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Prolog
Die alte Amadio-Meier saß stillvergnügt an ihrem filigranen Salontisch aus Kirschbaumholz. Sie schmunzelte. Vor ihr lag das korrekt ausgefüllte Sudoku Rätsel der Gratiszeitung Baslerstab. Das hatte sie soeben gelöst.
»Bravo, Helen«, lobte sich die 85-Jährige selbst. »Hast du es wieder einmal geschafft!«
Eine innere Stimme antwortete: »Du, das war dann gar nicht so einfach heute.«
Prompt lächelte die vitale Rentnerin noch erfreuter und lobte sich gleich noch mehr. »Merci«, bedankte sie sich höflich bei sich selbst und strampelte mit den Füßchen.
Helen Amadio-Meier war kleingewachsen und ihre Zehen berührten nicht einmal den Boden, wie sie so dasaß auf einem gutbürgerlichen Stuhl am gutbürgerlichen Tisch in ihrer gutbürgerlichen Wohnung, dort an der Rotbergerstraße, im ruhigen und wohligen Bachlettenquartier in Basel. Um ihre steifen Gelenke weiter zu lockern, schlenkerte sie mit den Beinen. Sie hatte beinahe eine Stunde lang ohne Unterbrechung am Tischchen gesessen, nachdem
sie den Baslerstab wie jeden Dienstag am Einkaufsladen ein paar Straßen weiter aus der Verteilbox gefischt und nach Hause getragen hatte. Unterwegs hatte sie Frau Bitterlin getroffen und sich ein wenig mit ihr unterhalten. Man kannte sich und redete über dies und das und jenes und noch vieles mehr.
Zurück daheim hatte sie sich rasch einen Salbeitee gebrüht.
Salbei lindert Zahnschmerzen. Auch für Schürfungen im Zahnfleisch, wie sie bei künstlichen Gebissen gerne vorkommen, tut diese Medizin gut. Den Tee hatte die alte Frau in exquisitem Teegeschirr von Rosenthal zusammen mit ein paar Süßigkeiten an den Tisch getragen. Eigentlich waren ihr solche Leckereien verboten.
Aber auf diesen Genuss hätte sie niemals verzichtet. Auch heute hatte sie sich zur Sicherheit bereits einen kleinen Nachschlag an Teegebäck dazugelegt, noch bevor sie mit dem Sudoku begonnen hatte.
Jetzt war sie mit dem Rätsel fertig und wollte – ja musste – hin zum Telefontischchen, um dort ein Telefongespräch zu führen.
Vor einer Stunde hatte sie bei der Kantonspolizei Basel angerufen.
Sie hatte Kriminalkommissar Baumer verlangt – dringend! Mehrmals hatte sie ihn schon zu erreichen versucht an diesem Tag.
Doch immer hatte es geheißen, der Kommissar sei noch nicht zurück in seinem Büro. Weil sie die Nummer seines Mobiltelefons nicht bekam, hatte die Rentnerin warten müssen. Nun würde sie erneut anrufen. Es musste sein. Kommissar Baumer musste unbedingt informiert werden, denn schließlich hatte sie einen schrecklichen Verdacht. Den wollte sie Herrn Baumer – und nur ihm – anvertrauen. Er würde wissen, was zu tun wäre. Bevor sie sich aber auf ihre Füße stellen und sicheren Schrittes gehen konnte, musste sie ihre Muskeln aufwärmen. Das linke Bein machte Mühe, immer beim Anlaufen. Wenn es aber einmal in Bewegung war, dann ging es ordentlich.
Helen Amadio-Meier störte sich nur wenig an den kleinen und manchmal größeren Gebrechen, die treue Begleiter ihres Daseins geworden waren. Sie lebte noch, und sie lebte gut. Ihre Tage waren denn auch ausgefüllt mit hundert Sachen, die es zu erledigen gab.
Einkäufe etwa, die in ihrem Alter gut geplant und mit Umsicht durchgeführt werden mussten. Oder Besuche bei Freundinnen, die meist im Spital oder im Altersheim auf die liebe Helen warteten.
Die alte Dame war selbstständig und wollte das so lange als möglich bleiben.
»Wer rastet, der rostet«, sagte sie jedem, der es hören mochte und ließ dabei ihre Arme um den Kopf tanzen, um zu beweisen, wie rüstig sie noch immer war.
Als die Beine bereit waren, machte sie sich umständlich ans Aufstehen. Im selben Moment kratzte es am Türschloss. Die alte Dame erschrak, und ihr Oberkörper fuhr kerzengerade im Stuhl auf. Sie hatte niemanden die Treppe im Hausflur hochkommen hören.
Jetzt knackte es.
Helen Amadio spitzte die Ohren, riss die Augen auf.
An der Wohnungstür splitterte Holz.
Rasch stemmte sie sich auf und bewegte sich mit vor Angst geweiteten Augen vorwärts in Richtung der Tür. Ihre ersten Schritte waren stakelig und unsicher wie die eines neugeborenen Fohlens. Mit wilden Ruderbewegungen musste sie das Gleichgewicht halten.
Noch bevor sie an der Wohnungstür war, drückte sich eine dunkle Gestalt in ihre Wohnung, sprang unvermittelt auf sie zu.
Helen wollte schreien, aber der irre Blick des Einbrechers erschreckte sie zu Tode, ließ nur noch einen einzigen Gedanken zu.
Flüchten!
Helen Amadio-Meier fuhr herum, wurde durch den Schwung beinahe umgeworfen, wollte fliehen, nur weg. Endlich konnte sie die Starre ablegen, wollte schreien. Schreien!
Doch da packte sie die dunkle Gestalt bereits von hinten und drückte ihr den Mund zu.
Dann.
1
Baumer erwachte.
Zuerst spürte er in seinen Fingerspitzen ein sanftes Prickeln. Dann wurde er sich seiner Handgelenke bewusst. Es waren faustgroße Kanonen- kugeln, die schwer in tiefen Morast drückten. Zugleich nahm er seine pelzige Zunge wahr, die an die Mundhöhle stieß und Halt suchte. Baumer hörte ein starkes Motorrad, wie es mit bestialischem Lärm näher ratterte und mit schrillem Heulen vorbeijagte.
Baumers Gefühle wurden nach und nach eingeschaltet wie Lichter in einem erwachenden Wohnhaus. Die trockene kretische Luft klopfte in seiner Nase an, im Gepäck einen Hauch von Meer und stechende Gerüche von krummgewachsenen, aber umso zäheren Kräutern.
Dann kam der Schmerz in seinem rechten Oberschenkel, dort wo ihn eine Revolverkugel vor drei Monaten getroffen hatte.
Baumer tastete sich mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger der einen Hand sofort hin zur rosettenförmigen Fleischblüte, die an der Eintrittsstelle der Kugel gewachsen war. Da, wo das zerfetzte Fleisch wieder zusammengefügt worden war und vernarbte.
Diese Blüte würde nie verwelken.
Wie eine gute Mutter dem Kind sanft über den Kopf streicht, fuhr Baumer tastend über die Narbe. Fast schien es, als wolle er ihr mitteilen, er verstehe, dass sie ihn schmerzen müsse. Vorsichtig versuchten seine Finger, die Pein aufzusaugen und so im ganzen Körper zu verteilen. So floss sie aus dem Bein von Andreas Baumer, Kommissar der Kantonspolizei Basel-Stadt, grad so wie der Rhein aus Basel strömt und sich nach langer Reise im dunklen Meer verliert.
Auf einmal erinnerte sich Baumer wieder daran, wo er war.
Er lag in einem Zweierbett im Hotel Delphina in Kreta. Gestern war er angekommen. Ein Extremely-Last-Minute-Flug hatte ihn hergebracht. Es war eine beschwerliche Reise gewesen. Seine Beinverletzung hatte ihn in der engen Kabine, im sperrigen Sitz, behindert. Die Busfahrt zum Hotel? Eine einzige Tortur. Todmüde war er ins Bett gefallen.
Dann erinnerte er sich an seine Begleitung. Sie waren gemeinsam auf die Insel geflogen. Wie hieß sie schon wieder?
Immer noch hatte Kommissar Baumer die Augen geschlossen, doch spürte er in allen Fasern seines Körpers, dass diese bestimmte Frau neben ihm im Bett lag. Gerade eben hatte sie sich leicht bewegt. Sein Bein hatte eine leise Erschütterung des Bettgestells gespürt wie ein Seismograph die geringsten Erdstöße wahrnehmen kann.
»Aua«, dachte er, mehr aus Angst vor einem
kommenden Schmerz denn vor tatsächlicher Pein. Die starken Medikamente ließen ihn nicht zu. Und er war ja auch nur ganz leicht bewegt worden. Zugleich war er einiges schwerer als seine weibliche Begleitung. Sein träger Körper würde jede Bewegung nur zur Hälfte mitmachen.
Der Basler Kommissar mit den kurzgeschorenen mahagonifarbenen Haaren ließ vorsichtig ein wenig gleißendes kretisches Sonnenlicht in seine Augen, das am zu knapp bemessenen Blendschutz vorbei ins Zimmer eindrang. Zögerlich schlug er seine Lider auf, bis er ihn endlich sah, diesen Frauenkörper, der neben ihm ruhte.
Anna.
Seine Krankenschwester. Sie hatte ihn im Kantonsspital Basel gepflegt.
Man mochte sich sogleich, hatte sich angefreundet, war sich immer näher gekommen. Nun waren sie zusammen – irgendwie – und lagen beieinander in einem harten Hotelbett auf der großen Insel im Mittelmeer.
Baumer blickte auf diese nackte, blonde Frau, die ihm ihren Rücken zugewandt hatte und deren Körper eine Kontur bildete wie die eines Schweizer Jurahöhenzuges. Weich. Sanft abgerundet.
Ihre Schultern, die entblößte Hüfte sowie die Wölbungen des Oberschenkels lagen im Licht. In den Tälern ihres Körpers lagen Schatten, die umso dunkler wurden, je tiefer das Tal reichte. Zwischen
den Beinen, unterhalb des Bauches, vermutete er, lag ein enges Tal ganz in Schwarz.
Jetzt atmete Anna ein, musste einatmen, und Baumer sah, dass der Oberkörper seiner neuen Freundin sich in seinem Bett wie in Zeitlupe in alle Richtungen vergrößerte. Dann fiel der Rücken wieder in sich ein. Anna atmete aus. Völlig geräuschlos.
Unvermutet begann Baumers rechtes Bein, stärker zu schmerzen.
Vielleicht lag es daran, dass das Medikament, das er spät in der Nacht noch eingenommen hatte, in der Wirkung allmählich nachließ.
Baumer lag verkrümmt im Bett, weil sich sein Oberkörper im Schlaf gedreht hatte, aber das geflickte Bein diese Bewegung nicht hatte mitmachen wollen. Auch getraute er sich noch nicht in größere Nähe zur Schlafenden neben ihm. Ihre Liebesbeziehung – war es eine? – war neu und vieles noch nicht selbstverständlich.
Unbewusst hielt er selbst im tiefsten Schlummer einen Sicherheitsabstand ein. Auch daher hatte er in der Nacht keine erholsame Ruhe gefunden. Doch noch mehr hemmte ihn, dass er nicht von der Frau an seiner Seite geträumt hatte, sondern von Maja, seiner ewigen Liebe. Seiner verflossenen ewigen Liebe. Seiner verflossenen, ihn ewig quälenden Liebe.
Maja.
Maja. Warum mischte sich die zierliche Französin, mit der er nur wenige Jahre zusammen gewesen war, immer wieder in seine Träume? Sie hatte ihn vor Jahren verlassen und war doch unaufhörlich in seinem Körper, in seinem Wesen präsent – eine offene Wunde.
Baumer lag in diesem viel zu harten, viel zu kleinen und viel zu engen Hotelbett in Kreta und konnte sich keinen Reim auf seine Gefühle machen.
Er machte die Augen zu, wurde sogleich dösig und schlief doch nicht wieder ein. Er blieb gefangen zwischen Nacht und Tag.
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3935263825
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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