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1. Die Straftat
Sanft hielt ich es in meinen Händen. Es war sehr wertvoll, nahezu unmöglich eines davon heimlich auf dem Schwarzmarkt zu kaufen und wenn es möglich war, so zu horrend hohen Preisen.Die Ampel wechselte auf Grün. Der Zug der grau gekleideten Menschen, in dem ich mich ebenfalls mit meiner grauen Uniform befand, setzte sich in Bewegung. Jetzt nur nicht auf den letzten Meter aufgeben! Teilnahmslos, mit gesenktem Kopf, ließ ich mich vom Strom der Menschen über die gepflasterte Straße treiben. In wenigen Sekunden würde die Ampel wieder auf Rot umschalten, um den Mengen der Automobile freie Fahrt zu lassen. Mit einem scheuen Blick sah ich die große Schlange der Fahrzeuge, die sich in kurzer Zeit angesammelt hatte. Ja, meine Arbeit war sinnvoll, auch wenn sie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Entschlossen ging ich weiter. Ich musste es tun –wie ich es schon so oft getan hatte. Diesmal würden sie mich nicht festnehmen, nein, diesmal würde ich auf der Hut sein.
„Beim nächsten Mal werden wir dich mortalisieren!“ Ja, das hatten sie gesagt, aber sie würden mich nicht bekommen. Ich steuerte durch die hohen Häuser, die sich wie graue, alte Zähne in den immer gleich wolkiggrauen Himmel erstreckten. Alles, was ich sah, waren Variationen von grau. Hellgraue Uniformen, dunkelgraue Häuser, mittelgraue Straßen. Es machte mich krank, jeden Tag, dieses monotone Grau. Ja, sie hatten auch einen Namen dafür: Unicum, laut Artikel 45 der staatlichen Verfassung, die vorgeschriebene Farbe für alles und jeden. Unicum! Auch ein Grund es zu tun... Meine Füße führten mich in eine Seitengasse. Hier gab es keine Menschen in grauen Uniformen. Hier war ich für eine gewissen Zeit allein. Ich atmete erleichtert auf. Jetzt konnte ich beginnen, was ich tun wollte. Schnell untersuchte ich jeden Quadratmeter des grauen Bodens unter meinen Füßen. Reiner Beton... schon seit Jahren nicht mehr erneuert worden! Ich entdeckte einen kleinen Riss. Ein guter Ort, eine gute Gelegenheit! Kritisch blickte ich mich um. Keine Menschenseele weit und breit. Langsam öffnete ich meine Hand um das Wertvolle zu betrachten. Sie würden es sofort wieder vernichten, kam mir in den Sinn. Sanft streichelte ich den kleinen Pflanzensamen nochmals mit meinen Zeigefinger. Nein, dachte ich, es wäre zu schade für dich zu sterben. Ich ließ ihn in den schmalen Riss hinab gleiten. „Viel Glück!“, flüsterte ich. Mir kamen die anderen Wertvollen in den Sinn... was wohl aus ihnen geworden war? Die Regierung hatte ja erst seit kurzem beschlossen, diejenigen zu bestrafen, die Wertvolle besitzen und/oder sie einpflanzen. Wie viele Stunden sie wohl damit verbrachten, diese Verbrecher aufzufinden? Oder die Wertvollen zu zerstören? Ich hörte Schritte. Reflexartig zuckten meine Hände zu meinen Schuhen, um den Anschein zu erwecken, sie gerade zu binden. „Mein lieber Herr...“, sagte die Stimme, selbstgefällig, jede Silbe auskostend, „ ja, Sie da.... die Regierung beobachtet Sie...“ Ohne mir etwas anmerken zu lassen, schnellte ich hoch. „So?“, fragte ich, „und was will die Regierung von mir?“ „Die Regierung...“ ich musterte den Beamten, er hatte ein kleines schwarzes Emblem an seiner Brust kleben –das einzig bunte an dieser Regierung! - „...will Sie festnehmen... und zwar an Ort und Stelle.“ „Ach...“, antwortete ich nur teilnahmslos. „Und welche Beweise hat die Regierung vorzubringen?“ „Dass Sie es schon wieder getan haben. Erst letzte Woche und nun schon wieder!“ tadelte der Beamte mich. Doch ich blieb naiv. „Was denn?“ Der Beamte lachte diabolisch. „Sie wissen genau wovon ich spreche. Paragraph 157... das sagt Ihnen doch etwas?“ Nachdenklich blickte ich ihn an, ich musste Zeit schinden. Natürlich sagte mir Paragraph 157 etwas. Es war der Paragraph, der letzten Monat neu verabschiedet wurde und zwar mit der größten Mehrheit seit Gründung der Regierung. Natürlich hatten die Mächtigen ihre Finger im Spiel. Die Gier nach Geld zwang sie zu dieser Entscheidung. „Ja.“, sagte ich. „Und warum verstoßen Sie nun gegen dieses Gesetz?“, sagte der Beamte, während er langsam auf mich zuging. Ich neigte den Kopf und spielte immer noch den Unschuldsengel. „Warum sollte ich denn gegen das Gesetz verstoßen, schließlich ist es nur gerecht einem Gesetz zu gehorchen.“ „Ob das Gesetz gerecht ist oder nicht, das entscheiden nicht wir, sondern die Regierung.“ Der Beamte sah mich streng an. „Doch Sie, mein Guter, schweifen vom Thema ab.“ Jetzt war der Beamte direkt vor mir. Ich blickte ihm in die Augen. Graue Augen. Ja, auch daran hatten sie gedacht! Unicum-Kontaktlinsen. „Haben Sie nicht an die Kameras der Regierung gedacht, als sie es getan haben? Es gibt viele davon und überall dort wo sie es nicht erwarten.“ Der Beamte beugte sich hinunter und sah in den Riss. Ich schloss meine Augen und atmete schwer. Das Wertvolle! „Na da haben wir es ja!“, sagte er stolz, nahm eine Pinzette aus seiner Tasche und fischte es aus dem Riss. Ich neigte traurig den Kopf, als er sein Werkzeug mit dem Beweismaterial triumphierend in die Höhe hielt. Hinter einem Vorhang aus Trauer und pochendem Zorn hörte ich leise die Handschellen klicken.

2. Die Anklage
Lange blickte ich die graue Wand vor mir an. Ich war im Gefängnis der Regierung. Ich steckte in einem tief dunkelgrauen Anzug. So weit ich mich zurückerinnern konnte, kannte ich kaum andere Farben als grau und schwarz. Ganz früher gab es noch ein kleines Stückchen Wiese mit prächtigen Blumen und jeder, der an dieser kleinen Wiese vorbeikam, blieb für einen Moment seines hektischen Lebens stehen. Doch diese Wiese –wie viele andere- wurde ein Opfer der Mächtigen, die dort ihre grauen Fabriken bauten. Wiesen, Blumen und Bäume wurden ganz aus dem Leben der Menschen gestrichen. Der Mensch war ja schließlich da um zu arbeiten, nicht um sich an Blumen oder der ähnlichen zu erfreuen. Ich schloss meine Augen und versuchte mich an die Farben der Wiese zurückzuerinnern. An das saftige Grün, das zärtliche lila, das unschuldige Weiß. Doch meine Sinne waren abgestumpft. Alles was ich sah, war grau. Ich öffnete die Augen wieder. Grau... Ich hatte begonnen die ersten Wertvollen einzupflanzen, als die kleine Wiese einem Parkplatz für die immer größer werdende Anzahl der Automobile weichen musste. Damals war es noch einfach an Wertvolle heranzukommen, doch sie gingen auch schnell unter in der rasanten Entwicklung der Firmen. Als in der Zeitung verkündet wurde, dass der letzte Wertvolle gefällt wurde und dass es deswegen ein großes Fest der Firma Photosynthetica & Co. - die jetzt keine Konkurrenz mehr hatte - gäbe, feierten sie alle mit. Nur ich blieb daheim und trauerte. Auf den einen Tag zum nächsten wurde sie zur Regierung gewählt. Nun hatten die Mächtigen alles, was sie wollten. Sie konnten die Menschen einfach sterben lassen mit einem kleinen Wink. Das Schicksal der Menschen lag nun in ihrer Hand und ich... ich versuchte Wertvolle einzupflanzen. Doch die errichteten Kameras, beobachteten die Leute, kontrollierten sie. Die Menschen sollten wie Maschinen funktionieren, nein, sie funktionierten nicht wie Maschinen, sie waren Maschinen. Sie standen auf, gingen zur Arbeit, kamen heim, aßen Produkte der Firma Photosynthetica &Co und gingen ins Bett. Sie wollten es auch nicht anders... sie hatten nichts gegen die feindliche Übernahme unternommen und jetzt, jetzt, war es so, dass ihr Leben von den Photosyntheseanlagen der Firma abhing. Aber wer sollte noch für die Menschen sorgen, wenn die Maschinen versagten? Ein grau gekleideter Beamter kam und schleifte mich in den Verhandlungssaal. Ich nahm auf einem grauen Stuhl vor dem Richter Platz. Einen Anwalt hatten sie mir nicht gegeben. „Im Namen des Volkes“, sagte der Richter, spöttisch, als ob ich der Teufel persönlich wäre, „hat der Angeklagte gegen den Paragraphen 157 verstoßen.“ Von den anwesenden Leuten hörte ich verachtende Geräusche. Auf einem Bildschirm sah ich, wie ich vor ein paar Stunden in der stillen, ruhigen Gasse hin- und herwanderte und endlich eine Spalte für meinen Wertvollen gefunden hatte. Von hinten sah ich schon den Beamten heranschleichen, als ich ahnungslos vor der Spalte saß... der Richter schaltete die den Film ab. „Sie wissen schon, dass das Urteil mortalisieren heißt, nicht wahr?“ Traurig nickte ich. Vor kurzem hatte ich noch gehofft, sie würden mich nie erwischen. „Wollen sie noch etwas dazu sagen, bevor wir das Urteil vollstrecken?“ Scharf blickte ich ihn an. Dann hob ich meinen Kopf und sprach: „Ich fühle mich nicht schuldig, dass ich gegen das Gesetz verstoßen habe. Ich rette damit nur die Welt, die dem Untergang schon längst geweiht ist. Photosynthetica bringt uns alle um... und wir haben nichts dagegen getan. Die Mächtigen haben zugesehen, die Bürger haben zugesehen, die Natur hat zugesehen, doch sie wurde erstickt, und so werden auch die Menschen ersticken...“ „Sie wissen gar nicht von was sie da reden!“, schrie der Richter mich mit hochrotem Kopf an. „Ich verurteile sie ebenso wegen Vaterlandsverrat! Doch nun führt ihn ab und vollstreckt das Urteil!“ Wütend blickte ich den Richter an. Er war der letzte Mensch, den ich in meinem Leben gesehen hatte.

3. Das Urteil

Sie mortalisierten mich an einem Mittwoch, einige Minuten nachdem ich vor den Richterstuhl gebracht worden war. Zwei Monate später explodierte der Reaktor der Firma Photosynthetica & Co. aus undefinierbaren Gründen. Und es gab keinen einzigen Baum, der die Menschen mit Sauerstoff versorgen konnte.

Impressum

Texte: (c) P.Winterberg
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009

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