Leseprobe
Über den Kopf seiner Frau hinweg bemerkte Carl in weiter Ferne eine Schar Möwen, die offenbar an irgendetwas pickten und rissen. Hier ein Felsen, an dem sich Krebse sammelten, ein gefundenes Fressen für Möwen? Er konnte sich nicht erinnern, im letzten Jahr hier Felsen gesehen zu haben ...
Inzwischen waren sie den aufgeregten Möwen ein gutes Stück näher gekommen. Was hatten sie da nur, was das wohl war? Er machte Renata darauf aufmerksam. Sie schlossen zum Wattführer auf. Der erklärte gerade, dass sich auch hier die Seehunde gelegentlich sehen ließen, ja, und dass es auch mal vorkomme, dass einer tot auf dem Watt liegend gefunden würde. Und dann ... die Möwen seien ja nun keine Kostverächter ...
Hans-Jürgen Hansen beschleunigte seinen Schritt. Das war kein Seehund, das hatte er bald erkannt. Genauso hatte er damals den Urlauber gefunden, der wahrscheinlich in der Nacht allein hinausgegangen war, warum auch immer. Die Polizei hatte es nie herausgefunden. Genauso gierig waren die Möwen über den Ertrunkenen hergefallen, hackend, reißend, kreischend und zerrend – es war kein schönes Bild gewesen ...
Er drehte sich um, breitete beide Arme weit aus und rief: »Halt! Keinen Schritt weiter. Ist ein Arzt hier?«
Die Möwen flogen auf und kreisten über ihnen, kreischend, als wollten sie die Gruppe vertreiben. Endlich begriffen es die Menschen. Ein Toter, jetzt sah man es auch deutlich, da lag jemand. Sofort begann ein erregtes Gemurmel. Eine Frau schrie auf, eine zweite begann zu schluchzen. Weiber! ...
Trotz seiner Aufforderung setzte sich die Gruppe in Bewegung. Er hatte es geahnt. Er rief ihnen hinterher: »Nichts anfassen! Ist denn nun ein Arzt hier?« Die Wattwanderer waren bei dem ausgestreckt daliegenden Körper angelangt und scharten sich im Kreis darum. Offenbar ein Mann, in Badehose, auf dem Bauch liegend. Die Möwen hatten mit ihren scharfen Schnäbeln den Rücken und die Beine aufgerissen. Überall blutige Wunden. Weißes Haar. Einige der Frauen wandten sich ab und gingen zur Seite, auch einige Männer.
»Ein Arzt, verdammt noch mal! Oder ein Sanitäter!« Niemand regte sich. Natürlich. Brauchte man mal einen, war keiner da. Außer dem Fächeln des immer noch kühlen Morgenwindes und einem unterdrückten Schluchzen war nichts zu hören. In einiger Entfernung hatten sich die Möwen niedergelassen. Ab und zu hörte man ihr missmutiges Krächzen und Kreischen. Diese Beute war verloren.
Bleibt denn mal wieder alles an mir hängen, dachte Hansen. Gleichzeitig spürte er, wie ihn eine fiebrige Spannung erfasste. Jetzt, jetzt kam alles auf ihn allein an! Polizei und Rettung waren sofort zu verständigen, die Leiche musste schnell vom Watt. Der SAR-Hub- schrauber würde gerufen werden. Die Urlauber mussten alsbald nach Amrum, nein, besser zurück. Sie hatten zwar bezahlt ... aber Pech. Jetzt galten andere Prioritäten. Für stundenlanges Herumstehen war natürlich keine Zeit. Die Flut würde kommen, ob die Neugier nun gestillt war oder nicht!
Der Körper regte sich nicht. Wie denn auch. Hansen kniete sich neben den Mann, überwand sich und rollte ihn halb herum. Blaue Augen, offen, der leere Blick eines Toten. Zu oft hatte Hansen das gesehen, damals, während des Krieges. Dieser Tote hier war ein alter Mann, sicher über 80. Gutes Aussehen, selbst im Tod. Typ Grandseigneur, wohlhabend, edel, arrogant, Kälte und Angst um sich verbreitend. Selbst jetzt im Tod strahlte er eine gewisse Unantastbarkeit aus.
Tonlos sagte Hansen: »Ich kenne den Mann. Das ist Hermann Siewering, der Hamburger Reeder. Der hat hier ein Haus und ein Boot.«
Erneut schrie eine Frau auf. Auf der sandverkrusteten Brust des alten Mannes befanden sich, wenn auch nur ganz schwach erkennbar, Schnitte. Sie ergaben, ungelenk eingeritzt, aber noch lesbar das Wort MÖRDER ...
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3935263566
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe