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Prolog

Noch 10 Tage bis zur Eröffnung der Fußballweltmeisterschaften 2014 in Brasilien

 

„So ein Mist! Idiotisch! Schweinerei!“, drängen die Worte aus Peter heraus, der mit vollem Namen Peter João heißt, deutsch- portugiesischer Abstammung ist und Fußballfan der Borussen aus Dortmund. Bums, knall, klirr macht es im Wohnzimmer, so dass seine Frau Bianca, aus einer wohlhabenden deutschen Familie stammend, verstört aus der Küche angelaufen kommt. Erstaunt bleibt sie in der Tür stehen: Ihr Mann hatte Teller und Untertasse an die Wand geschmissen. Sie zerfielen in tausend kleine Stücke. Oder nur hundert? Oder vielleicht fünfhundert? Egal! So kennt sie Peter gar nicht. Er wirkt immer ruhig und ausgeglichen und nun das!

„Was ist denn mit dir los?“, fragt sie ihren Mann.

„Ach, nichts. Der Jogi Löw hat seinen Kader für Brasilien festgelegt und Schmelzer ist nicht dabei. Stell dir das mal vor, einer unserer besten Verteidiger darf nicht mitfahren!“

„Ich dachte, er ist verletzt“, antwortet Bianca.

„Ja, schon, am Knie. Doch Lahm, Neuer und Schweinsteiger sind auch verletzt. Die drei haben wahrscheinlich beim Bundestrainer einen Bayernbonus, Schmelzer eher einen Dortmundmalus. Aber keine Angst, ich hab mich schon wieder beruhigt. Kloppi ist wahrscheinlich froh, dass er seinen Abwehrstrategen bis zur kommenden Bundesligasaison richtig auskurieren kann. Dafür fährt jetzt Dorm von Dortmund mit. Der hat sich letztens im Spiel ganz gut geschlagen.“

„Dass du einmal Teller gegen die Wand schmeißen würdest, hätte ich dir nach unseren vielen Ehejahren gar nicht zugetraut.“

„Du bist mit einem echten Fan verheiratet, mein Schatz. Fußball ist Leben und ich lebe. Es gibt nichts Schöneres als diesen Zustand, wenn das Adrenalin durch den Körper gepumpt wird vor Freude oder aus Frust über das Spiel. Wenn diese Kraft heraus muss, förmlich explodiert. So wie eben. Und jetzt ist es raus. Das macht der portugiesische Anteil in meinem Blut, portugiesisches Adrenalin. Du musst dich nicht kümmern, Schatz, ich kehre die Scherben schon zusammen. Jogi ist dennoch ein Idiot! Da bleibe ich bei.“

 

An diesem Tag musste Peters südwesteuropäische Fußballleidenschaft hervorbrechen. Obwohl er in Dortmund lebt: Wenn der Ball rollt, kocht sein Blut. Es kocht, wenn Dortmund spielt, es kocht, wenn Deutschland spielt, es kocht, wenn Portugal spielt oder Benfica. Peter João ist einer der, wie  veröffentlicht, weltweit mehr als 14 Millionen Benficistas. Angesichts der Tatsache, dass Portugal nur knapp 11 Millionen Einwohner hat, vom Baby bis zum Greis, eine beachtliche Anzahl an Fans. Benfica Lissabon ist mit weit mehr als 200.000 eingeschriebenen Mitgliedern der größte Club auf der Erde.

 

Noch rollt der Weltmeisterball nicht, doch diese letzten Tage der Vorbereitung auf die WM sind wichtig für die Mannschaft wie für die Fans. Schließlich muss man sich als echter Fußballliebhaber vorbereiten auf alle Eventualitäten. Und Peter ist vorbereitet! Anfang nächster Woche, nach den letzten Vorbereitungsspielen, fahren Bianca und er nach Portugal zu Freunden. Dort lebt Rosa, ebenfalls deutsch- portugiesisch, verheiratet mit dem Brasilianer Roberto. Die mit ihnen befreundeten vier Handwerker aus Lagos rasten ebenfalls aus, wenn der Ball rollt. Das wird ein internationales Ausrasten, deutsch- portugiesisch- brasilianisch. Genau die richtige Mischung für diese WM, die typisch brasilianisch beginnt mit einem unfertigen Stadion, was vor Ort in São Paulo niemanden beunruhigt. Nur wir Mitteleuropäer betrachten es ernst und zweifeln; die Brasilianer nicht.

Peter freut sich auf die Reise mit großer deutscher Flagge und Ronaldo- T- Shirt für Bianca und ebenso großer portugiesischer Fahne und ein Hummels- T- Shirt für sich selbst. Es geht doch nichts über die Vorfreude, auch wenn jetzt Teller geflogen sind. Das gehört dazu!

Das Hoeneß - Syndrom

Peter genießt die Sonnenstrahlen auf dem Balkon. Er sinniert vor sich hin. Selbstverständlich geht es um Fußball, den deutschen Fußball. Soeben hörte er die Nachrichten. Uli Hoeneß muss seine Gefängnisstrafe antreten: dreieinhalb Jahre wegen Steuerbetruges für den Bayern- Ex- Präsidenten, der München zu einer Weltstadt des Fußballs machte. Ob er beim Fußballclub in der Säbener Straße zu sehen sein wird, wenn er Freigang bekommt? Breno, der verurteilte Brandstifter und Bayernspieler, leistete als Freigänger dort seine Resozialisierungsmaßnahme ab. Warum nicht später auch Uli Hoeneß?

 

Peter muss leise lächeln, als er daran denkt. So wurde und wird er geliebt und gehasst, mit Spannung beobachtet, belächelt, bewundert, geachtet oder gefürchtet: Uli Hoeneß mit rot- weißem Schal auf der Tribüne beim Spiel seiner Bayern. Spielten sie gut, lachte er und unterhielt sich wohl gelaunt mit seinen Sitzplatznachbarn, zumeist bekannte Fußballer oder Fußballoffizielle, Kollegen wie Karl- Heinz Rummenigge, „Kaiser“ Franz oder Wolfgang Niersbach. Ja, Peter sah gern ins ausdrucksstarke Hoeneßgesicht: jovial lächelnd, lachend, gelöst, verbissen, schimpfend, rot vor Erregung. Bei jedem Bayernspiel dasselbe: Fußballdeutschland wollte den Uli sehen, wie er sich begeisterte und wie er litt, je nach Qualität seiner Jungs auf dem Platz. Für die Bayernspieler war und ist er der Fußballvater, der zu ihnen hielt in schweren Lebenssituationen, ob es sich nun um Verletzungen, Brandstiftung oder Bordellbesuche handelte, der sie lobte und tadelte. Gefürchtet haben sie seine Reden auf Banketten nach verlorenen Spielen. Desto motivierter spielten sie beim nächsten Mal, denn zwei solcher Ansprachen unmittelbar nacheinander ließen sich nur schwer ertragen. Das machte es Pep, dem Supertrainer aus Barcelona, so schwer ab März 2014: die fehlenden Hoeneßreden nach schlechten Bayernspielen. Die häuften sich mit einem Mal, weil die Vaterfigur plötzlich weg war, die Spieler nicht mehr lobte oder tadelte, sich nicht mehr mit ihnen freute oder mit ihnen schimpfte. Das wurde natürlich öffentlich tot geschwiegen. Doch egal, was die Medien verbreiten, Peter bleibt überzeugt davon, dass die schlechten Bayernleistungen mit Hoeneß zusammenhängen.

 

Gespannt waren auch alle Reporter und Zuschauer. „Jetzt will ich sehen, was Hoeneß dazu sagt“, bemerkte so mancher Fußballfan nach einem schlechten Bayernspiel, vor allem die Fans der gegnerischen Mannschaften oder die neutralen Fußballgucker, welche gern in das erregte, gespannte, ausdrucksstarke Gesicht sahen und auf spontane, unüberlegte, polternde Worte warteten, enttäuscht, wenn es kein Interview gab. Das gehörte einfach zu jedem Bayernspiel dazu und fehlt heute als zweiter Spannungsbogen über dem Spiel, der sich wie ein bestaunter Regenbogen über das Stadion wölbte und jetzt nicht mehr angeschaut werden kann.

Uli Hoeneß: ein begnadeter und erfolgreicher Fußballer, Weltmeister, Wurstfabrikant, Bayernboss, Zocker, Steuerhinterzieher, Betrüger, Häftling. Ja, auch das war Fußball in Deutschland vor der Weltmeisterschaft: Die Öffentlichkeit sah den Bayernboss weinen! Als nach der Anklageerhebung sein FC Bayern zu ihm hielt, rannen Uli vor laufenden Kameras die Tränen übers Gesicht.

 

Der Bayernboss vereinte alles, was einen wahren Fußballbesessenen ausmacht: Gefühl, Emotion, Leidenschaft. Deswegen ist man Fan, auch Peter. So richtig konnte und kann er dem Hoeneß nicht böse sein. Obwohl Dortmundfan, würde er niemals auf die Idee kommen, ihn wegen der Steuersache zu beschimpfen oder ihm zu drohen. Auch Häme ist ihm fremd. 30 Millionen EURO sind für Peter eine abstrakte und unvorstellbar große Zahl und Fehler macht jeder, schwere oder weniger schwere, mit oder ohne richterliche Bestrafung. Jetzt muss Uli die WM in einer kleinen Zelle im Gefängnis gucken: eine besonders harte Strafe für einen wahren Fan. Keine Frage, dass Hoeneß sich resozialisieren wird und wiederkommt. Davon bleibt Peter überzeugt und freut sich darauf, dieses Fußballgesicht erneut zu sehen: geliebt und gehasst in deutschen Stadien.

Brasilien zwischen Fußball und Protest

 Roberto ist Brasilianer. Seiner Familie gehört Land. Doch Landbesitz bedeutet nicht unbedingt viel im südamerikanischen Osten. So lange er an sein Leben dort zurückdenken kann, waren sie arm. So arm, dass sein Traum von einem Studium der Psychologie immer ein Traum geblieben wäre. Bei der Polizei, was er als seinen Beruf erwählte, hätte er niemals von seinem Einkommen das Geld zurücklegen können, um davon ein Studium zu bezahlen. Er war nicht bereit, sich korrumpieren zu lassen, wie es viele seiner Kollegen aus der Not geboren taten. Deshalb wanderte er aus nach Europa, trennte sich von Frau und Kindern, die nicht mitkommen wollten und auf dem weiten Land seiner Eltern verblieben, und versuchte, in Portugal Fuß zu fassen. Sprachlich gab es kaum Probleme, obwohl sich das brasilianische und das europäische Portugiesisch unterscheiden. Er wurde in dem für ihn unbekannten Land freundlich aufgenommen, auch wenn er zunächst die Erfahrung machen musste, dass nicht alles so ist, wie in seiner brasilianischen Heimat. So ging Roberto kurz nach seiner Ankunft auf Algarve durch die Innenstadt von Lagos, wie er das von Brasilien aus gewohnt war: abgeschnittene Jeans, Sandaletten und freier Oberkörper. Er konnte sich sehen lassen, muskulös, braun und ohne ein Gramm unnötiges Fett am Körper. Doch er stellte fest, dass die Portugiesen es offensichtlich nicht so gern sahen, wenn man mit nacktem Oberkörper durch ihre Innenstädte läuft. Also unterließ er das zukünftig. Ein Hemd besaß er noch. Ansonsten war er nur mit dem Flugticket in der Hand angekommen, vom Flughafen bis Lagos getrampt. Dort fand er einen Platz zum Schlafen am Hafen und vertraute darauf, dass das Leben ihn umsorgen würde. Er unterhielt sich mit vielen Leuten und lernte schließlich seinen heutigen Chef kennen, Inhaber einer Sicherheitsfirma. Jetzt konnte er seinen Lebensunterhalt selbst erwirtschaften und begegnete Rosa, die sich in Portugal und auf Algarve schon besser auskannte.

 

Es gibt eine enge Bindung zwischen Portugal und Brasilien nicht nur wegen der früheren Kolonialisierung. In den Zeiten der Diktatur bis 1974 fanden viele verfolgte fortschrittliche Portugiesen Asyl in Brasilien. Dort wurden verbotene Schriften gedruckt und in den Südwesten Europas geschmuggelt. Heute wandern dafür Brasilianer nach Portugal aus, um für sich eine neue Lebensperspektive zu schaffen: Menschen wie Roberto. Er lernte Rosa kennen, eine Wanderin zwischen den Welten wie er selbst, als Deutsch- Portugiesin. Auch sie machte so ihre Erfahrungen, als sie aus Deutschland nach Portugal kam, ebenfalls die Bekleidung betreffend. Rosa war in der Gastronomie beschäftigt und kam an ihrem ersten heißen Tag leicht bekleidet mit Rock und Trägerbluse zur Arbeit. Ihre Kollegin schüttelte nur mit dem Kopf und warf ihr sofort ein Tuch über die Schulter. Später sagte sie: „Das geht so nicht. Wenn du vor dem Tresen stehst, kannst du anziehen, was du willst. Aber hinter dem Tresen haben die Schultern und der Busenansatz bedeckt zu sein, egal, wie heiß es ist. Das gilt in Portugal überall, wenn man etwas verkaufen will. In dieser Hinsicht sind wir immer noch sehr konservativ.“

Portugal wurde Robertos neue Heimat, weil den Menschen hier der Fußball genauso viel bedeutet wie den Brasilianern. Zur Europameisterschaft 2004 hatte das ganze Land geflaggt. Und trotz des nationalen Traumas der Niederlage gegen Griechenland im Endspiel wehen so manche Flaggen bis heute. Roberto war damals noch nicht im Lande, doch für die jetzige Weltmeisterschaft zehn Jahre später sorgte er reichlich vor: Brasilianische Fahne für das eine Fenster, eine Portugiesische für das Andere und im kleinen Vorgarten wird die Deutschlandflagge gehisst werden. „Wäre doch gelacht, wenn wir nicht gewinnen“, sagt Roberto zu jedem, der vorbeikommt. Selbstverständlich stimmt man ihm zu, überzeugt von Ronaldo und der Seleçao. Roberto lächelt dann, denn für ihn wird es auch bei Siegen durch Deutschland oder Brasilien heißen: „Wir haben gewonnen!“

 

Im Januar 2014 erhielt er Beileidsschreiben aus diesen Ländern, als Eusebio starb. Sie waren ernst gemeint und Roberto trauerte tatsächlich, wie alle Portugiesen, um diesen vortrefflichen Fußballspieler, der bei Benfica Lissabon die Zuschauer verzauberte, verehrt wurde und wird. Portugal trug drei Tage Staatstrauer und weinte in aller Öffentlichkeit um einen schwarzen portugiesischen Fußballer, der aus Mocambique stammte. Roberto weinte mit. Doch er weint auch um seine Heimat, die vom geliebten Fußball zur WM zerrissen wird. Er weint um die Menschen, denen, arm wie sie sind, das Wenige noch genommen wurde, um die Weltmeisterschaft 2014 auszurichten. Er weint um seine früheren Kollegen, Polizisten, wie er früher, aus ärmlichsten Verhältnissen, die gezwungen werden, gegen Ihresgleichen vorzugehen. Die Brasilianer protestieren: nicht gegen den Fußball, den sie von ganzem Herzen lieben, nein, gegen die FIFA, welche mit dem Sport so unmenschlich umgeht und in einem Umkreis von 50 km um die Stadien den einheimischen Händlern verbietet, ihre typisch brasilianischen Produkte zu verkaufen. Es ist ein Kampf gegen die Macht des großen Geldes, welches den Brasilianern das kleine Geld nimmt, das sie dringend benötigen für Bildung und Gesundheit. Ja, Roberto war, ist und bleibt ein Fußballfan. Deshalb leidet er, auch wenn es Freude macht, denn Fußball ist immer ein Erlebnis.

 

So nahm er einmal am größten Fußballturnier der Welt teil: Am Peladão, das mit mehr als 1.000 Amateurmannschaften mitten im Amazonasgebiet stattfindet. Dort, wo in Manaus am Rio Negro ein neues Stadion für die WM 2014 erbaut wurde, kämpfen seit 1973 Männer und Frauen leidenschaftlich von August bis Dezember um den Sieg in diesem ganz besonderen Turnier, darunter die Indios aus der Region. Roberto erinnert sich gern daran. Er spielte fanatisch, temperamentvoll, brennend vor Begeisterung, die ganze Mannschaft, die Zuschauer, die Gegner im Spiel, alle getrieben vom Feuer des Fußballs. Es reichte für ihn und seine Kollegen nicht zum Sieg. Doch das Finale vor mehr als 40.000 begeisterten Zuschauern wird Roberto niemals in seinem Leben vergessen. Das neue Stadion am Rio Negro bietet genau so vielen Menschen Platz. Doch die Schweiz und England beschwerten sich über die fast 100 prozentige Luftfeuchtigkeit und die Hitze in Manaus, wo sie jeweils ein Vorrundenspiel auszutragen haben. Nun ja, für Brasilianer ist es dafür in England und der Schweiz kalt. So ist die Erde beschaffen: Mal hat der Eine den Vorteil, mal der Andere. Roberto findet, dass so eine fußballbegeisterte Region wie die am Amazonas ein schönes Stadion verdient hat. Ob dort zukünftig die Endspiele des Peladão stattfinden dürfen?

 

Jetzt zeigt sich wieder der melancholische traurige Blick in Robertos Augen. Zu viele Versprechen wurden auch in Manaus nicht eingehalten. Die Investitionen in die Infrastruktur hielten sich in Grenzen oder blieben ganz weg, Verkehrsstaus und Schmutz beherrschen das Stadtbild, eine bessere Versorgung der Favelas bleibt in weiter Ferne wie auch die spätere Nutzung der Arena da Amazonia in den Sternen steht. Wird der Regenwald sie sich wiederholen?

Roberto seufzt tief. Jetzt wird er zum Fado gehen und mit den portugiesischen Gästen gemeinsam um die unerfüllten Sehnsüchte weinen.

 

 

Nur die Besten, nur die Besten

Da hatte ihr Mann Geschirr an die Wand geworfen, weil Schmelzer vom Bundestrainer aussortiert worden war. Seine Reaktion konnte Bianca irgendwie verstehen: Jogi Löw stellte hochgesteckte Ziele vor der WM. Nur die besten Spieler sollten mitfahren dürfen. Kurze Zeit vor der Nominierung für das Trainingslager verschärfte er seine Forderung sogar noch: Nur die aktuell besten Spieler würde er mitnehmen nach Brasilien. Und Schmelzer war nun einmal verletzt, das konnte niemand ändern. Schade, aber verständlich und damit verzeihlich, fand Bianca. Andererseits konnte ein Dortmundfan wie Peter schon über diese Entscheidung erbost sein. Doch als sie ihm gegenüber diese ihre Meinung äußerte, brauste der wiederum auf: „Ja, die aktuell besten Spieler. Was sind denn Neuer und Schweinsteiger, he? Oder Lahm? Ebenfalls verletzt und nicht voll da. Aber das sind ja Bayern, keine Dortmunder! Immer diese Sonderbehandlung der Münchner Spieler! Vielleicht wird Jogi ja zusätzlich noch von Rummenigge bezahlt. Würde mich überhaupt nicht mehr wundern in diesem Verein.“

„Na, na, die Bayern haben doch einen neuen Präsidenten. Mit dem werden sie ohnehin ein blaues Wunder erleben zukünftig. Ich glaube nicht, dass es dort so weitergeht wie unter Hoeneß.“

„Wie kommst du darauf? Du kennst den Neuen an der Spitze doch gar nicht.“

„Na eben! Hast du den schon `mal in der Öffentlichkeit gesehen? Ich nicht. Und hören konnte ich von ihm auch nichts.“

„Dafür haben sie Rummenigge. Der wird das schon machen. Und Sammer! Sammer solltest du nicht vergessen, Bianca. Der wird Hoeneß ersetzen mit seinem Temperament.“

„Temperament reicht nicht. Bayern ist erfolgreich wegen der früheren Ausgewogenheit zwischen Ökonomie und zwischenmenschlichem Feeling. Der Neue ist ein Buchhalter, ein Pfennigfuchser oder auch Krümelkacker. Damit kannst du einen Verein töten, nicht am Leben erhalten und schon gar nicht erfolgreich. Der Bayernpräsident muss mitreißen können und ausgewogen entscheiden. Du wirst noch sehen.“

„Naja, wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Dann ist die Liga wieder interessanter. Dennoch, ob bezahlt oder nicht, dass Schmelzer aussondiert wurde, finde ich ungerecht. Schweinsteiger, Lahm und Neuer sind zumindest heute ebenfalls verletzt und nicht in Form. Bundesjogi wollte zuvor nur eine Ausnahme machen: Khedira. Das verstand ich auch. Was mich in Rage bringt ist die Tatsache, dass Löw seine Definition der besten Spieler einfach neu formulierte. Waren es vor Kurzem noch die Fittesten und Vitalsten, sind es jetzt diejenigen mit Erfahrung, ob fit oder nicht. Und wenn es hart auf hart kommt, geht München vor Dortmund.“

„Peter“, Bianca lächelt ihren Mann an, „du weißt doch nicht, was im Trainingslager geschehen ist bisher. Vielleicht gibt es gute Gründe, dass der Bundestrainer der Meinung ist, Schmelzer wird nicht mehr fit, die anderen drei dagegen schon.“

„Ja, die Gründe erlebten wir in den vergangenen Tagen! Schweinsteiger, Neuer und Lahm erhielten Sonderbehandlung mit individuellem Training und sogar einer Münchenfahrt zum Leib- und Magenarzt Müller- Wohlfahrt, Schmelzer nicht. Was sollen diese Unterschiede?“, erregt sich Peter immer noch.

„Vielleicht wollte er ja gar nicht zum Mannschaftsarzt in München. Wir wissen alle, dass dort mit Wunderspritzen die Spieler sozusagen fitgespritzt werden, natürlich alles im zulässigen und gesetzlich einwandfreien Rahmen. Doch nicht jeder will das.“

„Warum sollte er das nicht wollen, wenn es legal ist? Jeder Fußballer ist doch heiß auf die WM!“

„Doch nicht jeder um jeden Preis. Darüber solltest du auch einmal nachdenken. Der Körper benötigt eine gewisse Zeit für die Heilung. Man kann sie unterstützen, man kann sie im Moment auch beschleunigen. Doch zu oft zeigen sich dann später Langzeitschäden, weil die notwendige Ruhe sozusagen weggespritzt wurde im Interesse eines schnellen Wiedereinsatzes. Schau dir doch Olli Kahn oder Mehmet Scholl an. Körperlich fit sind die beiden, auch wenn man ihr Alter bedenkt, auf jeden Fall nicht. So was will Schmelzer vielleicht nicht riskieren.“

„Naja, wir werden es wohl nicht erfahren. Jogi Löw hat sich nach seiner Nominierung nicht der Presse gestellt, wahrscheinlich weil er genau die Fragen befürchtete, die wir beide hier diskutieren. Auf jeden Fall bleibe ich dabei: Die aktuell besten Spieler im Sinne von fit und vital sind nicht für Brasilien nominiert. Es ist eine Mannschaft der Verletzten und um ihre Form Ringenden.“

„Andere Nationen haben auch ihre Probleme. Ribery soll gar nicht mitfahren bei den Franzosen und Ronaldo ist für Portugal auch noch immer nicht in Form. Ich mache uns jetzt einen Kaffee und du beruhigst dich wieder.“

Peter legt sich auf die Couch und brummelt vor sich hin: „Wenn diese Mannschaft nicht den Titel holt, ist Jogi Löw für immer weg vom Fenster, so! Dann kann er Kartoffelschalen sammeln. Muss er ja nicht, hat ja genug Geld verdient. Doch immer nur zweite und dritte Plätze müssen ein Ende haben, auch wenn die Mannschaft die letzten Turniere begeisternd spielte.“

Der Schrei des Bastian Schweinsteiger

Bianca geht auf dem Balkon ihrer abendlichen Blumengießverpflichtung nach. Die Luft ist lau und lädt zum Verweilen im Freien ein.

„Aaaaaaaaa…h“, ein lauter martialischer Schrei zerstört die ruhige Idylle. Er schallt aus ihrem Wohnzimmer heraus. Dort erholt sich Peter von seinem Arbeitstag und schaut sich im Fernsehen an, was es so Neues gibt in der Welt.

„Was war das denn?“, ruft Bianca durch die geöffnete Balkontür.

„Schweinsteiger!“, lautet die Antwort.

„Der war doch schon verletzt. Hat er sich gerade die Achillessehne gerissen und seinen Frust über die nun doch verpasste WM herausgeschrien?“

„Nein, er macht Werbung für Schuhe. Da brüllt er kämpferisch gen Himmel und Neuer schwingt das Schwert.“

„Männer!“, Bianca schüttelt ihren Kopf.

„Natürlich Männer, sind ja unsere Fußballjungs.“

„Ach `ne, ich dachte du bist Dortmundfan und kannst die Bayern nicht leiden.“

„Jetzt geht es um Deutschland, die Nationalmannschaft. Da ist alles anders. Komm schnell Schatz, die bringen das noch mal! “

Bianca schaut um die Ecke und sieht einen Bastian Schweinsteiger mit entblößtem Oberkörper, die Arme seitlich weg streckend, den Blick gen Himmel gerichtet. Und jetzt, endlich, dieser eindrucksvolle Schrei. Danach Manuel Neuer, gleich verfünffacht, ein Langschwert schwingend.

„Das Schwert ist bestimmt aus Pappmache. Sonst könnte er das mit seiner Schulter gar nicht so leicht handhaben. Und Schweinsteiger hat eine Hühnerbrust. Ronaldo sah besser aus nach dem Championsleaguesieg von Real.“

„Frauen!“ dieses Mal schüttelt Peter seinen Kopf, leicht wissend lächelnd.

Bianca holt frisches Wasser für die Blumen und geht wieder hinaus: „Ich bleibe dabei, die Ronaldobrust macht mehr her. Diese Schuhe werde ich nicht kaufen. Pappschwert!“ Wieder den Kopf schüttelnd gießt sie weiter ihre Balkonblumen.

Peter stellt sich breitbeinig in die Balkontür: „Das kann ich auch.“

„Was, ein Pappschwert schwingen?“

„Nein, dein Ronaldo sein!“

Er zieht sich das T- Shirt über den Kopf, stemmt die Hände auf die Hüften, zieht seinen beginnenden Bauch ein, die Schultern gehen leicht nach vorn, ein tiefer Atemzug und dann kam es raus: „Uuuu…Aaaa…h!“ Ein lang anhaltender Schrei, tief aus dem Bauch kommend, bahnt sich seinen Weg in den Himmel.

Von oben schaut Nachbar und Freund, Dortmundfan Lars über die Balkonbrüstung: „Hey, Bianca, was ist denn bei euch los?“

„Peter trainiert.“

„Was, Gewichtheben?“

„Nein, Fußball.“

„Fußball? Geht das nicht besser auf dem Rasen?“

„Du kannst ihn ja davon überzeugen.“

„Ich komm runter. Das muss ich miterleben.“

Kurz darauf klingelt es an der Wohnungstür und Peter öffnet sie, immer noch mit freiem Oberkörper: „Hallo Lars, was machst du denn hier?“

„Ich will sehen, wie du Fußball trainierst mitten im Wohnzimmer.“

„Fußball? Wenn ich hier kicken würde, hätte Bianca bestimmt was dagegen.“

„Sie selbst erzählte mir das doch gerade: Du trainierst Fußball, deshalb der lange tiefe Schrei. Hattest du dich geärgert?“

„Quatsch, ich habe ihr den Ronaldo gemacht.“

„Mitten ins Tor?“

„Nun komm erst mal `rein. Nein, die neue Werbung mit Schweinsteiger, Neuer und Co. war im Fernsehen. Da wird geschrien und ein Schwert geschwungen. Bianca sagte, Ronaldo kann es besser als Schweini. Also hab` ich ihr den Ronaldo gemacht. Willst du ein Bier?“

„Ja, gern. Kommt die Werbung noch `mal?“

„Bestimmt. Setz dich doch. Lass` uns Bier trinken und gucken, wann sie wiederholt wird.“

Gesagt und umgesetzt: Die Beiden sitzen auf der Couch und schauen wie gebannt auf den Fernsehbildschirm. Jetzt! Ein schreiender Schweinsteiger reckt sich gen Himmel und Neuer wird wieder verfünffacht: Krieger in der Schlacht.

Bianca schaut sich das auch noch mal an: „Deutschland zieht mit der letzten verletzten Garde in den Krieg gegen die ganze Welt, nicht nur gegen Russland.“

„Die Russen haben doch die Qualifikation verpasst und sind gar nicht in Brasilien dabei!“, entrüstet sich Lars.

„Quatsch! Lars, wo lebst du denn. Die Russen spielen in Gruppe H und könnten auf Deutschland im Achtelfinale treffen“, bemerkt Bianca nur.

„Du weißt ja richtig Bescheid. Ich kann nicht alle Länder aufzählen, die dabei sein werden.“

„Tja, mein lieber Lars, seitdem wir Frauen vielfache Welt- und Europameister sind und dieses Jahr auch den Championsleaguetitel verteidigen konnten, was den Bayernjungs nicht gelang, solltest du die Fußballfrauen ernst nehmen.“

„Du hast ja keine Ahnung“, antwortet Lars, „komm mal mit zu Dortmund. Die Zuschauerfrauen sind begeistert, wenn die Kerle vor ihnen nach einem Tor nackt herumlaufen. Das gibt es bei keinem Frauenspiel!.“

„Ich denke, es hagelt eine rote Karte, wenn ein Spieler nackend über den geheiligten Fußballrasen läuft oder den Platz so verlässt.“

„Gelb“, mischt sich Peter wieder ein, „eine gelbe Karte gibt es.“

„Warum? Gelb zieht der Schiedsrichter doch schon bei freiem Oberkörper.“

 

Das Stadion wird nicht fertig

„Bianca, hahaha, das musst du hören, hahaha….“, Peter kann sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Er schlägt sich auf die Schenkel und lacht. Bianca will gerade spazieren gehen und kehrt nochmal ins Wohnzimmer zurück.

„Peter, was ist mit dir los?“

„Hahaha, die Deutschen und die Brasilianer, hahaha, das musst du einfach hören, hahaha.“

„Nun beruhige dich erst mal. So kannst du doch gar nicht erzählen.“

„Also, das Stadion in São Paulo, in dem das Eröffnungsspiel stattfinden soll, wird nicht fertig.“

„Was ist daran so lustig?“, fragt Bianca ihren Mann.

„So ist das natürlich nicht lustig. Hör zu. Da fragt der perfekte deutsche Journalist einen Mitarbeiter von der Baufirma, ich weiß nicht mehr, was der da macht, ob das Eröffnungsspiel im Stadion stattfinden können wird. Für den Brasilianer ist das natürlich klar und so antwortet er auch. Jetzt kommt es, hahaha, pass auf, hahaha.““

„Peter, was kommt?“

„Also, der Brasilianer sagte, wörtlich, dass sie gestern schon die Tische reingestellt hatten und heute funktionieren die meisten sogar, hihihi“, Peter schlug sich wieder auf die Schenkel, „Stell dir das mal bildlich vor. Wir stellen hier Tische rein und die meisten bleiben tatsächlich stehen. Das ist dann der Beweis dafür, dass dieses Haus fertig gebaut wurde.“

„Ja, lustig“, stimmt ihm Bianca zu, „Das war doch bestimmt nicht alles.“

„Nein, natürlich nicht.“ Peter beruhigt sich etwas: „Die Tische sind natürlich Kommunikationstische mit viel Technik für die Journalisten. Doch den Satz hatte er wirklich erst mal so gesagt: Gestern stellten wir die Tische rein und heute funktionieren die meisten sogar, hihihi. Tut mir leid, das ist typisch portugiesisch. Eine Tribüne bricht fast zusammen und besteht den Statiktest nicht, aber die meisten Tische funktionieren, bleiben also stehen. Ich finde das lustig.“

„Warum typisch portugiesisch? Das sind doch Brasilianer, die dort bauen.“

„Wer das Stadion wirklich baut, weiß ich nicht. Das in Manaus wurde von deutschen Architekten entworfen. Wer weiß, welche Firmen in São Paulo beauftragt wurden. Typisch portugiesisch deshalb, weil vieles in Brasilien aus Portugal stammt: Samba, Bohnen und eben auch diese besondere Art der Gelassenheit. Da kannst du als Deutsche nicht mitreden. Typisch portugiesisch eben.“

„Samba und Karneval in Rio sind doch nicht aus Portugal importiert“, entrüstet sich Bianca, „Die Portugiesen singen Fado und essen Bacalhau, meines Wissens nach in hundert unterschiedlichen Varianten.“

„Ja, genau, Bacalhau mit Bohnen ist eines der Nationalgerichte: Bohnen weiß, gelb, grün oder rot oder von jedem etwas. Jeder Portugiese, der auch nur ein kleines Stückchen Land sein eigen nennt, baut darauf auf jeden Fall Bohnen an. Im Mai wird geerntet. Außerdem lieben die Brasilianer die langsame, melancholische, dunkle Samba in Moll, Musik, wie der Fado in Portugal. Und der Karneval hat seine Wurzeln in den Festas Populares, den Festen zu Ehren der Volksheiligen, die heute noch in Portugal überall gefeiert werden.“

„Und was ist mit der Langmut? Ich dachte bisher, Brasilianer sind eher temperamentvoll.“

„Jaaa, das hat eine ganz besondere Bedeutung. Das Eine schließt das Andere nicht aus: temperamentvolle Langmut eben. Es muss nicht alles perfekt sein, Hauptsache, die Angelegenheit findet statt oder die Sache funktioniert. Stadion nicht fertig, na und, dann verhängen wir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michaela Bindernagel
Bildmaterialien: Sylke Wegener
Lektorat: Sylke Wegener
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5526-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinem Vater, Prof. Dr. Wolfgang Sikora, der sich als Lehrer, Sport- und Erziehungswissenschaftler sein Leben lang für den Volkssport insbesondere im Kinder- und Jugendalter einsetzte, für die dritte Sportstunde in der Woche an den Schulen kämpfte, für mehr Bewegung nach dem Unterricht. Er war und ist natürlich Fußballfan und die Begeisterung bei uns zu Hause war besonders groß, wenn seine Schwester und sein Bruder, meine Tante und mein Onkel, mit fieberten.

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