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Steinfels betätigte den Hauptschalter und schaltete das Funkgerät ein.
»Kassel Tower, Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Cessna eins-sieben-zwo, Position Hangar eins. Erbitte Anlassfreigabe für VFR-Flug nach Westerland.«
»Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Frei zum Rollen über Charly zur Null-Vier. Melden Sie Rollhalt.«
Der Pilot bestätigte die Freigabe und schaltete das Funkgerät wieder aus. Dann zog er die Vergaservorwärmung, schob den Gashebel in die Startstellung, schaltete die Benzinpumpe ein und ließ den Motor an. Nach einigen schwerfälligen Umdrehungen zündete das Triebwerk, der Propeller verschwamm zu einem Kreis und die Maschine richtete sich auf. Steinfels schaltete Funk- und Navigationsgeräte ein und löste die Handbremse. Langsam ließ er die Maschine rollen.
»Kassel Tower. Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Position Rollhalt Null-Vier.«
»Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Start frei. Wind aus Null-Neun mit acht Knoten. Frei zum Ausflug über November. Melden Sie November. Bitte achten Sie auf bewohntes Gebiet.«
»Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Start frei auf Null-Vier. Wird ausgeführt. Danke, Jungs. Und schönes Wochenende.«
Georg Steinfels setzte die Klappen auf Startposition, schob den Gashebel bis zum Anschlag, gab die Bremsen frei und hielt Seiten- und Querruder leicht gegen den Wind. Zügig nahm die Cessna Fahrt auf und hob weit vor dem Ende der Bahn ab. Der Pilot fuhr die Klappen ein und passte die Trimmung an. Entspannt lehnte er sich zurück, leitete die Linkskurve ein und hielt auf den Rosen-Berg zu. Hofgeismar kam bereits in Sicht. Bei Ostheim, wo die Eisenbahnlinie parallel zur Diemel verlief, lag November. Dort würde er auf Kurs gehen.
Steinfels kontrollierte die Instrumente. Die Anzeige des Höhenmessers kletterte gleichmäßig: vierhundert, sechshundert, achthundert Fuß. Er regulierte das Gas. Fahrtmesser und Tankanzeigen waren im grünen Bereich. Die Triebwerksüberwachungsinstrumente sowieso.
Nur die Öltemperaturanzeige spielte verrückt. Mit dem Mittelfingerknöchel klopfte er auf das Glas. Die Nadel hing am Anschlag und bewegte sich nicht. Hatte der arme Wieland doch geschlampt? Eigentlich unvorstellbar. Klang der Motor normal? Ja – oder? Nein, da stimmte etwas nicht. Irgendwie schrill. Also Gas raus, Drehzahl reduzieren. Was machte der Öldruck? Normal. Nein, die Nadel zitterte, fiel zurück.
Steinfels zuckte zusammen. Über das Blech der Triebwerksverkleidung krochen schwarze Streifen auf ihn zu. Stotterte der Motor? Gas rein. Keine Wirkung. Schweiß lief dem Piloten in die Augen, eine Faust packte seine Eingeweide. Er griff zum Mikrofon. Die Tower-Frequenz war noch drin. »Kassel-Tower, Delta-Echo-India-Lima-Zulu. Habe Probleme mit dem Triebwerk. Muss wohl runter. Scheiße, hier ist nur Wald. Wo soll ich hin? Es qualmt und stinkt jetzt.«
»Lima-Zulu«, antwortete die Stimme, »zur Not schulmäßig auf die Baumwipfel. Achten Sie auf Höhe und Fahrt. Langsam reduzieren und volle Klappen setzen. Bis zum letzten Meter Fahrt abbauen. «
»Danke, verstanden, ich verstehe bloß nicht ... jetzt ist ... jetzt steht die Maschine still.«
»Lima-Zulu, wir haben Sie in Sicht und auf dem Radar. Halten Sie den Kurs. Versuchen Sie nicht, das Triebwerk anzulassen. Achten Sie nur noch auf die Fahrt. Benutzen Sie kein Quer- und kein Seitenruder. Halten Sie die Maschine so lange wie möglich in der Luft. Keine Kurven fliegen. Schalten Sie die Zündung aus. Kurz vor dem Aufsetzen auch den Hauptschalter. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, verstanden. Zündung und Hauptschalter aus.«
»Lima-Zulu, haben Sie die Klappen gesetzt?«
»Ja, ich ... Scheiße, das Höhenruder ... Moment, das Mikro ... die Kiste schmiert ab! Hilfe, ich habe keinen Ruder ...«
Blitzartig wirbelte der Horizont nach oben, der Schädel des Piloten schlug gegen das Lüftungsrohr, Steinfels schrie auf, riss am Höhenruder, die Maschine überschlug sich, kippte seitwärts, fiel, trudelte, stürzte. Krachte schließlich in die Bäume.
Der Aufprall brach dem Piloten das Genick. Als die Tanks explodierten und Flammen in die Kabine schossen, war Georg Steinfels bereits tot.
Am Stadtrand von Hofgeismar nahm ein Mann das Fernglas von den Augen. »Herrn Doktors letzter Abflug«, sagte er. Laut. Obwohl kein Mensch in der Nähe war.
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3935263092
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
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