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Irina Glück wäre nicht zur Arbeit gekommen, nicht heute, nicht, wenn sie geahnt hätte, was sie erwartete. Sie hielt sich am Türpfosten des Büros aufrecht und rang nach Luft, die Augen fest geschlossen, damit sie nicht sehen mussten. Am Abend zuvor war ihr nicht wohl gewesen, und nun kam die Übelkeit zurück. Sie hätte den Wecker ignorieren und der aufgehenden Sonne den Rücken zudrehen sollen. Aber so war sie nicht. Mit Bitterkeit stellte sie fest, dass sie die Flure des Seniorenheims genauso pflichttreu putzte, wie sie in ihrer ukrainischen Heimat die Kranken gepflegt hatte. Also hatte sie sich aus dem Bett gequält, war durch die Stadt geradelt und hatte im Putzraum des zweiten Stocks ihren Eimer mit Wasser gefüllt. Systematisch hatte sie sich bis ins Erdgeschoss vorgearbeitet und vorbeihuschenden Pflegerinnen ihr fröhliches „Hallo“ zugerufen. Fast fertig und in Gedanken schon mit den Kindern ihrer Cousine auf dem Spielplatz, hatte sie den Putzwagen abgestellt und die Bürotür des Geschäftsführers geöffnet. Dann war sie erstarrt.
Hinter geschlossenen Lidern suchte sie ein Bild, um Halt zu finden. Ein gutes, tröstliches Bild. Nur fand sie keines. Einige Minuten mussten vergangen sein, bis sie den Geruch wahrnahm, der von dem Leichnam neben dem Schreibtisch ausging. Schwindel erfasste sie. Rasch schlug sie die Augen auf. Das Würgen im Hals wurde stärker, aber sie konnte nicht fort, stierte auf das Ungeheuerliche. Die Beine des Toten steckten in Gottfried Freitags grauen Hosen. Auch trug er das Sakko des Chefs, das sie gestern aus der Reinigung geholt hatte. Das Gesicht konnte Irina aus ihrem Blickwinkel nicht erkennen. Das wollte sie auch nicht. Sie wollte nicht sehen, was damit geschehen war, wo sie doch schon zu viel gesehen hatte. Schwarzes Blut zu Streifen und Klumpen auf dem hellblauen Hemd über dem Brustkorb geronnen. So viel Blut.
Die Fenster müssten geputzt werden, dachte Irina sinnlos. Durch junge Buchenblätter und trübe Scheiben blinzelte die Sonne. Sie malte Lichtkringel auf den Schreibtisch, auf den Boden, auf die Papiere und auf das Telefon. Irina trat einen Schritt näher. Dann sah sie das Gesicht. Die Stelle, wo das Gesicht hätte sein müssen.
Sie wandte sich ab und erbrach sich in einem Schwall. Schweiß klebte die blonden Strähnen der neuen Kurz- haarfrisur an die Stirn. Sie atmete tief und schnell. Ihr schwindelte wieder.
„Ruhig“, flüsterte sie „ruhig“. Sie sagte es in ihrer Muttersprache und fühlte, wie der Klang der Worte ihr half, die Wand hinter sich zu ertasten. Langsam ließ sie sich an dem kühlen Putz hinabgleiten und fixierte die Spitzen ihrer Sportschuhe.
Nach einer Weile erhob sie sich und wagte einen zweiten Blick auf den Toten. Das kantige Kinn Gottfried Freitags ragte in die Luft. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Es war ja nicht so, dass sie noch nie einen Toten gesehen hätte. Im Gegenteil. Im Krankenhaus steckten sie unter weißen Laken, die Augen gnädig geschlossen, ein Kreuz auf der Brust, wenn sie und ihre Kollegin sie fertig gemacht hatten, bereit zur letzten Ruhe. So hatten Tote auszusehen. Und überhaupt, es waren alte Menschen, Kranke, manchmal Kinder. Das war schlimm. Aber sie waren krank gewesen, schwer krank.
Gottfried Freitag war nicht krank. Als er sie gestern zusammengestaucht hatte wegen
des Wasserflecks auf dem Flur, den sie übersehen hatte, war er kerngesund. Herr Freitag war kein freundlicher Mensch, dachte Irina und schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie so den schändlichen Gedanken ungeschehen machen. Nicht nur, dass er sie wegen jeder Kleinigkeit maßregelte, er verband seine Tiraden meist mit der Drohung, sie zu entlassen. Und sie konnte sich nicht wehren. Wie auch? Sie bekam das Geld für die Arbeit im Seniorenheim und die im Haus der Freitags wöchentlich in einem weißen Umschlag.
Ihr Unmut gab ihr die Kraft, aufzustehen und sich abzuwenden. Sie zog das Handy aus der Tasche, musste die Polizei rufen. Aber dann würde man Fragen stellen und Irina Glück hatte nur das Touristenvisum, keine Arbeits- erlaubnis, keinen Vertrag. Sie hatte nichts. Verzagt ließ sie das Handy sinken und betrachtete das Display. Vielleicht sollte sie eine der Pflegerinnen bitten.
Der Gang des Erdgeschosses lag verlassen. Hier unten befanden sich die Büroräume, ein Friseur, der noch nicht geöffnet hatte, und eine hübsch eingerichtete Cafeteria. Irina fehlte die Kraft, in den ersten Stock zu gehen und ihr fehlten die Worte, das Unaussprechliche mitzuteilen. Was half es? Schließlich konnte sie nicht einfach nach Hause, sich die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis man sie fand.
Leise, als ob sie jemanden stören könnte, schloss sie die Tür und wählte die Nummer der Polizei.

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Texte: Prolibris Verlag Rolf Wagner ISBN: 978-3935263757
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2010

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