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So soll es sein, so habe ich es gewollt: Hoch oben auf dem Berg an meinem kleinen Teich sitzen und ein zweites Leben lang über das erste nachdenken.
Ich: Karl Winter, seit frühester Jugend nur Karli genannt, Endfünfziger, Einzelkind, seit einem Vierteljahrhundert Vollwaise und schon ebenso lange geschieden, vor zwölf Jahren Haus-Erbe, seitdem Privatier; als Sohn, Zehnkämpfer, Journalist und Partner in jeder Beziehung gescheitert, erfolgreich nur mit einer und auch nur kurzfristig befriedigenden Tat, die mich, würde sie bekannt, für immer ins ... nein, nicht daran denken, noch nicht. Ganz von vorn beginnen: Das kostbar unerträgliche Gefühl in den Fingerspitzen, das ich seitdem nie mehr spüre, das Rauschen der Blätter, der reglose Mann am Fenster ...
Ein Sirren und Surren steigert sich zu einem Heulen und Krachen, dröhnt schmerzend in meinem Kopf.
Ich sollte nicht schon gleich zu Beginn zu heftig nachdenken, rüge ich mich, sonst explodiert ... nicht mein Schädel, im Teich explodiert etwas, Wasser spritzt mir ins Gesicht, ich springe auf, raus aus meinem gemütlichen Liegestuhl, ein kleines, zweimotoriges Flugzeug trudelt fast in Griffweite über mir den Abhang hinunter, zieht eine schneidend- kreischende Krachwolke hinter sich her, ich sehe und höre das Unvermeidliche: Das Flugzeug bohrt sich ein paar hundert Meter weiter in die Böschung der Landstraße, die von Krofdorf ins Hinterland führt und mir die Aussicht vermiest. Dass ich in solch einem schrecklichen Moment noch egoistisch denken kann, missbillige ich schuldbewusst im selben Moment, in dem das Wrack in einem grellen Lichtblitz explodiert. Die Menschen in der brennenden Maschine haben keine Chance. Wahrscheinlich, hoffentlich bereits beim Aufprall tot.
Schon ertönt die Sirene der Freiwilligen Feuerwehr von Watzburg.
Fixe Jungs.
Im Oberdorf heult ein Motor auf, Reifen quietschen. Ein mit Deutschlandfahnen doppelt beflaggter Opel rast um die Kurve, schleudert beinahe gegen meinen Gartenzaun und brettert die Bergstraße hinunter Richtung Feuerwehrgerätehaus. Das muss Otto sein. Unten im Feld rumpelt der ebenfalls fahnengeschmückte Geländewagen des Jagdpächters quer über den Acker zur Unfallstelle und mäht dabei den Raps nieder.
Von Gießen her jaulen Sirenen näher. Es dauert keine Viertelstunde, und im Feld an der Landstraße sieht es fast aus wie beim Public Viewing in der Stadt: Viele Schwarzrotgoldbetupfte in der Menge, noch in Kriegsbemalung vom gestrigen EM-Triumph über Portugal. Sie drängen sich um den Schauplatz – allerdings bewegungslos und scheinbar stumm, als hätte Deutschland verloren.
Kein Laut dringt zu mir herauf, was ich ausnahmsweise bedauere. Es ist windstill. Bei Ostwind hört man hier oben jeden Ton. Wenn dann nachts dort unten wieder mal einer der Hinterland-Schumis aus der Kurve fliegt, scheint er direkt in meinem Schlafzimmer zu landen.
»Der hat mit dem Flügel den Turm der Burgruine gestreift.«
Ich zucke zusammen. Neben mir steht Pola, das »Nuttchen«, wie sie im Dorf genannt wird, mit dem kleinen Sammy an der Hand.
»Wie kommen Sie denn in meinen Garten?«
»Ich habe geklingelt und geklingelt, doch niemand hat aufgemacht. Aber Ihr Auto steht ja vor der Tür, da dachte ich mir, dass Sie hinten im Garten sind.«
Pola ist eine sehr schöne Frau. Blond, schlank, milchweiße Haut, sehr kurvig. Ich schätze sie auf Ende zwanzig. Dranziger hatte sie von einer seiner Dienstreisen in den Osten mit nach Watzburg gebracht.
Dranziger war Leiter der Montageabteilung einer Maschinenbaufirma, mehr auf Reisen als zu Hause, wo er mit seiner Mutter in einem alten Fachwerkhäuschen lebte. Als Pola den kleinen Sammy bekam, dunkelhäutig, kruselhaarig, hatte Watzburg seinen Skandal. Ich bekam nicht viel davon mit, kümmere mich generell kaum um das Dorfleben und bin froh, dass sich die Einheimischen auch nicht um mich kümmern.
Dranziger war einer der wenigen, die ich etwas näher kannte. Wir begegneten uns manchmal morgens im Krofdorfer Fitnesscenter, wo wir allein und schweigsam an den Geräten trainierten, während aus dem Nebensaal die Discomusik der Bauch-Beine-Po-Gruppe herüberschallte. Dranziger war ein netter, ruhiger junger Mann, etwas linkisch wirkend, mittelgroß, mit leichtem Hang zum Übergewicht.
Ich hatte ihn einige Wochen lang im Fitnesscenter vermisst, aber das war bei seinem Beruf normal. Ich dachte mir also nichts dabei, als ich damals Dranzigers Mutter ansprach, der ich morgens an meinem Briefkasten begegnete. Sie warf gerade, verspätet, die Zeitung ein, die ich bereits herausholen wollte. Um nicht allzu stoffelig zu wirken, fragte ich leutselig: »Guten Morgen, Frau Dranziger. Wie geht’s denn Ihrem Sohn? Habe ihn schon länger nicht mehr gesehen.«Böse blickte sie mich an.
»Sowas könne auch nur Sie fraache!«
»Wieso?«
»Ei der hat sich doch erschosse! Schon vor vier Woche, un Sie wisse von nix. Typisch.«
Vor vier Wochen? Na ja, traurig wirkte sie nicht gerade, nur sehr, sehr böse. Im Weggehen keifte sie: »Un alles nur wesche der Schlamp!«
»Theo hat Sie gemocht. Sie sind anders als die Männer im Dorf, sagte er immer.
«Theo? Ach so, Dranzigers Vorname.
»Theo war ein guter Mann. Ich habe ihn geliebt. Ich weiß, wie sie mich im Dorf nennen. Aber ich habe ihn nie betrogen.«
Ich blickte erst sie an, dann Sammy.»Das verstehen Sie nicht.«
Stimmt.«
...
»Pola, Sie sind zu mir gekommen, ich nehme an, weil Sie ein Anliegen haben. Wie kann ich Ihnen helfen? Ich habe allerdings wenig Zeit, muss noch arbeiten.«
Sie blickt auf den Liegestuhl wie ich zuvor auf Sammy.
Freches Ding, dorfnuttiges!
Sie lächelt. Wie hübsch sie aussieht.
Zum Glück ist das andere Geschlecht für mich nur Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Wie schon Marilyn sang: I’m through with love.
Außerdem ist Pola geschätzte 30 Jahre jünger, es wäre ja ekelhaft, wenn ich auch nur in Gedanken ...
Sie lächelt nicht mehr. Kann sie Gedanken lesen?
Wie gebannt schaut sie hinüber zum Liegestuhl.
Was ist mit ihm?
Aber dann merke ich, dass nicht mein Denk-Arbeitsplatz ihre Aufmerksamkeit fesselt, sondern der Teich.
Auch Sammy guckt jetzt hin, mit staunendem Blick, streckt die Hand aus, deutet auf das Ufer: »Im Teich ist ein Loch.«
Ein Loch? Und wirklich: Der Wasserspiegel sinkt zusehends. Der Aufschlag vorhin, bevor das Flugzeug dort unten zerschellte – irgendein Teil muss sich, als die Maschine den Watzburg-Turm streifte, gelöst haben, in meinen Teich gestürzt sein und die Folie beschädigt haben. Ein Metallstück? Oder gar ein Mensch? Der Pilot, der in Panik runtersprang?
»Sammy, das ist nichts für dich. Geh mit deiner Mutter nach Hause. Ich muss der Sache hier auf den Grund gehen. Ich komme in einer Stunde nach.«
...
Etwas taucht langsam auf. Kein Metallteil also, aber auch kein Leichenteil. Gottseidank. Es ist ein Koffer. Hartschale, anscheinend unbeschädigt. Sofort schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Geldkoffer. Drogen-Geld für ein schmutziges Geschäft, Streit im kleinen Privatflugzeug des Dealers, Handgemenge im Cockpit, es geht um die Millionen im Koffer, der Pilot lässt den Steuerknüppel los, die Maschine taumelt, streift den Turm ... und den Rest habe ich miterlebt.
Ich blicke mich um. Niemand zu sehen. Nur von der Plattform der Burgruine aus könnte man in den Garten schauen, doch die ist für Besucher gesperrt, schon seit Jahren verschlossen. Der Hopfen hat den Gartenzaun überwuchert, mein Haus steht allein an der Nordseite des Berges, niemand kann bemerkt haben, dass da etwas in meinen Teich gestürzt ist.
Mittlerweile ragt der Koffer vollständig aus dem nun nicht mehr weiter absinkenden Wasser. Zum Glück für die Molche, die nach der anstrengenden Paarungs- und Laichzeit tagelang dösend im warmen Wasser hingen, das von einem Frühsommerhoch aufgeheizt ist wie auch die Stimmung in Deutschland, das zwei Jahre nach der Weltmeisterschaft ein neues Fußball-Sommermärchen erleben möchte.
Die Molche haben sich geschockt auf den Teichgrund zurückgezogen, ich gleite ins Wasser, rutsche auf der schmierigen Folie fast aus, packe den Koffer und hieve ihn heraus. Ein Zahlenschloss.
Das wird nur mit Gewalt gehen.
Später.
Ich schwitze. Schleppe den Koffer – so schwer! so viele Millionen! – in den Schuppen.
Niemand kann ahnen, dass mir ein Millionengeschenk in den Teich geflogen ist.
Außer Pola? ...
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3935263627
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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