REFLECTIONS
Elizabeth Lynne Stewart
Waiting for the end to come
Wishing I had strength to stand
This is not what I had planned
It’s out of my control
So many things were left unsaid
It’s hard to let you go
[Linkin Park – Waiting For The End]
Prolog
Ich hasse mein Leben.
Ich hasse alles daran. Ich hasse es, in einer Woche in die neue Schule gehen zu müssen. Ich hasse es, ans andere Ende des Landes ziehen zu müssen. Ich hasse meine Großeltern für ihre übertrieben freundliche Art. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig bin. Und am meisten an allem hasse ich diesen Autofahrer, der zu dumm war, um ein Taxi zu rufen und nicht betrunken zu fahren.
Er hat Schuld an allem. Er ist schuld daran, dass meine Eltern gestorben waren. Er ist schuld daran, dass ich mich unglaublich leer fühle.
Eins
Ich saß schweigend auf der Beifahrerseite des Autos und starrte aus dem Fenster auf die düstere Landschaft. Der Himmel war wolkenverhangen und tauchte die Wiesen in einen grauen Schleier.
Finn räusperte sich.
Ich wusste, dass er reden wollte. Aber ich war mir sicher, dass er mich gut genug kannte, als dass er wusste, dass mir danach wirklich nicht zumute war. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Konnte er es nicht einfach bleiben lassen?
„Amélie?“
Ich ließ mich tiefer in den Sitz herabsinken und gab ein kaum verständliches Grummeln als Antwort.
„Ich will nicht darüber reden, Finn. Das weißt du.“
Damit war das Gespräch für mich beendet.
Finn seufzte, sagte aber nichts weiter dazu. Das konnte mir nur recht sein. Ich wollte nicht mit ihm sprechen. Ich wollte mit niemandem sprechen.
Seltsamerweise hatte das monotone Surren des Motors eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich drehte meinen Kopf etwas weiter zum Fenster und presste meine Arme um meinen Körper. Eine Haltung, die ich mir in den letzten Wochen angeeignet hatte.
Irgendwie hatte das etwas Tröstendes. Es erinnerte mich an meine Mutter.
Meine Mutter. Beim Gedanken an sie spürte ich, wie sich erneut ein unangenehmer Kloß in meinem Hals bildete. Ich versuchte, die Tränen herunter zu schlucken, was mir leider nicht gelang. Ein Schluchzen löste sich aus meiner Kehle und eine Träne nach der anderen floss über meine Wangen.
Warum hatte das passieren müssen? Warum mussten sie sterben?
Ich konnte es einfach nicht fassen. Sie waren immer für mich da gewesen. Und dann – mit einem Schlag – war alles weg. Und ich war allein. Ich fühlte mich so unglaublich hilflos und klein. Ich konnte nicht einmal aufhören zu weinen.
Ich sah einige blaue Schilder durch meinen Tränenschleier hinweg an mir vorbeizischen, bis das Auto langsamer wurde und anhielt. Erst jetzt begriff ich, dass mein Bruder auf einen Rastplatz gefahren war. Er stellte den Motor ab.
Zum ersten Mal, seit ich vor gut drei Stunden in das Auto gestiegen war, wandte ich meinen Blick vom Fenster ab und blickte ihn vorsichtig von der Seite an.
Er starrte gerade aus und hielt das Lenkrad umklammert. Finn wirkte erschöpft, seine Haut wirkte blass und als ich ihn etwas näher musterte, fiel mir auf, dass er abgenommen hatte.
Ich musste schlucken. Mein Bruder war für mich immer da gewesen. Er war mein Fels in der Brandung. Jetzt auch ihn so hilflos zu sehen, brach mir das Herz.
Ich schloss die Augen, als ich unter heftigem Zittern erneut zu weinen begann.
„Finn“, flüsterte ich. So leise, dass ich mir selbst nicht sicher war, ob er es überhaupt verstehen konnte. Er wandte seinen Kopf in meine Richtung und entspannte seinen Griff um das Lenkrad.
„Alles okay bei dir?“
Ich spürte, wie viel Kraft es ihn kostete, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ungläubig starrte ich ihn an bis ich kaum merklich den Kopf schüttelte.
Es war überhaupt nichts okay. Weder bei mir, noch bei ihm. Und das wussten wir beide.
Ich beugte mich zu ihm herüber, um ihn in dem Arm zu nehmen. Meine Augen brannten, als ich sie schloss.
Finn war der Einzige, der mir geblieben war. Er war immer bei mir gewesen, schon, als wir noch Kinder waren. Immer hatte er sich um mich gekümmert. Immer hatte ich mich auf ihn verlassen können.
Es tat so weh, ihn so leiden zu sehen.
Zwei
Finn bog mit dem Wagen in die Einfahrt ein. Mir wurde für einen kurzen Augenblick ganz anders, als ich das alte Haus meiner Großeltern sah.
Als wir noch Kinder waren, hatten mein Bruder und ich dort die Ferien verbracht. Doch da meine Großeltern so weit weg lebten, hatten wir sie in letzter Zeit kaum besucht. Zu Familienfesten gab es oft nur Karten und Telefonate und das letzte Mal hatte ich die beiden an Weihnachten gesehen. Sie waren über die Feiertage zu uns gekommen.
Ich senkte meinen Blick. Es war nicht gut, so viel nachzudenken. Das frischte nur die Erinnerungen an meine Eltern auf – und ich wollte nicht schon wieder weinen.
Gerade als ich die Wagentür öffnen wollte, wurde die Haustür aufgestoßen und meine Großmutter kam mit einem breiten Grinsen den Weg entlang.
„Kinder, da seid ihr ja!“
Ich sog scharf die Luft ein und war für einen Moment wie versteinert. Dasselbe hatte meine Großmutter immer gesagt, wenn unsere Eltern mit uns zu ihr gefahren waren.
Sie ging auf meinen Bruder zu und drückte ihn. Mein Großvater ging mit einem stillen Lächeln hinter meiner Großmutter her. Dieses Friede-Freude-Eierkuchen-Getue war mir mehr als nur unangenehm. Mir ging es regelrecht gegen den Strich, dass meine Großeltern mit einer solch guten Laune auf uns zugingen. Als wollten sie so tun, als wäre nie etwas passiert. Als wären wir nur über die Ferien zu ihnen gekommen und würden danach wieder nach Hause fahren, wo alles so war wie immer. Dorthin, wo unsere Eltern uns erwarteten und alles so weiterging wie bisher.
Aber das würde dieses Mal nicht so sein. Es würde nie wieder so sein.
„Hallo Oma“, erwiderte Finn und versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu lösen.
„Amélie, meine Süße“, zwitscherte sie und drückte auch mich an sich.
Der schwere, blumige Duft ihres Parfüms gemischt mit dem nach Essen kroch mir in die Nase.
Mir wurde schlecht. Ich wusste, dass sie mein Lieblingsessen gekocht hatte. Und schon wieder bildete sich ein schwerer Kloß in meinem Hals, den ich verzweifelt versuchte, irgendwie herunterzuschlucken.
„Hallo“, murmelte ich leise.
Meine Großmutter hingegen lächelte freundlich: „Ich habe eine kleine Überraschung für euch.“
Ich blickte aus meinen müden Augen hinüber zu meinem Bruder. Ich konnte nichts essen.
Das hatte ich schon die letzten paar Wochen nicht gekonnt und Finn ging es genau so. Nachdem ich es nicht zustande brachte, irgendetwas zu erwidern, war ich froh, dass es meinem Bruder anders erging. Ich wusste, dass ihn das Ganze hier ebenso berührte wie mich, doch dass er versuchte, so zu tun, als wäre nichts. Er war schon immer der Tapferere von uns beiden gewesen.
„Oh, wie lieb von euch. Aber - ich glaube, es ist besser, wenn Amélie und ich erst einmal unsere Sachen auspacken, findest du nicht auch?“
Seine Stimme klang rau und krächzig. Wir hatten den Rest der Strecke kein Wort mehr miteinander gewechselt. Finn räusperte sich, rang sich ein gespieltes Lächeln ab und ging zu meinem Großvater, der versuchte, den Kofferraum zu öffnen.
„Neumodisches Zeug“, schimpfte er lächelnd.
Finn hatte mir meine Koffer aufs Zimmer getragen. Er war immer schon sehr sportlich gewesen; er war Mitglied im Fußballteam unserer alten Schule, ging gelegentlich am Morgen joggen und spielte in einem Verein Basketball. Kein Wunder, dass so viele Mädchen ihm zu Hause hinterher geblickt hatten.
Aber letzten Endes hatte es keine von ihnen ernst gemeint. Sie waren alle so oberflächlich.
Finn hatte ohnehin schon am Tod unserer Eltern so sehr gelitten; doch dass seine ehemalige Freundin gleich am Tag darauf Schluss machte, weil sie 'dem Druck nicht gewachsen war', hatte ihm wirklich den Rest gegeben. Ich konnte ihn echt verstehen.
Dabei wären die beiden fast ein Jahr zusammen gewesen.
Als ich die knarrende Zimmertür hinter mir schloss, stieß ich einen Seufzer aus. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Selbst wenn der Raum, in dem mein neues Zimmer war, recht klein war, fühlte ich mich darin noch kleiner. Einsam, verloren.
Es war ein Dachzimmer mit leichter Schräge an der Decke. Dunkle Holzdielen bedeckten den Fußboden und engten den Raum von oben her ein. Am Eck neben der Zimmertür konnte man noch die Überreste von der alten, moosgrünen Tapete entdecken.
Im Zimmer standen ein alter Schrank, ein Bett, ein trüber Spiegel und ein Schreibtisch. Es wirkte ziemlich leblos und kalt.
Genau so, wie ich mich fühlte.
Ich schluckte, ging einige Schritte in Richtung Fenster. Unter den weißen Rüschenvorhängen konnte man auf den Garten blicken. Ranken von Efeu umrahmten mein Zimmerfenster und zierten die gesamte Wand.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort schweigend hinab geblickt hatte. Doch irgendwann wandte ich mich nach links um, in Richtung Spiegel und Bett - und blieb wie erstarrt stehen.
Ich wagte es nicht, zu atmen, als ich vorsichtig einen Schritt zurück machte. Was sich vor mir im Spiegel zeigte, brachte mich noch mehr durcheinander, als ich es ohnehin schon war.
Vor mir, unter der trüben Oberfläche des Spiegels, schien es, als würde sich ein Junge darin spiegeln. Er trug ein altes, weißes Leinenhemd, eine Schiebermütze und eine dunkelgraue Latzhose. Mir stockte der Atem.
Was ich da vor mir sah konnte unmöglich real sein. Dennoch fesselte mich der Junge, der etwa so alt war wie Finn. Seine dunklen Haare schimmerten blass und fielen ihm in Strähnen ins Gesicht. Er erinnerte mich an Jack Dawson aus Titanic. Denn er sah aus, als wäre er aus einem Geschichtsbuch entsprungen und würde nur wenige Meter von mir entfernt auf dem Boden sitzen.
Ich schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf, so als könnte ich dann leichter wieder zu Verstand gelangen.
... Fortsetzung folgt.
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2010
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