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Das Weihnachtsgretchen

Autor: Volkmar Koch




Es war einmal vor noch gar nicht so langer Zeit ein junger Mann, mit seiner lieben Frau, seiner gerade geborenen Tochter und seinem alten Väterchen. Sie waren die letzten Bewohner eines weit abgelegenen, verlassenen Dorfes.
Weil die Familie ihr Leben nicht länger in Armut führen wollte, entschied der junge Mann in die große Stadt umzusiedeln.
Aber das alte Väterchen sprach: „Du Leichtfuß! Der Winter hat heute seine ersten Grüße geschickt. Wir können nicht in die Stadt ziehen, solange du dort keine Arbeit, keine Wohnung und auch kein Geld für einen Umzug hast.“
Der junge Mann zeigte sich einsichtig, packte seine Siebensachen und machte sich am nächsten Morgen ganz allein auf den langen Weg in die ferne Stadt. Zum Abschied versprach er seiner Familie aber, dass er pünktlich in fünf Tagen, zum Heiligen Abend, wieder bei ihnen weilen würde.



* * *



Die Sonne lieferte bereits ein herrliches Abendrot, als der junge Mann nach seinem langen Fußmarsch aus dem Wald hervor trat und die Grenzen der Stadt erblickte.
Auf der Wiese vor der großen Burgmauer hatten sich etliche Händler zum bunten Markttreiben versammelt und versuchten ihre restlichen Tageswaren an ihre Kundschaft zu bringen.
„Har, har, har. Schaut euch doch nur diesen Halunken dort an! Verkauft den Leuten faule Eier!“ hallte das Marktschreiergebrüll über den weiten Hain.
„Ach was! Dich müsste man verklagen. Du und dein gammliges Gemüse gehören auf den Komposthaufen!“
Zwei sehr hübsche, in reizende Dirndl gekleidete Damen kamen sofort auf den jungen Mann zugelaufen und fragten, ob sie ihn bei seinem Besuch in der Stadt begleiten dürften. Aber der Mann antwortete: „Ich bin auf der Suche nach Arbeit und einer Unterkunft.“
Da rief die eine Frau schnell: „Gehe zu den Gebrüdern Pastevka. Die suchen immer nach Tagelöhnern wie dir. Sage ihnen, dass dich die Müllerschwestern schicken. Folge der Hauptstraße und biege am Rathaus links ab. Nach dem fünften Haus auf der linken Seite führt dich eine kleine Gasse zu ihrem Hof.“
Der junge Mann bedankte sich höflich und begab sich auf die Suche nach den Brüdern. Schon nach wenigen Minuten fand er sein Ziel.
„Also gut, du kannst bei uns arbeiten. Morgen, bei Sonnenaufgang, müssen wir hinaus zum Förster gehen. Er braucht Hilfe bei den Waldarbeiten. Dort kannst du uns zeigen, ob du zum Arbeiten taugst“, rief der älteste der drei Brüder.
„Nun oh Herr, so sagt mir doch bitte, wo ich heut Nacht schlafen kann. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, habe einen weiten Weg hinter mir.“
Doch der Alte lachte nur und rief: „Was für ein Leichtfuß du doch bist! Kommst in unsere Stadt zum Arbeiten, aber hast noch nicht mal eine Bleibe. Hahaha! Dort, in meinem Stall, bei den Hühnern, da findest du sicher noch ein trockenes Plätzchen. Hahaha. Aber wehe, du stiehlst mir ihre Eier. Hahaha.“
Enttäuscht zog der junge Mann von dannen und begann nur kurze Zeit später am großen, alten Brunnen sein Klagelied zu singen:



“Oh weh! Oh weh! Oh Unglück vergeh!“


Da trat plötzlich ein altes Greisenweib zu ihm und sprach: „Hab keinen Kummer wegen deiner Situation. Ich möchte Dir helfen und biete dir für diese Nacht ein Bett in meinem Hause an.“
„Ach altes Weib, so gerne würde ich dein Angebot annehmen. Doch ich habe gerade mal genügend Geld, um in den nächsten Tagen nicht hungern zu müssen.“
„Nun, du sollst diese Nacht nicht umsonst bei mir wohnen. Deshalb schneide mir am Burggraben so viele Weidentriebe, dass ich morgen daraus drei Körbe flechten kann.“
Der junge Mann willigte ein.
Am Tage darauf half er den Pastevka -Brüdern im Wald, so, wie es vereinbart war. Er arbeitete sehr hart und hoffte dadurch auf einen hohen Lohn. Doch zum Feierabend sprach der älteste Bruder genau das Gegenteil: „Der Förster war nicht zufrieden mit deiner Arbeit. Er wollte uns nur die Hälfte zahlen und nun bleibt gerade mal genügend Geld für uns drei Brüder. Wenn du morgen nicht noch härter arbeitest, dann brauchst du übermorgen nicht wieder zu kommen.“
Werter Herr, ich möchte beweisen, dass ich kein Faulpelz bin und werde morgen noch härter arbeiten.“
„Gut, wir müssen das Vieh vom Bauern zusammentreiben und seine geernteten Rettiche für den Winter einlagern. Sei morgen pünktlich zum Sonnenaufgang an meinem Hofe.“
„Ja, ich werde pünktlich sein, so sagt mir aber bitte, wo ich heut Nacht schlafen kann.“
Da lachte der Alte wieder und fragte: „Hatte es dir in meinem Stalle bei den Hühnern nicht gefallen? Hahaha!“
Erneut zog der junge Mann enttäuscht von Dannen und begann nur kurze Zeit später am Brunnen ein Klagelied zu singen:



“Oh weh! Oh weh! Oh Unglück vergeh!“




Da trat wieder das alte Greisenweib zu ihm und sprach: „Junge, ich möchte Dir helfen. Du kannst auch diese Nacht bei mir wohnen, wenn du zum Bauern gehst und mir ein Kilo Schafswolle bringst. Ich will daraus Fäden spinnen und warme Kleider weben. Zum Tausch gib ihm die drei Körbe, die ich heute aus den Weiden geflochten habe.“ Der junge Mann willigte ein und brachte der Frau die gewünschte Wolle.
Am nächsten Tag war der junge Mann noch fleißiger, aber auch diesmal wollten ihm die Brüder am Feierabend keinen Lohn zahlen.
„Der Bauer hatte dieses Jahr viele schlechte Ernten und konnte uns deshalb nur die Hälfte der vereinbarten Summe zahlen. So bleibt gerade mal genug Geld für meine Brüder und mich übrig. Morgen aber wollen wir das Dach des Rathauses neu eindecken. Mit etwas Glück wird uns der Bürgermeister einen sehr hohen Lohn dafür zahlen. Komm zum Sonnenaufgang wieder.“
„Ja, ich werde da sein, so sag mir aber bitte, wo ich heut Nacht schlafen kann.“
Da lachte der Alte wieder und rief ahnungslos: „Nun, langsam müsstest du dich doch wohlfühlen bei meinen Hühnern im Stalle. Hahaha!“ Enttäuscht zog der junge Mann von Dannen und begann nur kurze Zeit später am Brunnen sein Klagelied zu singen:



“Oh weh! Oh weh! Oh Unglück vergeh!“



Und wieder erschien die Alte von den Abenden davor und sprach: „Junge, ich möchte Dir helfen. Du kannst auch diese Nacht bei mir wohnen, wenn du die Kleider, welche ich heute gewebt habe, zum Händler bringst und einen guten Preis dafür verlangst.“ Der junge Mann willigte ein und brachte der Frau nur wenig später ein Säckchen voll Geld.
Am dritten Tag arbeitete der junge Mann wieder für die Brüder. Und wie sollte es auch anders sein, weigerten sie sich abermals, ihm seinen Lohn zu zahlen: „Was für ein närrischer Leichtfuß du bist! Arbeitest seit drei Tagen für uns und gibst dich zufrieden, mit leeren Händen nach Hause zu gehen. Warum sollen wir dich dann heute bezahlen? Hahaha!“


„Ihr habt mich nur ausgenutzt? Das werde ich mir nicht gefallen lassen!“
„Soll ich mich von einem, der seit drei Tagen in meinem Hühnerstall lebt, als Betrüger bezeichnen lassen? Hahaha! Solch Gesindel wird niemand Glauben schenken! Scher dich zum Teufel, sonst hetze ich die Hunde auf dich! Hahaha!“
Noch enttäuschter, als die Tage zuvor, zog der junge Mann von dannen und begann nur kurze Zeit später am Brunnen wiederum sein Klagelied zu singen:


“Oh weh! Oh weh! Oh Unglück vergeh!“



Und auch diesmal erschien ihm die Alte: „Junge, ich möchte Dir helfen. Morgen, am Heiligen Abend, erwarte ich sehr hohen und reichen Besuch in meinem Haus. Wenn du es schaffst, dass er sich bei mir wohlfühlt, so wird er dich dafür reichlich belohnen.“
„Ich habe meinen Liebsten aber geschworen, dass ich am Heiligen Abend wieder bei ihnen sein werde. Wenn ich warte, bis dein Besuch am Abend eintrifft, dann werde ich es niemals rechtzeitig zurück in mein Dorf schaffen, denn der Weg dorthin ist weit und dauert zu Fuß mehr als zehn Stunden.“
„Oh Jungchen, so glaub nur daran, dass jeden Tag ein Wunder geschehen kann. Wenn du mir aber nicht vertraust, dann kannst du das Säckchen Geld nehmen, was du mir gestern brachtest und damit sofort zurück zu deiner Familie gehen.“
Der junge Mann musste schwer mit sich Ringen, fragte aber schließlich: „Wie soll ich es denn anstellen, dass sich dein Besuch hier wohl fühlt, alte Frau? Morgen bereits ist Heilig Abend und dieses alte Haus macht den Anschein, als würde es bald zusammenbrechen.“
„So hilf mir als erstes, es weihnachtlich zu schmücken. Gehe deshalb heute noch einmal zum Förster und bringe mir den schönsten Weihnachtsbaum.“
Der junge Mann wollte der alten Frau den Gefallen tun. Nur wenig später erlebte er tatsächlich ein kleines Wunder, als der Förster zu ihm sprach:
„Ich kann mich sehr genau an dich erinnern, Bursche. Von welchen bösen Geistern warst du besessen, um für die Pastevka Brüder zu arbeiten? Du warst sehr fleißig, hast fast die ganze Arbeit allein gemacht. Ich möchte dir zum Dank die schönste Tanne schenken, die in meinem Walde steht. Und wenn du wieder mal Arbeit suchst, dann melde dich bei mir.“
Voller Stolz brachte der junge Mann die Tanne der alten Frau.
Als nächstes verlangte sie von ihm, zum Bauern zu gehen und die dickste Gans zu holen, die auf seinem Hofe herumwatschelte.
Beim Bauern angekommen, erlebte er das nächste Wunder: „Ich kann mich sehr genau an dich erinnern, Bursche. Von welchen bösen Geistern warst du besessen, um für die Pastevka Brüder zu arbeiten? Du warst sehr fleißig, hast fast die ganze Arbeit allein gemacht. Ich möchte dir zum Dank die dickste Gans schenken, die auf meinem Hof zu finden ist. Und wenn du wieder mal Arbeit suchst, dann melde dich bei mir.“
Voller Stolz brachte der junge Mann die Gans der alten Frau.
Dann aber verlangte sie von ihm das Unmögliche. Sie wollte, dass das alte Haus repariert wird, in dem sie lebte. „Werte Frau, aber wie soll ich das nur schaffen, ohne Werkzeug, ohne Schrauben und ohne Holz?“
„So gehe morgen in aller Frühe noch einmal zum Bürgermeister. Erzähle ihm von dem Unrecht, dass dir widerfahren ist.“
Der junge Mann folgte dem Rat der Frau und erlebte sein drittes Wunder:
„Ich kann mich sehr genau an dich erinnern, Bursche. Du warst sehr fleißig, hast fast die ganze Arbeit allein gemacht. Von welchen bösen Geistern warst du besessen, für die Pastevka Brüder zu arbeiten? Vom Förster und vom Bauern habe ich gestern im Gasthof von deinem Unglück erfahren. So sage mir, welch gerechte Bestrafung die Pastevka- Brüder verdient haben.“
Da kam dem jungen Mann sofort eine Idee: „Seit drei Tagen lebe ich als Einsiedler in einem alten Haus am Stadtrand. Wenn die Brüder es bis heute Abend wieder in Ordnung bringen, so dass man darin gut leben und sich wohl fühlen kann, dann möchte ich ihnen vergeben.“
Der Bürgermeister tat sehr überrascht und sagte: „Du meinst das verlassene Pfarrerhaus am Stadtrand? Wer in Herrgottsnamen lässt dich dort wohnen? Dein Wunsch scheint mir aber eine gerechte Bestrafung für die Brüder zu sein.“
Und so trug es sich zu, dass sich dieses wundersame Ereignis in Windeseile in der ganzen Stadt verbreitete. Die Bürger waren so neugierig, dass sie herbeigelaufen kamen und den Brüdern schließlich sogar dabei halfen, das alte Pfarrerhaus wieder im neuen Schein erstrahlen zu lassen.


* * *



‚Klopf, klopf, klopf’, ertönte es am Abend an der Türe. ‚Das musste der Besuch der alten Dame sein’, dachte der junge Mann. Er hatte es sich gerade am Kamin gemütlich gemacht und beobachtete fasziniert die tänzelnden Flammen des knisternden Feuers.
‚Klopf, klopf, klopf’, hallte es wieder durch das kleine Haus. Wollte die alte Dame ihren Besuch nicht herein lassen? Doch wo war sie nur? Seit der junge Mann beim Bürgermeister war, hatte er sie nicht wieder gesehen. Schließlich öffnete er selbst die Tür. Doch was war das? Da draußen standen der Bauer und der Förster und berichteten aufgeregt, dass sie am Vormittag von einer alten Frau angeheuert wurden. Sie stellte sich ihnen als das Gretchen vor und verlangte vom Bauern, dass er seine zwei schnellsten Pferde nehmen, und damit zum Förster reiten solle. Der Förster sollte die beiden Tiere vor seinen größten Schlitten spannen und mit dem Bauern zusammen in ein fernes Dorf fahren, um dort die Familie des Einsiedlers zu holen. Dafür erhielten die beiden von der Frau ein Säckchen voll Geld.
Der junge Mann konnte nicht glauben, was er da hörte und trat einen Schritt hinaus, auf die Straße. Da erblickte er den riesigen Schlitten, beladen mit allerlei Möbel und Krempel und daneben stand seine Frau, welche sicher und sanft die gemeinsame Tochter in ihren Armen hielt. Das alte Väterchen sprang gerade vom Schlitten herab, so, als wäre er dreißig Jahre gejüngert.
Und so trat das größte Wunder dieses Abends ein: Der hohe und reiche Besuch war eingetroffen - hoch in Ehren, denn reich an Liebe. Der junge Mann feierte ein wunderschönes Weihnachtsfest im Kreise seiner Familie und seiner neuen Freunde.
Die alte Frau, die sich das Gretchen nannte, wurde aber niemals wieder gesehen. Kein Mensch wusste, wer sie war und niemand kannte einen, dem das alte Pfarrerhaus gehörte. Angeblich wollten der Förster und der Bauer aber etwas Seltsames vor der Stadt im Schein des Mondes gesehen haben, als sie mit der Familie aus dem Dorf zurück kamen. Ein riesiger Schlitten, zehn mal größer als ihrer und mit mindestens zwanzig Rehntieren bespannt, stand am Rande des Waldes. Eine alte Frau, welche nur das Gretchen gewesen sein konnte, stieg gerade hinauf zu einem dicken Mann, mit weißem Bart und rotem Mantel. Zur Begrüßung gaben sie sich nicht die Hand oder einen Kuss, so, wie es zu Orte üblich war. Nein, diese beiden rieben ihre dicken Nasen aneinander und riefen laut: „Ho! Ho! Ho!“
Wisst ihr vielleicht, wer das gewesen war?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein kleines Dankeschön an dieser Stelle an Stefan Pentzek (Jugendreferent in der Ev. Kirchengemeinde Nümbrecht), für seine Informationen rund um den Ursprung des Weihnachtsfestes.

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