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Wenn man irgendwo auf der Welt die Kunst der Langsamkeit neu erlernen konnte, dann hier. Während anderswo über Entschleunigung geredet wurde, hatten die Menschen in Helmering noch gar nicht damit begonnen, überhaupt eine Beschleunigung einzuführen. Sie gingen langsam, sie nickten selbst langsam mit dem Kopf, wenn sie grüßten, nach ein paar Worten übers Wetter bewegten sie sich behutsam vorwärts, als wollten sie die Luft nicht zu schnell zerschneiden, die sie umgab.
Thomas Reitinger saß auf der Bank vor seinem Elternhaus, blinzelte in die Sonne und hing seinen Gedanken über die Helmeringer Langsamkeit nach. Seit knapp acht Wochen wohnte er nun hier allein.
„Wie ein akuter Herzinfarktler schaust net aus“, hörte er jemanden rufen. Sein Schulfreund Richard Wachter nahm neben ihm auf der Holzbank Platz. „Eher wie ein fauler Journalist, der sich recht schnell an die schönen Seiten des Dorflebens gewöhnt hat.“
Reitinger grinste den Landarzt an. „Ich habe heute frei, weil ich gestern im strömenden Regen auf dem Fußballplatz gestanden bin und dann bis spät abends noch in der Redaktion war.“ Thomas schlüpfte in seine Schuhe. „Ich muss zum Friedhof, die Palmkätzchen stehen noch auf dem Grab von meinem Vater.“
„Ostern ist schon fast zehn Wochen her.“
Reitinger nickte. „Deswegen hat mich eine Freundin von meiner Mutter angesprochen, dass ich sie mal wegräumen soll.“
„Auf dem Land bleibt eben nichts verborgen.“

Thomas staunte nicht schlecht, als er auf den Friedhof kam. Denn die Palmkätzchen, die er entfernen wollte, waren nicht mehr da. Das Grab seines Vaters war gepflegt, das Unkraut war rausgezupft, selbst rund herum hatte jemand den Löwenzahn entfernt.
„Gegossen hab ich nicht, das kann ich mit meinem Kreuz nicht mehr“, hörte Reitinger eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Da stand eine Frau, die er vom Gesicht her kannte, aber an ihren Namen konnte er sich nicht erinnern.
„Grüß Gott“, sagte er deshalb nur und deutete auf das Grab. „Sie haben das so schön hergerichtet?“
„Für die Toten muss man Zeit haben. Mein Heinz ist schon seit zwanzig Jahren tot, aber ich pfleg das Grab immer noch, als wäre er erst gestern gestorben.“
Reitinger sah sich unauffällig um. Wo lag ein Heinz? Wie hieß er mit Nachnamen? Wer war diese Frau, die ihn da in ein Gespräch verwickelt hatte?
„Gegossen hab ich noch nicht“, wiederholte die Frau. „Und das ist dringend nötig.“
In einer Ecke des Friedhofs hingen Gießkannen. Damit es etwas schneller ging, füllte Reitinger gleich zwei mit Wasser, trug eine rechts, eine links, kam zurück zum Grab des Vaters und begann zu gießen. Die alte Frau sah ihm aufmerksam dabei zu.
„Die Mutter war fast jeden Tag da“, sagte sie. „Schade, dass sie weggezogen ist.“
Reitinger nickte nur. Er hatte gerade etwas heftig gegossen, mit dem Wasser floss Erde über die Umrandung des Grabes.
Schnell zog die Frau einen Lappen heraus, wischte die Erdspur weg und warf dem ungeschickten Kerl einen strafenden Blick zu.
„Ich trag jetzt die Kannen zurück. Wiederschaun“, versuchte sich Thomas aus der Affäre zu ziehen, aber die Frau stellte sich ihm in den Weg.
„Wär schön, wenn du das Grab von meinem Heinz auch gießen könntest.“
Wieder holte er zwei Kannen und folgte der Frau zu einem Grab, zwei Reihen weiter im Eck.
„Heinz Lauber“, stand da, und endlich konnte Thomas Reitinger die Frau einordnen. Mit ihrem Sohn Albert war er zur Schule gegangen.
„Wie geht’s denn dem Bertl?“, fragte er.
„Gut geht’s ihm. Eine Frau und drei Kinder hat er, ein Haus hat er auch und er ist Bezirkskaminkehrermeister. Dann engagiert er sich noch bei der Feuerwehr. Da ist er Kommandant, weil als Kaminkehrer kennt er sich natürlich aus mit dem Feuer.“
Reitinger wollte gerade die beiden leeren Kannen wieder zurücktragen, da deutete die Lauberin auf das nächste Grab.
„Da liegt meine Schwester.“
Schweigend goss er auch dieses Grab, während die Lauberin hier und da einen Grashalm auszupfte. Noch bevor die erste Kanne leer war, sah ihn die Lauberin auffordernd an.
„Liegt nicht da hinten ein Onkel von deinem Vater?“
Reitinger atmete tief durch. Waren nicht irgendwie alle, die hier lagen, mit ihm oder der Lauberin verwandt? War das sein Schicksal, dass er jetzt alle Gräber in Helmering goss?
Ein lautes Klingeln.
„Telefon am Friedhof“, keifte die Lauberin. Thomas griff schuldbewusst in seine Hosentasche und zog sein Handy heraus.
„Reitinger“, sagte er leiser als nötig, denn zuvor hatte er sich ja auch laut mit der Lauberin unterhalten. Die musterte ihn skeptisch.
„Aber ich bin doch nur der Sportreporter“, sagte Thomas. „Von Kultur habe ich keine Ahnung und von Mord und Totschlag eigentlich auch nicht.“ Resigniert lehnte sich Reitinger an einen Grabstein.
„Keine Achtung von nix“, keifte die Lauberin, nahm die leeren Gießkannen und trug sie zurück zum Wasserhahn.
Als sie wiederkam, war Thomas schon verschwunden.

Reitingers Chef konnte es einfach nicht glauben. „Was machen Sie hier in der Redaktion? Warum sind Sie nicht gleich zum Tatort gefahren?“
„Ich weiß doch gar nicht, wo die Leiche liegt!“, rechtfertigte sich Thomas.
„Im Hafen! Den werden Sie doch noch finden.“
Thomas nahm eine Tasse Kaffee und sah den Chef fragend an. „Warum soll eigentlich ich mich um den Mordfall kümmern?“
„Herr Aschenbrenner ist in Urlaub, und ohnehin ist die Lokalredaktion im Moment schwach besetzt. Da dachte ich: Das wäre doch ein Fall für unseren Reitinger! Nachdem Sie vor einem halben Jahr den Fall in Ihrem Heimatort so bravourös gelöst haben …“ Der Chef versuchte es mit Schmeicheleien.
„Ich habe nur darüber berichtet.“
„Mein lieber Reitinger, ich schätze Ihre Bescheidenheit.“ Der Chef stand auf, kam auf Thomas zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Aber Ihre journalistische Arbeit im Fall Helmering hat mich so sehr überzeugt, dass ich der Meinung bin, Sie sollten sich auch um die Leiche im Regensburger Hafen kümmern.“
Thomas unternahm noch einen letzten Versuch, diesen schwierigen Auftrag loszuwerden. „Beim Fußballtrainer von Helmering war ich als Sportjournalist nicht so ganz der Falsche. Aber ein Geiger gehört doch ins Feuilleton.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Reitinger. Es ist ein Mord – und wir steigen ganz groß ein.“
...

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Texte: ISBN: 978-3935263603
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011

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