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Manchmal hätte er sie am liebsten erwürgt.
Stumm starrte Anton Grobeck abwechselnd auf seine Hände und den Hals seiner Mutter. Er fühlte förmlich die faltige Haut unter seinen Fingern, ertastete die Luftröhre und drückte zu.
"Träum nicht", herrschte sie ihn an. "Bring die Kartons nach hinten. Wir öffnen in zehn Minuten. Und dann möchte ich hier nichts mehr herumliegen sehen."
Anton erhob sich und ließ die Fingerknöchel knacken. Wortlos sammelte er Schachteln und Pappkartons zusammen und begann, sie der Größe nach ineinander zu stapeln, während seine Mutter Knöpfe und Kragenstäbchen, Garnrollen und Gürtelschnallen in Schubläden unter dem Ladentisch einsortierte. Er würde die Kartons zu den hundert anderen stellen, mit denen das Lager verstopft war, weil nichts weggeworfen werden durfte, was vielleicht noch einmal gebraucht werden könnte. Anton konnte sich nicht erinnern, jemals einen Karton wieder hervorgeholt zu haben.
Dann würde er den Hinterhof fegen, den er jeden Tag - außer sonntags - fegte, auch wenn es nichts zu fegen gab, und anschließend im Postamt in der Friedrichstraße das Brieffach kontrollieren. Meistens war es leer, und der Postbote kam nur eine halbe Stunde später am Laden vorbei, aber seine Mutter bestand darauf, daß zu einem Geschäftshaushalt ein Postfach gehörte. "Das hatte dein Vater schon vor dem Krieg, und dabei bleibt es, basta."
Sein Vater? Anton hatte vage Erinnerungen an den Mann, dessen vergilbtes Foto in einem silbernen Rahmen den Mittelpunkt der Anrichte im Wohnzimmer bildete. Bei Kriegsende war Anton sechzehn Jahre alt. Der Vater hatte seinen kurzen Heimaturlaub hauptsächlich im Kontor, dem kleinen fensterlosen Raum neben dem Laden, in dem es immer etwas muffig roch, verbracht, tief über das große Buch gebeugt, in dem Einnahmen und Ausgaben verzeichnet wurden, und hatte gerechnet und geschrieben. Stören durfte ihn niemand, auch Anton nicht.
"Den haben die Russen auf dem Gewissen", hatte er oft genug gehört, wenn Kundinnen im Laden die Mutter bewunderten, weil sie - als Frau - ein Geschäft betrieb. Anton hatte nie erfahren, was das bedeutete, denn sein Vater war zu Hause gestorben und auf dem Göttinger Stadtfriedhof begraben.
"H. Grobeck - Kurzwaren am Kornmarkt" prangte noch immer in altdeutschen Lettern über der Ladentür. H stand für Herbert, seinen verstorbenen Vater. Das H, wußte er, würde bleiben und nicht etwa durch ein M - für Martha - ersetzt. Seinem Bruder Hinrich war das H für den Tag zugedacht, an dem er die Nachfolge des Vaters antreten würde. Wahrscheinlich hatten seine Eltern schon bei der Namensgebung darauf geachtet, daß Geschäftspapiere, Schilder und die regelmäßigen Inserate in Göttinger Tageblatt und Göttinger Presse nicht geändert werden mußten. "Das Geschäft hat mein Mann aufgebaut", erklärte seine Mutter den mehr oder weniger interessierten Kundinnen und hängte den Satz von den Russen an.
"Wenn mein Ältester zurückkommt", war stets die Schlußformel, "übernimmt er den Laden."
Anton erwähnte sie nicht.
Früher hatte er es als selbstverständlich angesehen. Wenn Hinrich aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, würde er natürlich den Laden führen. Er war der Ältere. Später - lange nachdem Bundeskanzler Adenauer die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion heimgeholt hatte - waren Anton Zweifel gekommen. Woher sollte sein Bruder nach so vielen Jahren noch auftauchen? Bestimmt war er gefallen. Oder verschollen. Was ja auch nichts anderes hieß als tot - nur ohne offizielle Mitteilung. Seiner Mutter durfte er damit nicht kommen. Sie beharrte darauf, daß Hinrich wiederkehren würde. Jeden Samstag polierte sie die silbernen Rahmen auf der Anrichte. Zuerst den mit ihrem Mann, dann die der Söhne rechts und links vom Vater. Mit besonderer Sorgfalt behandelte sie Hinrichs Foto. Auf den Bildern waren die Brüder kaum zu unterscheiden. Obwohl sie ein Jahr auseinander waren, glichen sie sich wie Zwillinge. Jedenfalls, solange sie sich nicht bewegten.

Für Anton begann der verschollene Bruder zum Alptraum zu werden. Je unwahrscheinlicher seine Heimkehr wurde, desto starrsinniger beharrte seine Mutter darauf, alles für den großen Tag bereitzuhalten. Seit sie die steile Stiege nicht mehr schaffte und das Haus kaum noch verlassen konnte, weil die gichtsteifen Beine sie nicht mehr trugen, mußte Anton Hinrichs Zimmer sauberhalten, wöchentlich frische Handtücher und ein sauberes Hemd bereitlegen und einmal jährlich - zu Weihnachten - einen Schlafanzug kaufen. Dafür durfte er den alten, der ein Jahr lang unbenutzt auf dem Bett gelegen hatte, auftragen. Schon früher hatte er Hemden, Hosen und Pullover seines Bruders tragen müssen. Dabei besaßen seine Eltern ein Geschäft im eigenen Haus. Ein kleines Geschäft in einem uralten Haus zwar, aber immerhin.
Nur wenige Schritte entfernt, am Kaufhaus Karstadt an der Groner Straße, zeigten die Schaufenster Hemden mit gewagten Mustern, eng anliegende Hosen und Bluejeans aus Amerika. Geld wäre genug dagewesen, aber die Mutter trug alles zur Sparkasse. "Wenn Hinrich kommt", sagte sie, "braucht er ein Startkapital. Und dich wird er auszahlen. Dann kannst du bei Karstadt anfangen. Die suchen immer Leute."
Ob sie wirklich glaubte, ihr Sohn suche sein Glück hinter einem Verkaufstresen? Nein, Anton Grobeck hatte andere Träume. Um ihn herum begann das Wirtschaftswunder zu sprießen. Täglich wälzten sich mehr Autos durch Weender und Groner Straße, parkten neue Karossen von Borgward, Mercedes oder Ford vor der Ladentür. In den Zeitungen war von Lenkung des Kraftverkehrs und Beseitigung mittelalterlicher Hindernisse für eine zukunftsweisende Stadtplanung die Rede. Fast bedauernd klang der Hinweis, daß die Göttinger Innenstadt von Bomben verschont geblieben war.
Überall standen die Zeichen auf Fortschritt. Am Weender Tor war in diesem Jahr die Coca-Cola-Abfüllstation der Gebrüder Grotefend entstanden, die Kreuzung wurde großzügig ausgebaut. Zur Eröffnung des Cola-Werkes war Max Schmeling nach Göttingen gekommen, und Anton hatte sich die Nase an den großen Scheiben plattgedrückt, um einen Blick auf den Boxweltmeister zu erhaschen.
In der Hospitalstraße hatte gerade das "Göttinger Kaufhaus" eröffnet. Leuchtende Buchstaben über der Fensterfront und vorweihnachtlich geschmückte Auslagen zogen zahlreiche Käufer an.
Schon hatten, hieß es, einzelne Hausbesitzer ihre alten Fachwerkbauten verkauft. Gerüchte über unvorstellbare Summen machten die Runde. Banken und Kaufhäuser seien auf der Suche nach geeigneten Grundstücken und würden fast jeden Preis bezahlen. Wenn er das alte Haus zu einer der gerüchteweise kursierenden Summen verkaufen konnte, wäre Anton ein gemachter Mann. Er würde ein Textilkaufhaus besitzen und zu den ersten Männern der Stadt gehören.
Statt im abgetragenen Knickerbocker-Anzug Nähnadeln und Fingerhüte über den Ladentisch zu reichen, würde er ein weißes Isabella-Coupé durch die Weender Straße lenken, jungen Frauen in Petticoats zuwinken und die eine oder andere von ihnen später in die Milchbar Caprisonne einladen, um ihr einen Bananenshake zu spendieren. Leider gehörte ihm das Haus nicht, würde ihm auch nie gehören.

Immer hatte er nur auf den Bruder gewartet, und seine eigenen Pläne auf den Tag verschoben, an dem Hinrich ihm den Laden - und die Mutter - abnehmen würde. Bis zum Schulabschluß, den er wegen der Kriegswirren erst mit 18 Jahren nachholen konnte, war das kein Problem gewesen. Auch die Kaufmannslehre war ein überschaubarer Zeitraum, den abzuwarten ihm nichts ausgemacht hatte. Inzwischen aber waren weitere Jahre vergangen. Mit 29 war er noch immer Kaufmannsgehilfe in einem Kurzwarenladen, der nicht ihm gehörte, war Putzlappen und Abtreter für eine launische nörgelnde Alte, die er nicht loswerden konnte, weil sie einmal seine Mutter gewesen war. Und weil Haus und Laden ihr gehörten und ein gewinnbringender Verkauf nicht in Frage kam.
Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, weil wütendes Klopfen ihn zur Mutter gerufen hatte, die ein anderes Kissen oder eine zusätzliche Decke verlangte, beging er Morde in zahlreichen Variationen. Einmal erstickte er sie mit dem Kissen, ein anderes Mal brachte er sie am Treppenabsatz zu Fall oder mischte ihr Gift ins Essen. Aber meistens erwürgte er sie.
Wenn er ins Bett zurückkehrte und der Schlaf nicht wiederkommen wollte, träumte er sich in die Caprisonne und ließ der Einladung an eine der hübschen jungen Frauen eine Fortsetzung folgen. Zuerst gewährte sie ihm tiefe Einblicke, später trafen sie sich im Kaiser-Wilhelm-Park, wo sie hinter dichtem Buschwerk ihre Kleider ablegte. Und dann bot sie sich ihm dar wie eines der Mädchen aus dem Fotomagazin, das ihm ein Vertreter für Stopf- und Nähgarne zum Preis eines Oberhemdes überlassen hatte. Vierundzwanzig Frauen in atemberaubenden Posen standen ihm zur Verfügung. Aber meistens wählte er die Dunkelblonde auf Seite drei. Sie hielt ihre Brüste mit den Händen umfaßt und sah ihm aufmunternd zu, wenn er sein Opfer brachte.
Außerdem hatte sie ein wenig Ähnlichkeit mit Gerda Neumann. Gerda trug ihr dunkelblondes Haar ebenso zum Pferdeschwanz gebunden, bevorzugte bunte, schwingende Kleider und Röcke und lachte gern und viel, wobei ihre Wangen zwei Grübchen zeigten und ihre braunen Augen übermütig blitzten.
Neumanns besaßen ein Elektrogeschäft in der Groner Straße. Anton nutzte jede Gelegenheit, die dort ausgestellten elektrischen Bügeleisen, Staubsauger und UKW-Radios zu bewundern und die Bilder der Sängerinnen und Sänger zu betrachten, deren Schallplatten angeboten wurden. Neuerdings konnte man an einer kleinen Bar im hinteren Teil des Ladens die Platten vor dem Kauf anhören. Man zog eine Art Telefonhörer aus der Halterung, dessen Hörmuschel mit rosafarbenem Schaumgummi überzogen war, während Herr Neumann - wenn man Glück hatte, auch Gerda - unter der Theke die Nadel aufsetzte. Gerda mußte sich dabei vornüber beugen, und Anton konnte einen Blick auf die Ansätze ihrer Brüste erhaschen. Dazu erklang die Musik direkt im Ohr, ohne daß andere Kunden gestört wurden. Mehrmals hatte er sich von Gerda die neuesten Platten vorspielen lassen: Elvis Presley, Peter Kraus und Conny Froboess. Fred Bertelmanns "Der lachende Vagabund" gefiel ihm besonders. Durch die Welt reisen, ungebunden, von den Frauen verwöhnt, ohne nörgelnde Mutter. Was für ein Leben!
Nachdem Gerda allerdings mit unüberhörbarer Betonung angemerkt hatte, daß mit der Anlage dem Kunden die Auswahl erleichtert werden sollte, wagte er sich nur noch gelegentlich in Neumanns Laden. Dann leistete er sich eine Schallplatte und versteckte sie unter der Matratze neben dem Fotomagazin. Eines Tages würde er einen Plattenspieler besitzen, sagte er sich und wußte zugleich, daß seine Mutter, solange sie lebte, diese Ausgabe niemals erlauben würde.
Gerda war die Frau seines Lebens, doch das wußte niemand, auch Gerda nicht...

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Texte: Prolibris Verlag ISBN: 978-3935263054
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011

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