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... In diesem Moment zweifelte niemand im Saal daran, dass der Litauer all diese Straftaten begangen hatte, dass er schuldig war und viele Jahre in einem Gefängnis verbringen würde.
Der Vorsitzende belehrte Valkunas über sein Schweigerecht. Dann wandte er sich an Winter. »Will Ihr Mandant Angaben machen, Herr Verteidiger?«
Winter saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und spielte mit seinem Füllhalter. Er bedachte Manja mit einem kurzen, rätselhaften Blick, dann lächelte er geschäftsmäßig und sagte: »Herr Vorsitzender, mein Mandant wird eine Erklärung abgeben.«
Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen.
Wollte der Litauer tatsächlich ein Geständnis ablegen? Die meisten Zeitungen hatten spekuliert, dass er die Aussage verweigern würde. Litauer redeten nie vor Gericht. Jedenfalls gestanden sie ihre Taten nicht. Niemals. Andererseits – was gab es hier groß zu bestreiten? Schließlich war er auf frischer Tat ertappt worden. Hatte Valkunas beschlossen, die Flinte ins Korn zu werfen? Die vier Anzugträger von der Regierung schlugen gespannt ihre grünen Mappen auf. Auch die Journalisten setzten sich in Positur.
Petras Valkunas sah zum Richtertisch: »Ich möchte gern aufstehen, Herr Vorsitzender!«
»Das ist nicht erforderlich, Herr Valkunas.«
»Ich weiß, aber ich bin sechsundsiebzig und stehe erstmals vor einem Gericht. Ich möchte meine Erklärung im Stehen abgeben.«
»Bitte sehr!« Der Vorsitzende machte eine einladende Handbewegung. Er war schon mit ungewöhnlicheren Wünschen konfrontiert worden. Insgeheim dachte er, dass Valkunas seine Sache gar nicht schlecht machte. Wie er da kerzengerade stand, in seinem maßgeschneiderten dunklen Anzug und mit dem schönen silbergrauen Haar, wirkte er seriös und Vertrauen erweckend, auf sympathische Weise formell.
Wie ein König der alten Zeit.
Doch dieser Eindruck sollte schnell verschwinden.
»Hohes Gericht, Frau Staatsanwältin, ich beabsichtige, mich kurz zu fassen«, sagte Valkunas mit präziser, aber harter Stimme. »Bitte hören Sie mir sehr genau zu, denn ich bin kein Mann, der seine Worte wiederholt.« Er sah Manja an. »Ich sitze jetzt seit mehr als fünf Monaten in Haft. Das ist grausam für einen alten Mann, der jeden Morgen aufwacht und nicht weiß, ob er die nächsten vierundzwanzig Stunden noch erlebt. Ich habe das Gefühl, bestohlen worden zu sein.« Seine Augen wurden kalt, kleine Stücke gefrorenen Himmels. »Mir wurden fünf Monate kostbarer Lebenszeit gestohlen.« Er zeigte mit dem Finger auf Manja. »Von Ihnen, Frau Staatsanwältin.«
Im Saal war es mucksmäuschenstill.
»Ein Verrat«, fuhr Valkunas mit empört erhobener Stimme fort, »ist ebenfalls etwas Schlimmes, etwas besonders Grausames. Sehen Sie, von den Menschen in meiner Nähe erwarte ich unbedingte Aufrichtigkeit. Respekt. Wenn jemand mein Vertrauen verrät, dann ist das für mich wie das Ende einer Welt.« Er schüttelte traurig den Kopf und wirkte zutiefst enttäuscht. »Ich stehe heute hier, weil ein Mann, den ich wie einen Sohn geliebt habe, mein Vertrauen auf die schändlichste Weise missbraucht hat.«
Nachdem du drei Killer auf ihn angesetzt hattest, schoss es Manja durch den Kopf, aber es war nicht der richtige Moment, das anzubringen.
»Sie sollen wissen, dass ich von Natur aus kein gewalttätiger Mensch bin. Aber wenn man mich bestiehlt oder mich verrät, dann muss ich mich rächen. Ich tue es nicht gern, gewiss nicht. Aber wenn ich darauf verzichten würde, würde man mich in dieser Welt leider nicht respektieren.«
»Herr Valkunas, mir scheint ...«, begann der Vorsitzende irritiert, aber Petras Valkunas hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Bitte lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen. Ich habe das Recht, hier zu sprechen.« Er blickte ernst in den Saal. »Rache. Keine unüberlegte, blindwütige Reaktion. Sondern präzise geplant. Eine Botschaft, die jeder versteht. Was auch geschieht, Rache muss zehnfach schlimmer sein, hundertfach, wenn es geht! Nur dann wird man respektiert.«
Die Worte des Litauers wehten wie ein eisiger Windhauch durch den Saal.
»Ich werde mich rächen. Zuerst natürlich an Michail Lukin, dem Verräter.« Er zeigte mit dem Finger auf Manja. »Und dann an Ihnen, Frau Staatsanwältin! Sie können sich im letzten Winkel der Erde verstecken, ich finde Sie.« Er hielt einen Moment inne. »Und ich werde Sie töten.«
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Texte: ISBN: 978-3935263597
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
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