Leseprobe
„Es ist schon dunkel.“ Das Mädchen deutete in Richtung Duhnen und Döse, wo die Lichter der Häuser und Straßen- lampen allmählich zu einer glitzernden Skyline verschmolzen. Bald kommt das Meer mit der nächsten Flut.“
Er kicherte und deutete zu einer der Rettungsbaken, die nicht weit vor ihnen aus dem Watt ragte. „Ich wollte schon immer mal auf so einem Ding übernachten.“ Dann griff er nach der Hand des Mädchens und zog es zu sich heran. „Komm, lass uns hingehen. Danach kehren wir um.“ ...
Sie erreichte die Rettungsbake vor ihm und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Metallsprossen der Leiter, die nach oben in den Rettungskorb führte.
Sein Atem ging rasch, als er sie eingeholt hatte, die Sprossen der Leiter über ihren Kopf erfasste und seinen Körper nur mit Mühe daran hindern konnte, sie mit aller Kraft gegen die Leiter zu pressen. Sie verströmte einen betörenden Duft, ihre Augen glänzten. Nicht nur die schnellen Schritte hatten seinen Puls in die Höhe getrieben. Ihre Nähe, ihr Lachen, ihre Berührungen hatten ihn in einen Zustand kaum zu verbergender Erregung versetzt. Langsam und mit einer Abwehrbewegung rechnend, näherte er seinen Mund ihrer Halsbeuge.
Als seine Lippen ihre Haut berührten, stöhnte sie leise, und er spürte ihre Hand auf seinem Geschlecht. Das Blut pulsierte in seinen Adern, er drückte sich gegen ihren weichen Körper, suchte ihre Lippen. Sie öffnete den Mund, erwiderte den Druck, drehte lasziv ihre Hüften.
In diesem Augenblick spürte er weder die Bewegung ihrer Hände noch den Ring, der sich um sein Handgelenk legte. Erst als sie nach unten wegtauchte, sich ihm entwand und plötzlich einen halben Meter neben ihm stand, stach ein feiner Schmerz in das Gelenk. Er verstand nicht, versuchte ihr zu folgen, wurde festgehalten, zerrte gegen den Widerstand an. Dann die Erkenntnis.
Sie hatte ihn an eine Leitersprosse gefesselt. Mit einer Handschelle.
Ein Spiel! Die Überraschung ließ ihn einen unkontrollierten Laut ausstoßen. Fesselspiele gehörten nicht zu seinem sexuellen Erfahrungsschatz. Eine neue Gier erfasste ihn. Was hatte sie vor? Sein Blut schoss in die Lenden, geradezu schmerzhaft spürte er die Schwellung, alles in ihm drängte auf Erlösung.
„Komm“, keuchte er. „Mach weiter! Ich halte es nicht mehr aus.“
„Gib mir dein Handy!“
Mit der freien Hand zog er das Telefon aus der Tasche. Sie nahm es ihm ab und trat ein paar Schritte zurück.
„Und jetzt?“, keuchte er.
Sie musterte ihn. Ihr Blick war kalt. „Ich bin fertig.“
Er lachte. „Wie – fertig? Jetzt geht es doch erst los. Komm zu mir! Ich mache dich fertig. Aber richtig. Ich bin so was von heiß!“
„Das wird sich bald ändern“, erklärte sie kühl. „Die Flut wird dich erfrischen. Dauert nicht mehr lange, bis sie kommt.“
„Die Flut? Was soll das? Welche Flut?“
„Das ewige Spiel der Meere. Ebbe und Flut. Wasser kommt und geht. In einer halben Stunde umspült es deine Füße, steigt weiter an, erreicht deine Knie, deine Eier, deinen Bauch, deine Brust. Schließlich Mund und Nase. Am Anfang kannst du noch nach jeder Welle Luft schnappen, dann wirst du die Luft anhalten. Die Atemnot wird unerträglich. Du versuchst, dagegen anzugehen, doch in deiner Lunge steigt der Druck des Kohlendioxids, du musst nachgeben. Du atmest Wasser, schluckst, hustest, röchelst, erstickst.“
„Was redest du für eine Scheiße!“ Er stöhnte – weil Angst in ihm aufstieg, sich in ihm ausbreitete und andere Empfindungen verdrängte. Noch weigerte sich sein Gehirn, die Wahrheit zu erfassen, noch lähmte die Furcht den Verstand und ließ doch gleichzeitig die Ahnung keimen, sie könnte es ernst meinen.
„Mach mich los!“ Er zerrte an der Fessel. Sie reagierte nicht. „Es reicht! Du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt ist es gut. Ich tue, was du willst. Möchtest du Geld?“ Wie von Sinnen zerrte er mit der freien Hand den Inhalt seiner Taschen hervor, warf Brieftasche, Geldbörse, Autoschlüssel und alles, was er fand, in ihre Richtung.
Sie sammelte die Gegenstände auf, steckte den Auto- schlüssel ein und schleuderte den Rest weit weg ins Watt. Dann bückte sie sich, nahm eine handvoll Schlick auf und ließ die schlammige Brühe in eine Plastiktüte gleiten.
„Ich will nichts von dir.“ Ihre Stimme war voller Ver- achtung. „Ich will nur sehen, wie du stirbst. Das ist alles.“
„Warum? Warum? Warum?“ Er greinte, verlegte sich aufs Betteln. „Ich habe dir doch nichts getan. Bitte, mach mich los! Ich habe Familie.“
„Familie – ach ja?“, ätzte sie. „Schön für dich. Dann hast du jemanden, der um dich trauert.“
In Todesangst zerrte er an der Fessel, heulte auf und winselte. „Mach mich los! Bitte! Das kannst du doch nicht ernst meinen.“
Sie wandte sich ab und entfernte sich in Richtung Duhnen. „Du glaubst gar nicht, was ich alles kann!“, rief sie über die Schulter und beschleunigte ihren Schritt.
Fassungslos starrte er ihr nach, bohrte seinen Blick in ihren Rücken, der unaufhaltsam in der Dämmerung verschwand.
Dann fing er an zu schreien.
Copyright © Prolibris Verlag
Texte: erschienen im Prolibris Verlag
ISBN:978-3-935263-73-3
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Leseprobe