Neujahrsgeschichte
Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Mann namens Jochen nur kurze Zeit an dem Ort verweilte, an den es ihn nie hätte verschlagen dürfen. Man sprach von diesem Ort als einem, den die Hölle höchstpersönlich ausgespuckt haben mußte. Jochen war in Wuppertal. Und zwar in den Bahnhofskatakomben.
Nun kramte er schon seit geraumen Sekunden in seinen Hirnwindungen nach der Antwort auf die Frage, wie er überhaupt hierher gekommen war. Bei der rasanten Reise durch seine Hirnhöhlen kam er an dem heutigen Datum vorbei. 31. Dezember 2008. Silvester. Im Wuppertaler Bahnhof. Das Schicksal hatte sich ein neues Katzenspiel- zeug gesucht - und es hieß Jochen.
Vom Schock gelähmt und durch unbekannte vorange- gangene Geschehnisse benebelt, stolperte er an einer Dönerbude vorbei, aus der ihm ein türkisches, leichtbe- kleidetes Bauchtanzluder zuwinkte. Leise hauchte sie: "Jüchen..". Jochen wurde flau im Magen. Er hatte diese Frau in seinem vorherigen und auch in seinem jetzigen Leben noch nie gesehen. Woher wußte sie seinen Namen? Er beschleunigte seinen Stolperschritt und geriet in die Fangarme einer alkoholisierten, zahnlosen Wachturm- anbeterin. Es roch nach modrigen Klosteinen, die die Dame anscheinend seit dem Krieg in ihrer Einkaufstasche hortete. Mit Mühe konnte sich Jochen aus ihrem Netz schneiden. Schweiß nässte seinen Schritt.
Er hatte das Gefühl, Tageslicht riechen zu können und langsam keimte Hoffnung in ihm auf. Sein Blick fiel auf eine aus den Fugen geratene Bahnhofsuhr. 23 Uhr 58. Noch zwei Minuten bis Neujahr. Panik machte sich in ihm breit und trieb den Sackschweiß auf seine Stirn.
Wie, zum Teufel sollte er es schaffen, an den Hunderten von beschirmmützten Jungschuldnern vorbeizukommen, die sich mittlerweile um ihn herum aufgebaut hatten? Noch erfüllten sie die Luft mit ihren klassischen, schlecht ausgesteuerten Handy-Hip-Hop-Klängen. Aber Jochen fiel auf, daß einige schon überteuerte Chinaböller im Anschlag hielten. Ihm blieb keine andere Wahl, als das zu tun, was er schon vor fünf Minuten hätte tun sollen. Er rannte zurück zur Dönerbude, begoß sein Glied mit Ayran und durchstach seine Zunge mit dem Dönerspieß.
Die Bauchtanzlady quietschte vergnügt und in einer Frequenz, die den Wuppertaler Bahnhof erschüttern ließ. Putz fiel von der Katakombendecke und Pfeiler stürzten ein. Pünktlich wie ein Maurer hatte sich der Wuppertaler Bahnhof zum Jahreswechsel in Schutt und Asche verwan- delt. Endzeitszenario.
Ein kleines, fleischfarbenes Kaninchen hoppelte um zwei Minuten nach Zwölf im Jahr 2009 über einen Berg aus Beton, der letztes Jahr noch eine Dönerbude war. Neugierig beschnupperte es einen merkwürdigen Pilz, der sich durch das Gestein an die jetzt frische Luft gekämpft hatte. Ein Pilz, der von einer weißen Flüssigkeit bedeckt war. Das Kaninchen leckte den Saft des göttlichen Pilzes, verwan- delte sich schnurstracks in ein anmutiges türkisches Bauchtanzluder und schrie lauthals: "Jüchen!"
Prost Neujahr.
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2009
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