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... Er wehrte sich gegen die aufkeimende Angst. Wenn er seinen klaren Verstand bewahrte, würde er das Rätsel lösen. Schnell zog er den Reißverschluss seines Overalls soweit auf, dass er in die Gesäßtasche der Jeans greifen konnte, die er darunter trug. Mit klammen Fingern förderte er sein Portemonnaie zutage, verstaute seinen Fund in dem Münzfach, um die billige, arg strapazierte Geldbörse dann wieder in die enge Tasche zu stecken.
Ein leises Klicken ließ ihn in seiner Bewegung erstarren. Beinahe gleichzeitig war der ganze Höhlenraum, wie ein Festsaal, bis in den letzten Winkel von kaltem Licht erhellt.
Mit einem Ruck fuhr er herum und blinzelte in das grelle Licht einer starken Taschenlampe. Er hob die leere Hand schützend vor seine Augen und taumelte leicht. Mit einer Bewegung seiner Arme versuchte er, sich im Gleich- gewicht zu halten, dabei rutschte ihm das Portemonnaie aus der Hand und verlor sich in einem Spalt.
»Dr. Stein? Sind Sie das?«, rief er, einer ersten, spontanen Vermutung nachgebend. Er bekam keine Antwort, alles blieb ruhig.
»Verdammt, was soll das? Ich kann Sie nicht erkennen. Sie blenden mich!« Er legte seinen Kopf ein kleines Stück zur Seite, um dem Lichtkegel auszuweichen. Die Taschenlampe folgte seiner Bewegung.
»Mann, hören Sie auf mit dem Scheiß!«, brüllte er. »Leuchten Sie woanders hin und sagen Sie endlich was! Zum Teufel, wer sind Sie?« Es fiel ihm schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
Die Person hinter dem Licht blieb stumm. Er wollte nach vorn schnellen, die Lampe zur Seite schlagen. Doch die Befehle, die sein Gehirn aussandte, erreichten weder Muskeln noch Glieder.
Schlaff und ohne Regung hockte er am Boden. Eine schreckliche Beklemmung machte sich in ihm breit, während er fieberhaft versuchte, seine wirbelnden Gedanken einzufangen und zu ordnen: Wer war da in der Höhle, war er schon vor ihm dort gewesen, er hätte ihn doch hören müssen, hatte er auf ihn gewartet, was wollte er von ihm?
»Hören Sie«, stammelte er mit flacher, angsterfüllter Stimme, »lassen Sie mich gehen, und dann machen Sie, was Sie wollen. Ich werde niemandem etwas verraten.«
Er wusste selbst, es war ein mehr als kläglicher Versuch, dem Eindringling ein Friedensangebot zu machen, und der quittierte das auch sofort mit einem verächtlichen Schnauben.
Nach wie vor war er dem grellen Schein der Taschen- lampe hilflos ausgeliefert, bot seinem unsichtbaren Feind einen jämmerlichen Anblick. Es war ihm egal, er robbte hektisch Stück für Stück rückwärts über den nassen Boden, bis er den Widerstand der Höhlenwand in seinem Rücken spürte. Sein Gegner ließ es geschehen, regte sich immer noch nicht. Er blieb hinter dem Lichtkegel versteckt und beobachtete ihn. Sog zischend die feuchte Luft ein und gab sie schnaubend wieder frei – atmete Mordlust aus.
Krügers Herz raste. Dröhnte mit unerbittlichem Stakkato in seinen Ohren. Es war kalt in der Höhle. Er fror und schwitzte zugleich. Aus all seinen Poren drang die Angst.
Seine Gedanken wurden zum Wirbelsturm, rissen letzte, verzweifelte Hoffnungen mit sich. Keine Flucht. Weder zur Seite, noch nach hinten oder nach oben. Nur nach vorn. Aber da kniete lauernd sein Gegner und weidete sich wahrscheinlich an seiner Hilflosigkeit und Furcht …
Dann, zu seiner eigenen Überraschung, wähnte er sich im Auge des Taifuns. Plötzlich war ihm nichts mehr wichtig. Uninteressant, wer der Eindringling war, ohne Belang, wie er in die Höhle gelangt war, egal, warum er da hockte und was er wollte. Keine Fragen mehr. Er wusste, es gab nur noch die eine, bittere Antwort: Sein Gegenüber wollte ihn töten. Einzig aus diesem Grund war er hier. Merkwürdig, wie wenig ihn diese Erkenntnis erschütterte und wie klar er auf einmal denken konnte.
Krüger spannte seine Muskeln, stützte sich am Felsen in seinem Rücken ab, zog die Beine unmerklich noch ein Stück näher an seinen Körper, atmete tief ein, hielt die Luft an, wollte vorspringen …
Sein Gegner hatte seine Absicht offensichtlich erahnt, war den entscheidenden Bruchteil einer Sekunde schneller als er. Stürzte sich auf ihn und gewährte ihm dabei einen flüchtigen Blick in sein Gesicht, das umrahmt war von einer übergroßen, schwarzen Kapuze.
Krügers Augen weiteten sich vor Überraschung und Entsetzen. Er hatte mit ihm gerechnet. Irgendwann. Aber nicht jetzt! Nicht hier! Nicht so! Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Viel früher, als erwartet.
Stöhnend fiel er gegen die Felswand zurück. Schmerz ließ seinen Körper zusammenkrampfen.
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: Prolibris Verlag
ISBN: 978-3935263740
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2010
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