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Sie setzte die Stöcke wie ein Automat: rechts, links, rechts, links ... Knirschend sanken die Spitzen in den Ebbsand ein, wie in Butter, die über Nacht im Kühlschrank gestanden hat. Es ging voran, sie tat etwas für ihren Körper. Ein gutes Gefühl. Gundi walkte. Früher war sie gejoggt. Ganz früher nannte man das Dauer¬lauf. Schlecht für die Gelenke, Beachwalking war besser. Wer ¬hatte sich den tollen neuen Namen ausgedacht? Hoch im Kurs auf Langeoog. Sie schritt forsch aus, ihr Oberkörper bewegte sich im Takt. Forsch, und dabei die frische Morgenluft tief in die Lungen holen. Richtig atmen, darauf kam es an. Wer krank wurde, hatte falsch geatmet. Tief einatmen und ganz langsam ausatmen ... Und eins und zwei, und eins und zwei ...
Draußen rauschte die See. Noch lag die Sandbank nackt da, Möwen standen in langer Reihe und blickten alle in eine Richtung – wohin? Weg von der Frau jedenfalls, die war unwichtig, wo die Natur noch ganz für sich war. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Luft holen und ganz langsam ausatmen ...
Es war noch früh, erst kurz nach sieben. Kein Mensch war zu sehen. Auch keine Fußspur im Sand. Das war das Wunderbare an der See: dass sie immer wieder einen neuen Anfang macht mit jeder Flut, alle Schuld, alles Missglückte und Peinliche wegspült, als wäre es nie gewesen. Und eins und zwei, und eins und zwei ...
Wenn das im Leben doch auch möglich wäre. Immer wieder ¬einen neuen Anfang machen. Jungfräulich. Rein.
Gundi schob ihr Stirnband hoch, das ihr fast über die Augen ¬gerutscht war. Erste Spuren auf dem gerippten Boden, Fahrradspuren. Sie führten zum trockenen Dünenrand hinüber. Dabei konnte man im tiefen Sand doch gar nicht fahren, und schlecht fürs Rad war es auch.
Funkelnd und zischend rollte die Welle vor Gundis Füßen aus. Wie weit war sie schon? An der Jugendherberge war sie längst vorbei, der blaue Turm der Rettungsschwimmer lag hinter ihr. Die Jugend schlief natürlich noch. Die kamen nicht aus den Betten, typisch, die lernten nicht, dass nur Anstrengung zu echter Lebensfreude führt, Anstrengung und Disziplin. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Auf der Dünenkette tauchte die Bake auf. Jeden Morgen bis zur Bake und weiter! Täglich das Pensum steigern! Bis zur Ostspitze, da war leider Schluss. Wie gern hätte sie sich gequält. Den inneren Schweinehund besiegen! Doch an der Ostspitze war alles zu Ende.
An ihrem rechten Stock war ein Stück Plastik hängen geblieben, das die Flut angespült hatte. Wohlstandsmüll, achtlos über Bord geworfen. Eine ausgeblichene Plastik- tüte, in der sich Tang und Algen verfangen hatten. Sie schüttelte das ab. Und dort, nicht weit davon, lag ein Stück schwarze Plastikplane, ausgefranst von der Flut. Die gehörte zu den Sandsäcken, die man vor Jahrzehnten vergraben hatte, um die Insel zu schützen. Alles löste sich auf mit der Zeit, alles. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Weitermachen, nicht grübeln, den Kopf frei halten ...Plötzlich stoppte sie. Die Stöcke blieben in der Schwebe. Etwas lag vor ihr am Flutrand, ein dunkler Haufen. Schwarzes nasses Zeug, Haarsträhnen über Fleisch gekämmt, bläulich aufgedunsen, so viel Haar, dunkel von Wasser, mit Blasentang darin. Und schrecklich fremd. Gundi streckte die Hand aus, zuckte zurück. Ein Auge starrte sie an.
Sie schrie, rannte quer über den Strand, hinüber zur Dünenkette, rannte durch den nun tiefen Sand, stolperte, raffte sich auf, rannte weiter, wie blind.
Neben dem Körper lagen zwei Stöcke, gekreuzt, die Schlaufen verdreht. Darüber kreiste eine schreiende Silbermöwe....
Copyright © Prolibris Verlag Rolf Wagner
Texte: Prolibris Verlag Rolf Wagner
ISBN: 978-3935263481
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
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