie ist es dort, wo hast du dich sonst noch in der Welt herum getrieben – naheliegende wie unverfängliche Themen. Als es anfängt zu regnen und die Tropfen dicker werden lädt Egid mich ein, auf dem Beifahrersitz seines Nissan Patrol Platz zu nehmen. Ein Angebot, das ich gerne annehme. Mir ist nicht daran gelegen, kurz vor dem Ablegen wieder nass zu werden. Ich war schon zufrieden, die Sachen vom Vortag wieder trocken zu bekommen. Um so mehr bin ich froh, im wahrsten Sinne des Wortes mit trockener Haut davon zu kommen. Die Rücksitzbank von Egids Wagen ist umgeklappt oder ausgebaut, die entsprechend vergrößerte Ladefläche mit all dem ausgefüllt, was man für fünf Wochen zum autarken Leben auf Island benötigt: Matratze, Decke, Klamotten, Kocher, Proviant. Dazu die Ausrüstung um seinem Hobby nachzukommen. Egid fotografiert. Wie ich reist er allein, anders als ich reist er motorisiert und bezüglich seines Tipps zuzusehen, aus dem Wind zu kommen, hat er gut reden. Er wird im Auto schlafen, ich im Zelt. Wenn es ihm zu sehr stürmt, setzt er sich in seinen Wagen und schließt Türen und Fenster während mir mein fahrbarer Untersatz keine derartigen Optionen bietet. Nichtsdestotrotz verstehen wir uns auf Anhieb. Auch auf der Fähre sind es Stunden, die wir miteinander verbringen. Ich erfahre von ihm über seine bevorstehende Fotosafari, darüber, dass er Namibia immer wieder gerne bereist und auch ansonsten schon deutlich mehr von der Welt gesehen hat als ich, er von mir meine Geschichte.
Ein Wendepunkt in meinem Leben war 2011. Nach über 20 jähriger Zweckgemeinschaft wollte mein Arbeitgeber mich los werden. Schmackhaft machte er mir die Trennung mit fehlender Perspektive, einem goldenen Handschlag sowie der Zusage, die siebenmonatige Kündigungsfrist über freigestellt zu werden. Zwar nutzte ich davon nur die knappe Hälfte, bevor ich eine neue Stelle als Softwareentwickler antrat, doch reichte die Zeit, mich mit einem Virus zu infizieren: Dem des Radreisens. Einen Monat lang war ich zusammen mit Ute dorthin geradelt, wohin wir ungezählte Male zuvor mit dem Flieger aufgebrochen waren: Nach Formentera, zu der kleinen Baleareninsel neben Ibiza im westlichen Mittelmeer, auf der wir ein Ferienhaus unser Eigen nennen durften. Die Reise aus eigener Kraft endete vor den Toren Barcelonas und begeisterte mich nachhaltig. Erlebte Zeitlosigkeit, gefühlte Unabhängigkeit, ein Hauch von Freiheit und Abenteuer – in meinen Augen das wahre Leben!
Zwei Jahre später gelang es mir, dem neuen Chef eine erneute Auszeit abzuringen. Ich warf Jahresurlaub, angefallene Überstunden sowie drei Monate unbezahlten Urlaub zusammen und blieb der Arbeit ein halbes Jahr fern. Das Ergebnis: Eine „Nordroute“ nach Formentera. Von Ute begleitet brach ich 2013 auf. Zunächst bis zum Nordkap, im Anschluss weiter über den Nordseeküstenradweg von Aberdeen bis London, bevor Kilometer durch Frankreich sowie der Jakobsweg und die weitere Umrundung der iberischen Halbinsel bis Dénia folgten. Übermannte Ute nach 100 Tagen und 7.000 Kilometern zwischen Paris und Bordeaux das Heimweh, so hatte ich auch nach 153 Tagen im Sattel und 11.000 Kilometern über Stock und Stein noch nicht genug.
Wieder zwei Jahre später waren erneut ausreichend Überstunden zusammen gesammelt, um ein größeres Vorhaben in Angriff zu nehmen. Inspiriert durch Dokumentationen im Fernsehen, Abenteurervorträge und Reiseberichte sowie der Erkenntnis, dass es mir auf den voran gegangenen Touren dort am besten gefallen hatte, wo am wenigsten los war, stand Island ziemlich weit oben auf meiner Wunschliste. Wäre es nach mir gegangen, ich hätte bereits ein Jahr früher, 2015, in Hirtshals gestanden. Zu dem Zeitpunkt ging es aber nicht nur nach mir – noch nicht. Ein Auftrag eines Kunden kollidierte mit meiner Reiseplanung. Als verantwortungs- und pflichtbewusster Angestellter ordnete ich meine persönlichen Interessen den beruflichen unter und aus der Idee, Ende April, Anfang Mai gen Norden zu starten, wurde im Spätsommer eine Überquerung der Alpen, die bekanntermaßen südlich Kölns liegen.
Kurz vor Weihnachten war anschließend das erste Projekt nach der neuerlichen Rückkehr in trockenen Tüchern. Meiner Ansicht nach ein geeigneter Zeitpunkt, erneut nachzuhaken. Island geisterte mir noch immer durch den Kopf. Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Wie ein Schlag in die Magengrube dann jedoch die Antwort aus der Chefetage: Man wolle mich nicht weiter für längere Zeiten entbehren. Meine Touren verkomplizierten die Planungen und es gäbe Unruhe im Kreis der Kollegen – Stimmen des Neides seien aufgekommen. Ich solle nicht mehr als drei Wochen Urlaub am Stück nehmen und mich mit den 28 Tagen im Jahr begnügen, so wie alle anderen auch. Bis auf Weiteres: Antrag abgelehnt. Eine Reaktion, die ich erst einmal verarbeiten musste und die Fragen aufwarf! Was tun? Weiter im Hamsterrad laufen? Funktionieren? Persönliche Wünsche auf die Warteliste verbannen, auf unbestimmte Zeit verschieben? Mit den Vorstellungen konnte ich mich nicht anfreunden. Ich wollte nicht zu denen gehören, die eines fernen Tages verpassten Gelegenheiten hinterher trauern. Ich zähle mich zu denen die davon überzeugt sind, dass man nur einmal lebt und dass das Dasein nicht nur darin bestehen kann, zu arbeiten. Andererseits war mir nicht daran gelegen, vorschnell Porzellan zu zerschlagen. Entsprechend wartete ich den Jahreswechsel ab, ließ auch meinen Vorgesetzten Zeit zum Überdenken, dann brachte ich erneut mein Anliegen zur Sprache und was es mir bedeute. Frei dem Motto: Neues Jahr, neues Glück. Ob es denn über die Feiertage einen Bewusstseinswandel gegeben habe. Die Antwort? Leider nicht die erhoffte. Sie unterschied sich nicht von der voran gegangenen. Da auch ich nicht bereit war, von meinen Vorstellungen abzurücken, sah ich nur eine Lösung: Einen Aufhebungsvertrag. Da ansonsten dem Bekunden nach beidseitig nicht unzufrieden miteinander, wurde ein entsprechendes Schriftstück aufgesetzt. Die jeweiligen Interessen wurden gebührend berücksichtigt, das Papier unterzeichnet und die Absicht bekundet, man könne ja zu einem späteren Zeitpunkt auf freiberuflicher Basis weiter zusammen arbeiten.
Mit den getroffenen Vereinbarungen und den Gepflogenheiten Utes Arbeitgebers, in der zweiten Hälfte der Schulferien im Sommer den Betrieb für drei Wochen zu schließen, stand der zeitliche Rahmen des Abenteuers Island fest: Anfang Mai bis Ende Juli. Ute sollte schließlich nicht alleine die „schönsten Wochen des Jahres“ auf Formentera oder wo auch immer genießen müssen. Ein Mitreisen schied für sie kategorisch aus. Island per Rad mit Zelt im Gepäck, die Aussicht auf karge Landschaften, raues Klima und anstrengende Pisten, das müsse sie sich nicht antun. Dass die Reise erneut im sonnigen Süden enden sollte stand für mich außer Frage. Die voran gegangenen drei Male war das der Fall gewesen, warum kein viertes Mal? Immerhin gab es keinen Grund von der „Tradition“ abzuweichen. Nach wochenlanger Treterei die Beine am Strand auszustrecken, Sand zwischen den Zehen rieseln zu lassen und mehr oder minder nach Belieben in die Fluten zu stürzen – ein absolut würdiger Abschluss einer solchen Tour.
Die Routenplanung gestaltete sich bereits weniger einfach. Island ist eine Insel, da gilt es Wasser zu überqueren. Fliegen? Ungern. Bisherige Rückreisen oder der Transfer von Hammerfest nach Schottland zeigten, dass diese Art des Reisens mit einer gewissen Hektik einhergeht. Das Aufgeben von Rad und Gepäck ist mit Stress behaftet. Mit der Fähre reist es sich diesbezüglich deutlich entspannter. Man fährt an Bord, sieht zu, dass das Rad irgendwo sicher an der Bordwand vertäut steht, setzt sich hin, schaut über das Meer und sieht beschaulich dem Ziel entgegen. Entsprechend zügig war die Anreise geplant: Mit der Fähre von Hirtshals nach Seyðisfjörður – mangels fehlender Alternativen keine Meisterleistung. Die Strecke Köln/Hirtshals? Auch kein großes Ding. Wird geradelt. Zum Nordkap hoch ging es über Düsseldorf, Wesel, Münster, Bremen, Hamburg, Lübeck, Fehmarn, Kopenhagen, bevor die skandinavische Halbinsel folgte. Nochmal bis nach Dänemark hinein die gleiche Strecke? Langweilig – muss nicht sein. Eine Alternative war schnell gefunden: Dortmund, Dortmund-Ems-Kanal, Nordseeküste, Nord-/Ostsee-Kanal, Ochsenweg – damit sollte Hirtshals fast erreicht sein. Etwa 1.500 Kilometer. Nach bisherigen Erfahrungen eine Sache von drei Wochen. Island/Spanien? Deutlich komplizierter. Fähren? Gibt´s nicht. Jedenfalls konnte ich keine ausfindig machen. Eine Mitfahrgelegenheit auf einem Frachtschiff? Fand ich nicht im Internet. Zurück über Dänemark, irgendwo/irgendwie rüber nach England und von Portsmouth oder Plymouth nach Bilbao oder Santander? Auch nicht so richtig der Renner, zumal es die Zeit auf Island schmälern würde – mindestens sechs Wochen, gerne mehr, das sollte es schon sein. Was ebenso für mich feststand: Ich wollte das spanische Inland kennen lernen. Eine Querung in Nord-/Südrichtung sollte es werden. Eventuell mit Madrid auf der Strecke, das aber kein Muss. Nach tagelangen Recherchen war ein Weg gefunden. Eine Kompromisslösung, aber praktikabel: Flug von Reykjavík nach Bilbao, über kleine Landstraßen und ehemalige Bahntrassen via Burgos nach Valencia und weiter bis Dénia, wo die nächsten Fähren warten. Insgesamt etwa weitere 1.200 Kilometer, die per Rad zurück zu legen wären. Blieben also fast acht Wochen für die Insel aus Feuer und Eis – perfekt.
Blieb noch die Frage nach dem fahrbaren Untersatz: Das quasi eigens dafür angeschaffte Trekkingbike oder das im Vorjahr erstandene Liegedreirad? Sprach für ersteres die Tatsache, dass es transportabler ist, im Fall der Fälle Reparaturen wahrscheinlich einfacher sowie im Zweifelsfall Furten damit unproblematischer zu passieren wären, so punktete die Alternative in Sachen Bequemlichkeit. Zudem versicherte mir der Hersteller des exotischeren Vehikels, dass das Gefährt durchaus auch für den Einsatz auf Holperpisten knapp unterhalb des Polarkreises konzipiert sei – eine Antwort nach meinem Geschmack.
Am ersten Mai, wenig arbeitnehmerfreundlich ein Sonntag, dann der Aufbruch. Als ich gegen zehn in Köln startete zeigte sich das Wetter noch durchwachsen. Der Himmel über der Domstadt war grau, die Vorhersage für die nächsten Tage jedoch vielversprechend. Am Abend erreichte ich nach gut hundert Kilometern mein erstes Etappenziel: Dortmund, meine alte Heimat. Vor der Wohnung meiner Eltern war Schluss. Trotz zahlreicher Kilometer über steigungsarme einstige Bahntrassen waren die Beine lang, dennoch lachte mittlerweile nicht nur die Sonne. Ich parkte mein Gefährt hinter dem Haus, reichte die Packtaschen über den Balkon und verbrachte eine einstweilen letzte Nacht unter festem Dach.
Ein langes Gesicht bescherte mir der nächste Morgen. Ich wollte gerade aufbrechen da stellte ich fest: Einer der Packbeutel sah anders aus als am Vortag. Ein Nager hatte sich an meinem Proviant vergriffen. Anstatt den Sack mit in die Wohnung zu nehmen ließ ich ihn draußen auf dem Balkon, bei den anderen Dingen, die ich nicht zum Übernachten benötigte. Als ich aufbrechen wollte war er an mehreren Stellen durchgebissen – der schöne leichte schwarze Rollbeutel, der unter anderem Energieriegel enthielt, sowie ein Mesh-Beutel, der für mehr Ordnung sorgen sollte. Die Verpackung eines der Leckerbissen selbst, eine feste, luftdichte Metallfolie, war in Konfetti zerlegt. Obwohl der Sack ein ganzes Sortiment an Protein-Spendern umfasste galt das Interesse nur dem Riegel, der Nüsse enthielt. Einerseits froh, dass nicht auch noch ein Zelttuch oder eine Packtasche angeknabbert waren, andererseits sauer über eine derartige Respektlosigkeit gegenüber meinen Besitztümern, stellte ich mir die Frage, ob es auf Island ebenfalls Nagetiere gibt und wie ich Proviant und Ausrüstung vor weiteren Übergriffen schützen könnte. Immerhin war mir nicht daran gelegen weitere Taschen mit Klebestreifen zu bandagieren, zusätzliche Eingänge in mein Zelt zu erhalten beziehungsweise meine Fressalien ungefragt Tieren zu opfern. Ging ich bisher davon aus, dass Lebensmittel und dergleichen nur in Gegenden, in denen Bären leben, für die Tiere schwer erreichbar abseits der Schlafstätte gelagert werden sollten, so lernte ich im Ruhrgebiet dazu.
Tags drauf waren es Fahrgeräusche, die mich irritierten. Die Nacht über hatte es vor Münster geregnet, entsprechend aufgeweicht war der Boden entlang des Dortmund-Ems-Kanals. Zahlreiche Male hielt ich an, befreite die Schutzbleche von Matsch, doch ein Schleifen blieb. Erst als ich die Packtaschen abnahm und das Rad auf die Seite hievte, entdeckte ich die Ursache: Eine Werkzeugtasche war nahezu aufgescheuert. Eigentlich sollte sie genug Platz über dem Hinterrad haben, offensichtlich aber war dem nicht so. Die Tasche drückte auf das Schutzblech, brach dieses entzwei und rieb sich am Reifen auf. Nichts, was die Weiterfahrt aufhalten konnte, doch erneut ärgerlich. Wieder griff ich zu Panzertape, wieder verteilte ich Tascheninhalte um, wieder entsorgte ich einen Ausrüstungsgegenstand.
Verheißungsvoller entwickelten sich weitere Orte, die auf meiner Route lagen. In Glückstadt gelang mir ein Wiedersehen mit Thomas und Günter, zwei Radlern aus Hamburg. Im Jahr zuvor begegneten wir uns dreimal zufällig auf der Straße, die beiden auf dem Weg von Marseille nach Marrakesch, ich nach der Überquerung der Alpen, an der Elbe hingegen verabredeten wir uns und ich erfuhr mehr über die unglücklichen Umstände, unter denen die „Nordlichter“ ihre Reise in Valencia abbrechen mussten: Thomas erlitt eine Entzündung an einem Zahn und sein Arzt riet ihm von einer Weiterreise ab – so schnell kann es gehen.
Kopfzerbrechen bereitete mir hingegen das Erreichen eines anderen Ortes. Nördlich von Rendsburg gelangte ich an die Sorge. Eine Ironie des Schicksals? Von dem Flüsschen aus kam ich aus eigener Kraft nicht mehr weiter. Unmittelbar vor dem tausendsten Kilometer. Klebeband half dabei ebenso wenig weiter wie der Einsatz anderer Bordmittel. Mit einem Male ging gar nichts mehr. Ich konnte in die Pedale treten doch die Kraft wirkte auf dem Hinterrad anders als sie sollte. Anstatt für Vortrieb zu sorgen, stellte sich das Antriebsrad quer. Bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass eine Schraube locker saß. Die, die die Hinterradschwinge rechts am Rahmen hielt. Der Versuch den Gewindebolzen anzuziehen misslang. Die Schraube griff nicht. In meiner Ratlosigkeit besann ich mich der Versicherung, die mir in derartigen Fällen weiterhelfen sollte. Ich griff zum Telefon. Um halb neun Morgens brauchte ich nicht lange zu warten, da wurde mein Anruf persönlich entgegen genommen. Ich schilderte meine Situation, Formalien wurden geklärt, dann dauerte es eine Weile und ein Taxi fuhr vor. Nachdem das eine Fahrzeug im Kofferraum des anderen verstaut war ging es zurück nach Rendsburg wo man mir in einem Fahrradgeschäft weiterhalf. Das Gewinde, aus dem die Schraube riss, wurde nachgeschnitten, die Schraube durch eine längere ersetzt, anschließend war mein Rad wieder fahrtüchtig. Ob das Gerüttel entlang des Nord-/Ostsee-Kanals bereits den Schaden begünstigte oder erst die steile Rampe am Ende des Tages zuvor blieb fragwürdig. Auch der tags darauf konsultierte Vertragshändler kurz vor der dänischen Grenze konnte nach Rücksprache mit dem Radhersteller keine plausible Erklärung finden. Von ihm erfuhr ich lediglich, dass man ab Werk für das Fahrzeug keine Gewährleistung übernehmen könne, solange keine originalen Bauteile eingesetzt seien. Die Schlossschrauben wären durch Aluschrauben zu ersetzen sowie der im Rahmen verbaute Zylinder mit dem nachgeschnittenen Gewinde auszutauschen. Bei weiteren Handgriffen fiel auf, dass zudem die Arretierung des Faltmechanismus des Rades nicht zuverlässig griff. Mal hielt sie, andere Male nicht. Hatte zwar mit dem ursprünglichen Problem nichts zu tun, trug aber auch nicht dazu bei, das Vertrauen in den fahrbaren Untersatz zu stärken. Wie auch immer, ich musste eine Entscheidung treffen.
Die Reise abbrechen? Kam für mich überhaupt nicht in Frage.
Eine knappe Woche abwarten, bis eine Lieferung des Fahrradherstellers mit dessen Ersatzteilen eintreffen sollte? Die Zeit dazu erschien mir zu knapp bemessen – ich würde riskieren, die bereits gebuchte Fähre nach Island zu verpassen.
Mich in Flensburg in den Zug setzen, zurück nach Köln, auf das Trekkingbike umsatteln und damit die Reise fortsetzen? Wäre zeitlich zwar noch gerade eben möglich gewesen, doch auch dieser Gedanke widerstrebte mir.
Augen zu und durch? Weiterfahren? Die Vorbehalte des Fachmannes ignorieren und hoffen, dass alles gut geht? Auch wenn mir nicht ganz wohl dabei war: Ich entschied mich für diese Option.
Verschont von Regen, gesundheitlichen Problemen und weiteren Pannen erreichte ich eine Woche später Hirtshals. 17 Tage und 1464 Kilometer Radelei lagen hinter mir, drei Tage blieben mir noch, bis die Fähre ablegen würde. Erneut drängte sich die Frage auf: Was tun?
Eine Antwort fiel mir nicht schwer. Planungstechnisch war der Fall bereits berücksichtigt: Weiter radeln Richtung Norden, bis es weiter nicht mehr geht. Der Punkt war schnell erreicht. Bereits tags drauf stand ich an einem Aussichtspunkt wenige Kilometer nördlich von Skagen. Vor mir trafen Skagerrak und Kattegat aufeinander beziehungsweise gingen, je nach Betrachtungsweise, Nordsee und Ostsee ineinander über. Vom östlich gegenüber liegenden Schweden war ebenso wenig zu sehen wie vom westlich gelegenen Norwegen – die mehr als 50 Kilometer Entfernung überschritten die Sichtweite. Über Dünen, Bunker und Strand hinweg lag für mein Auge nichts als Wasser. Ein Anblick, den ich in den folgenden Tagen noch öfter haben sollte.
Der Rückweg nach Hirtshals führte mich zunächst entlang des Kattegats bis Frederikshavn, dann ging es durch hügeliges Gelände zurück gen Fähranleger. Dass sich zwischendurch ein Stein durch das Profil der unplattbaren Reifen bohrte und dessen Grenzen aufzeigte, ein erster Schauer nach knapp drei Wochen Radeln ohne Niederschlag über mir nieder ging oder mich die letzte Nacht auf dem Campingplatz in Dänemark knapp 20 Euro kosten sollte, einen Betrag, den ich erst nach zähen Verhandlungen um ein Viertel nach unten korrigieren konnte? Ich hakte es ab als Vorbereitung. Auf Island rechnete ich mit Ähnlichem …
Als ich vor dem Campingplatz von Egilsstaðir stehe weiß ich: Das war´s für den ersten Tag auf Island. Von Seyðisfjörður aus liegen zwar gerade mal 29 Kilometern hinter mir, weniger als eine Zuhause übliche Feierabendrunde, doch was soll´s. Zum einen bekomme ich in Köln auf der Strecke keine gut 600 Höhenmeter zusammen, zum anderen bin ich nicht nach Island gereist, um Rekorde aufzustellen. Ich will erleben und genießen. Dazu kommt, dass mein Leben auf der Straße nicht nur aus Radeln besteht. Einkäufe sind zu erledigen, das Portemonnaie ist leer und nach drei Tagen in den gleichen Klamotten schreien einige Kleidungsstücke nach Wasser und Seife.
Meine ersten Berührungspunkte mit landestypischer Währung habe ich an der Rezeption des Campingplatzes. 1500 ISK (isländische Kronen) soll ich zahlen. Der Betrag entspricht umgerechnet etwa 11 Euro. Immerhin schon mal preiswerter als die letzte Übernachtung in Dänemark – selbst ohne debattieren. Etwas verwundert bin ich, als ich nach dem Zeltaufbau vor dem Geldautomaten stehe. Ich ziehe mir 30.000 Kronen, bekomme dabei aber mitgeteilt, dass mir eine Bearbeitungsgebühr in Höhe von 165 Kronen in Rechnung gestellt werde. Gut. Der Gegenwert einer halben Portion Tütennudeln. Etwa 1,10 Euro. Lässt mich nicht darben, trifft mich aber dennoch unvorbereitet. Bislang setzte ich meine Kreditkarte nur innerhalb der EU ein und da blieb ich von derartigen Provisionen verschont.
Das Einkaufserlebnis im Supermarkt hingegen erinnert mich an Dänemark oder Skandinavien: Das, was ich für etwa 30 Euro erstehe, kann ich mit bloßen Händen davon tragen. Ich brauche keine weiteren Cents in eine Tragetasche zu investieren. Problematischer ist es eher, die Tüte Müsli, die Energieriegel, die drei Bananen, das Stück Wurst, das krachige Brot sowie die Beutel mit den Nudelfertiggerichten so am Rad unterzubringen, dass
nichts gequetscht wird, zerbröselt oder ausläuft,
der Proviant für unterwegs zugänglich bleibt und
ich eine gewisse Ordnung behalte.
Entgegen kommt mir dabei der in Dortmund angenagte und geflickte Packsack, der sich noch irgendwie rechts hinter dem Sitz festzurren lässt. Konnte ich bislang davon ausgehen, irgendwo im Laufe des Tages erneut auf eine Einkaufsmöglichkeit zu stoßen, so sehe ich darin fortan keine Selbstverständlichkeit mehr.
Zurück auf dem Campingplatz stelle ich fest, dass sich während meiner Erledigungen ein gewisser Wandel vollzog. Nicht nur, dass meine Wäsche munter im Wind flatternd im Nu getrocknet ist, nein, es ist auch voller geworden. Zunächst ist da das ältere Pärchen aus Frankreich mit dem Dachzelt auf dem Kastenwagen, das ich bereits in Hirtshals auf der Zeltwiese kennen lernte. Die beiden berichten mir von ihrem Ausflug entlang des gegenüber liegenden Flussufers und von einer kleinen Wanderung, die sie irgendwo unterwegs einlegten. Wie ich sind auch sie tief ergriffen von der Landschaft. Für den nächsten Tag steht ein Ausflug in einen Ort auf dem Programm, der von ihren Landsleuten besiedelt wurde und noch heute entsprechend klingende Straßennamen trägt. Andere Nachbarn sind weniger mitteilsam. Unterhaltsam ist es dennoch, ihr Treiben ein wenig zu verfolgen. Da sind zum Beispiel die Amerikaner und Kanadier die sich darüber auslassen, wie toll es doch in ihrer Heimat ist (vielleicht hätten sie besser dort bleiben sollen?), die Spanier neben mir, die mit dem Aufbau ihres Zeltes im Wind kämpfen, die Belgier mit ihren monströsen Wohnmobilen denen es ähnlich ergeht in dem Bestreben, ihre Waschmaschinen mit Wasser zu versorgen, während eine Horde Asiaten über die Sanitäranlagen herfällt und den kleinen Aufenthaltsraum dabei mit einnimmt.
Ebenso wie die unterschiedlichsten Nationalitäten vertreten sind, finden sich auch sämtliche Altersklassen wieder. Kinder im Schlepptau ihrer Eltern, junge Menschen, die einen Trip auf eigenen Beinen wagen, Leute wie ich, die es mit oder ohne Partner raus aus der Komfortzone zieht, sowie rüstige Rentner oder Vorruheständler, die gleichermaßen dem rauen Charme der Insel im hohen Norden erliegen, wobei es an diesem Abend nur einen weiteren gibt, der das Land ebenfalls aus eigener Kraft und kurbelnd erkundet. Der überwiegende Teil meiner Nachbarn ist per motorisiertem Untersatz irgendeiner Mietwagenflotte unterwegs – entweder im Kleinwagen, Geländewagen, Wohnmobil oder in einem der Kleintransporter oder Minivans, auf deren Seiten Schriftzüge wie Happy Camping, Easy Camping oder ähnliches prangen und deren Ladeflächen mit Matratzen ausgelegt sind. Wer von den Verbliebenen nicht mit dem eigenen Mobil angereist ist, ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und leicht daran zu erkennen, dass er in der Regel einen schweren Rucksack schultert – Backpacker.
Da sich die Bushaltestelle mehr oder minder direkt vor dem Campingplatz befindet, schlendere auch ich dorthin hinüber, als ich hinter dem Lenkrad einen pausierenden Fahrer entdecke. Für den Fall, dass ich die Insel einmal komplett umrunde und in einigen Wochen erneut hier aufschlage erkundige ich mich danach, ob notfalls auch Liegedreiräder transportiert würden. Kein Problem, bekomme ich zu hören, koste halt nur seinen Preis. Eine Reservierung oder Vorankündigung sei nicht erforderlich beziehungsweise eher untypisch. Wer mit will, findet sich zum planmäßigen Zeitpunkt an der Haltestelle ein und gut ist´s.
Am nächsten Morgen geht es weiter – aus eigener Kraft. Die Möglichkeiten, Egilsstaðir zu verlassen, sind beschränkt. Im Wesentlichen reduzieren sie sich darauf, über die 93 nach Seyðisfjörður zurück zu kehren, der 92 oder der 94 zu folgen, um in entlegenere Zipfel des Landes nördlich beziehungsweise südlich davon zu gelangen, oder auf die 1 abzubiegen, die Ringstraße, die einzige einstellige Straße im systematisch durchnummerierten Netz befahrbarer Wege. Letztere tangiert den Ort mehr oder minder und führt, wie der Name vermuten lässt, einmal um Island herum. Da eine Rückkehr an den Ort, über den ich auf die Insel gelangte, für mich keinen Sinn macht und die beiden Optionen in die Nachbarschaft mich einstweilen nicht reizen, bleibt nur die Wahl, Island im oder gegen den Uhrzeigersinn zu umrunden. Ringstraße rechts oder links herum? Eine Frage, die sich mir faktisch ebenso wenig stellt wie den Nordlandfahrern, mit denen ich auf der Fähre ins Gespräch kam. Sie waren mit acht Bussen in Deutschland gestartet. Ihr Ziel: Island in zwei Tagen erkunden. Okay, Teile davon, das aber verhältnismäßig kostengünstig. Der eine Tag sollte ausgefüllt sein mit einer Fahrt Richtung Norden, zum Mückensee, der andere gen Süden, zur Gletscherlagune. Einmal zwei-/dreihundert Kilometer Ringstraße im Uhrzeigersinn, einmal entgegen gesetzt. Jeweils bis zur ins Auge gefassten Sehenswürdigkeit. Anschließend den gleichen Weg zurück, um zwischenzeitlich auf dem Schiff zu übernachten beziehungsweise wieder die Rückreise nach Dänemark anzutreten. Für diese Gruppe von Ausflüglern war lediglich die Frage, wohin es als erstes geht. Die meisten anderen der auf dem Seeweg Angereisten macht in Egilsstaðir das Abbiegen abhängig vom Wetterbericht. Es geht dorthin, wo es gerade schöner ist. Schlägt das Wetter um, wird erneut geschaut. Die andere Seite der Insel ist meist nicht weiter als eine Tagesfahrt entfernt. Für mich, der sich ohne Nutzung von Fremdenergie fortbewegt, sieht es diesbezüglich geringfügig anders aus. Die Strecke, die Motorrad-, Auto- und Busfahrer in einer Stunde hinter sich lassen, kostet mich einen Tag. In der Überzeugung, Regenwolken nicht davon fahren zu können, bleibe ich dem treu, was ich Zuhause ersann. Links herum weiter, im Uhrzeigersinn, gen Gletscherlagune, ab in den Süden.
Eine weitere Frage, neben der nach der Richtung, beschäftigt mich mehr: Durchstarten oder noch eine Stunde warten? Bei meinem Einkauf am Vortag hatte ich nicht bedacht, dass ich am Morgen das letzte Päckchen Sojamilch in mein Müsli schütte. Hätte ich natürlich drauf kommen können, war ich aber nicht. Nachdem der letzte Schluck verköstigt ist, meine Sachen gepackt sind und ich vor dem Supermarkt stehe, stelle ich jedoch fest, dass dieser seine Pforten nicht um zehn Uhr öffnet, sondern erst um elf. Dumm aber auch, denn bis dahin steht dem großen Zeiger der Uhr eine weitere Runde bevor.
Ich entscheide mich gegen das Abwarten. Ein Entschluss, der mich teuer zu stehen kommen soll, doch einerseits weiß ich das in dem Moment nicht, und andererseits: Selbst acht Wochen sind keine endlos lange Zeit. Irgendwann muss auch ich mal in die Pedale treten, will ich vom Land etwas sehen.
Dass ich auf meinem Weg Richtung Jökulsárlón, der Gletscherlagune, kräftig strampeln kann, verdanke ich nicht ganz unmaßgeblich einem Umstand: Es ist weiterhin windig. Und der Wind weht mir ins Gesicht. Selbst dann, wenn ich stehen bleibe. Auch weht er stark. Zumindest so stark, dass er Wolken am Himmel vor sich her schiebt und ich treten muss, selbst wenn die Straße leicht abschüssig ist, was auf den ersten 50 Kilometern jedoch eher selten vorkommt. Zunächst überwiegt eine leichte Steigung. Erst auf dem letzten Zehntel ändert sich das Streckenprofil – aus dem flachen Anstieg wird ein steiler.
Ausgebremst werde ich zudem durch eine zweifelhafte Entscheidung in meiner Routenplanung. Nach ersten Kilometern auf der 1, der Ringstraße, biege ich ab auf eine parallel dazu verlaufende Piste, die 937. Vielleicht nicht gerade der geschickteste Schachzug, doch was soll´s – Plan ist Plan. Zuhause, auf der Karte, da machte der Entschluss Sinn. Runter von der Hauptverkehrsader, rauf auf den Bypass. Idyllische Nebenstrecke statt Rennbahn. Die Realität jedoch sieht anders aus. Die 1 verläuft ebener, ist im späten Mai noch nicht so stark frequentiert und: Sie ist auf diesem Abschnitt noch asphaltiert. Ich statt dessen eiere gute zwanzig Kilometer über eine staubige Holperpiste, erklimme ein Hügelchen nach dem anderen und bange letzten Endes noch darum, dass die Karte recht behält und der Weg auch tatsächlich auf die 1 zurück führt, nur um dort wertvoller Kräfte beraubt mit stolzgeschwellter Brust behaupten zu können: Dafür haben mich auf der Ausweichstrecke aber nur drei Autos überholt! Dass es auf der 1 auch nicht Zehnerpotenzen mehr gewesen wären? Geschenkt. Es gibt wesentlichere Dinge, über die man sich ärgern kann.
Zurück auf der 1 dann eine weitere Erkenntnis: Der Asphalt ist deutlich rauer geworden. Ein kurzes Stück später endet er ganz. Auch die Ringstraße ist 2016 noch nicht ganz frei von Schotter. Damit jedoch nicht genug. Ebenso wie die Fahrbahnbeschaffenheit ändert sich das Gelände. Ein Berg steht im Weg – oder zumindest ein Hügel. Es geht also wieder aufwärts. Zwar nur von 150 Meter Höhe hinauf auf 500 Meter, doch erneut auf kurzer Distanz. Fünf Kilometer. Erneut Steigungen zwischen acht und zehn Prozent. Zwangen mich diese Anstiege am Vortag auf Asphalt noch nicht aus dem Sitz, so verhält es sich auf dem Schotter anders. Dreht das angetriebene Hinterrad durch, macht das Kurbeln keinen Spaß mehr. Und Sinn erst recht nicht. Entsprechend schiebe ich etwa einen Kilometer mein Rad vor mir her. Wie ich ebenso noch mehrfach feststellen soll: Es bleibt nicht bei dem einen Male.
Kurz vor dem Pass dann die nächste Entscheidung. Öxi oder nicht? Öxi, das ist die 939. Eine Straße, die die Strecke um 80 Kilometer abkürzt, es aber gewissermaßen in sich hat. Gesperrt ist sie nicht, wie ich den Autos entnehmen kann, die sie befahren. Laut Karte schlängelt sich die Piste entlang eines Flusses sowie der Gipfel, die ich andernfalls Richtung Küste umfahre. Was mich jedoch hadern lässt sind die Schilder, die zu erwartende Steigungen beziehungsweise Gefälle verkünden: 17 Prozent. Noch auf dem Campingplatz hatte ich die Betreiber darauf angesprochen. Ihre Auskunft half mir nicht so richtig weiter.
„Du brauchst gute Bremsen. Ansonsten können wir da nicht viel zu sagen. Wenn wir dort her fahren, sitzen wir im Auto.“
Einmal mehr entscheide ich mich für die Vernunft. Auch wenn die Strecke ihre landschaftlichen Reize sowie technischen Herausforderungen haben mag, ich muss auch nicht am zweiten Tag versuchen, mir das Genick zu brechen. Wie sich nur kurze Zeit später zeigt: Auch hier wahrscheinlich die richtige Wahl.
Die höchste Stelle des Hügels ist gerade überwunden, ich sitze wieder auf dem Rad, unter mir knirscht noch immer der Schotter, da passiere ich ein weiteres Verkehrsschild. Erneut eines, das vor stärkerem Gefälle warnt: 12 Prozent. Fünf Prozent weniger als auf der Öxi. Einmal mehr versuche ich, mit angezogenen Bremsen die Geschwindigkeit zu zügeln. Diesmal quietscht nichts. Dafür stehen die Räder. Das Blöde ist nur: Das Fahrzeug nicht. Es bewegt sich weiter. Zum Glück gelingt es mir, das Vehikel unbeschadet per Stotterbremsung durch die engen Kurven der Serpentinen zu navigieren. Die Lektion hätte jedoch anschaulicher kaum sein können: Was habe ich von den kräftigsten Bremsen, wenn die Räder blockieren? Nichts, doch es bleibt nicht die einzige Erkenntnis auf staubigem Untergrund.
Eine weitere Erfahrung auf der Schotterpiste sind meine motorisierten Mitmenschen. Bereits von weitem kündigen sie sich an. Nicht hörbar, sichtbar. Im Rückspiegel ebenso wie vor mir. Was sie verrät sind die Staubschleppen, die sie hinter sich her ziehen. Entsprechend ihres Verhaltens fallen sie bei mir in eine von drei Kategorien.
Da gibt es zum einen die rücksichtsvollen Fahrer. Rechtzeitig vor beziehungsweise hinter mir bremsen sie ab, ziehen langsam an mir vorüber, grüßen dabei häufig genug freundlich und beschleunigen erst wieder, wenn ich ausreichend weit entfernt bin, was mich in den Genuss bringt, nicht in Staub eingehüllt zu werden. Dass ich mich freundlich dafür bedanke? Selbstredend.
Anders die rücksichtslosen Fahrer: Auch wenn sie mich sehen, sie verringern ihre Geschwindigkeit nicht. Ob sie meine erhobene Hand und zusammen gepresste Lippen wie Augen als Gruß missinterpretieren? Kann sein, ist mir aber egal – mein Bestreben ist es lediglich, nicht mehr Staub als nötig zu schlucken und die Pupillen davon frei zu halten.
Bleiben die Vertreter der dritten Klasse. Ihr Fahrverhalten entspricht dem der rücksichtslosen Fahrer. Sind sie jedoch auf meiner Höhe, winken sie mir freudig zu und lächeln mich an. Ich kann nur mutmaßen, dass sie sich ihres Tuns beziehungsweise der Konsequenzen nicht bewusst sind. Dass sie meine Schutzgeste falsch verstehen, dessen bin ich mir nahezu sicher. Begegnen mir Vertreter dieser Spezies, so ist es meist nur ein einziges Wort, das mir unmittelbar durch den Kopf schießt. Es mag unangemessen sein und arrogant klingen, doch ich kann mich nicht dagegen wehren. Ein wenig hilft es sogar, wenngleich ich es niemals laut heraus posaune: Idioten!
Versöhnlicher hingegen stimmen mich Momente wie der, in dem mir ein amtlich erscheinender, geländetauglicher Pickup entgegen kommt, dieser einige Meter vor mir stehen bleibt, der Uniformierte hinter dem Lenkrad die Scheibe herunter lässt und sich nach meinem Wohlergehen erkundigt. Auf seine Frage „Rough road – raue Piste?“ mit leicht nach schräg oben gerichteter Kopfbewegung in die Richtung, die hinter mir liegt, fällt mir nicht mehr ein als ein Lächeln anzudeuten, ebenso leicht zu nicken und die Aussage akustisch zu unterstreichen: „Yes indeed, but a beautiful landscape – ja, in der Tat, aber eine schöne Gegend.“ So anstrengend es ist, sich auf den staubigen Abschnitten der Ringstraße voran zu kämpfen, so sehr entschädigt weiterhin die Landschaft wobei ich mir einbilde, anhand ihr ein Gefühl für die isländische Sprache zu entwickeln. Bildhaft soll sie sein, reich an zusammen gesetzten Worten und dem Nordischen entstammen. Kann ich letzteres mangels entsprechender Kenntnisse nicht beurteilen, so klingt ersteres nachvollziehbar. Der Name der Hauptstadt beispielsweise, Reykjavík, wird mit Rauchbucht übersetzt. Recherchiert man ein wenig so bekommt man heraus, dass die Metropole schon mal im Nebel versinkt, Reykur Rauch oder Dampf und Vík Bucht bedeutet. Der vor mir liegende Ort heißt Breiðdalsvík. Dass er ebenfalls geschützt am Meer liegt verrät ein Blick auf die Karte. Den Rest reime ich mir aus dem zusammen, was ich sehe. Die Straße verläuft am Fuße Schnee bedeckter Berge, nebenan der nächste Fluss, der sich hier verästelt, dort wieder vereint. Ein breites Tal. Spricht man die T´s nicht so hart aus, passt es. Breiðdal. Andererseits – hätte J.R.R. Tolkien seine „Herr der Ringe“ Trilogie einige Jahrhunderte früher geschrieben, so wäre ich auch nicht überrascht, hieße die Gegend übersetzt „Mittelerde“. Und dass zwischen den Felsen Elfen und Trolle hausen? Steht ohnehin außer Frage.
Eine andere ist ob es sich lohnt, den Campingplatz von Breiðdalsvík anzusteuern oder ob ich mein Zelt nicht besser irgendwo im malerischen Land der Unsichtbaren aufschlage. Leider stelle ich sie mir erst, als es zu spät ist. Meine Behausung steht bereits, da bemerke ich, dass die Sanitäranlagen der Zeltwiese über keine Duschen verfügen. Der einzig kleine Luxus, der mir umgerechnet die gut zehn Euro Gebühr für die eine Nacht wert gewesen wäre, bleibt mir verwehrt. Zwar kann ich meine mobile Herberge hinstellen und mich breit machen wo und wie ich will, ich bleibe der einzige Gast, doch die Sache mit dem fließend warmen Wasser hatte ich mir anders vorgestellt. Einige Minuten auftauen und dann frisch und sauber in die Abendgarderobe schlüpfen? Ist nicht. Beziehungsweise nur eingeschränkt. Ich muss mich mit dem begnügen, was ein Waschlappen her gibt.
Eine andere Erfahrung ist angenehmerer Natur. Ich stelle fest: Nachts bedarf es keiner Taschenlampe mehr. Noch um Mitternacht, als ich den Rechner zuklappe, nachdem die Eindrücke des Tages in mehr oder minder wirre Worte gefasst sind, ist es hell beziehungsweise es wird rund um die Uhr nicht richtig dunkel. Und das, obwohl ich südlich des Polarkreises bleibe und bis Mittsommernacht noch vier Wochen vor mir liegen.
Teuer zu stehen kommt mich die Erkenntnis, dass Einkäufe außerhalb größerer Ortschaften eher suboptimal sind, um den Anspruch an eine Low-Budget Reise zu erfüllen. Wie auch in Deutschland lassen sich Tankstellen und Kramläden die Aufwendungen bezahlen, ein überschaubares Angebot in den Regalen zu halten. Für meinen Frühstückstrunk knüpft man mir das doppelte bis dreifache dessen ab, was ich tags zuvor im Supermarkt gezahlt hätte. Doch was soll´s – kann man sich ja drauf einstellen. Man muss nur rechtzeitig daran denken.
Seinen Preis behält ebenso das Vorankommen.
„Nix es ömesöns. Wat nix kost, dat is och nix – nichts ist umsonst, was nichts kostet, das taugt auch nichts.“
Wie ein Mantra wiederholt eine innere Stimme in mir die Weisheiten meiner kölschen Wahlheimat, wenn ich mich Meter für Meter vorwärts strampele. Es wird einem nichts geschenkt, jeder Kilometer will bezahlt werden. Leisteten die Lenker der Mietwagen ihren Beitrag vor dem Antritt ihrer Fahrt, indem sie eine Kreditkarte oder Bares über einen Tresen schoben, so zahle ich auf der Straße. Nicht mit Plastik, nicht in Scheinen, nicht in Münzen – ich zahle in Schweiß, und das nicht zu knapp. Literweise. Nahezu ablesbar an den Spuren, die die Körperflüssigkeit in meiner Bekleidung hinterlässt. Andererseits bekomme ich auch reichlich. Eindrücke, intensive Wahrnehmungen, die meines Erachtens weit über das hinaus gehen, was sich mit dem Auge hinter der Windschutzscheibe aufschnappen lässt. So erlebe ich beispielsweise die ersten Kilometer raus aus Breiðdalsvík Zähne knirschend, obwohl die Straße asphaltiert ist und eben. Sie führt über einen kleinen Damm, zu dessen Linken das Meer schwappt und zur Rechten der Fluss ausläuft, der durch das breite Tal mäanderte. Zwischen der Fahrbahn und dem Wasser liegt jedoch zudem zu beiden Seiten ein schmaler Streifen. Strand. Feinsandiger Strand. Und wird das, was da am Boden liegt, vom Wind aufgewirbelt, dann kann es knirschen zwischen den Beißern, abgesehen davon, dass man es auch sonst überall hat, wo man es nicht unbedingt haben will – in den Augen, Ohren, der Nase, überall. Eine Erfahrung, die dem hinter verschlossenen Fenstern sitzenden Automobilisten vorenthalten bleibt. Mit dem Rad reisend darf ich diese Eindrücke hingegen im Überfluss genießen: Als ich die gut zweieinhalb Kilometer zwischen Meer und Flussmündung passiere, windet es kräftig, was zur Folge hat, dass die Strecke sich zieht. Immer wieder fegt mir eine Windböe um die Ohren, immer wieder muss ich aufpassen, nicht von der Fahrbahn geweht zu werden und immer wieder werde ich gesandstrahlt. Dass es dabei niemanden wundert, dass da ein Typ auf einem dreirädrigen Gefährt versucht, der Markierung auf der Fahrbahnmitte zu folgen, den Helm tief in das Gesicht herunter und ein ausgeleiertes Halstuch bis hoch über die Nase hinauf gezogen, die Augen zu Sehschlitzen zusammengekniffen, eine Hand schützend vor der Wind zugewandten Wange? Liegt wahrscheinlich einzig und allein daran, dass ich die Straße so gut wie für mich allein habe. Außer mir ist kaum jemand unterwegs und die, die es sind, haben wahrscheinlich selbst genug damit zu tun, ihr Fahrzeug in der Spur zu halten. Widrigkeiten, die die Fahrt zum Erlebnis machen – für den einen mehr, für den anderen weniger.
Die anschließende Berg- und Talfahrt entlang der Küste offenbart zweierlei. Zum einen: Die Anstiege der nächsten Tage bleiben überschaubar. Mehrere hundert Meter am Stück rauf oder runter werden zur Seltenheit. Läppern tun sie sich trotzdem, die Höhenmeter. Es bleibt ein stetes Auf und Ab und Kleinvieh macht auch Mist. Die andere Feststellung: Die Luftmassen, die über die Gipfel in Richtung Meer strömen, verursachen Fallwinde. Wie der Name assoziiert, fallen sie die Hänge herab und erwischen mich demzufolge von der Seite. Ob sie einfacher zu meistern sind als Gegenwind? Meines Erachtens nicht. Sie bremsen mich ebenfalls aus und setze ich mein Körpergewicht nicht dagegen gerichtet ein, ich habe das Gefühl, sie fegen mich von der Fahrbahn. Gleichfalls kommt es mir allerdings so vor, dass ich in dieser Situation mit meinem Liegedreirad besser bedient bin als würde ich mich klassisch aufrecht sitzend fortbewegen. Aufgrund des tieferen Schwerpunktes und der liegenderen Körperhaltung sollte ich dem Wind weniger Angriffsfläche beziehungsweise Hebelkraft bieten. Ein Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige meines GPS Gerätes lässt mich jedoch an der Aerodynamik zweifeln. Bergauf kratze ich nur unter günstigsten Voraussetzungen sowie mit äußersten Anstrengungen an zweistelligen km/h Werten, bergab bin ich ein wenig schneller doch steht auch dort eher selten eine Drei an erster
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3646-1
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