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Maria Himmelfahrt war ein guter Tag zum Sterben.
Der heilige Feiertag fiel in diesem Jahr auf einen Samstag, er hatte wunderbar begonnen. Mit Sonnenschein, der bereits frühmorgens das Bergmassiv am südlichen Ende des Attersees in ein sanftes Licht tauchte, Vogelgezwit- scher und dem Geräusch von Kuhglocken. Zusätzlich lag der Geruch von frisch gemähtem Gras in der Luft. Das Waldstück, das sich an die Futterwiese anschloss, spendete dem Feldweg Schatten, der geradewegs zur Gutsherrnalm führte.
Der alte Söllner würde in den nächsten Stunden hinüber- gehen, in die Welt der Toten. Seine Frau war sich sicher, dass es auch ihm bewusst war. Niemand brauchte die beiden deshalb zu bemitleiden, wie auch sie für niemanden Mitleid empfanden, schon gar nicht für Menschen ihres Alters. Der Söllner war dreiundachtzig Jahre alt und somit drei Jahre jünger als seine Frau. In diesem hohen Alter hatte man, nach Meinung seiner Frau, bereit zu sein, diese Welt zu verlassen. Sein Leben war hart und ereignisreich gewesen. Er hatte seine Spuren hinterlassen, viele Fehler gemacht und einige Menschen enttäuscht. Aber taten das nicht alle im Laufe des Lebens? Er vielleicht mehr als andere. Seine Mitmenschen enttäuschen, ihnen die Hoffnung rauben, sie desillusionieren, nur um seine eigene Haut zu retten oder sein trostloses Leben um eine Facette besser aussehen zu lassen?
Am Ende zahlte jeder seine Zeche. Ob Gauner oder Obergauner. Das blieb keinem erspart.
Auch dem Söllner nicht. Gottlob.
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Copyright © Prolibris Verlag
Texte: erschienen im Prolibris Verlag
ISBN: 978-3-935263-72-6
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2010
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