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Mit schnellen Schritten stieg Michael die Treppen hinauf. Sein Herz pochte vor Vorfreude, als er die Wohnungstür öffnete. Geräuschlos schlüpfte er in den weitläufigen Korridor hinein. Die Tüten mit den Einkäufen legte er am Eingang zur Küche ab. Er war gerade im Begriff, seine Aktentasche unter die Garderobe zu stellen und nach Julia zu rufen, als er plötzlich stutzte. Da stand bereits eine Tasche, die exakt so aussah wie seine. Eine Tasche, die er nur allzu gut kannte.
»Andreas?«, flüsterte er verwirrt.
Was hatte das zu bedeuten? Wieso war Brunners Tasche hier?
In diesem Moment ging eine Tür auf. Wie erstarrt stand Michael da, halb verborgen von den Jacken an der Garderobe. Er sah seine Frau aus dem Badezimmer kommen, gefolgt von Andreas Brunner, seinem Mentor. Beide waren nackt. Julia hatte gerötete Haut, wie nach einem belebenden, heißen Bad. Durch die offene Tür drang das Blubbern des Whirlpools. Was Michael als Allererstes auffiel, war Julias Unbeschwertheit. Die Art, wie sie Brunner anlachte, mit den Fingerspitzen über seine Wange fuhr und leise giggelte, als er ihren Hals liebkoste, verriet eine im Laufe von Wochen oder gar Monaten gewachsene Vertrautheit.
Michaels Hand umklammerte den Griff der Aktentasche so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
Unverwandt waren seine Augen auf Julia gerichtet. Keine vier Meter von der Garderobe entfernt tanzte sie mit Brunner zu einem imaginären Liebeslied, die Arme um seinen Hals geschlungen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren feucht und glänzten im Dämmerlicht des Flurs, genau wie das große, flammenartige Feuermal auf ihrer linken Wange. Nicht nur ihr Lächeln, alles, wirklich alles an ihr schien zu strahlen. Michael hatte das Gefühl zu ersticken. Heiße Tränen rannen über sein Gesicht. Doch mit den Tränen kam die Wut.
Du bist hier in meiner Wohnung, du Mistkerl! Bei meiner Frau!
Er ließ die Tasche fallen. Wie ferngesteuert trat er hinter der Garderobe hervor. »Störe ich vielleicht?«, fragte er mit vor Zorn zitternder Stimme.
Julia starrte ihn entsetzt an. »Michael! Was ...?«
»Hören Sie, ich kann das erklären.« Brunner hob beschwichtigend die Hände.
»Du mieses Dreckschwein!«, zischte Michael. Er stürzte sich auf Brunner und holte zu einem rechten Haken aus. Doch der wich mit einer geschmeidigen Bewegung aus und versetzte Michael einen Stoß gegen die Brust, der ihn ins Stolpern brachte. Nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen.
»Michael, hören Sie mir bitte zu ...«
»Du verdammter Dreckskerl!«, fauchte Michael. Die spielerische Leichtigkeit, mit der Brunner seinen Angriff abgewehrt hatte, machte ihn noch wütender. Er sah sich um, nahm eine Glasvase vom Sideboard an der Wand und schleuderte sie blitzartig auf Brunner. Sie traf ihn mit einem laut knirschenden Geräusch am Kopf.
»Bist du verrückt? Hör auf!« Julia wollte sich Michael in den Weg stellen. Er schleuderte sie zur Seite und trat zu Brunner, der sich stöhnend den Kopf hielt. Zwischen seinen Händen tropfte Blut hervor. Michael versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine. Er traf sein Ziel nicht perfekt, dennoch stieß Brunner einen markerschütternden Schrei aus.
»Jetzt reicht es mir aber!«, brüllte er und schlug aus der Drehung mit aller Kraft zu.
Die Faust knallte mit einem klatschenden Geräusch in Michaels Bauch. Der zweite Schlag traf sein linkes Auge, das auf der Stelle anschwoll. Michael taumelte zurück und entging nur knapp einem dritten Hieb, der seinem Kinn gegolten hatte. Schnell drehte er sich um und rannte die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer auf der Empore.
Brunner folgte ihm. »Bleib stehen!«, brüllte er wutentbrannt.
Krachend trat er die Tür ein, die Michael soeben mit zitternden Händen abschließen wollte. Mit geballten Fäusten kam Brunner auf ihn zu. Seine Nasenflügel waren gebläht, und an seinem Hals vibrierten Muskeln, die Michael nie zuvor gesehen hatte. Ihm genügte ein Blick auf Brunners mächtige Oberarme, um zu wissen, dass er keine Chance hatte.
»Ich mach dich fertig!«, schrie Brunner. Blut lief über sein Gesicht. In seinen Augen lag ein irres Glitzern.
»Warten Sie, Andreas ...« Michael versuchte nun seinerseits, Brunner zu besänftigen. Doch es war zu spät. Schon traf ihn ein brutaler Schlag in die Magengrube, zwei weitere ins Gesicht folgten. Wie ein Besessener prügelte Brunner auf ihn ein.
Michael flog nach hinten, über den Schreibtisch. Telefon, Briefbeschwerer und Stifte fielen polternd hinunter. Seine Stirn schrammte an der Armlehne des Stuhls entlang, dann landete er unsanft auf dem Boden. Er heulte auf vor Schmerz. Während er versuchte, sich wieder aufzurappeln, sah er durch sein rechtes Auge, wie Brunner sich dem alten Offiziersdegen zuwandte, der an der Wand neben der Tür hing.
Der Degen war ein Erbstück von Michaels Großvater. Angeblich stammte er aus dem Besitz von Friedrich dem Großen, aber das hatte Michael stets bezweifelt. Dass sein Widersacher sich in diesem Moment anschickte, danach zu greifen, stand jedoch außer Frage.
»Jetzt bist du fällig!«, grunzte Brunner, während er sich nach oben reckte und mit seinen manikürten Händen an der Drahthalterung herumfingerte.
Panische Angst ergriff Michael. Brunner hatte sich eindeutig nicht mehr in der Gewalt. Was nun? War hier nicht irgendwo ein Messer oder eine Schere? Die Pistole! Noch halb liegend riss Michael hastig die Schubladen des Schreibtisches auf und durchwühlte sie. Briefumschläge und Büroklammern fielen heraus. Verdammt, irgendwo musste doch seine Smith & Wesson sein. Endlich fühlte er das kühle Metall der Sportpistole in seiner Handfläche. Mit zitternden Händen richtete er die Waffe auf Brunner.
»Hören Sie damit auf, Andreas! Nehmen Sie sofort die Hände von dem …«
In diesem Moment krachte der Schuss. Er traf Brunner in den Rücken und hinterließ ein kleines Loch zwischen den Schulterblättern. Der Anwalt stand einen Moment lang still, so als wundere er sich über Michaels unbeholfenen Versuch, ihn zu stoppen. Dann wankte er und machte einen taumelnden Schritt zur Seite. Bis seine Beine plötzlich einknickten. Mit den Händen stützte er sich an der Wand ab, rutschte weg, griff nach dem Türrahmen. Doch auch in seinen Armen war keine Kraft mehr. Wie in Zeitlupe sackte Brunner zu Boden.
Plötzlich erschien Julia in der Tür.
Sie war noch immer nackt. »Andreas!« Entsetzt starrte sie auf den regungslosen Körper zu ihren Füßen. Sie beugte sich hinab und versuchte, ihn herumzudrehen. Ihre Hände wurden nass von Brunners Blut.
»Er ist tot!« Sie sah zu Michael auf, der hinter dem Schreibtisch hockte und noch immer die Pistole in der Hand hielt. »Das kann doch nicht wahr sein!«, kreischte sie. »Du hast ihn einfach abgeknallt!«
»Es war ein Unfall!« Michael warf die Pistole weg und trat taumelnd auf sie zu. »Ich wollte überhaupt nicht ... Der Schuss hat sich versehentlich gelöst. Andreas ... er wollte mit dem Degen auf mich losgehen.«
Er wusste selbst, wie hohl seine Worte klangen. Der Degen hing scheinbar unberührt an der Wand. Und Brunner lag mit einer Kugel im Rücken direkt vor der Tür.
»Fass mich nicht an!« Julia wehrte seine Hand ab und wich zurück. »Du Scheißkerl hast ihn einfach über den Haufen geknallt!«
»Was hat er überhaupt hier gemacht? Was hatte Brunner in unserer Wohnung zu suchen, verdammt noch mal?« Michael versuchte, sich das Blut abzuwischen, das aus seiner Nase floss.
»Na was wohl, du Versager?« In ihrer Stimme schwang das Verlangen, ihm weh zu tun. »Weißt du, wie satt ich dich habe? Alles an dir habe ich satt! Dein endloses Gerede, deinen Geruch. Deine verschwitzten Hände. Deine schnellen Nummern.«
Michael atmete tief durch und spuckte etwas Blut aus. »Wie lange ging das zwischen dir und ihm?«, fragte er mit gepresster Stimme.
Beide schraken zusammen, als es laut an der Tür klopfte. Julia fasste sich als Erste. Sie rannte hinunter in den Flur und öffnete. Draußen stand der Türke, der im Erdgeschoss ein Restaurant betrieb. Er bewohnte das Apartment im zweiten Stock.
»Rufen Sie schnell die Polizei!«, schrie Julia hysterisch. »Er hat ihn getötet! Andreas ist ...« In diesem Moment sank sie ohnmächtig zu Boden. Der Restaurantbesitzer wirkte verstört. Er murmelte etwas Unverständliches auf Türkisch, dann rief er nach jemandem. Vorsichtig hockte er sich neben Julia.
In Michaels Seele kämpften Panik, Verwirrung und Entsetzen um die Vorherrschaft. Was zum Teufel war hier gerade passiert? Er kam sich vor wie ein Schauspieler im letzten Akt einer schlecht gespielten Tragödie. Eine innere Stimme riet ihm, schleunigst zu verschwinden. Für alles, was geschehen war, gab es eine vernünftige Erklärung. Aber er war jetzt nicht in der Verfassung, irgendetwas zu erklären. Und würde es auch so schnell nicht sein. Vorsichtig spähte er über das Geländer der Empore. Sicher waren auch die anderen Hausbewohner aufgeschreckt worden. Wahrscheinlich war der Schuss in der ganzen Nachbarschaft zu hören gewesen. Wenn jemand die Polizei gerufen hatte, konnte sie jeden Moment da sein.
Er schleppte sich hinunter, griff nach seiner Aktentasche und taumelte an dem verdutzten Türken vorbei ins Treppenhaus. Dort standen zwei ältere Frauen, die im vierten Stock wohnten.
»Bitte helfen Sie Herrn Akaygün!«, rief Michael. »Ich hole einen Arzt.«
Mit diesen Worten stürzte er davon.
...
Copyright © Prolibris Verlag Rolf Wagner

Impressum

Texte: Prolibris Verlag Rolf Wagner ISBN: 978-3935263771
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2010

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