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Prolog

Es wehte ein rauer Wind an diesem Montagmorgen um kurz vor Sieben. Fast schon eisig schnitt er sich durch Michas Kleidung und zerzauste seine Haare, welche er mit einer simplen Handbewegung einfing und sich hinter die Ohren klemmte. Ein guter Tag zum Sterben. Oder?

Na ja, das Wetter konnte man sich an so einem Tag wohl schlecht aussuchen. Eigentlich war es egal, ob es sonnig, windig oder regnerisch war. Es hätte auch schneien können. Wenn man diesen Entschluss gefasst hatte, dann spielte das alles sowieso keine Rolle mehr. Obwohl Micha diese Mischung aus regnerischem, windigem Herbstwetter eigentlich ganz recht war. Er liebte es, wenn der Himmel grau und bewölkt war. Das erleichterte irgendwie das Gemüt.

-- Ja, es war in der Tat ein guter Tag zum Sterben. Und ganz offensichtlich war das Wetter auf seiner Seite.

Ein letztes Geschenk zum Abschied sozusagen. Heute würde der Tag sein, der sein Leiden ein für alle Mal auslöschen würde. Eine schöne Vorstellung, die ihn kurz lächeln ließ. Denn es war aussichtlos zu hoffen, dass sich diese Gefühle in ihm mit einem Schlag ändern und aus ihm einen fröhlichen und lachenden Menschen machen würden. Zwar hätte er sich das oft gewünscht… Doch das zu erwarten grenzte schon fast an Illusion. Das hatte er schon vor langer Zeit verstanden.

Seit Jahren schon lebte Micha still und anonym in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Es war nicht so, dass er sich die Einsamkeit ausgesucht hätte. Eigentlich war es genau umgekehrt. Er ertrug das Alleinsein nicht mehr. Oft schon hatte er versucht, Anschluss zu finden. Doch so gut wie jeder seiner Versuche, aus dieser Trostlosigkeit in seinem Inneren zu entkommen, war nur mit einer weiteren schlechten Erfahrung bestraft worden. So reihte sich dann ein negatives Erlebnis an das nächste, bis da nur noch Schmerz war. Schmerz und eine Sehnsucht, die einfach nicht gestillt wurde.

Er konnte nicht mehr.

Verdammt zur Einsamkeit. Niemanden zum Reden. Niemanden, den man anrufen konnte, wenn man mal Hilfe brauchte. Dabei, jeder brauchte doch mal einen Anderen. Einfach jemanden, der einem zuhörte. Der für einen da war. Einem Trost spendete, wenn man selbst nicht weiter wusste. Doch da war niemand. Einfach niemand…

Vielleicht lag es ja auch an ihm? Das hatte er sich schon oft gefragt. Vielleicht unterschied er sich zu sehr vom Rest der Menschheit da draußen. Vielleicht war er wirklich nichts weiter als eine Missgeburt, mit der niemand etwas zu tun haben wollte? Ganz sicher. Es musste so sein. Er war nie eine besonders gute Gesellschaft gewesen. Da war zu viel Seelenmüll, den er mit sich rumschleppte. Er war einfach zu kompliziert. Zu schwer zu ertragen, um gemocht zu werden. Das war Tatsache.Außerdem dachten die Menschen doch sowieso nur an sich selbst und waren daher nicht fähig zu sehen, wenn es einem schlecht ging und man Hilfe brauchte. Wenn man sie nicht gerade offen darauf ansprach. Doch auch da hatte Micha schon einige Enttäuschungen einstecken müssen. Man fasste einmal Mut, sich einem Anderen anzuvertrauen, wenn auch nur ein kleines Bisschen. Gerade einmal so viel, dass es den Anderen eigentlich nicht überfordern sollte und alles, was zurückkam war, dass man von seinem Gegenüber im Stich gelassen wurde. „Ich bin kein Psychologe.“, war einer dieser Sätze, die doch schon Bände sprachen. Eigentlich hatte es keinen Sinn mehr, sich über all das den Kopf zu zerbrechen. Das hatte er schon zu oft getan. Außerdem, vermissen würde ihn sowieso niemand. Das war Fakt!

Freunde hatte Micha keine. Und den Kontakt zu seinen Eltern hatte er schon vor Jahren abgebrochen. Weil es einfach nicht mehr ging. Weil sie ihn nicht verstanden und sich niemals ändern würden. Eigentlich hatte er sich nur danach gesehnt zu hören, dass er geliebt wurde. Nur ein einziges Mal! Doch es war, als spräche man mit einer Wand. Es hätte ihm doch nie an etwas gemangelt. Er hätte doch immer alles gehabt, was er gewollt hätte. Jeder andere wäre damit zufrieden, nein, sogar dankbar dafür gewesen. Aber er war schlicht und ergreifend unfassbar undankbar! Er solle sich einfach nicht so anstellen. Er sei eben immer schon zu sensibel gewesen. Außerdem, das Leben war nun mal kein Zuckerschlecken. Doch vor allem solle er endlich mit diesem Unsinn aufhören!

-- So die Worte seines Vaters. Welcher normale Mann malte sich schon das Gesicht an? Und welcher normale Mann trug Kleidungsstücke, die eigentlich für Frauen gedacht waren? Er solle mit dem Schwachsinn aufhören und zur Vernunft kommen! Er solle erwachsen werden und die Verantwortung für sein Leben übernehmen!Wäre es nach Michas Vater gegangen, sein Sohn hätte sich vollkommen anders entwickelt. Von außen, wie von innen. 19 Jahre hatte er sein Bestes versucht, um aus Micha einen anständigen, jungen Mann zu formen. Hätte er jedoch gewusst, was einmal aus seinem Sohn werden würde, er hätte sich das mit dem Kinderwunsch noch einmal überlegt. So die Worte seines eigenen Vaters.

-- Aufmunternde Worte - in Erinnerungen manifestiert und in pulsierenden Abständen im Kopf ununterbrochen widerhallend.

Eine Zeit lang hatte Micha versucht den Vorstellungen seines Vaters zu entsprechen. Doch er war, wie so oft, daran gescheitert. Er war eben anders. Und das würde er, so wie es schien, auch immer sein. Doch sollte man nicht genau dafür geliebt werden? Für die Person, die man im Inneren ist und nicht nur für das, was andere an einem gerne sehen wollen? War es nicht so? Zielgesteuert lief Micha weiter die Straße entlang. Durch die ihm entgegen kommenden Menschen hindurch. Der Wind peitschte immer noch eisig durch den Stoff seines schwarzen, knielangen Mantels. Doch das störte ihn nicht. Jetzt war es sowieso nicht mehr weit. Er hatte sich lange Gedanken gemacht. Nicht erst ein paar Tage und auch nicht nur ein paar Wochen. Bereits vor Monaten hatte er diesen Entschluss gefasst. Und heute würde er es durchziehen. Und er würde sich von nichts und niemandem davon abhalten lassen!Plötzlich wurde er durch einen ziemlich unsanften Ruck gestoppt.

„Pass doch auf, Mann!“, hörte Micha es ihm von diesem Kerl kalt entgegen zischen.

Einen Moment lang blieb er stumm mitten auf dieser Straße stehen und blickte dem Fremden hinterher. Der hatte ihn einfach so übersehen. Und dann schnauzte er ihn auch noch an, als wäre er der Schuldige an der Sache. Seine typische Rolle eben: Schuldig an allem. Nicht wert, gesehen zu werden. Bei seiner Körpergröße und seiner zierlichen Gestalt konnte man das dem Typen doch auch nicht einmal übel nehmen. Der war klar im Recht. Was stand er dem auch im Weg?Mit einem Ruck drehte Micha sich wieder um, um seinen Weg fortzusetzen, während er seine Hände tief in den Taschen seines Mantels vergrub. Drei, höchstens vier Minuten noch. Dann würde er an seinem Ziel angekommen sein. Insgesamt waren es vielleicht noch zehn oder fünfzehn Minuten und dann würde dieses Leben endlich zu Ende sein.

-- 15 Minuten Leben.

Eine schöne Vorstellung. Kein ewiges Warten mehr, bis der Tod von selbst anklopfte. Deshalb nannte man das doch auch so - Freitod. Weil man selbst entschied, wann es zu Ende ging. Und nicht eine höhere Macht für sich entscheiden ließ.

Lange Zeit hatte Micha überlegt, wie er es machen würde und was die besten Möglichkeiten dazu waren. Da gab es das Pulsadern aufschneiden. Das Erhängen. Sich vor einen Zug werfen. Sich ertränken. Oder Schlaftabletten mit Alkohol. Nur ein paar von vielen Optionen.Trotzdem, keine dieser Alternativen war für ihn in Frage gekommen. Pulsadern aufschneiden ergab nur eine Riesensauerei, außerdem zog sich das Ausbluten zu lange hin. Erhängen war auch keine brauchbare Option. Wo hätte er sich schon erhängen sollen? Dann waren da auch noch der Abstand zum Boden und die Stricklänge mit zu beachten… Sich vor einen Zug werfen. Nein, auch keine gute Idee. Er wollte sterben und nicht einen kompletten Zug lahm legen. Außerdem wäre der Zugfahrer, der dann über ihn drüber gerollt wäre, mit Sicherheit seines Lebens nicht mehr froh geworden. Und wenn Micha eines nicht wollte, dann irgendeinen Fremden in die Auswirkungen seiner Entscheidung mit hinein ziehen. Sich ertränken? Hatte er schon einmal versucht. Doch spätestens, als der Drang nach Luft doch zu stark geworden war, war er wieder aus der Badewanne aufgetaucht. Und hatte die über seinen Kopf gezogenen und mit Klebeband an seinem Hals befestigten Plastiktüten aufgerissen und sich dem Wunsch seines Körpers, noch eine Weile weiter leben zu wollen, ergeben.Und Schlaftabletten mit Alkohol? An dieser Option hatte er sich auch schon einmal versucht. Alles was daraus resultiert war, war, dass man ihn noch rechtzeitig gefunden und ihm dann den Magen ausgepumpt hatte. Und das Risiko noch einmal an dieser Art des Freitodes zu scheitern, wollte Micha um keinen Preis der Welt riskieren. Dieses Mal sollte es ein für alle Mal zu Ende sein. Ohne Wiederkehr. Ohne Erwachen. Aus Sicht eines anderen – eines normalen Menschen - erschienen diese Gedankengänge mit Sicherheit vollkommen verrückt. Welcher normale Mensch stellte sich schon die Frage, wie er sich am besten umbringen konnte?

Abgesehen davon, welcher normale Mensch würde überhaupt auf so eine Idee kommen? Der normale, gesunde Mensch mit einem intakten Leben und Selbstwertgefühl konnte sowas mit Sicherheit nicht verstehen, geschweige denn auch nur im Ansatz nachvollziehen, wie sich diese Welt im Inneren anfühlte. Das Leben hatte doch so viel Schönes, für das es sich zu leben lohnte. Der Sonnenaufgang zum Beispiel. Oder all die schönen Erlebnisse, die mit Sicherheit noch kommen und nur darauf warten würden erlebt zu werden. Und wenn nicht dafür, dann machte es doch Sinn für die Menschen zu leben, denen man wichtig war. Oder wenn nicht das, dann lohnte es sich doch wenigstens für sich selbst weiter zu leben. Oder?

-- Alles schöne, aber doch wertlose Worte.

Micha war der Sonnenaufgang egal. Auf den konnte er getrost verzichten. Abgesehen davon war er sowieso eher ein Mensch, der die Dunkelheit bevorzugte. Das war immer schon so gewesen. Und von irgendwelchen imaginären Ereignissen in einer noch imaginäreren Zukunft zu sprechen, war meistens leicht daher gesagt, aber eben schwer gelebt. Menschen, denen er etwas bedeutete, gab es nicht. Und für sich selbst weiter leben…? Wozu? Hätte er dafür einen Grund gesehen, dann wäre er doch gar nicht erst an diesem Punkt der Erkenntnis angekommen. Dann würde er jetzt nicht hier durch die Stadt laufen. Hohles Gelaber! Er war allein. Es gab nur ihn und niemanden sonst. Dieses Gefühl, von der ganzen Welt verlassen zu sein, konnte einen auf Dauer niederschmettern. Irgendwann gab die Seele auf…

-- Acht Minuten Leben.

Endlich hatte Micha sein Ziel erreicht. Das Gebäude, zu dessen Fassade er aus großen, grauen Augen hinauf blickte, war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Kalt und grau ragte der Klotz in die Höhe. Früher war Micha oft hier gewesen. Früher, als er noch ein Kind gewesen war. Schon damals hatte er dieses Gebäude gehasst. Das und alles, was es verkörperte. Aber heute würde er ein Zeichen setzen!Langsam, die Hände noch immer in seinen Manteltaschen vergraben, betrat er die große Eingangshalle und lief direkt zu den Aufzügen, die, zu viert an der Zahl, zwei rechts und zwei links, in der Mitte des Schwarz-Gold marmorierten Raumes standen. Ein Knopfdruck genügte und die Taste mit dem Pfeil nach oben leuchtete hell auf. Es dauerte eine Weile, doch dann endlich öffnete sich der graue Kasten, schob die beiden metallenen Wände zur Seite und machte Micha Platz. Zielgerichtet drückte er den Knopf hinauf ins zehnte Stockwerk und beobachtete, wie sich die metallenen Tore wieder zusammen schoben und ihn in sich einsperrten. Nur um ihn dann, an Seilen befestigt, nach oben zu ziehen. Oben angekommen, senkte sich der Aufzug ein Stück und öffnete seine Pforten wieder, verschaffte Micha die Freiheit, nach der er sich sehnte. Nur um dann, in schweren, schwarzen Schuhen, den langen Flur entlang zu laufen. Das leise Geräusch seiner eigenen Schritte hallend im Hintergrund.

-- Sechs Minuten Leben.

Dann würde es vorbei sein. Ein Fingerschnipsen, mehr nicht. Ganz einfach. Langsam zog Micha seinen Mantel aus und legte ihn über die Lehne dieses großen, schwarzen Ledersessels, der hinter einem mindestens ebenso großen und mächtigen Schreibtisches aus Zedernholz stand. Danach folgten seine Schuhe. Zuerst der Rechte und dann der Linke. Sorgfältig platzierte er beide rechts neben dem Sessel auf dem grauen Marmorboden und stopfte anschließend seine Socken in die beiden Hohlräume, bevor er sich noch einen Moment zum Durchatmen gönnte. In fünf Minuten, oder weniger, würde es vorbei sein. Micha musste nur noch das letzte bisschen Mut in sich zusammenkratzen. Sein Herz schlug jetzt schon wie wild gegen seinen Brustkorb, dabei hatte es noch nicht einmal richtig angefangen. Der Weg hier hin war noch der leichte Teil gewesen. Jetzt hieß es: loslassen. Mit klarem Kopf und in vollem Bewusstsein. Nur noch einmal durchatmen, dachte Micha, als er zu dem Fenster mit dem weißen Rahmen vor sich blickte. Er würde nur noch einmal tief ein und wieder ausatmen. Nur noch einmal die Augen schließen und Abschied nehmen. Und dann würde er es tun. Genauso, wie er es sich in seinem Kopf immer und immer wieder ausgemalt, geplant und vorgestellt hatte. Sobald er seine Augen wieder aufmachte, würde er den Fenstergriff berühren, diesen nach rechts drehen und dann das Fenster öffnen. Und dann würde er hinaussteigen. Ja, genau so würde er es tun. Nach der selbst gegebenen Erlaubnis eines letzten, tiefen Atemzugs, öffnete Micha seine Augen wieder. Und dann berührte er den Fenstergriff und drehte ihn nach rechts, wodurch er den Wind, der von außen durch den kleinen horizontalen Spalt drang, leise zischen hören konnte. Einen Moment, vielleicht nur einen Wimpernschlag lang, hielt Micha inne und sammelte sich noch einmal. Sein Herz raste und Angst strömte durch seinen Körper. Dabei gab es doch nichts, wovor er Angst haben müsste. Oder? Das hier war Erlösung. Das, nach dem er sich all die Jahre gesehnt hatte. Kein Schmerz mehr. Einfach nur Frieden…Einmal noch atmete er tief ein und wieder aus, spürte wie sich sein schmaler Brustkorb hob und wieder senkte, als er schließlich den Fensterhebel zu sich zog und das Fenster vollends öffnete. Nur um dann - ohne einem weiteren Gedanken den Nährboden für aufkeimende Zweifel zu bieten - über den Fensterrahmen nach draußen zu steigen, bis seine nackten Füße auf kalten, nassen Beton trafen.

-- Zwei, vielleicht drei Minuten Leben.

Der Wind wehte eisig durch Michas dunkelbraune, schulterlange Haare und streifte sein Gesicht, während seine Augen einen Blick nach unten wagten. Von hier oben wirkte alles so klein. Die Autos, die in der Straße unter ihm standen, waren so winzig. Wie die Miniaturausgaben einer Welt, wie sie sonst nicht existierte.Am Abgrund stehend konnte Micha deutlich fühlen, wie sich das Leben durch seinen Körper zog. Von Sekunde zu Sekunde erhöhte sich sein Pulsschlag immer mehr. Höhe hatte er noch nie gemocht. Einen kurzen Moment schloss Micha seine Augen, ließ sich auf das Gefühl, jeden Moment hinab gezogen zu werden, ein, während der Wind wieder sein Gesicht streifte und durch seine Haare peitschte. Mit aller Gewalt donnerte sein Herz gegen den Brustkorb seiner zerbrechlichen Gestalt, denn es wurde ernst.

-- Eine Minute Leben.

Als Micha seine Augen wieder öffnete und in den Himmel blickte, durchfuhr ihn einen Moment lang ein seltsames Gefühl. Jetzt würde es ein Ende haben. Er musste nur noch los lassen. Das Leben loslassen und den Faden durchschneiden. Micha lächelte. Der Himmel war grau und kleine Regentropfen fielen zu Boden, legten sich sanft auf seine Wangen und begannen den Stoff seines schwarzen Pullovers zu durchnässen. Ein angenehmes Gefühl, das den Rhythmus seines Herzschlages auf undefinierbare Weise beruhigte. Einen Augenaufschlag später blickte Micha wieder in den Abgrund unter sich. Alles war so klein. So weit weg. Der nasse Beton unter seinen nackten Füßen war kalt und bot nur wenig Halt. Ein falscher Schritt würde schon genügen… Wieder musste er lächeln.Ja, nur ein falscher, wohl bedachter Schritt…

Das waren sie also – die letzten Sekunden seines Lebens.

Sekunden, in denen er noch einmal den Film seines jungen Lebens durchspielte.

Noch könnte er zurück.

Er müsste nur von hier absteigen und wieder zurück in das rettende Innere dieses Raumes gehen. Das könnte er tun… Ja, das könnte er tun.

Aber wollte er das?

Noch einmal ließ Micha die regengetränkte Luft durch seine Lungen gleiten, bevor er sich mit, in den Abgrund blickenden Augen, vom Boden abstieß und in die Tiefe stürzte…

Kapitel 1

 

„Hey.“, sagte Oliver, als er an der fremden Person vorbei ging. Doch ein kurzer, gar verschreckter Blick aus großen, grauen Augen war alles, das er als Resonanz erhielt.

Der Aufenthaltsraum war fast leer. Bis auf sie beide eben.

Wortlos setzte Oliver seinen Weg zu einem der dort stehenden Aschenbecher fort und blickte aus dem Fenster.

Draußen war es schon fast dunkel. Typisch für diese Zeit. Es war Anfang September und etwas vor 18 Uhr. Ein paar Minuten, bevor es Abendessen gab.

Sich von der Dunkelheit abwendend, griff Oliver in seine Schachtel und zündete sich eine Zigarette an.

Rauch sog sich in seine Lungen. In einem tiefen Zug. Einmal hinein und dann wieder durch seine Lippen hinaus, stieg dann zur Decke hinauf und wurde von der kalten Luft, die durch den Spalt des gekippten Fensters drang, wieder aufgefangen.

Ein kurzer Schauer zog durch Olivers Körper, brachte die Glieder unter seinem blauen Sweatshirt zum Zittern.

„Ziemlich kalt.“, sprach er in den Raum hinein, während er sich mit der Hand über seinen Oberarm strich und aus grünen Augen zu der anderen Person rüber sah. Doch dieses Mal kam keine Reaktion von seinem Gegenüber.

Regungslos saß diese zierliche Gestalt in der Ecke des Raumes auf einem Sessel, das rechte Bein an sich gezogen, und starrte stumm vor sich hin.

Oliver überlegte sich, ob er es noch einmal wagen sollte, sich an einem Gespräch zu versuchen, ließ es dann aber bleiben. Stille konnte auch ganz angenehm sein. Eigentlich sehr angenehm. Ein Gefühl, das schon viel zu lange her war. Ruhe. Einfach nur Ruhe. Einmal Zeit zum Durchatmen. Durchatmen von all den Dingen, die sonst von ihm gefordert wurden.

Einige Minuten lang wandte Oliver sich dann wieder der aufkeimenden Dunkelheit vor dem Fenster zu und gönnte sich die beruhigende Wirkung des Nikotins. Was würde er nur ohne das tun?... Doch irgendwann war die Zigarette zu Ende geraucht und endete als kleiner, verbrauchter Stummel in dem Aschenbecher. Zusammen mit all den anderen weggeworfenen Nervenberuhigern. Trotzdem wollte Oliver nicht schon wieder in dieses Zimmer gehen. Deshalb überlegte er dann auch nicht lange, zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte erneut zu der anderen Person.

Sein Gegenüber gab Oliver Rätsel auf. Denn noch nie hatte er einen Menschen gesehen, bei dem er nicht auf Anhieb hatte sagen können, ob es sich bei demjenigen um einen Mann oder eine Frau handelte. Doch bei diesem Menschen war das auf den ersten Blick schwer zu sagen. Die kleine Gestalt hatte einen zierlichen Körperbau und war auch nicht von allzu großer Statur. Etwas unter 1 m 70, wenn er hätte raten müssen. Dabei war Oliver nie sonderlich gut in solchen Schätzungen gewesen. Doch sein Gegenüber war auf jeden Fall einen guten Kopf kleiner als er selbst. Das war sicher.

Abgesehen davon hatte die Gestalt seine dunklen Haare zu einem Knoten zusammen gebunden. Und auch die Kleidung, die diese trug, brachte Oliver stark zu der Annahme, dass es sich bei diesem Etwas um eine Frau handeln musste. Die Person trug eine normale, schwarze Jogginghose und einen etwas zu großen, dunkelgrauen Pullover, der eine nackte Schulter offenbarte. Ein Brustansatz, wie normalerweise bei Frauen üblich, war jedoch nicht zu erkennen. Trotzdem, dieses Etwas da musste eine Frau sein. Oder? Untermauert wurde Olivers Annahme durch die großen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern, die starr auf die gegenüber liegende Wand gerichtet waren. Leer irgendwie. Als wäre da nur noch diese kleine Hülle übrig geblieben und die Seele, die einmal darin gewohnt hatte, schon lange daraus entflohen…

Auch das schmale, ovale Gesicht mit den etwas ausgeprägteren Wangenknochen, der geraden Nase und den halb vollen Lippen trugen einen großen Teil dazu bei, dass dieses Wesen eine Frau sein musste. Trotzdem, der leicht angedeutete Adamsapfel und die fehlenden Brüste gaben Oliver dann wieder Rätsel auf. Auch die etwas breiteren Schultern, sodass man wieder denken konnte, dass dieses Etwas da auch gut ein Mann sein konnte. Sicher war er sich allerdings bei beidem nicht.

Konnte ihm ja eigentlich auch egal sein, ob dieses Etwas da jetzt ein Mann oder eine Frau war. Es gab andere Dinge, die jetzt viel wichtiger waren.

Trotzdem, irgendwie faszinierte ihn sein Gegenüber. Auf eine komische Art und Weise.

Vielleicht war diese Person ja eine von denjenigen, die im falschen Körper geboren waren?... Transsexuell, oder wie sich das nannte?

Schwer einzuschätzen, ohne die Möglichkeit da mal nachzufragen. Denn sein Gegenüber sprach ja nicht mit ihm.

Oliver gönnte sich noch einen letzten, tiefen Zug, bevor er auch diese Zigarette schließlich in dem Aschenbecher vor sich ausdrückte. Kurz streckte er sich noch, dehnte seine Glieder, bis er sich daran machte den Raum zu verlassen.

„Ciao.“, hörte Micha Oliver dann noch sagen, bevor der schließlich den Raum verließ und Micha endlich wieder alleine mit sich und seinen Gedanken war.

Wie oft kam es schon vor, dass man einen Sturz aus dem zehnten Stock überlebte? Potentiell unwahrscheinlich. Doch vor allem: Wie oft kam es vor, dass man dabei ohne große Schäden heraus kam? Okay, einige Zeit war er bewusstlos gewesen. Wie lange genau, daran erinnerte sich Micha gar nicht mehr. Doch so hatte er von dem ganzen Drumherum nichts mitbekommen. Weder, wie jemand den Notarzt gerufen hatte, noch wie er ins Krankenhaus transportiert worden war. Alles was Micha wusste war, dass das Auto, das seinen Sturz aufgefangen hatte, ein Totalschaden gewesen sein musste. Dennoch, bis auf einen gebrochenen Arm, zwei gebrochene Rippen und ein paar Prellungen an seinem Schädel und ein paar anderen Stellen, hatte sein Sturz nur Kratzer auf seinem Körper hinterlassen. Ein Wunder. Könnte man sagen… Schließlich hätte es auch viel schlimmer ausgehen und bleibende Schäden an seinem Körper hinterlassen können… Ja, ein Wunder…

Glück? Fügung? Schicksal? Eine gottgegebene zweite Chance?

Vielleicht… Und trotzdem alles bedeutungslos. Denn das Gefühl, noch hier zu sein, war fast schon unerträglich für Micha. Überhaupt der ganze Zustand am Leben zu sein. Überlebt zu haben. Undefinierbar und doch so schmerzhaft. Er hätte jetzt tot sein sollen. Tot und nicht hier!

So hatte er es zumindest geplant gehabt. Hunderte Male hatte er diesen Moment in seinem Kopf durchgespielt. Durchgespielt, wie er da hoch gehen und dann in den Tod springen würde.

Es war eine schöne Vorstellung gewesen…   Lindernd und tröstend – auf seine ganz spezielle Weise.

Die Vorstellung zu sterben und diesen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen… Vielleicht verstand das niemand? Denn, wer plante schon seinen eigenen Tod? Vor allem dann, wenn man nicht an einer schweren Krankheit und unter ständigen Schmerzen litt und sich einfach nur Erlösung von diesem Zustand ersehnte? Höchstwahrscheinlich niemand. Wenn, dann plante man seinen Urlaub, das Wochenende oder die nächste Geburtstagsparty. Doch sein Ableben zu planen? Das war schon etwas anderes.

Das konnte mit Sicherheit niemand verstehen. Niemand, der sich noch nie so gefühlt hatte. Deshalb wussten die dann auch nicht wie das war… Dabei war es simpel: Anfangs war es eine tröstende Vorstellung gewesen, ein Gedanke und dann – mit der Zeit – war das Bild langsam immer konkreter geworden. So entwickelte man Gedanken, auf die die normalen Menschen da draußen nie kommen würden. Beispielsweise dachte man über Dinge nach, wie die Frage ob das Kabel des Föns bis zur Badewanne reichte? Oder welche Tabletten am wirksamsten waren? Und welche Dosis es benötigte? Und noch viel mehr… So horteten manche dann über Wochen hinweg Pillen, andere hinterließen einen Abschiedsbrief und fuhren mit dem Auto zum Bahnhof und Micha hatte um 6 Uhr 20 den Bus bestiegen, war 15 Minuten gefahren und dann den Rest zu Fuß gelaufen... 

Die Vorstellung tot zu sein und nicht mehr leben zu müssen, das hatte etwas fast schon Befreiendes an sich gehabt. Es war schön gewesen. Ja, schön. Doch vor allem so erleichternd… Es war wie Linderung und Trost. Deshalb hatte sich Micha fast schon auf diesen Moment gefreut…

Wie hatte sein Therapeut dieses Gefühl noch einmal genannt? Präsuizidale Aufhellung, oder so... Ein Zustand, in dem die Stimmung des Patienten plötzlich deutlich verbessert, gut gelaunt und ausgeglichen erschien. Ein Ausdruck dessen, dass alle Vorbereitungen des Suizids abgeschlossen waren und die Ausführung kurz bevorstand. Der Patient sei ausgeglichen gewesen, weil für ihn das Ende seines Leidens nahe war und die Entscheidung feststand... Ja, genau so...

Genau so hatte Micha sich gefühlt, als er am Morgen aufgebrochen war und auch, als er da oben gestanden und nach unten geblickt hatte. Es war wie das lang ersehnte Licht am Ende eines schwarzen und düsteren Tunnels gewesen. Ja, so ungefähr…

Doch jetzt war das alles nicht mehr.

Micha kannte das Prozedere… 48 Stunden hatten sie ihn beim ersten Mal in ihrer Obhut behalten. „Fürsorgliche Zurückhaltung“ nannte sich das dann. Doch damals hatten sie Micha wieder gehen lassen. Trotzdem hatte ihn sein Vater zu diesem Psychiater geschickt, der Micha nach einmaligem Sehen auf ein Antidepressivum eingestellt hatte. Doch statt zu helfen, hatte das Zeug alles nur noch schlimmer gemacht und die Gedanken in seinem Kopf verstärkt. Deshalb, und weil er sich noch antriebloser als ohnehin schon gefühlt hatte, hatte Micha das Zeug eigenständig wieder abgesetzt.

Doch jetzt war das anders. Dank dieser richterlichen Anordnung und der darauf erfolgten Bestimmung seiner Aufenthaltszeit, hatten seine „Beschützer“ seine Zeit hier verlängert. Zeit, die ihm blieb sich zu überlegen, wie es jetzt weiter gehen sollte. Dabei wollte Micha nicht, dass es weiter ging. Er wollte, dass es endlich ein Ende hatte!

Hätten die ihn nur wieder raus gelassen! Dann wäre er wieder Nachhause gegangen und hätte sich dann vielleicht doch vor einen Zug oder vor die S-Bahn geworfen. Hätte er diese Alternative doch gleich in die Tat umgesetzt, statt von dem Dach dieses verfluchten Drecksklotzes zu springen! Dann wäre es jetzt vorbei! Dann wäre er jetzt nicht hier! Und dann wäre seine Familie nicht wieder in sein Leben getreten!

Jetzt hatte seine Familie doch nur einen weiteren Grund ihn für einen Versager zu halten. Und er hatte ihnen den auch noch selbst auf dem Silbertablett serviert, ihnen vor Augen geführt, dass er sein Leben nicht im Griff hatte. Dass er sich in den letzten Jahren kein Stück weiter entwickelt hatte, während alle anderen jetzt ihr Leben lebten und an ihm vorbei gezogen waren. So wie sie es immer taten.

Mit 17 war er genauso weit gewesen, wie jetzt. Es war praktisch so, als hätte es all die letzten Jahre dazwischen nicht gegeben. Als hätten diese nicht existiert, weil auch die einfach an Micha vorbei gezogen waren. Oft hatte er den Wunsch gehabt auch so zu sein wie all die anderen. Feiern zu gehen, sich mit Freunden zu treffen und Spaß zu haben, statt an den Wochenenden auf dem Sofa in seiner Wohnung zu liegen und eine sinnlose TV-Sendung, nach der anderen, anzusehen. Weil es ablenkte. Weil das die Gedanken und diesen verzweifelten Drang für einen Moment betäubten. Und weil er zu etwas anderem nicht mehr fähig war.

Erbärmlich irgendwie.

Jeder hatte was zu erzählen. Von den Plänen am Wochenende, von all den schönen Dingen, die man mit dem geliebten Menschen oder mit den Freunden erlebt hatte. Doch Micha konnte von nichts dergleichen berichten.

Ja, erbärmlich!

Aber nicht so erbärmlich, wie einem anderen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit, dass er weder Freunde, noch Familie sein Eigen nennen konnte und deshalb die meiste Zeit seines Lebens in seiner Wohnung in seinen eigenen Gedanken versunken vor sich hin vegetierte. Oder die Wahrheit, dass er, um überhaupt jemanden zum Reden zu haben, manchmal stundenlang mit den Leuten der Telefonseelsorge sprach. Anonyme Freiwillige, die sich dann eine Stunde Zeit für ihn nahmen und einfach mal zuhörten.

Aber die Wahrheit wollte doch sowieso niemand wissen! Abgesehen davon, wer wollte schon mit so jemandem etwas zu tun haben? Die Antwort war simpel: Niemand! Niemand wollte sich mit so jemandem abgeben! Niemand wollte etwas mit einem schwachen Menschen zu tun haben! Weil die meisten sich an den Starken, an den Lachenden und  an den geselligen Menschen orientierten! Weil die meisten Menschen nur an sich und ihren eigenen Vorteil dachten! Und dabei nicht sahen, wenn jemand direkt vor ihren Augen zerbrach! Und das mit jedem Tag ein Stück mehr!

Nein, niemand wollte einen Menschen ohne Freunde und ohne Familie um sich haben! Niemand wollte Ballast! Niemand!!!

Dabei hatte Micha es wirklich versucht. Zumindest als er noch die Kraft und die Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes gehabt hatte. Doch jetzt war da gar nichts mehr.

Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Micha es das letzte Mal versucht. Mit einer Beziehung, in der Hoffnung, dass das die Wunden in ihm ein bisschen heilen würde. Das tat es auch. Am Anfang. Doch der Penner hatte ihn nur verarscht! Er war nichts weiter als eine Übergangslösung gewesen. Ein netter Zeitvertreib, bis sein Ex die Trennung von seiner letzten Beziehung überwunden und sich in einen anderen verliebt hatte. Nicht umsonst hieß es ja, dass alles, was nach einer längeren Beziehung kommt, nichts Ernstes sein kann. Trotzdem hatte Micha sich eingebildet, dass aus ihrem Zeitvertreib irgendwann mal eine ernsthafte Beziehung mit Tiefgang werden könnte. Etwas, das er noch nie hatte. Doch ein Irrglaube, wie sich nach etwas über drei Monaten raus stellte.

Zurück gelassen mit dem Gefühl wieder einmal nichts als wertlos zu sein, hatte Micha die Trennung einfach nicht überwinden können. Es hatte ihn noch mehr zerbrochen.

Doch das war nicht das Einzige, das aus ihm das gemacht hatte, was er war. Schon zu Schulzeiten war er das Hassobjekt der anderen gewesen. Das Opfer, auf dem man eben rumhackte. Denn er wehrte sich ja nicht. Stumm hatte er diese ganzen Schikanen über sich ergehen lassen, sich die Sprüche angehört und die Erniedrigungen der anderen hingenommen. Und das über Jahre hinweg. Genauso wie die ständige Kritik seiner Eltern und das Gefühl des Verlassen seins, weil sie ja nie Zeit für ihn hatten. Nicht einmal ansatzweise hatten sie sich darüber Gedanken gemacht! Aufmerksamkeit erhielt Micha dafür jedoch in Form von ständiger Kritik. Wie er schon rum laufe. Eine Schande in den Augen seines Vaters. Kein Zuspruch. Keine Unterstützung. Nein, darauf brauchte er nicht hoffen!

Mit 17 war Micha dann an dem Punkt angekommen, dass er das alles nicht mehr aushielt und nur noch einen Ausweg sah. So hatte er nach einem einschneidenden Schlüsselerlebnis dann seinen ersten Selbstmordversuch gewagt.

Abgesehen von all diesen negativen Erinnerungen, war auch Michas letzter Versuch eine Freundschaft aufzubauen kläglich gescheitert. So kam irgendwann auf seine wiederholte Anfrage, ob man mal was zusammen unternehmen wollte, von seinem Gegenüber nur der Spruch: „Klar hatten wir darüber gesprochen, mal wieder was zusammen zu machen. Aber immer, wenn du anrufst, willst du nur zu zweit etwas unternehmen…“

Entschuldige, dass ich über keinen großen Freundeskreis verfüge und dir leider nicht mehr, als nur meine eigene, armselige Gesellschaft bieten kann!, hallten Michas damalige Gedanken durch seinen Kopf.

Es war nicht so gewesen, dass er den anderen gestalkt oder belästigt hätte. Im Gegenteil. Alle zwei Monate hatte er mal nachgefragt und sich auf den Vorschlag des Anderen, wieder etwas zusammen zu unternehmen, berufen. Ein Jahr hatte er das mitgemacht. Interesse gezeigt, zugehört, Verständnis aufgebracht, wenn der Andere meinte, dass er im Moment nur an sich denken müsse oder keine Zeit hätte. Und wozu? Um wieder einmal enttäuscht zu werden!

Er war eben doch nichts weiter als ein wertloses Stück Dreck! Eine Missgeburt! Von wegen „Hat Spaß gemacht. Das sollten wir mal wiederholen“! Wie sollte ihn überhaupt jemand mögen?! War doch nur verständlich, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte! Er hasste sich! Hasste diesen Körper! Das Gesicht, das ihm vom Spiegel aus entgegen sah! Seine Unfähigkeit den Mund aufzukriegen! Einfach alles! Da war nichts, das man mögen, geschweige denn lieben konnte! Nichts! Gar nichts!

Von daher doch nur verständlich, dass man ihn immer nur zurück und alleine ließ. Wäre er sich selbst begegnet, Micha hätte auch nichts mit sich zu tun haben wollen…

Die Lippen auf einander gepresst, konnte er fühlen, wie sich wieder einmal Tränen in seinen Augen sammelten, während sich seine Kehle schmerzlich zu zog.

 

Mit pochendem Kopf schlurfte Micha den weißen Flur entlang. Sein Zimmernachbar schnarchte einfach zu laut. Außerdem machte ihm sein Magen zu schaffen.

Scheiß Nebenwirkungen!

Drei Mal war er schon auf der Toilette gewesen und hatte sein Innerstes ausgekotzt. Und das alles nur, weil ihn „seine Beschützer“ auf dieses Zeug eingestellt hatten. Dieses sollte Micha helfen Stabilität in das Chaos in ihm zu bringen. Doch bislang merkte er davon noch nichts. Ganz im Gegenteil.

Die Hände um seinen Bauch geklammert, bog Micha rechts ab und dann wieder rechts.

Er wollte alleine sein. Sich hinsetzen und Ruhe haben. Diese Schnarchgeräusche von seinem Bettnachbarn waren einfach nur unerträglich. Wie konnte ein Mensch überhaupt solche Geräusche produzieren? Das war Micha ein wahres Rätsel.

Es war mitten in der Nacht, als er endlich an seinem Ziel ankam. Doch, zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass er nicht alleine war. Kaum hatte er die Tür geöffnet, drehte sich dieser Kerl in dem grauen Jogginganzug und mit den kurz geschorenen, blonden Haaren zu ihm um, sodass Micha einen kurzen Moment ängstlich stehen blieb.

„Hey.“, wurde Micha begrüßt, als er leise die Tür hinter sich schloss.

Doch statt zu antworten, hob dieses Etwas nur kurz die Hand und sah sich mit seinen großen Augen in dem Raum um. Wahrscheinlich überlegte sein Gegenüber, wo es sich hinsetzen sollte, wie Oliver so schlussfolgerte.

Die Hände um seinen Bauch geschlungen schlurfte die Gestalt wieder zu diesem einen Platz in der Ecke und ließ sich in den Sessel sinken.

„Kannst auch nicht schlafen?“, versuchte Oliver es mit einem Gesprächsanlauf und sah sein Gegenüber aus grünen Augen an.

Ein kurzes Nicken war alles, das er als Antwort erhielt.

Die Stirn in Falten gelegt, sah Oliver immer noch zu der zerbrechlichen Gestalt rüber. Die dunkelbraunen, glatten Haare hingen zerzaust um den Kopf und unter den großen Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet. Abgesehen davon schlabberten die schwarze Jogginghose und dieser große, schwarze Pullover, nur so an dem schmalen Körper herum. Alles in allem sah die Person ziemlich fertig aus, wie Oliver feststellte.

„Magenprobleme?“, versuchte er es noch ein weiteres Mal sein Gegenüber zum Sprechen zu bewegen und erntete dieses Mal sogar einen Blick. Wenn auch ziemlich eingeschüchtert.

Sekundenlang überlegte Micha hin und her, fragte sich was er sagen sollte. Was waren die richtigen Worte? Und überhaupt begann sein Körper schon allein unter dieser Anstrengung zu zittern.

„Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest. Wenn du nicht reden willst, dann ist das echt okay. Ich dachte nur…“, sagte Oliver und drehte sich dann kurz um, um seine Zigarette in dem Aschenbecher abzuaschen. „Nein…“, hörte er dann zum ersten Mal die Stimme seines Gegenübers. Eindeutig eine männliche Stimme, wie Oliver bei dem etwas tieferen Klang feststellte.

Die Augen auf ihn gerichtet, drehte sich der Typ zu Micha um.

„Ich…“, wagte Micha einen weiteren Versuch etwas zu sagen, wusste aber immer noch nicht was. „Willst auch ´ne Kippe?“, bot Oliver an, überlegte aber dann. „Rauchst du überhaupt?“ „Ähm…“, war alles, das Micha zu Stande brachte. Eigentlich hatte er noch nie geraucht. Aber andererseits…

Wortlos, noch immer eine Hand um seinen Bauch geschlungen, stand Micha auf und lief langsam zu dem Typ rüber. Stumm hielt der Kerl Micha seine Schachtel hin, sodass er sich eine heraus ziehen konnte. Und dann hielt Oliver ihm die Flamme des Feuerzeugs hin, damit er sich die Zigarette anzünden konnte.

Der erste Zug zog sich scharf in Michas Lungen, verursachte, dass er husten musste.

Der Andere musste ihn jetzt bestimmt für vollkommen unfähig halten. Unfähig eine einfache Zigarette zu rauchen…

Gekrümmt vor ihm stehend, klopfte Oliver dem Kleinen auf den Rücken. Einfach so und ungefragt. Doch Micha sagte nichts dazu. Weil er ja nie seinen Mund aufkriegte! So sagte er auch nicht, dass er es eigentlich nicht mochte, wenn ihn ein Fremder unaufgefordert berührte, sondern schwieg. Wie immer…

„Danke.“, kam es schließlich von dem Kleinen, als dieser sich soweit wieder gefangen hatte und zu Oliver hinauf blickte. Ein Lächeln schlich sich auf Olivers Lippen. „Bitte… Du rauchst nicht so oft, was?“ „Nein.“ „Ich bin übrigens Oliver. Eigentlich Olli… Also, meine Freunde nennen mich so.“, stellte sich der Kerl lächelnd bei Micha vor und hielt ihm seine Hand hin. „Micha.“, antwortete der Kleine dann und erwiderte schwach und unsicher Ollis Händedruck.

Kapitel 2

„Freut mich.“, lächelte Oliver, als Micha seine Hand wieder los ließ.

Einen Moment lang stand Micha daraufhin nur stumm da, blickte zu seinem Gegenüber hinauf und übte sich auch an einem Lächeln.

So machte man das doch? Man war höflich und nett… Trotzdem fiel Micha schon allein diese Art des fröhlich seins so verdammt schwer. Obwohl er doch in dieser Maskerade geübt sein sollte. Immerhin trug er diese schon sein halbes Leben lang. Immer lächeln und freundlich sein. Still und leise. Keine bösen Worte, ja nicht zu viel verlangen. Hilfsbereit sein. Verständnis zeigen und die eigenen Wünsche hinten anstellen. Alles Dinge, die man tat, um gemocht zu werden. Oder?

Doch, wenn Micha ehrlich zu sich selbst war, dann war ihm nicht nach Lächeln zumute. Ganz im Gegenteil. Deshalb verschwand dieses kleine, aufgesetzte und schiefe Etwas wieder aus seinem Gesicht, während er seinen Blick von Olli abwandte und einen zweiten Zug an dieser Zigarette wagte. Nur dass er es dieses Mal etwas vorsichtiger anging. Micha wollte sich nicht schon wieder der Demütigung aussetzen husten zu müssen.

Das Gefühl in seinem Hals war ziemlich seltsam. Es kratzte ein wenig. Doch andererseits war das mit Sicherheit auch nur Gewohnheitssache. Eigentlich fragte Micha sich, je länger er neben diesem Olli stand, warum er überhaupt zugestimmt hatte mit dem eine zu rauchen? Wahrscheinlich, weil er wieder einmal Angst hatte? Angst der Andere könnte enttäuscht sein, wenn Micha ihm gesagt hätte, dass das eigentlich nicht sein Ding war…

„Jetzt erzähl mal. Warum bist du noch wach?“, begann Olli dann von Neuem das Gespräch.

Einen Moment überlegte Micha, sah wieder zu dem Kerl mit den breiten Schultern hinauf.

„Mein Zimmernachbar schnarcht.“

Oliver lachte.

„Ja, da kann ich ein Lied von singen. Meiner sägt auch gerade den Wald zusammen.“

Dann schwiegen sie wieder.

„Mal ganz ehrlich…“, versuchte Olli das Gespräch weiter aufrecht zu erhalten, während Michas große, graue Augen ihn schüchtern ansahen. „Ja?“ „Wenn´s zu direkt ist, sagst du´s mir. In Ordnung?“ „Ähm… o-kay.“ „Warum bist du hier?“ „Suizidversuch.“ „Scheiße.“ „Und du?“, fragte Micha höflichkeitshalber. „Nervenzusammenbruch.“, beichtete Olli und gönnte sich einen tiefen Zug an seiner Zigarette. „Warum hast du versucht dich umzubringen?“, stellte Oliver dann die nächste Frage. Eine Frage, die Micha nicht wirklich gefiel. Andererseits, sie waren ja beide hier. Demnach war das ja nicht wie da draußen, wo man sich lieber in Schweigen üben sollte, wenn es um solche Dinge ging. Weil es die meisten viel zu sehr schockierte. Und weil die meisten sich nicht vorstellen konnten, wie man überhaupt so weit gehen konnte, geschweige denn, wie sich das im Inneren anfühlte. Einen langen Moment wägte Micha ab, was das Richtige zu sagen wäre, bis er seine Antwort gefunden hatte: „Ich konnte einfach nicht mehr.“

Die Wahrheit, aber ohne dem anderen zu viel zuzumuten.

„Versteh ich.“, nickte Olli, setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf und zog dann noch ein weiteres Mal an seiner Zigarette. Genauso wie Micha. Von Zug zu Zug wurde das irgendwie leichter, stellte Micha fest. Obwohl, sein Ding war es trotzdem nicht. „Warum hattest du…?“ „Ich konnte auch nicht mehr.“, sagte Olli und lächelte. Doch dieses Mal war das Lächeln anders.

Es fiel Oliver alles andere als leicht darüber zu sprechen. Er fragte sich noch immer, wie es hatte so weit kommen können? Vor allem, weil er normalerweise jemand war, der alles im Griff hatte. Das war immer schon so gewesen. Doch jetzt war sein Leben derart entgleist und aus den Fugen geraten, dass er es nicht mehr zusammen halten konnte… Dennoch, nie im Leben hätte Olli gedacht einmal so hilflos zu sein, dass er die Einweisung in eine psychiatrische Klinik als einzige Möglichkeit sehen würde Hilfe zu erfahren...

„Dann haben die dich auch hier eingewiesen?“, fragte Micha leise. „Nein, ich bin freiwillig hier.“

Fragend zog Micha seine Augenbrauen zusammen. Wie konnte man nur freiwillig hier sein?

„Es ging nicht mehr.“, meinte Olli kurz, als er den letzten Zug an seiner Zigarette nahm und diese dann in dem Aschenbecher ausdrückte. „Es gab da halt so ´ne Situation, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat und dann bin ich einfach ausgetickt… Mir ist alles nur noch zu viel geworden. Verstehst?“

Micha nickte verständnisvoll.

„Ich hab mich selbst kaum wieder erkannt... Deshalb hab ich dann zugestimmt, mich hier einweisen zu lassen.“, erklärte Olli weiter. Ja, er hatte sich selbst kaum wieder erkannt. Sonst war Oliver immer so ruhig und gelassen gewesen. Immer einer derjenigen, die alle Lasten auf sich schulterten. So lange bis es nicht mehr ging…

„Alles okay?“, wollte Olli wissen, als Micha sich auf einmal vor ihm zu krümmen begann.

Einen kurzen Moment, als Oliver vorsichtig seine Hand auf Michas Rücken legte, zuckte dieser zusammen. Das war ja nett, aber…

„Geht schon.“, meinte Micha, als er sich so weit im Griff hatte, dass er sich wieder in eine gerade Haltung begeben konnte. Langsam löste Oliver seine Berührung und blickte auf die zierliche Gestalt neben sich hinab.

Und dann schwiegen sie wieder. Micha kannte diese Form von Stille nur zu gut. Es war die Art von Schweigen, wenn beide nicht mehr wussten, was sie groß sagen sollten. Oder wenn es nicht mehr viel zu sagen gab.

Ein Gefühl, das Michas Herzschlag nervös in die Höhe trieb.

Micha sah sich gezwungen etwas zu sagen. Irgendetwas. Die richtigen Worte finden, das Gespräch aufrecht erhalten. Irgendwie. Doch ihm fiel nichts ein. So endete ihre Begegnung schließlich damit, dass Olli gähnte. „Ich glaub, so langsam werde ich müde.“, meinte Oliver und streckte sich ein bisschen. Michas Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. „Okay.“, flüsterte er. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder… War auf jeden Fall nett dich kennen zu lernen.“, lächelte Olli, während Micha nur ein kaum hörbares „Ja“, zusammen mit einem kleinen Nicken, zu Stande brachte.

Nett ist auch nicht mehr, als der kleine Bruder von scheiße. Klar, war nett dich kennen zu lernen. Von wegen, hallte es durch Michas Kopf. War doch klar, dass er die Erwartungen seines Gegenübers nicht erfüllen konnte. Er war nicht interessant genug. Außerdem über was sollte man sich schon mit ihm unterhalten?

„Ciao.“, lächelte Olli noch einmal und schloss dann die Tür hinter sich.

Einen ziemlich langen Moment blickte Micha daraufhin zu Boden, während die Zigarette in seiner Hand zitterte und sich sein Magen schmerzhaft zusammen zog.

Was hatte er sich nur gedacht? Er hätte das nicht tun sollen. Er hätte nicht reagieren sollen, als Oliver ihn angesprochen hatte. Denn dann wäre noch alles okay. Dann würde er jetzt nicht hier stehen und sich wieder alleine und zurück gelassen fühlen…

 

Langsamen, müden Schrittes lief Micha den Gang hinab. Wie jeden Morgen, seit er hier war.

Seine langen, dunkelbraunen Haare hingen schlaff an seinem Kopf herunter. Er fühlte sich noch immer alles andere als gut. Deshalb hatte der für ihn zuständige Arzt auch beschlossen seine Dosis ab heute zu erhöhen. Um zu sehen, ob sich dann die gewünschten Ergebnisse einstellen würden. Nur bisher ließen diese auf sich warten, abgesehen von den Nebenwirkungen, die Michas Körper von der einen zur anderen wechseln ließen. So hatte er in dieser Nacht kein Auge zu gemacht. Nicht einmal eine Sekunde lang. Konnte aber auch gut daran liegen, dass sein Zimmermitbewohner schnarchte wie ein Sägewerk. Vor allem dann, wenn der sich auf den Rücken drehte. Furchtbar!

Erschöpft lief Micha weiter. Bis er endlich sein Ziel erreicht hatte.

Nur um dann, ein paar Minuten später, einen kritischen Blick in diesen kleinen, durchsichtigen Plastikbecher, in welchem eine Tablette lag, zu werfen. Seine erste Dosis für diesen Tag.

Dann wurde ihm von der älteren Frau mit den blonden, kinnlangen Haaren ein zweiter Becher gereicht. Dieser war etwas größer und aus weißem Plastik, zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Zum Runterspülen.

Micha wollte gerade zum Runterschlucken ansetzen, als er eine verzweifelte Stimme hinter sich hörte: „Bitte helfen Sie mir.“

Als er sich umdrehte, stand dort eine etwas ältere Frau mit schwarzen Haaren, die sie zu seinem Zopf zusammen gebunden hatte. Hätte Micha ihr Alter bestimmen müssen, er hätte sie auf Anfang 50 geschätzt. Abgesehen davon war sie etwas kleiner als er selbst und asiatischer Abstammung.

„Bitte… Bitte helfen Sie mir.“, bettelte die Frau erneut und sah zu der Schwester mit den blonden Haaren – Schwester Leni mit Namen - die sich dann ihrer annahm.  „Bitte helfen Sie mir. Diese Stimmen… Das Klopfen. Die machen immer ,Sht, sht‘… Bitte….“, bettelte die Asiatin weiter, während die Schwester irgendwas zu ihr sagte, um die Frau zu beruhigen.

Höchstwahrscheinlich war die Asiatin eine von denen, die unter eine Psychose litten und daher Stimmen hörte, überlegte Micha. Etwas, das selbst ihm fremd war. Doch wie fremd war das erst für normale Menschen? Menschen ohne Depressionen, ohne Angstzustände, Panikattacken oder andere psychische Probleme – gesunde Menschen eben? Solche konnten sich wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlen musste. Diese Frau war nicht zu beneiden. Denn, wenn diese wirklich unter einer Psychose litt, dann hieß das, dass die Ärzte meist zig verschiedene Medikamente in immer höheren Dosen ausprobierten. So lange, bis irgendwann mal eines anschlug und wirkte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Und bis dahin hieß es für die Asiatin warten und hoffen. Hoffen, dass dieses Medikament in dem Becher da helfen würde. Doch so genau wusste Micha das nicht. Es war nur eine von vielen Informationen, die er mal in sich aufgesogen hatte…

Einmal noch atmete Micha tief ein und wieder aus, während er in diesen Becher in seiner Hand blickte. Nur um sich schließlich zu überwinden und die Tablette herunter zu spülen.

Angewidert verzog er das Gesicht, denn das Zeug hatte einen ziemlich bitteren Geschmack. 

Nachdem das dann geschafft war, ging es zur nächsten Station. Frühstück. So wie jeden Morgen.

Es war irgendwas nach 7 Uhr morgens. Und eigentlich hatte Micha so absolut keinen Hunger. Dieses Mal keine dieser Nebenwirkungen, sondern vielmehr Normalzustand.

Zuhause in seinen eigenen vier Wänden kochte Micha für gewöhnlich nicht. Wozu auch? Er war allein. Für wen oder zu welchem Zweck sollte man da überhaupt kochen? Das war die Mühe nicht wert. Außerdem war er normalerweise um diese Zeit noch nicht mal wach. Meistens stand Micha erst nach 14 oder 15 Uhr auf. Wenn er überhaupt schlafen konnte. Doch vor allem deshalb, weil er ein Nachtmensch war. Dementsprechend schwer fiel ihm das hier. Das frühe Aufstehen. Dieser geregelte Tagesablauf. Etwas, das Micha so schon seit Ewigkeiten nicht mehr hatte…

Nach dem Frühstück gab es dann irgendwann noch ein Einzelgespräch mit seinem Psychologen. Mit dem war Micha momentan so weit, dass er etwas über seine Kindheit sprach. Etwas, über das er schon mit zig Psychologen gesprochen hatte. Wie gesagt, es war nicht so, dass er nicht versucht hätte etwas an diesem Zustand zu ändern. Nur helfen können hatte ihm bislang niemand. Diese Leute waren auch nur Fremde. Fremde, die fürs Zuhören bezahlt wurden. Ein, vielleicht zwei Stunden in der Woche. Trotzdem ersetzte das auf Dauer weder Freunde, noch Familie. Nicht einmal ansatzweise…

Dennoch, auch wenn Micha sich diesem Typ anvertraute... In seinem Inneren hatte sich nach wie vor nichts geändert. Er würde versuchen die Zeit hier irgendwie hinter sich zu bringen, indem er sich bemühte nicht groß aufzufallen und dem Psychologen erzählte, was der eben hören wollte. Micha wollte nicht riskieren, dass die seine Zeit auch nur einen weiteren Tag, als unbedingt notwendig, verlängerten. Denn, anders als dieser Olli, war er nicht freiwillig hier. Micha konnte nicht selbst bestimmen, wann er wieder gehen wollte.

Doch eins war sicher: Sobald er wieder hier raus war, würde er es von Neuem versuchen. Er wusste auch schon wie... Es gab nichts, das ihn hier noch hielt. Warum verstand das niemand?! Auch wenn die hier vielleicht das Gegenteil dachten und glaubten, dass sie ihn beschützen könnten... Das konnten sie nicht! Niemand konnte das…

Irgendwann gab es Mittagessen. Und dann war auch schon Nachmittag.

Am liebsten wäre Micha wieder umgedreht, als es hieß, dass er Besuch hatte. Normalerweise würde man sich in so einer Situation sicher darauf freuen, wenn jemand an einen dachte. Doch Micha empfand nicht so…

Die schwarzen Haare zu einem Dutt hoch gesteckt und die Beine über einander geschlagen, saß seine Mutter ihm gegenüber und musterte ihn mit ihren blau-grauen, großen Augen. Für ihre 48 Jahre sah Doreen Sokolow um einiges jünger aus. Meistens schätzten sie die Leute auf etwas Ende 30. Älter jedoch nie. Ihr Aussehen war ihr immer schon sehr wichtig gewesen. Fast schon penibel achtete sie auf ihr Auftreten. So sah man nie ob sie krank, übermüdet oder sonst was war. Sie wirkte immer perfekt.

Etwas, das Micha auf irgendeine Weise immer an ihr bewundert hatte. Früher als Kind zumindest. Damals hatte er ihre Kleider geliebt. Die tailliert geschnittenen Pullover, die verschiedenen Schuhe mit den verschieden hohen Absätzen… Einfach alles, das irgendwie mit Weiblichkeit zu tun hatte. Nicht, dass er sich gewünscht hätte ein Mädchen zu sein… Eine Zeitlang war ihm das zwar durch den Kopf gegangen und er pendelte heute noch zwischen beiden Identitäten hin und her… Eine so genaue Antwort darauf hatte Micha nicht. Abgesehen davon hatte er immer schon weichere Züge gehabt. Das hatte er von ihr.

Trotzdem, so sehr er seine Mutter für diese Dinge bewundert hatte, so sehr wünschte er sich jetzt, sie hätte ihn in Ruhe gelassen.

„Kannst du einmal damit aufhören? Ist ja schrecklich mit dir!“, hörte Micha ihre Stimme durch seine Gehörgänge hallen, während sie sich mit ihren, in einem leichten Grau schattierten und mit einem fein definierten, schwarzen Lidstrich hervor gehobenen blau-grauen Augen, immer wieder um sich blickte. Micha konnte deutlich erkennen, dass sie sich für ihn schämte. Genauso wie für das ganze Drumherum.

Psychiatrie war in den Augen der meisten sowieso schon ein Tabu. Doch gerade in den Kreisen, in denen sich Doreen Sokolow bewegte, kam so etwas einem Weltuntergang gleich. Es war wie sich selbst eingestehen zu müssen versagt zu haben…

Einige Jahre war es nun her, seit Micha den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen hatte. Das hatte ihn damals sehr viel Kraft, doch vor allem Überwindung gekostet. Überwindung deshalb, weil das bedeutete wirklich alleine auf sich gestellt zu sein. Trotzdem, nun war er doch gezwungen ihre Anwesenheit zu ertragen. Genauso wie er gezwungen gewesen war, zu akzeptieren, dass sie die Schlüssel zu seiner Wohnung an sich gerissen hatte. Ungefragt und ohne sie darum gebeten zu haben. Doch, er solle nicht undankbar sein! Sie hätte das nicht tun müssen! Sie hätte ihn nicht im Krankenhaus besuchen, genauso wenig wie sie ihm eine Tasche mit Anziehsachen und dem Nötigsten hätte vorbei bringen müssen!

Micha war ja dankbar. So war es nicht. Aber… Das war einfach zu viel. Viel zu viel.

„Jetzt höre auf damit!“, fuhr Doreen Sokolow ihn schon wieder an, woraufhin Micha notgedrungen damit aufhörte auf seinen Nägeln herum zu kauen.

Sie hasste das. Denn es war ein Zeichen von Unsicherheit und Schwäche.

„Hast du immer noch nicht damit aufgehört?!“ „Warum?“, fragte Micha schüchtern und erntete nur ein verständnisloses Kopfschütteln.

Hilfe suchend sah Micha sich in dem Raum um. Doch er fand nichts, an dem er sich hätte festhalten können. Er war allein. Auf sich gestellt und allein…

Außerdem wollte er doch nur, dass sie ging. Einfach aufstand und ging. Mehr nicht…

„Was hast du dir überhaupt dabei gedacht?!“, fuhr seine Mutter fort und sah ihn aus zusammen gekniffenen Augen an, wodurch ein paar kleine, fein definierte Fältchen sichtbar wurden. „Ich…“ „Ist dir bewusst, in welche Kalamitäten du deinen Vater damit gebracht hast?!“, meinte sie nur und schüttelte verständnislos den Kopf, während ihre Augen durch den Raum wanderten.

Überall nur Irre. Und ihr Sohn war einer davon.

„Ist das echt deine einzige Sorge?“, fragte Micha leise. So leise, dass man ihn fast nicht hören konnte. „Sprich lauter!... Kein Wunder, dass dich niemand versteht!“

Wieder schüttelte seine Mutter mit dem Kopf und sah sich ein weiteres Mal in diesem Raum um.

Was hatte sie nur falsch gemacht?

Währenddessen zwang sich Micha möglichst ruhig zu bleiben und dieses aufkeimende Nervositätsgefühl in sich zu unterdrücken. Seit er wegen seiner Verletzungen operiert worden war und etwas über fünf Wochen im Krankenhaus gelegen hatte, bevor die ihn, wegen einer Verzweiflungstat, in die psychiatrische Abteilung verlegt hatten, war das das erste Mal, dass seine Mutter wieder nach Micha sah. Und jetzt war ihre einzige Sorge, in welche „Kalamitäten“ er seinen Vater gebracht hatte? War das wirklich alles, an das sie dachte?

„Ob das deine einzige Sorge ist… habe ich gefragt?“, sagte Micha – etwas lauter.

Micha spürte immer deutlicher, wie schwer es ihm fiel den Kampf mit seiner Mutter aufzunehmen. Allein diese Frage zu stellen, hatte ihn ungeheure Kraft gekostet.

„Was mir Kopfzerbrechen bereitet ist, wie du dir das jetzt vorstellst?!“, argumentierte seine Mutter. „Wie ich mir was vorstelle?“ „Wie du weiter machen willst?! ... Als ich deine Wohnung gesehen habe, habe ich gedacht, mich trifft der Schlag! Diese Verwahrlosung und dann diese Möbel… Mein Gott, kein Wunder, dass du auf solche kranken Gedanken kommst!“, meinte sie und sah ihren Sohn kritisch an. Micha kannte diesen Blick nur zu gut. „Das ist meine Wohnung…. Außerdem, ich… ich fühl mich wohl so.“, versuchte er sich irgendwie zu verteidigen und dem Blick seiner Mutter Stand zu halten. Doch das war so verdammt schwer. „Du musst erwachsen werden. Unbedingt.“, meinte sie nur, gefolgt von einem weiteren Kopfschütteln und einem Blick zur Seite.

Was hatte sie nur falsch gemacht?

Schon als Kind war Michael anders gewesen, als andere Kinder. Spätestens als er das erste Mal „Verkleiden“ gespielt und ihr Make-up benutzt hatte, hatte sie das feststellen müssen. Doch statt irgendwann aus dieser Phase heraus zu wachsen, lackierte sich ihr Sohn nach wie vor die Fingernägel und trug noch immer Make-up, wie sie bei einem genaueren Blick in dessen Badezimmer hatte feststellen müssen.

Michael war immer schon kompliziert gewesen. Doch vor allem schwer zu verstehen. Bereits damals, als er 17 Jahre alt gewesen war, hatten sie das durchgemacht. Zu sehen wie der eigene Sohn… Es war alles, nur kein schöner Anblick gewesen. Doch vor allem die Gründe, warum er das getan hatte, waren Doreen Sokolow bis heute schleierhaft. Warum warf ein so junger Mensch sein Leben weg? Doch vor allem: Warum ihr Sohn? Michael hatte es nie an etwas gemangelt. Wenn er etwas wollte, so hatte er es immer bekommen. Er hatte so viele Möglichkeiten etwas aus sich zu machen. Doch stattdessen…

„Jetzt höre endlich auf damit!“, zischte Doreen Sokolow, als sie wieder in Michas Richtung blickte, und schlug ihm die Hand aus dem Mund.

Er sollte mit dieser Nagelkauerei aufhören! Unerträglich!

Kopfschüttelnd betrachtete sie ihren Sohn erneut. Dieser hatte seine Haare zu einem schlampigen Knoten zusammen gebunden, aus dem einige Strähnen ein Eigenleben entwickelt hatten, während dieser schwarze, hüftlange Pullover seinen zierlichen Körper unter sich verbarg und schwarze Nagellackreste auf seinen abgekauten Fingernägeln zu sehen waren.

Und das war ihr Sohn…

Micha hatte es an diesem Tag nicht zu mehr geschafft. Genauso wie die Tage davor. Dazu fehlte ihm schlicht die Energie. Außerdem war es doch egal, wie er aussah und hier rum lief. Achtete sowieso niemand drauf. Außer seine Mutter wahrscheinlich.

Diese ließ noch einmal ihren Blick über Micha wandern, nur um dann auf ihre goldene Armbanduhr mit den vielen Brillanten zu blicken, die sein Vater ihr einst zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Sein Vater hatte es eben immer schon mit Prunk und Protz. Scheinbar normal, wenn man zur Hälfte aus einer russischen Familie stammte, für die Geld und Ansehen die wichtigsten Ideale waren…

So langsam pochte der Wunsch, dass seine Mutter endlich gehen sollte, immer stärker in Micha. Wie er sie kannte, hatte die höchstwahrscheinlich sowieso bald wieder einen ihrer Termine. Als Leiterin einer angesehenen Werbeagentur, war das scheinbar normal. Da hatte man eben wenig Zeit für ein Privatleben. Das hatte Micha schon als Kind ziemlich früh lernen müssen.

Konnte sie nicht endlich gehen?

„Was wolltest du eigentlich damit bezwecken?!“, durchdrang die feste Stimme seiner Mutter Michas Gehörgänge. „Mit was?“ „Das weißt du ganz genau!“

Ungläubig blickte Micha in ihre Augen und dann zur Seite, während er seine Arme vor der Brust verschränkte. War ja klar, dass sie ihm wieder nur Böswilligkeit unterstellte und nicht merkte, dass…

„Du hast dich doch noch nie für mich interessiert… Kann dir doch egal sein, aus welchen Gründen ich das getan habe.“, meinte Micha mit leiser und frustrierter Stimme. „Fängst du wieder damit an!“, zischte seine Mutter. „Ist doch so… Ihr habt euch doch noch nie um mich gekümmert. Also was interessiert´s dich dann?“ „Du hast immer alles bekommen, was du wolltest! Andere wären froh gewesen, wenn sie deine Möglichkeiten gehabt hätten!“, argumentierte Doreen Sokolow. „Ja, Geld war nie das Problem.“ „Dein Vater und ich mussten arbeiten gehen!“ „Ja.“, schnaubte Micha nur und schloss einen Moment seine Augen.

Es war sinnlos. Einfach nur sinnlos. Selbst jetzt hatte sie es nicht verstanden! Alles, was Micha sich mal gewünscht hätte war, dass sie sich einmal Zeit für ihn genommen hätten. Ein einziges Mal! Wie in anderen Familien auch! Doch jedes Mal hieß es nur „Jetzt nicht“ oder „Wir müssen das verschieben“! So hatten sie nicht mal gemerkt, dass Micha sich sieben Tage in sein Zimmer eingeschlossen hatte...

Konnte sie nicht einfach gehen? Micha hatte sie nicht gezwungen ihn hier zu besuchen. Er hatte nicht einmal darum gebeten, dass sie überhaupt irgendwas für ihn tat.

„Wir haben immer unser Bestes getan. Dir standen alle Türen offen… Du hättest nur etwas daraus machen müssen.“, hörte Micha die Stimme seiner Mutter und öffnete seine Augen wieder. Nur um sie dann stumm anzusehen, während er es hinter seinen Augen brennen fühlen konnte.

Doch er sagte nichts. Es hatte keinen Sinn.

„Du hast dann ja alles.“, sagte Doreen Sokolow schließlich, nachdem sie noch einmal auf ihre Uhr geblickt hatte. Hatte sie also doch noch einen Termin. „Ja.“, nickte Micha nur, als sie sich dann endlich aufrichtete.

Die Verabschiedung fiel kalt aus. Micha hatte ihr nichts zu sagen und umgekehrt schien es das Gleiche zu sein. Kein Wort von wegen, dass sie sich Sorgen um ihren Sohn mache. Keine Frage, wie es ihm ginge. Kein Zuspruch, dass sie für ihn da wäre. Kein ich hab dich lieb. Nichts! Einfach nichts! Außerdem war es ja nur verständlich, dass sein Vater ihn nicht besuchen kam. Nicht einmal nach Micha fragte. Ja, nur verständlich…

Am Abend ließ Micha das Essen stehen und zog sich auf sein Zimmer zurück. Eine ziemlich lange Weile hatte er versucht gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen, während diese Gedanken in Endlosschleife durch seinen Kopf liefen. Doch irgendwann hatte Micha den Kampf verloren. So lag er dann zusammen gekauert, die Decke über sich gezogen, in diesem Bett und schluchzte leise, während Tränen seine Wangen hinab liefen.

War ja klar, dass niemand nach ihm fragte! Da gab es schließlich auch nichts, das eine Frage wert gewesen wäre! Außerdem, schon allein wie seine Mutter ihn angesehen hatte. So herablassend und abwertend… Er war nichts weiter, als ein Fehler! Ein beschissener Fehler, den sie bereute in die Welt gesetzt zu haben!

Micha biss die Zähne aufeinander, während sein Körper von diesem Heulkrampf durchgeschüttelt wurde.

Er hätte sich wirklich gewünscht glücklich zu sein. Nur ein Mal. Doch er war es nicht. Er wusste nicht einmal mehr, wie sich das anfühlte…

Abgesehen davon war er sein ganzes Leben lang doch nichts weiter als ein Fehler gewesen! Etwas, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte! Also tat er der Welt doch nur einen Gefallen, wenn er endlich ging!

Noch immer leise schluchzend, wanderte Michas Hand unter seinen Pullover und begann langsam mit dem Daumennagel über seine Bauchdecke zu kratzen.

Von oben nach unten. Und immer wieder von oben nach unten. Immer ein Stück tiefer und fester. Von oben nach unten zog sich sein Daumennagel durch sein Gewebe. Bis sich eine Schlucht durch seine helle Haut gebohrt hatte und Micha Blut unter seinen Nägeln und auf seinen Fingern spüren konnte.

Trotzdem fühlte er noch nicht die Erleichterung, nach der er sich sehnte.

Erst als er sich, Minuten später, noch tiefer durch die einzelnen Hautschichten gebohrt und die Wunde einige Zentimeter ausgeweitet hatte, spürte Micha langsam den Schmerz, der ihm zeigte, dass da noch Leben in ihm war…

Kapitel 3

 

Die Lippen auf einander gepresst stand Micha von seinem Bett auf und machte sich auf den Weg in das kleine Badezimmer, das sich mit in dem Raum mit den zwei Betten befand. Während er versuchte möglichst leise zu sein, riskierte er einen kurzen Blick zu seinem Mitbewohner. Dieser schlief. Zum Glück, wie Micha fand.

Leise schloss er die Tür des Badezimmers von innen ab.

Als er dann, unter dem Lichtstrahl der runden Deckenbeleuchtung, vorsichtig seinen Pullover nach oben schob und an sich selbst herunter sah, erstreckte sich dort eine äußerst tiefe, schätzungsweise zehn Zentimeter lange und vier Zentimeter breite, klaffende Wunde. Auch sein Daumen und seine Finger waren von den Spuren seines Bluts überzogen.

Die Wunde brannte und pochte schmerzhaft.

Dennoch, Michas Körper war dieses Gefühl schon längst nicht mehr fremd.

Angefangen hatte es mit Ritzen, als er ein Jugendlicher gewesen war. Doch, wenn es das nicht war, gab es auch noch andere Möglichkeiten. Von Haare ausreißen, über Kratzen, bis hin sich selbst zu schlagen. Einmal hatte Micha beispielsweise so lange mit der Faust auf seinen Oberschenkel eingeschlagen, bis sich große, dunkelblau-violette Blutergüsse unter seiner weißen Haut gebildet hatten. Selbst Wochen später hatte er noch die Verhärtungen unter den sich auflösenden Blutergüssen spüren können…

Aber, wen interessierte das schon? Abgesehen davon, wer verstand schon, warum er das tat? Der normale Mensch ganz sicher nicht. Und die bekloppten Idioten, die früher gerne mal mit dämlichen Sprüchen daher gekommen und ihn hinter seinem Rücken nachgeäfft hatten, erst recht nicht! 

Es war ja so witzig sich mit einer Klinge Wunden zuzufügen. Und das so lange, bis er vor lauter Blut seinen eigenen Arm nicht mehr sehen konnte… Genau, das war ja so lustig…

So schien zumindest das Empfinden seiner ehemaligen Mitschüler. Alles nur, weil einer aus Versehen nach dem Sportunterricht Michas Narben gesehen hatte… Klar, er war einfach zu sensibel. So sensibel, dass er sich aus Angst vor bunten Gummibärchen, wie ein Emo, jedes Mal schreiend auf die Toilette verzog und den Drang verspürte sich ritzen zu müssen. Zum totlachen…

Die hatten doch alle keine Ahnung!

Dabei war es simpel: Wenn es nicht zur Selbstbestrafung diente, dann um den inneren Schmerz zu betäuben. Der äußere Schmerz linderte den Inneren… Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Es war wie Durchatmen, fühlen, dass man noch am Leben war…

Micha versuchte sich gerade mit einer Ladung Toilettenpapier, das er über die offene Wunde legte, selbst zu verarzten, als sich ein Klopfen an der Tür bemerkbar machte.

Einen Moment zuckte Micha zusammen, blickte aus ängstlichen Augen zur Tür.

„Was machst du da?“, ertönte die Stimme seines Mitbewohners. Doch Micha antwortete nicht. „Was machst du da?“ Wieder zuckte Micha zusammen. „Ich… ich bin gleich fertig.“

Er wollte gerade ein paar weitere Papiere abrollen, als der Andere von außen an der Türklinke rüttelte.

„Ich muss mal.“ „Ja, gleich!“, zischte Micha nervös, während er sich genötigt sah sich zu beeilen. „Was machst du da?“ „Nichts!“, brüllte Micha verzweifelt, in der Hoffnung, der Andere würde dann endlich weg gehen und ihn in Ruhe lassen. Einfach in Ruhe lassen… Doch das zu erwarten, war scheinbar zu viel verlangt. „Ich habe aber die Spülung gehört.“

Wieder rüttelte es an der Türklinke.

„Ja! Ich brauche noch ein bisschen!“, zischte Micha innerlich aufgewühlt und fuhr damit fort sich zu beeilen. Doch die Wunde wollte nicht aufhören zu bluten. Trotzdem legte Micha schnell eine Schicht Toilettenpapier über das offene Gewebe und zog seinen Pullover wieder nach unten.

Noch einmal betätigte er die Spülung, um die Beweise seiner Selbstverstümmelung in die Kanalisation zu befördern, wusch sich die Hände und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Dann schloss er die Tür auf.

„Ist jetzt frei.“, sagte Micha, als er sich zu seinem Bett schleppte und dabei mit einer Hand seinen Bauch festhielt, damit der provisorische Verband nicht verrutschte.

„Was hast du da drin gemacht?“, fragte der Mann wieder. „Ich war auf der Toilette.“, sagte Micha und drehte seinem Mitbewohner den Rücken zu. Er wollte gar nicht wissen, was mit diesem Kerl los war. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Alleine sein. „Das glaub ich dir nicht.“ Wortlos zog Micha die Decke über seinen Kopf und schloss die Augen.

Natürlich war sein Akt von kurzzeitiger Selbstverstümmelung nicht unentdeckt geblieben.

Er hätte nicht so tief gehen sollen. Dann hätte die Wunde auch angefangen zu heilen, statt weiter offen vor sich hin zu bluten.

Schwester Leni hatte Micha nur mit besorgten, blauen Augen angesehen, als Dr. Schrot ihn, im Zuge einer Nachuntersuchung, dazu aufgefordert hatte, seinen Pullover hoch zu heben. Zuerst hatte Micha sich geweigert. Doch nach einer Weile guten Zuredens, hatte Micha letzten Endes doch eingewilligt und ihnen offenbart, was sich unter dem Stoff seiner Kleidung befand.

Im Laufe der letzten 20 Jahre hatte Schwester Leni schon so einiges gesehen. Menschen, die von der Polizei hier her gebracht wurden, Menschen mit Psychosen, Schizophrene, Borderliner, Manisch Depressive. Die Liste war lang. Auch Faktoren wie soziale Vereinsamung und steigender, beruflicher Leistungsdruck trugen immer mehr dazu bei, dass die Zahl an Patienten mit Depressionen über die letzten Jahre gestiegen war… Es war nun mal nicht nur eine Angelegenheit die bestimmte Gesellschaftsschichten oder Personengruppen betraf. Es konnte der jugendliche Außenseiter, genauso wie der 50-jährige Lehrer sein, der eines Tages einen Selbstmordversuch beging oder eine Depression entwickelte…

Deshalb war Schwester Leni der Anblick einer solchen Wunde, wie der bei Micha, nicht fremd. Sie hatte schon weit Schlimmeres gesehen. Und dennoch, zwar lernte man mit der Zeit die Beweggründe, die hinter solchen Verhaltensweisen steckten, besser zu verstehen, trotzdem war es jedes Mal eine neue Herausforderung. Es mischten sich doch immer mal wieder eigene Gefühle mit ein. Schließlich war man auch nur ein Mensch. Dennoch durfte man die Dinge, die sich hier abspielten und die Schicksale, denen man tagtäglich begegnete, nicht mit Nachhause nehmen. Da musste man lernen abzuschalten. Sonst verfolgte einen das noch bis in den Schlaf…

Schwester Leni fragte sich wirklich, wie Micha in diesem Zustand überhaupt tagelang hatte herum laufen können? Als sei nichts und alles in Ordnung gewesen… Doch, wie an den unzähligen anderen Narben an Michas Bauch und, bereits bei der ersten Blutabnahme, an Michas Armen zu erkennen gewesen war, war das nicht das erste Mal, dass er sich so etwas angetan hatte.

Nach dem Säubern und Desinfizieren war ein Verband an Michas schmalem Körper fixiert worden. Alles damit die Wunde wieder verheilen konnte…

So viel zu „ja nicht auffallen“. Natürlich war die Information, dass Micha sich selbst verletzt hatte, an seinen behandelnden Therapeuten weiter geleitet worden, sodass er sich dazu hatte äußern müssen.

Dabei waren die Beweggründe, die ihn zu dieser Entscheidung getrieben hatten simpel: Er hasste sich, fühlte sich wertlos, ungeliebt… einsam… überflüssig, hässlich... so wie er war schlicht unakzeptabel…

Nichts desto trotz fürchtete Micha, dass dieser „Ausrutscher“ seine Zeit hier wohl oder übel doch verlängern könnte. Seine „Beschützer“ dachten doch echt, dass ihn hier einzusperren und ihn mit diesen Tabletten vollzupumpen, irgendwas ändern würde. Dass sie ihn vor sich selbst schützen könnten. Dabei konnte das niemand! Sie konnten ihn vielleicht einsperren, doch die Gedanken in seinem Kopf steuern oder gar umlenken…

Das klang auch immer so leicht: Nur wer sich selbst lieben kann, kann von einem anderen geliebt werden - so die Aussage des Psychologen hier.

Er solle lernen sich selbst zu lieben, Dinge tun, die ihm gut taten und sich selbst besser behandeln. Der Rest geschehe dann von ganz allein.

War das wirklich so?

Micha wusste es nicht. Alles, was er wusste war, dass er schon oft versucht hatte, etwas an diesem Zustand zu ändern. Unzählige Male. Es war ja nicht so, dass er sich damit wohl fühlte. Im Gegenteil. Er hätte sich wirklich gewünscht glücklich zu sein. Einfach nur glücklich zu sein, zu lachen, Spaß und Freude zu empfinden. Aber er konnte es nicht! Egal wie sehr er es auch versuchte! Es funktionierte einfach nicht!

Oft hatte er schon die Hilfe von Psychologen aufgesucht…

Sein letzter Therapeut hatte ihn mit in die von ihm geleitete Gruppentherapie eingeplant – weil es Micha vielleicht gut täte auch die Sichtweisen anderer Menschen mitzuerleben. Es hatte auch gut getan. Teilweise. Dennoch hatte Micha auch diese Therapie irgendwann abgebrochen. Weil dieser Psychologe ihn vergessen hatte. Eigentlich hatten sie besprochen gehabt, dass Micha drei Gruppensitzung und jeweils eine Einzelsitzung im Monat erhalten sollte. Doch zu den Einzelgesprächen war es nie gekommen. Auf Michas Frage hin, wann sie denn einen Termin zu einer Einzelsitzung vereinbaren könnten, war von dem Psychologen nur gekommen, dass dessen Terminkalender momentan keine solchen Gespräche zuließe…

Ein anderer Therapeut, bei dem Micha ein halbes Jahr in Therapie gewesen war, war an einem Herzinfarkt gestorben. Schade um ihn… Micha hatte diesen 64 Jahre alten Mann mit dem grauen Bart wirklich gemocht.

Und mit der letzten weiblichen Psychologin, bei der Micha gewesen war, war er auf keinen grünen Zweig gekommen. Spätestens nach der dritten Sitzung, als sie ihn gefragt hatte, warum er hätte „absichtlich stören“ wollen, war er nicht mehr dort aufgetaucht. Sie hatte ihn so finster und fast wütend angesehen… Zig Mal hatte er sich entschuldigt, weil er drei Minuten zu früh an ihrer Tür geklingelt hatte. Mit der Erklärung, weil es draußen Minusgrade gehabt und der Bus ihn 25 Minuten zu früh ausgeladen hatte. Und der nächste Bus erst mit 15 Minuten Verspätung angekommen wäre. Und danach hatte sie ihn den Rest der 50 Minuten-Sitzung nur angesehen und angeschwiegen…

Alles in allem hatte Micha durch diese Erfahrungen einmal mehr das Gefühl bekommen, dass man ihm nicht helfen konnte. Oder dass es vielleicht nicht sein sollte...

 

 

In diesem Bett liegend, hatte Micha es, einige Tage später, nicht geschafft überhaupt irgendwas aus eigenem Antrieb zu tun – wie so oft, wenn er sich so fühlte. Zwar hatte er sich notgedrungen am Morgen zur Medikamentenausgabe und zu diesem Einzelgespräch geschleppt, war danach aber wieder zurück in sein Zimmer gegangen und hatte sich in seinem Bett verkrochen.

Er hatte keine Kraft. Er wollte doch nur hier raus. Einfach raus! Was war daran so schwer zu verstehen?

Klar, lerne dich selbst zu lieben! Wie lernte man sich zu lieben? Wie?

Außerdem was war an ihm denn schon liebenswert?

Nichts! Einfach nichts!

Würde ein normaler Mensch auch nur einen kleinen Blick in Michas Gedankenwelt werfen, derjenige würde nur mit dem Kopf schütteln und ihn verachtend ansehen! Ganz bestimmt! Ja, ganz bestimmt…

Außerdem, er war hässlich! Und viel zu klein! Zu klein, um gesehen zu werden! Abgesehen davon, es spielte doch keine Rolle, ob er noch hier war, oder nicht! Fiel doch sowieso niemandem auf! Das war immer schon so gewesen!

Wie konnte es den eigenen Eltern nicht auffallen, dass sich ihr Sohn sieben Tage in seinem Zimmer einsperrte und nicht mehr zur Schule ging?! Aus Angst! Aus Verzweiflung! Weil Micha keine Kraft mehr hatte, diese Schikanen auch nur einen Tag länger durchzustehen! Weil die Anderen sein Leben zur Hölle gemacht hatten!

Das Schlimmste Erlebnis in Michas Schullaufbahn war der Tag gewesen, an dem sich einer seiner Mitschüler den „Scherz“ erlaubt hatte, seinen Kopf, mittels Bildbearbeitung, auf das abartigste Zeug zu montieren. Und das hatte der Typ dann in diesem sozialen Netzwerk für jeden sichtbar hoch geladen.

Es war kurz vor Schulbeginn gewesen als Micha dann noch kurz online gegangen war. Doch was er dann zu sehen bekommen hatte, hatte sein Herz zum Stillstand gebracht. Nicht, dass das mit den Bildern schon verletzend genug gewesen wäre - 73 Kommentare hatten sich unter diesen an einander gereiht. Einer fieser, als der andere. Von „geil XD“ bis hin zu „Die Transe soll verrecken gehen“…

Was dachten sich die Menschen eigentlich, wenn die so etwas taten?! Dachten die überhaupt irgendetwas dabei?! Geilte es sie auf?! Gab ihnen das das Gefühl etwas Besseres zu sein?!

Micha wusste es nicht.

Warum hatten die ihn nicht einfach in Ruhe lassen können?! Leben lassen können?!

Mehr hatte er doch nicht gewollt! Einfach nur Ruhe und eine Berechtigung auf ein Leben ohne Schikanen! War das denn so viel verlangt?!

Mussten die schon so weit gehen, dass die ihn auch noch über das Internet schikanierten?! Dachten die Menschen solche Sätze wären nur Worte ohne Bedeutung, oder was?!

Auch wenn viele das nicht verstanden, aber genau das war einer der Gründe, warum Micha Angst vor Menschen hatte und sein Vertrauen in diese schon vor langer Zeit gestorben war. Weil sie ihm weh taten! Einfach nur weh taten!

Mit Tränen in den Augen und zugeschnürter Kehle war Micha damals von seinem Stuhl aufgestanden und dann verzweifelt durch sein Zimmer gelaufen. Auf und ab. Immer wieder auf und ab.

Das war der Tag gewesen, an dem er sich dann gar nicht mehr in dieses Schulgebäude getraut und schließlich sieben ganze Tage in sein Zimmer eingesperrt hatte. Sieben Tage, bevor er das erste Mal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen…

Dennoch hatte er überlebt. Und das obwohl man ihn mehr tot, als lebendig gefunden hatte. Und als Micha dann wieder zurück in die Schule gegangen war… Alle waren sie ja ach so „betroffen“ gewesen. Wie sie ihn angesehen hatten - seine Peiniger, genauso wie die, die immer nur stumm alles mit angesehen hatten. Zwar hatten sie Micha dann für den Rest des Schuljahres in Ruhe gelassen… Vielleicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten? Vielleicht, weil die, die sonst immer groß das Maul aufgerissen und ihn vor aller Mann fertig gemacht hatten, sich plötzlich nicht mehr trauten überhaupt etwas zu sagen?

Micha wusste es nicht. Es war ihm auch egal.

Doch, auch wenn sie ihn dann in Ruhe gelassen hatten… Seine Peiniger hatten zwar „betroffen“ drein glotzen, aber sagen können, dass es ihnen leid tat, das hatten sie nicht zu Stande gebracht! Kein einziges Mal! Es tut mir leid, dass ich dich Transe genannt habe! Es tut mir leid, dass ich im Internet Mist über dich geschrieben habe! Es tut mir leid, dass ich mit meinen Freunden über dich gelästert habe! Es tut mir leid, dass ich dich ausgelacht und nachgeäfft habe! Es tut mir leid, dass ich immer nur zugesehen habe, wie du vor meinen Augen zerbrochen bist… wie du still in der Ecke gesessen und innerlich geweint hast… statt für dich einzustehen! Es tut mir leid, dass ich dich um eine fröhliche und unbeschwerte Jugend gebracht habe, weil ich mich vor meinen beschissenen Freunden hatte wichtig tun müssen!!! Kann ich irgendwas für dich tun? Kann ich dir irgendwie helfen?

Nein, nie hatte einer die Courage besessen, diesen Schritt zu gehen…

Vielleicht aus Angst? Aus Angst selbst in die Schusslinie zu geraten, wenn sie sich mit dem Außenseiter abgegeben hätten? Oder aus Angst sich selbst eingestehen zu müssen, dass jedes verletzende Wort - jede Schikane - ihren Teil dazu beigetragen hatte, dass Micha sich so fühlte, wie er sich fühlte?

Und dann wunderten sich die Menschen, wenn man allmählich das Vertrauen in sie verlor. Ja, dann wunderten die sich…

Dabei hätte genau das einmal gut getan. Es hätte geheilt. Wenn auch nur ein bisschen. Aber es hätte geheilt, wenn es auch nur ein einziger Mensch gewesen wäre, der gesagt hätte, dass es ihm leid tat…

Abgesehen davon: Wie konnte den eigenen Eltern so etwas entgehen?! Wie konnte es ihnen entgehen, dass sich der eigene Sohn aus Angst in seinem Zimmer vor der Außenwelt verschanzte?! Doch sicher nur Eltern, denen man am Arsch vorbei ging! Eltern, die nur sich selbst sahen und sonst nichts! Genauso wie die ganzen anderen Menschen da draußen, die sich doch auch nur einen Scheiß für ihn interessierten, wenn sie ihn nicht gerade fertig machten und verletzten! Oder die sich nur dann mal erbarmten mit ihm was zu unternehmen, wenn sich keine bessere Option ergab! Weil sie ihn für einen Fehler hielten! Für einen sich selbst verstümmelnden Psycho!

„Hat mich gefreut… Vielleicht sieht man sich ja mal wieder…“

Klar…

„Gehst dich wieder ritzen, Schwuchtel“... „Die Transe soll verrecken gehen“… „Sprich lauter!... Kein Wunder, dass dich niemand versteht!“… „Kein Wunder, dass dich niemand versteht“…

Das war die Wahrheit! Das und nichts sonst…

Schluchzend und mit verheulten Augen drehte sich Micha im Bett um, zog seine Beine ein Stück enger an seinen zierlichen Körper, während immer wieder diese Bilder seinen Kopf fluteten. Bilder, wie er durch die Stadt lief und wie ihn die Leute dabei ansahen. So böse. So verachtend…

Wieder spürte Micha, wie sein Weinen seinen Körper durchrüttelte. Mit zitternden Gliedern wälzte er sich wieder einmal auf die andere Seite und drückte seinen Kopf in dieses Kissen, während Tränen aus seinen Augen strömten und seine Wangen herunterliefen.

Micha konnte jetzt schon spüren, dass ihm seine Augen weh taten und dass seine Wangen- und Kieferknochen pochend schmerzten. Wie so oft, wenn er sich auf diese Art die Seele aus dem Körper weinte. Doch meistens blieb sein leises Schluchzen ungehört und seine Tränen ungesehen. Weil da auch niemand war, der das wahrnehmen konnte. Außerdem, und da war sich Micha sicher, hätte ihn jemals jemand so erlebt oder auch nur zum Teil in seine Gedankenwelt hinein gesehen, dieser jemand wäre mit Sicherheit heillos überfordert, wenn nicht sogar angewidert gewesen. Getröstet hätte ihn da bestimmt niemand. Ganz sicher nicht!

"Du willst doch nur Aufmerksamkeit erregen. Genauso wie mit dem ganzen restlichen Unfug!“, hallten die Worte seines Vaters durch Michas Kopf.

Ja, Aufmerksamkeit erregen. Indem er sich die Seele aus dem Körper weinte… aus Schmerz… aus…

Nein, auf Trost musste er nicht hoffen. Nein…

Dabei hätte Micha sich nichts sehnlicher gewünscht als das. Einfach einen Menschen, der ihn festgehalten hätte. Jemand, der hinter ihm gestanden wäre. Wenigstens ein einziges Mal. Nur ein einziges, beschissenes Mal! Aber nein, auf Trost musste er wirklich nicht hoffen…

Schon allein bei dem Gedanken daran, schossen ihm erneut Tränen in die Augen.

Es hätte einfach gut getan, wenn nur einmal jemand da gewesen wäre…

Wie würde sich denn ein anderer an seiner Stelle fühlen?

Sollte es doch mal einer versuchen, sich in ihn hinein zu versetzen. Einfach nur, um mal zu verstehen! Wenn auch nur ein kleines bisschen!

Es war ja nicht so, dass man über seine eigenen persönlichen Grenzen hinaus gehen und sich Dinge zumuten sollte, die die eigene Psyche nicht ertrug. Natürlich brauchte jeder Mensch einen Ausgleich, etwas, das einen aufheiterte.

Doch was, wenn man so etwas nicht hatte?

Was wenn man keine Freunde hatte, die einen mal trösteten? Niemanden, der einen einfach mal von dem ganzen Seelenmüll ablenkte, wie in einer Freundschaft üblich? Was, wenn man mit alledem alleine fertig werden musste? Und das immer? Was dann? Was munterte einen dann noch auf? Und hatte man da nicht einen Grund traurig zu sein?

Aber die meisten Menschen nahmen viel zu gerne Abstand von all diesen Dingen. Weil es zu heftig war. Zu viel. Zu hart. Außerdem was interessierte es die auch, wie es ihm ging? Konnte denen doch am Arsch vorbei gehen!

Er war sowieso ein Niemand! Bedeutungslos eben!

Aber, würden die Menschen es trotzdem einmal versuchen. Einfach nur ein bisschen…

Konnte sich überhaupt jemand vorstellen, wie es sein musste immer alleine zu sein? Und das fast ein ganzes Leben lang? Wie es sein musste, sich nur mal jemanden zu wünschen, der einen verstand?

Doch vor allem kreiste immer wieder ein und dieselbe Frage durch Michas Kopf: War er wirklich so eine Zumutung? Zu unzumutbar, um überhaupt jemals gemocht oder geliebt zu werden?

Micha wusste es nicht mehr. Er fühlte sich so leer. Leer und ausgehöhlt. Er hatte keine Kraft mehr.

Irgendwann gab die Seele nun mal auf…

Mit einem Ruck zog Micha die Decke über seinen Kopf.

Konnte ihn überhaupt jemand verstehen?

Nein, höchstwahrscheinlich nicht.

Auch nur ein weiterer Grund, das alles zu beenden…

 

Kapitel 4

 

„Hey.“

„Hallo.“

„Du musst aufstehen.“

„Steh auf!“

„Ja, ich hab´s gehört, verdammt!“, zischte Micha und fuhr in seinem Bett herum, sodass die Hände seines Zimmermitbewohners endlich aufhörten seinen Körper durchzurütteln. Was dachte der sich eigentlich dabei?!

„Du musst aufstehen.“

Aus wütenden und zugleich erschöpften Augen sah Micha seinen Mitbewohner an.

Die ganze Nacht hatte er wegen dessen Schnarcherei kein Auge zu gemacht. Entsprechend war auch seine Stimmung, als der alte Mann jetzt von ihm erwartete sich aufzurichten.  Die vom Personal hier waren auch schon reingeplatzt und hatten dann einfach so das scheiß Licht angeknipst. „Es ist 6 Uhr 30. Bla bla…“ - so wie jeden Morgen.

Aber Micha war nicht nach Aufstehen zumute. Er wollte liegen bleiben. Einfach da liegen, die Decke über sich ziehen und sich in dieser dunklen Höhle verkriechen. Zuhause hatte er das manchmal tagelang so gemacht.

Mit einer ruckartigen Bewegung zog Micha die Decke wieder über seinen Kopf und kehrte seinem Gegenüber den Rücken zu.

Wozu sollte er überhaupt noch aufstehen?

Um irgendwelche Pillen zu schlucken? Um mit seinem „Therapeuten“ sinnlose Dinge zu besprechen? Oder um in dieser Beschäftigungstherapie bekloppte Krüppeltierchen aus Ton zu formen, die man getrost in die Mülltonne knallen konnte?

Konnte das denn niemand verstehen?! Er wollte das alles nicht! Er war nicht freiwillig hier!

Außerdem, die Gedanken in seinem Kopf waren nach wie vor dieselben. Daran hatte auch dieses Medikament – ein Antidepressivum der SSRI-Gruppe - bislang nichts geändert. Dieses sollte zwar irgendwann mal eine aufhellende und antriebssteigernde Wirkung zeigen… Außerdem sprachen, laut Aussage seines Psychiaters Dr. Niedermair, gute 70 Prozent der Patienten mit schwerwiegenden Depressionen, wie der bei Micha, gut auf dieses Medikament an, weil-

„Du musst aufstehen!“, hörte Micha wieder die Stimme seines Mitbewohners, während der seinen Körper von Neuem grob durchschüttelte.

„Scheiße nochmal, verschwinde und lass mich in Ruhe!“, fauchte Micha und schob die Hände des Anderen von seinem Körper. Er hasste es, wenn man ihn berührte. Vor allem auf diese Weise. Konnten die Menschen nicht einen gewissen Mindestabstand einhalten?! „Du hast genug geschlafen.“ „Mann, verpiss dich!“, schnaubte Micha. Er wollte doch nur seine Ruhe. „Komm.“ „Nein!“ „Du musst aufstehen.“ „Verdammt, lass mich in Ruhe! Ich will alleine sein…“, sagte Micha und zog die Decke wieder über seinen Kopf. „Wenn du nicht aufstehst, muss ich das sagen.“ „Dann mach doch!“ „Jetzt komm. Du musst aufstehen.“, machte sein Mitbewohner weiter und zog Micha die Decke weg.

Genervt und wütend blickte Micha zu dem alten Mann mit der Halbglatze hinauf.

Was dachte der sich eigentlich dabei, ihm einfach so die Decke wegzuziehen?! Es war kalt und… Trotzdem, auch wenn alles in ihm das Gegenteil schrie, gab Micha schließlich auf und hievte sich hoch.

Half ja alles nichts. Die vom Personal waren da auch nicht besser. Ganz im Gegenteil. Vor zwei Tagen erst hatte dieser Pfleger ihm fast schon penetrant ins Gewissen geredet: „Herr Sokolow, wegen Ihnen müssen jetzt alle warten. Das wollen Sie doch nicht, oder? Bla bla…“

Die Hände um seinen Bauch geschlungen und mit zerzausten Haaren schlüpfte Micha in seine Schuhe und begann sich zur Tür zu schleppen. Wenigstens hielt sein Mitbewohner diesbezüglich seine Klappe und ließ ihn in Ruhe. Micha musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, wie er aussah. Bestimmt wirkte er wie der Tod in Menschengestalt…

 

Es war immer derselbe Weg. Jeden Morgen. Einmal den langen, weißen Flur hinab, einmal rechts um die Ecke und dann wieder geradeaus. Bis er an seinem Ziel angekommen war, wo ihm ein kleiner und ein großer Becher gereicht wurden, deren beider Inhalt er möglichst schnell herunter schluckte. Und dann hieß es erst einmal wieder Verbandswechsel.

„Die Wunde sieht schon besser aus.“, hörte er die Stimme von Schwester Leni im Hintergrund sagen, während er, wie immer den Kopf zur Seite gedreht, da stand und sie machen ließ. „Die Entzündung ist auf jeden Fall ein gutes Stück zurück gegangen.“

Ja, und? Wen interessierte das? Und auch wenn sein ganzer Körper von solchen Narben entstellt war, so konnte ihm das doch egal sein.

„Tut es noch weh?“, versuchte Schwester Leni es weiter mit einem Gespräch.

Ein Kopfschütteln war Michas einzige Antwort.

Als der neue Verband an seinem Bauch fixiert war, zog Micha den Stoff seines schwarzen Pullovers wieder darüber und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Kann ich dann jetzt gehen?“, wollte er wissen, als Schwester Leni noch etwas auf diesem linierten Bogen dokumentierte. „Dr. Niedermair möchte noch mit dir sprechen.“, erklärte sie, woraufhin Micha genervt mit den Augen rollte und laut aufatmete. „Was will der denn von mir?“ „Das musst du mit ihm persönlich besprechen. Setz dich draußen noch ein Weilchen hin, er holt dich dann.“, meinte Schwester Leni, als sie, den Stift in ihrer Hand, vom Schreibtisch aus seinen Blick erwiderte. „Okay.“, atmete Micha wieder auf und schleppte sich nach draußen auf den Flur. Dort setzte er sich dann auf einen der weißen Stühle mit den dunkelblauen Gesäßmatten, die sich entlang der weißen Wand an einander reihten, und wartete.

Einen Moment lang schloss Micha seine Augen und lehnte seinen Kopf gegen die kühle Wand. Wenn das so lange dauerte, wie das letzte Mal, dann konnten gute tausend Jahre vergehen, bis Dr. Niedermair ihn aus dieser zähen Warterei entlassen würde. Abgesehen davon hatte er doch erst vor ein paar Tagen mit dem gesprochen. Was wollte der dann jetzt wieder von ihm? Für den war er doch auch nichts weiter als eine Akte. Ein Stück Papier, in welchem Dinge wie: suizidal, depressiv, autoaggressiv und angstgestört drin standen. Eine kurze, aber doch scheinbar allumfassende Beschreibung seiner Person.

„Hey. Wie geht´s dir?“, hörte Micha plötzlich eine Stimme neben sich und riss erschrocken seine Augen auf, wandte seinen Kopf nach links. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Hab dich nur hier sitzen sehen…“, erklärte Olli und schaute zu Micha hinab, dessen große Augen noch immer weit aufgerissen waren. Als wäre er plötzlich in sich selbst erstarrt. „Ähm…“, gab Micha von sich, als wieder etwas Bewegung in seinen Körper kam, und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Dir scheint´s nicht so gut zu gehen.“, stellte Olli fest. „Wieso?“ „Du siehst ziemlich übel aus.“, sagte Olli. Als er Micha ansah, schien es, als würden dessen Augen durch diese Aussage einen vollkommen anderen Ausdruck bekommen. Als wäre Micha irgendwie wütend. „Mhm.“, machte Micha nur, wandte seinen Blick von Olli ab und sah starr auf die gegenüberliegende Wand. War ja klar, dass Olli fand, dass er… ziemlich übel aussah… Wie konnte es auch anders sein.

Micha wirkte irgendwie so… Oliver fehlte das richtige Wort. Denn gebrochen hätte nicht einmal ansatzweise beschrieben, was Olli da vor sich sah. Er hatte ja schon geglaubt, dass er fertig gewesen wäre, aber sein Gegenüber hatte es da um einiges schlimmer getroffen.

Irgendwie machte ihn das traurig.

„Herr Sokolow?“, hörte Oliver Dr. Niedermair plötzlich sagen, während Micha sich wortlos aufrichtete. Nur um dann, ohne Olli weiter zu beachten, im Zimmer des Arztes zu verschwinden.

 

Das Gespräch mit Dr. Niedermair hätte Micha sich getrost sparen können. Alles, was der von ihm hatte wissen wollen war, wie er sich fühlte. Dann noch ein paar kurze Tests und ein paar Notizen in diesem Computer. Nur um dann mit der Mitteilung, dass es noch etwas dauern könnte, bis seine Medikation anschlagen würde, wieder hatte gehen können.

Sie seien ja noch innerhalb der normalen Parameter. Außerdem hätten sie die Dosis ja bereits erhöht. Damit sollte es dann möglich sein Michas Gefühlsleben in den Griff zu kriegen.

Trotzdem hätte er sich auch die Gespräche mit seinem Psychologen, den man ihn da vorgesetzt hatte, sparen können. Genauso wie diese Gruppengespräche zwei Mal die Woche oder dieses stupide Rumwerkeln mit Ton und anderen Materialien. Denn, so richtig glaubte Micha nach wie vor nicht, dass ihm das alles irgendwie helfen konnte. Manches, vor allem die Dinge, die er in der Einzeltherapie besprach, klangen ausgesprochen leicht, waren aber in ihrer Umsetzung so verdammt schwer. So hatte Micha noch immer keine Antwort auf Fragen wie, wie man sich selbst lieben lernte oder ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelte…

 

Müde und mit einem Buch in der Hand, schleppte Micha sich, Stunden später, wieder einmal durch diesen viel zu langen Gang, auf der Suche nach ein bisschen Ruhe. Am liebsten wäre er weiterhin in seinem Zimmer geblieben, doch sein Mitbewohner sägte so laut, dass ihm nichts anderes übrig geblieben war als zu flüchten.

Als Micha sein Ziel endlich erreicht hatte und die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete, war er glücklicherweise allein. Die meisten schliefen um diese Zeit eben. Es war ja auch mitten in der Nacht.

Zielstrebig betätigte Micha den Lichtschalter, der sich an der rechten Seite befand, und schloss leise die Tür hinter sich. Nur um sich zu einem der beiden Sofas zu schleppen und dort auf die Seite zu legen.

Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und wäre sofort an Ort und Stelle eingeschlafen. Sein Körper war so müde… Aber er konnte nicht. Diese Gedanken in seinem Kopf hielten ihn mal wieder wach.

Olli und wie der ihn heute Morgen angesehen hatte, war doch das beste Beispiel. Der dachte sich bestimmt auch nur, dass er nichts weiter als ein Freak war. Von wegen „war nett dich kennen zu lernen“. Wer sollte sich denn schon groß über seine Gesellschaft freuen?

Micha konnte beispielsweise gar nicht zählen, wie oft seine damalige Chefin mit dem Spruch: „Wenn man mit Dir zusammen arbeitet, herrscht eine Stimmung wie auf dem Friedhof“ gekommen war.

Sofort hatten sich diese Worte in Michas Gehirn eingenistet.

Natürlich empfand sie das so! Er war eben viel zu sehr in sich gekehrt! Und konnte wieder einmal den Anforderungen der Menschen um sich herum nicht gerecht werden! Doch, und das war das Schlimmste an der ganzen Sache: Als er diese Worte das erste Mal gehört hatte, hatten diese ihn bis Nachhause verfolgt, sodass alles damit geendet hatte, dass er mit seiner Holzbürste immer und immer wieder auf seinen Kopf eingeschlagen hatte. So heftig, dass sein Kopf Tagelang schmerzhaft gepocht hatte und Micha nicht hatte ruhig liegen, geschweige denn schlafen können.

Alles nur, weil er sich dafür hasste so zu sein! Weil er sich selbst nicht ertrug! Doch vor allem, weil seine ehemalige Chefin recht hatte!

Für seine Chefin waren das nur Worte gewesen. Worte, die sie beiläufig in einem schnippischen Tonfall hatte fallen lassen. Aber dennoch waren genau diese Worte ein ziemlich deutlicher Ausdruck dessen, was sie über ihn dachte. Dass sie nicht gerne mit ihm zusammen arbeitete! Dass sie seine Anwesenheit als runterziehend empfand! Etwas anderes - etwas Positives - sagte das doch nicht aus!

Und statt darauf etwas zu sagen, hatte Micha wieder einmal geschwiegen. Was hätte er denn auch sagen sollen? „Entschuldigen Sie, dass ich nicht zum Scherzen und zu Smalltalk aufgelegt bin, weil ich das nicht kann?!... Weil es einfach nicht funktioniert?!... Weil es mir schlecht geht?!... Können Sie das denn nicht sehen?!“ Nein, ganz bestimmt nicht! Denn seine Chefin hatte ihn damals schon genug auf dem Kieker gehabt. Und alles, was aus einer verbalen Auseinandersetzung heraus resultiert wäre, wäre wahrscheinlich in diese Richtung verlaufen: „Herr Sokolow, wenn Sie schon mit dieser Aufgabe überfordert sind, wie stellen Sie sich dann überhaupt Ihre weitere Zukunft in diesem Unternehmen vor? Denken Sie nicht, dass es dann klüger wäre, wenn Sie uns, doch vor allem sich selbst den Gefallen tun würden, indem Sie einfach kündigen?“

Ja, so ungefähr wäre das wahrscheinlich verlaufen…

Micha atmete schwer und fühlte sich wieder einmal, schon durch den Gedanken an diese Worte, in der Überzeugung bestärkt, dass er schlicht unzumutbar war. Es war eben besser, wenn man seine Gesellschaft mied. Er konnte sich schon längst nicht mehr vorstellen, dass sich irgendjemand wirklich darüber freuen konnte, mit ihm Zeit zu verbringen. Von daher doch nur verständlich, dass er alleine war…

Auf der Seite liegend, hatte er nun schon eine ganze Weile in die Leere gestarrt. Bis er sich mit einem Ruck aufrichtete und dann mit angewinkelten Beinen auf das Buch, auf dem kleinen Tisch vor sich, starrte.

1984 von George Orwell.

Micha wusste gar nicht mehr, wie oft er dieses Buch schon gelesen hatte. Es war ja von seiner Mutter nett gemeint, dass sie etwas zum Lesen mit eingepackt hatte. Doch irgendwie auch wieder nicht. Denn im Grunde hatte sie doch keine Ahnung von ihm. Sie wusste weder welche Bücher er gerne las, noch welche Musik er gerne hörte. Sie wusste gar nichts! Nicht einmal das kleinste Bisschen!

Wie sollte man bei all diesen Erinnerungen überhaupt einen positiven Gedanken fassen oder an irgendwas glauben? Wie?!

Konnte ihm das einer erklären?!

Wenn er irgendwann einmal hier raus kommen sollte, dann war da sowieso nichts, das auf ihn wartete. Also wofür das alles noch?

Seine leeren Augen noch immer auf das Buch vor sich gerichtet, griff Micha unter seinen Pullover. Um diesen Verband an seinem Bauch abziehen und das verheilte Gewebe wieder aufzureißen.

Doch er wurde unterbrochen.

Gerade als sich die Tür einen Spalt öffnete, zog Micha seine Hand schnell wieder unter seinem Pullover hervor und blickte erschrocken in die Richtung des Anderen.

„Herr Sokolow, Ihnen ist schon klar, dass sie in Ihrem Zimmer sein sollten. Ich wollte gerade nach Ihnen sehen.“, vernahm Micha die Stimme dieses Pflegers, der ihn mit undefinierbarem Blick ansah.

Statt zu antworten, nickte Micha nur, richtete sich auf und machte sich daran an dem Kerl vorbei, zurück in sein Zimmer zu gehen. Micha verstand ja, dass die regelmäßige Kontrollen machten. Gerade nachts. Um sicherzustellen, dass alles seine Richtigkeit hatte und nicht irgendjemand auf dumme Ideen kam. Erst vor zwei Tagen war ein Mitpatient splitterfasernackt und vollkommen apathisch durch die Flure gelaufen… Trotzdem fühlte Micha sich bevormundet. Als wäre er ein kleines Kind, dem man vorschreiben musste, wann es zu Bett zu gehen und wann wieder aufzustehen hatte…

Oliver bog gerade um die Ecke, als er noch sah, wie Micha nach links ging.

Da hatte er den Kleinen wohl um ein paar Minuten verpasst. Schade. Olli hätte gerne jemanden zum Reden gehabt. Auch wenn Micha bisher noch nicht viel mit ihm gesprochen und heute Morgen alles andere als gut ausgesehen hatte. Trotzdem, so etwas wie Gesellschaft wäre ganz schön gewesen…

Als der Pfleger, der gerade noch Micha ermahnt hatte in sein Zimmer zurück zu gehen, sich zu Oliver umdrehte, hielt der demonstrativ seine Zigarette mit dem Feuerzeug in seiner Hand vor dessen Blickfeld. „Ich wollte nur kurz eine rauchen gehen.“ „In Ordnung, Herr Mayer. Ausnahmsweise. Aber nur die eine.“, sagte der Pfleger mit strenger Stimme. „Aber klar doch.“, lächelte Olli und öffnete dann die Tür des Aufenthaltsraums.

Bei einem der Aschenbecher angekommen, klemmte er sich dann die Kippe zwischen die Lippen und zündete sie an.

Keine Ahnung was er ohne sein tägliches Nikotin hier gemacht hätte? Zum Glück hatte ihm seine kleine Schwester Kat heute ein paar Schachteln mitgebracht. Bereits der erste Zug, der sich tief in seine Lungen sog, hatte etwas von Durchatmen.

Heute war in der Tat ein anstrengender Tag gewesen. Wie jedes Mal nach einem dieser Einzelgespräche mit seinem Therapeuten, die er drei Mal die Woche hatte. Neben Gruppen- und Gestaltungstherapie. Man mochte glauben, dass der Aufenthalt hier etwas von Urlaub hatte. Doch weit gefehlt. Die Gespräche gingen ziemlich an die Substanz, nahmen das komplette Innenleben auseinander und brachten einen zum Nachdenken. Und dann hatte man entweder ein paar Stunden dazwischen oder am Abend etwas Zeit für sich. Zeit, die Oliver dazu nutzte, wieder einen klaren Weg für sich und sein Leben zu finden.

Dennoch, ohne seine tägliche Dosis Zigaretten wäre er aufgeschmissen. Doch schon nach ein paar Zügen war bereits die Hälfte aufgeraucht und endete als kleiner Ascheberg in dem großen Gefäß. Als er sich von seinem Spiegelbild an der Fensterscheibe abwandte, landete sein Blick auf diesem Buch, das auf dem kleinen Tisch lag.

Zeit für Lesen hatte Olli sich früher auch oft nehmen wollen.  Allerdings war er, wegen seiner Verpflichtungen, nie dazu gekommen. Etwas, das er sich jedoch geschworen hatte zu ändern, sobald er wieder raus käme.

Olli tätigte noch einen letzten Zug, bevor er die Zigarette schließlich in dem Aschenbecher ausdrückte und sich daran machte wieder zurück auf sein Zimmer zu gehen. Doch, bei dem kleinen Tisch angekommen, stoppte er, griff nach dem Buch und betrachtete es.

1984 von George Orwell.

Dieses Werk hatte er in der Tat schon oft lesen wollen. Ob das dem Kleinen gehörte? Musste der wohl vergessen haben?

 

Leise legte Oliver das Buch auf die Kopfseite seines Bettes.

George Orwells 1984 hatte er wirklich schon lange mal lesen wollen. Doch bislang war er nie dazu gekommen. Einer der vielen Gründe, warum er hier war. Die Luft um seine Kehle hatte sich immer mehr zugezogen, bis er in sich zusammen gebrochen war. Ein Fehler, den er immer gerne machte war der, dass er sich mehr aufbürdete, als er eigentlich tragen konnte.

So viel hatte Oliver in den Gesprächen mit seinem Therapeuten bereits verstanden.

Er war immer schon einer der Menschen gewesen, die andere schlecht im Stich lassen konnten. Trotzdem musste er jetzt endlich lernen in erster Linie an sich selbst zu denken. Denn nur, wenn es ihm selbst gut ging, konnte er für andere da sein. Und momentan war er davon noch Meilen weit entfernt.

So erwischte er sich immer wieder dabei, wie sein Kopf von einem Gedanken zum nächsten sprang. Und das meist über Nächte hindurch. Deshalb hatte er da draußen auch kein Auge mehr zu gekriegt.

Ollis familiäre Situation war noch nie leicht gewesen. Was machte man, wenn der eigene Vater wegen seiner Neuen im Gefängnis saß und die Mutter mit der Erziehung der jüngeren Geschwister alleine vollkommen überfordert war?

Olli war der Älteste von vier Geschwistern. Die ersten acht Jahre seines Lebens war er als Einzelkind aufgewachsen. Bis dahin war auch noch alles in Ordnung gewesen. Auch als seine jüngere Schwester Katharina und die Zwillinge Thomas und Philipp geboren wurden. Es war finanziell nie leicht gewesen, trotzdem hatte sich sein Vater stets bemüht, die Familie soweit alleine ernähren zu können. Auch wenn er das eine oder andere krumme Ding gedreht und deshalb ein paar Bewährungsstrafen bekommen hatte. Trotzdem, es hatte immer irgendwie funktioniert.

Doch seit der Trennung seiner Eltern vor fünf Jahren war alles aus den Fugen geraten.

Ollis Vater hatte seine Mutter von heute auf morgen wegen einer anderen verlassen. Olli lebte da schon längst nicht mehr Zuhause. Deshalb war ihm so einiges, das sich dort abgespielt hatte, entgangen. Dennoch, er nahm seinem Vater diese Entscheidung nicht übel. Olli konnte ihn sogar verstehen, denn seine Mutter konnte eine sehr kontrollfanatische und cholerische Frau sein... Doch, so sehr Oliver sich damals darüber gefreut hatte, als er mit 18 endlich hatte ausziehen können, so sehr fühlte er sich, seit der Trennung seiner Eltern, dazu verpflichtet seine Mutter und seine Geschwister zu unterstützen.

Sie hatten doch sonst niemanden…

Doch so im Nachhinein betrachtet war das wahrscheinlich die falsche Entscheidung gewesen. Er hätte mehr an sich selbst denken sollen. Doch vor allem hätte er zuhören sollen, als seine Freundin Victoria ihn darum gebeten hatte, dass er sich auch einmal etwas mehr Zeit für sie nehmen sollte. Unzählige Male hatte sie Verständnis gezeigt. Gerade dann, wenn er ihr mal wieder gesagt hatte, dass er seine Versprechen der Umstände wegen nicht hatte einhalten können. Immer wieder hatte er sie vertröstet, gesagt, dass sie all die verpasste, gemeinsame Zeit nachholen würden, was er jedoch nie hatte einhalten können. Denn sein Job hatte ihn auch immer mehr eingespannt. Dann waren jeden Monat einige hundert Euro für seine Geschwister und seine Mutter drauf gegangen, um seine Familie wenigstens etwas finanziell zu unterstützen. Von 700 Euro Hatz 4 mit Kindergeld für vier Personen ließen sich nun einmal keine großen Sprünge machen. Dennoch war es im Endeffekt verlorenes Geld gewesen, das seiner Freundin und ihm dann gefehlt hatte. Dazu wurde seine Mutter mit der Zeit auch immer dreister, sagte, ob er nicht kommenden Monat etwas mehr springen lassen könnte. Sie bräuchte eine neue Waschmaschine. Das waren dann auch wieder 200 Euro, die er extra einkalkulieren musste. Doch woher nehmen? Er lebte selbst schon mehr als bescheiden. Doch andererseits wollte Oliver auch, dass es seinen Geschwistern an nichts fehlte. Deshalb war dann noch ein 400 Euro Job dazu gekommen.

Dennoch war das noch nicht genug gewesen… Zu alledem war dann noch der eine oder andere Nebendienst dazu gekommen. Beispielsweise wenn einer der Computer der Zwillinge mal nicht funktionierte – ob er diesen denn nicht reparieren könnte. Oder wenn eine Kollegin von Olli meinte, dass ihr Drucker nicht funktionierte – ob er sich den mal ansehen könnte. Oder ob er einem Kollegen Geld leihen könnte, denn bei dem sei es momentan finanziell eng, außerdem war dessen Frau an Krebs erkrankt... Alles Dinge, zu denen Olli stets schlecht hatte Nein sagen können.

Zudem dann noch die durchschnittlich zwölf Stunden Tage, Feiertage, Wochenenden, Nächte, in denen er kein Auge zugemacht hatte…

Einmal, und daran erinnerte sich Olli noch genau - so etwas vergaß man schlecht, vor allem als Mann seines jungen Alters - da hatte er auf der Heimfahrt nach einem 15 Stunden Tag in seine Hose uriniert. Stressbedingt, wie sich später rausgestellt hatte. Doch das zu sagen… zu sagen, dass er nicht einmal mehr fähig gewesen war die Kontrolle über seine Organe zu behalten... Wer wollte so etwas schon offen zugeben, ohne zu riskieren deshalb von einem Anderen ausgelacht zu werden? Niemand! Genauso wenig Oliver. Deshalb hatte er es abgetan und verschwiegen.

Dennoch, Olli erinnerte sich noch genau an all die Male, in denen er in seinem Badezimmer auf der Klobrille, den Kopf in die Hände gestützt, da gesessen war und vor sich hingestarrt hatte, während ständig die Worte: "Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr." gegen das Innere seines Schädels gepocht hatten.

Einmal, daran erinnerte er sich noch genau, da hatte ihn ein Klopfen an der Tür aus diesem Zustand gerissen. "Ist alles okay mit dir?", hatte er die Stimme seiner Freundin von außen durch das Holz sprechen hören, als er zur Tür geblickt hatte. "Ja, alles bestens. Ich brauch nur noch ´ne Weile.", hatte er nach draußen gerufen, sich aufgerichtet und dann vor dem Spiegel seinen Krawattenknoten gestrafft. Nur um wenig später nach draußen zu treten, ein Lächeln aufzulegen und ihr einen Guten Morgen Kuss zu geben…

Aber das war immer noch nicht alles gewesen… Die Neue von Olivers Vaters war mit ihrem Ex fremd gegangen. Und dumm, wie sein Alter gewesen war, hatte der sich wieder einmal besoffen und einen Bullen fast tot geprügelt.

Eine tolle Familie hatte er da. Wirklich, eine tolle Familie!

Kopfschüttelnd schloss Olli die Augen und versuchte wenigstens etwas Schlaf zu finden, drehte sich auf die rechte Seite und zog die Decke etwas mehr über seinen Körper.

Es war ziemlich kalt in dem Zimmer.

Vielleicht mitunter auch ein Grund, warum er kein Auge zu kriegte? Doch es konnte auch gut damit zu tun haben, dass sich sein Kopf wieder mal um Biegen und Brechen nicht abschalten lassen wollte. Und das trotz der Beruhigungsmittel, die er hier jeden Tag in diesem Becher verabreicht bekam…

Unruhig drehte er sich auf die andere Seite, zog seine Beine etwas enger an seinen Körper.

Ende der Aktion seines Vaters war gewesen, dass der nun wegen versuchten Totschlags für insgesamt 26 Monate in den Bau gewandert war. Sechs Monate davon hatte sein Vater bereits abgesessen… Trotzdem, Alter schützte eben auch vor Dummheit nicht. Dabei hätte ihm doch gerade sein Vater vorleben sollen, wie man es richtig machte.

Zu alledem kam dann noch, dass Olli regelrechte Existenzängste geplagt hatten. Monat für Monat. Immer dann, wenn es hieß, dass seine Zahlen nicht den Anforderungen seines Arbeitgebers entsprechen würden. Und seinen Job zu verlieren?... Gerade das, was die ganze Maschinerie doch am Laufen gehalten hatte… Nein, das konnte Olli sich nicht leisten! Also hatte er sich noch mehr rein gehängt und noch mehr gearbeitet, jeden Monat mit der Angst womöglich gekündigt zu werden.

Manchmal fühlte er sich auch, gerade was seine Mutter anging, als hätte er nach und nach immer mehr die Rolle ihres Partners, statt die ihres Sohnes eingenommen… Indem er sie bei Erziehungsfragen unterstützt hatte. Überhaupt, indem er gezwungen gewesen war sich in ihren Erziehungsstil - gerade was seine jüngeren Brüder betraf - mit einzumischen…

Doch der Supergau war schlussendlich der gewesen, als Ollis Freundin Victoria nach mehreren Jahren, in denen sie immer geduldig gewesen war und zurückgesteckt hatte, einen Schlussstrich unter ihre Beziehung gezogen hatte.

Verständlich, denn wozu war man mit jemandem zusammen, wenn derjenige jedoch so gut wie nie Zeit hatte?

Dennoch, alles, was Olli sich an diesem Abend gewünscht hätte, war einfach nur ein bisschen Ruhe gewesen. Doch ausgerechnet da hatte Victoria mit ihm über ihre Beziehung reden wollen. Etwas, das Olli zu viel geworden war. Zwar hatte er noch versucht ruhig zu bleiben, während sich seine Kehle immer mehr zugeschnürt und sein Herzschlag einmal mehr bis ins Unermessliche beschleunigt hatte. Doch als sie nicht auf ihn hatte hören wollen, als er sagte: „Lass uns morgen darüber reden. Wir sind gerade beide zu emotional.“ und weiter auf ihn eingeschrien hatte, war er aufgestanden und hatte sich ins Schlafzimmer zurück gezogen. Einfach nur um Ruhe zu finden. Doch sie war ihm hinterher gegangen, hatte auf ihn eingeschrien: „Ich will, dass du mir jetzt zuhörst! Jetzt!“ Ihr den Rücken zugewandt, hatte er seinen Kopf in das Kissen gedrückt, während Victoria ununterbrochen an seinem Arm gerüttelt hatte. Er solle sich zu ihr umdrehen. Er solle ihr zuhören. Sie akzeptiere seine „Ignoranz“ nicht. Das Ganze war derart ausgeartet, dass Olli aufgestanden war, sie an beiden Armen gepackt und mit dem Rücken gegen die Tür gestoßen hatte. Immer und immer wieder hatte er auf sie eingeschrien. Sie solle endlich die Klappe halten! Einfach nur die Klappe halten! Er könne nicht mehr! Er habe keine Kraft mehr! Sie solle aufhören zu weinen, sonst…! Doch, bei jedem Mal, bei dem er sie gegen die Tür geknallt hatte und sich seine Finger in ihre Oberarme gebohrt hatten, hatte sie mehr und mehr geweint, geschrien er solle sie los lassen! „Lass mich los! Bitte, lass mich lo-hos!“, hatte sie ihn weinend angefleht. Also hatte er sie los gelassen und von sich gestoßen. Nur um dann, wutentbrannt und vollkommen überfordert, ins Wohnzimmer zu gehen und die Tasse, die sie ihm einst zum Geburtstag geschenkt hatte, gegen die Tür, direkt neben ihren Kopf, zu schmeißen. Erschrocken war Victoria in sich zusammen gefahren, als die Tasse in Scherben neben ihr zerbrochen war. Nur um dann heulend vor ihm zu flüchten und ihre Sachen zu packen.

Von der Angst ergriffen, sie womöglich zu verlieren, war Olli ihr dann hinterher, hatte nach ihrem Handgelenk gegriffen, sich immer wieder entschuldigt und sie gebeten damit aufzuhören. Es tat ihm auch leid. Nie im Leben hatte er ihr etwas antun wollen. Nein, nie… Ängstlich hatte sie sich von ihm distanziert und ihn angesehen. Mit verweinten und verzweifelten Augen, die Mascara verschmiert. Sie habe Angst vor ihm und erkenne ihn nicht mehr wieder. Er sei in letzter Zeit so aggressiv, so unberechenbar geworden. Fast wie ein Pulverfass… Das sei nicht mehr er. Doch auch so hätte es keinen Sinn mehr. Schon seit Jahren warte sie. Warte darauf, dass sich irgendwas ändern und dass er seine Versprechen einlösen würde. Doch es geschehe nichts. Sie fühle sich so allein. Außerdem wolle sie irgendwann auch mal eine eigene Familie haben und nicht die Ersatzmutter für Ollis Geschwister spielen… Sie könne nicht mehr.

Olli hatte noch versucht sie aufzuhalten. Doch als die Tür dann ins Schloss gefallen war, war sie aus seinem Leben verschwunden.

Alles in allem war Olli mit der Zeit alles über den Kopf gewachsen. All diese Dinge hatten so lange an seinen Kräften gezehrt, bis da keine mehr waren.

Sechs Jahre Beziehung einfach so im Arsch!, hallte es durch Ollis Kopf.

Victoria war bis dahin seine längste Beziehung überhaupt gewesen. Das Schmerzhafteste war, als sie dann nach und nach ihre Sachen aus ihrer gemeinsamen Wohnung geholt hatte.

Seit Victoria sich vor zwei Monaten von ihm getrennt hatte, hoffte er nach wie vor, dass sie sich irgendwann wieder versöhnen könnten. Dann würde er alles wieder gut machen…

Der Tropfen, der das Fass schlussendlich zum Überlaufen gebracht hatte, war eigentlich nur eine Kleinigkeit gewesen. Eine winzige Kleinigkeit, über die man normalerweise hinweg sehen würde.

Doch in dem normalerweise so ruhigen und geduldigen Oliver hatte sich da plötzlich ein Schalter umgelegt.

Bereits seit Jahren spürte er immer wieder diese Enge in seinem Brustkorb, fühlte sich oft erschöpft und fertig, litt an Übelkeit und hatte auch das eine oder andere Mal den Gedanken gehabt, dass er am liebsten eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht wäre. Einmal hatte es eine solche Situation gegeben. Eine von vielen… Olli war gerade mit dem Auto unterwegs gewesen – mit 160 Sachen auf der Autobahn. Da war ihm der Gedanke gekommen, dass er auch gut das Lenkrad nach rechts gegen die Leitplanke drehen könnte… Hervorgerufen worden war diese Überlegung vor allem durch das wöchentliche Teammeeting, das er gerade einmal 20 Minuten zuvor hinter sich gebracht hatte…

Trotz all dieser Vorzeichen hatte Olli immer weiter gemacht. Es ging auch nicht anders. Bis zu diesem einen Tag eben. Wütend hatte er um sich geschrien, Kollegen bedroht und vollkommen die Kontrolle über sich verloren... Und seitdem war er hier.

Um sein Leben wieder in den Griff zu kriegen und die Dinge, die schief gelaufen waren, neu zu ordnen.

Trotzdem konnte Olli nicht schlafen. Sein Körper war zwar müde, aber sein Geist leider nicht. Deshalb öffnete er seine Augen wieder. Es dauerte zwar eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch nach und nach machten sich immer mehr graue Umrisse bemerkbar. So landete sein Blick auf dem Buch, das er neben seinen Kopf gelegt hatte.

Bei dem Blick auf dieses musste Olli wieder mal an den Kleinen denken.

Wie konnte ein Mensch so weit gehen, dass er Selbstmord als einzige Lösung für seine Probleme sah?

Olli konnte das nur zu gut verstehen. Schließlich waren ihm diese Gedanken nicht fremd. Obwohl es bislang nur Gedanken gewesen waren, die er nie in die Tat umgesetzt hatte. Zum Glück…

Jeder hatte eben andere Probleme… Trotzdem, erst heute hatte Olli sich geschworen, sich mehr um sich selbst zu kümmern und Dinge zu tun, die ihm gut taten. Doch stattdessen dachte er an Micha und warum dieser versucht hatte sich umzubringen. Und das tat ihm alles andere als gut. Es beschäftigte Olli, machte ihn traurig und nachdenklich…

 

Eine ganze Weile schon betrachtete Micha sein Gesicht in diesem Spiegel. Es waren noch gute 15 Minuten, bis er zur Medikamentenausgabe musste. Dennoch wusste er nicht genau, was er mit sich anfangen sollte.

War doch eigentlich egal. Interessierte sowieso niemanden, wie er aussah.

Trotzdem konnte Micha an diesem Tag einen Fortschritt verbuchen: Er hatte es endlich aus eigenem Antrieb geschafft aufzustehen und sich unter die Dusche zu stellen. Super Leistung.

Die noch nassen Haare zu einem Knoten zusammen gebunden, zog Micha sich einen schwarzen Rollkragenpullover über. Und dann folgte das übliche Prozedere:

Medikamentenausgabe. Dann Frühstück. Eine Stunde Einzeltherapie. Mittagessen. Beschäftigungstherapie oder Gruppengespräche Und zu guter Letzt Abendessen.

 

Olli gönnte sich noch einen letzten Zug, bevor er seine Zigarette ausdrückte und sich dann von seinem Gegenüber verabschiedete.

Er hatte noch etwas zu erledigen.

Goerge Orwell in seiner Hand, bog Olli einmal nach links, dann wieder nach links und lief dann weiter geradeaus. Bis er vor Michas Zimmertür angekommen war.

Vorsichtig, aber doch bestimmt, klopfte Olli dann an die Tür.

Doch er erhielt keine Antwort.

Selbst als er es ein weiteres Mal versuchte, kam nichts. Deshalb wagte Olli sich einen Schritt vor, öffnete die Tür und schloss sie leise hinter sich.

Micha lag mit dem Rücken zu ihm in seinem Bett und schien zu schlafen. Das andere Bett dagegen war leer.

Einen Moment lang überlegte Oliver und betrachtete das Buch in seiner Hand. Sollte er es einfach so hinlegen? Oder sollte er den Kleinen ansprechen?

Nach einem kurzen Zögern entschied sich Olli für die erste Variante. Und machte sich daran, das Buch vorsichtig und möglichst leise auf den kleinen Tisch, der neben Michas Bett stand, zu legen, als der Kleine plötzlich erschrocken herum fuhr.

Einen Moment zuckte Olli zusammen, sammelte sich dann aber wieder und lächelte. „Hey.“

Kapitel 5

 

„Was… was willst du hier?!“, hörte Olli Micha mit zitternder Stimme sagen, während der ihn aus aufgerissenen, grauen Augen ansah. „Ich wollte dir dein Buch zurück bringen.“, erklärte Olli und hielt Angesprochenes in Michas Sichtfeld.

Einen Moment lang huschten Michas Augen zwischen George Orwell und Oliver hin und her, bis sie wieder bei Olli hängen blieben.

„Hab ´n bisschen was draus gelesen.“, sprach Oliver und fuhr sich mit der Hand durch seine blonden, kurzen Haare, während Micha ihn immer noch erschrocken anschaute.

Der Kleine hatte ein hübsches Gesicht, schoss es Olli durch den Kopf, als er ihn etwas genauer betrachtete. Das war ihm schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen…

„Das ist echt gut.“, meinte Olli, nachdem Micha sich noch immer keinen Zentimeter gerührt hatte. „Hab die halbe Nacht noch drin gelesen.“ Statt zu antworten, sah Micha sein Gegenüber nur weiterhin stumm an. „Ich wollte das Buch schon lange mal lesen.“ Micha legte seinen Kopf schief. „Wenn es dir so gefällt, dann kannst du es meinetwegen auch behalten.“  Er brauchte es nicht mehr. Überhaupt brauchte er gar nichts mehr… „Echt?“ „Ja. Ich brauch ´s nicht mehr.“ „Wirklich? Ich will nicht…“ „Ja, wirklich.“, nickte Micha. „Danke.“, lächelte Olli.

Und dann schwiegen sie.

Olli wusste nicht genau, was er sagen sollte. Eigentlich wusste er das schon. Es gab eine Menge, das er gerne gewusst hätte. Doch scheinbar wollte Micha lieber in Ruhe gelassen werden. 

„Danke nochmal. Das ist echt nett von dir.“, sagte Olli und übte sich erneut in einem Lächeln, während Micha nur stumm nickte. „Nochmal sorry, dass ich dich geweckt habe.“ „Mhm.“ „Okay, ich geh dann mal.“, meinte Olli dann und ging ein paar Schritte in Richtung Tür.

Micha sagte nichts.

Was sollte er auch groß sagen?

Als Olli kurz vor der Tür angekommen war, stoppte er jedoch. Eigentlich wollte er nicht schon wieder gehen. Jetzt wo der Kleine wach war… Deshalb drehte er sich dann wieder um und ging ein paar Schritte auf Micha zu. „Ähm… Was ich dich mal fragen wollte?“ „Was denn?!“, schnaubte Micha gereizt. Konnte Olli nicht einfach gehen und ihn in Ruhe lassen? „Also, nicht, dass du das irgendwie in den falschen Hals kriegst…“ „Ja?“, atmete Micha schwer auf. „Bist du irgendwie…? Ich weiß jetzt echt nicht, wie ich das formulieren soll…“, stammelte Olli und kratzte sich am Hinterkopf. „Okay, ähm… Bist du…? Also, ich wollte dich das schon die ganze Zeit fragen. Ähm, du… also du siehst ja schon bisschen femininer aus… So wie du rumläufst… Jetzt nicht auf negative Weise, oder so… Aber… Ähm, kann´s sein, dass du vielleicht jemand bist, der sich im falschen Körper geboren fühlt, oder so?“

Wortlos und aus aufgerissenen Augen sah Micha sein Gegenüber an.

Was sollte das jetzt?

„Warum… warum fragst du das?“ „Weil´s mich interessiert.“, antwortete Olli ehrlich. „…“ „Ja, hab so jemanden, wie dich halt noch nie gesehen.“ Das hatte er wirklich noch nie. Nicht nur, dass Michas Gesichtszüge etwas femininer waren… Zwar war bei näherem Hinsehen schon zu erkennen, dass er männlich war. Und Frauen hatten normalerweise Brüste und Micha war vorne rum eindeutig flach… Doch vielmehr war es auch sein zierlicher Körperbau und auch die Art, wie der Kleine sich bewegte… Nicht tuckig oder dergleichen. Eher weich… fließend - wenn Olli es hätte mit Worten benennen müssen. Aber auch die Art und Weise wie sich Micha kleidete. Auch wenn er jetzt auf gewisse Weise normal rum lief und eine Jogginghose und einen Pullover trug, so konnte man doch erkennen, dass die Oberteile des Kleinen aus der Frauenabteilung irgendeines Kaufhauses sein mussten. Das verriet einfach der Schnitt und die Art, wie diese geformt waren… Auch Michas langen, glatten Haare, die er zu einem Knoten zusammen gebunden hatte, und die großen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern taten ihr Übriges, um das Gesamtbild noch etwas zu unterstreichen.

Micha war anders. Faszinierend irgendwie.

Nichts desto trotz schien der nicht besonders begeistert zu sein, dass Olli ihn das gefragt hatte. Die Augen des Kleinen waren zusammen gekniffen, während sich sein Herzschlag schmerzlich beschleunigte. Hätte Olli ihn nicht einfach in Ruhe lassen können?

Verletzt senkte Micha den Kopf.

Am liebsten hätte er sowas gesagt wie: Was denkst du eigentlich, wer du bist?! Doch andererseits, konnte er es Olli überhaupt übel nehmen, dass der ihn darauf ansprach? Höchstwahrscheinlich nicht. Dass er anders war, war ja schlecht zu übersehen. Deshalb nein, verübeln, dass Olli ihn das gefragt hatte, konnte er nicht.

„Sorry, war dumm von mir. Ich hätte dich das nicht fragen sollen.“, sagte Olli plötzlich, woraufhin Micha einen kurzen Moment seinen Kopf hob und in dessen Augen blickte.

Dennoch sagte Micha nichts.

„Ich wollte dich echt nicht verletzen.“, betonte Olli.

Doch Micha nickte nur wortlos und blickte wieder zu Boden, während sein Kopf tausende Gedanken produzierte.

Nein, er hatte absolut kein Recht in irgendeiner Weise beleidigt oder verletzt zu sein. Nein, absolut nicht…

Eigentlich sollte er das mittlerweile gewohnt sein. Schließlich war nicht zu verbergen, dass…

Micha schluckte schwer, während sein Herz sich noch ein Stück mehr zusammen zog.

Wenn er so zurück dachte, dann war es wirklich kein Wunder, dass die meisten ihn für einen Freak hielten und auch entsprechend behandelt hatten... Mit 14 war Micha beispielsweise so weit gegangen, dass er sich geschminkt und ein Kleid angezogen hatte. Es war ein schwarzes, kurzes Kleid gewesen. Danach hatte er sich seine Haare hoch gesteckt und vor den Spiegel gestellt.

Er hatte in der Tat überzeugend ausgesehen. Wie ein hundertprozentiges Mädchen, nur ohne Brüste.

Das Gefühl, das er dabei empfunden hatte, war schön gewesen. Es hatte ihm gefallen. Und das hatte sich seitdem auch nicht geändert… Doch wahrscheinlich konnte das auch wieder niemand verstehen?

Seine Mutter hatte es nicht verstanden.

Als sie in sein Zimmer gekommen war und ihn so gesehen hatte... Es war, als hätte sie etwas entdeckt, das sie nie hätte sehen dürfen. Als hätte Micha etwas Verbotenes oder gar Perverses getan. So hatte er sich danach auch gefühlt. Vor allem als sein Vater davon erfahren hatte. Die Vorstellung, dass sein Sohn sich ein Kleid angezogen und dran auch noch Gefallen gefunden hatte, das konnte doch nur pervers sein! Außerdem, bei Frauen war das ja noch irgendwie akzeptabel, wenn die sich etwas männlicher kleideten… Aber ein Mann in einem Frauenkleid…?

Wahrscheinlich war es wirklich schwer nachzuvollziehen? Doch am wohlsten fühlte sich Micha, wenn es ihm erlaubt war beides zu sein.

Und in der Schule? Ja, da hatten ihn die anderen wegen seines Aussehens auch immer nur fertig gemacht. Weil die das auch nicht verstanden hatten.

Dabei, musste man immer alles auf eine Rolle festlegen? Konnte man nicht heute männlich und morgen weiblich sein? Oder eben beides in einem? Je nach Lust und Laune…

„Okay, ich geh dann mal.“, meinte Olli plötzlich und riss Micha wieder aus seinen Gedanken.

Aus großen Augen blickte Micha zu Olli, der gerade zur Tür lief.

„Warte!“, rief Micha auf einmal mit donnerndem Herzen. Er musste sich schon sehr verzweifelt anhören. Denn kaum, dass er das gesagt hatte, sah Olli ihn mit fragenden, grünen Augen an. „Es… es tut mir leid. Ich wollte… ich wollte dich nicht… vergraulen.“, kam es dann leise aus Michas Mund. Einen Moment blieb Olli stehen, bevor er sich wieder umdrehte dann auf das freie Bett neben Michas setzte. „Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann ich. Ich wollte dich nicht verletzen. Ehrlich nicht.“, meinte Olli, als er Micha in die Augen sah. „Schon okay.“, flüsterte Micha. „Ne, offensichtlich hab ich da ´nen wunden Punkt bei dir erwischt. Das wollte ich nicht. Ehrlich.“, betonte Olli abermals und lächelte. „Ist wirklich okay.“, meinte Micha und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Also, ich find´s cool.“, sagte Olli dann plötzlich. Cool? Fragend zog Micha die Augenbrauen zusammen. „Ich mag Menschen, die ihr eigenes Ding durchziehen.“, meinte Olli und lächelte erneut. „Wär doch langweilig, wenn wir alle gleich aussehen würden.“

Nachdenklich zuckte Micha mit den Schultern und blickte eine Weile stumm zur Seite.

„Ist alles okay mit dir?“ „Ja.“, meinte Micha, als er wieder zu Olli sah. „Scheinbar nicht.“ „Doch alles okay.“, versuchte Micha möglichst überzeugend zu klingen „Ich sehe doch, dass was ist. Also?“ „Findest du mich nicht irgendwie… abartig?“ Olli schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Warum sollte ich?“ Wortlos zuckte Micha mit den Schultern und blickte auf den Boden. „Leben und leben lassen, sag ich da nur.“, hörte er Olli sagen und hob seinen Kopf wieder. „Wie gesagt, ich mag Menschen, die ihr Ding durchziehen. Und wenn du… wenn du halt drauf stehst Frauenklamotten zu tragen oder dich im falschen Körper geboren fühlst-“ „Ich fühl mich nicht im falschen Körper.“, fiel Micha seinem Gegenüber ins Wort. „Okay.“, lächelte Olli, wurde dann aber ernst. „Sorry. Wie gesagt, ich wollte dir nicht irgendwie zu nahe treten, oder so.“ „Schon okay.“, sagte Micha. „Ähm…“, setzte Olli an und kratzte sich am Hinterkopf. „Dann trägst du gerne Frauenklamotten?“ „Mhm.“, nickte Micha. „So richtig im Alltag?“ Micha nickte erneut, woraufhin Olli lächeln musste. „Ne, also das find ich nicht abartig. Im Gegenteil, ich find´s interessant.“ Interessant? Olli lächelte noch immer, während Micha ihn mit seinen grauen Augen musternd betrachtete. „Warum unterhältst du dich überhaupt mit mir?“, fragte der Kleine dann aus, für Ollis Empfinden, heiterem Himmel. Warum sollte er sich nicht mit ihm unterhalten? „Weil du nett bist.“, sagte Olli. „Mhm.“, meinte Micha und nickte schwach. „Woher willst du das wissen? Du… kennst mich doch gar nicht.“ „Gut, ich kenne dich nicht, aber ich hab ´ne gute Menschenkenntnis. Und die hat mich noch nie getäuscht.“ „Gute Menschenkenntnis?“, wiederholte Micha und sah Olli dabei fragend an. Olli lächelte. „Ja.“ Wortlos nickte Micha. War Olli jetzt Mentalphysiker, oder was? „Ich bin Versicherungskaufmann.“, erzählte Olli, „Ja, und zu dem Job gehört halt jede Menge Menschenkenntnis. Und auch ´n gewisses Maß an Einfühlungsvermögen. Du hast einfach mit den unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten zu tun. Da entwickelt man mit der Zeit fast automatisch ein Gespür wer okay ist und wer nicht.“ „Okay.“, nickte Micha nur. Was sollte er jetzt dazu sagen? „Und du scheinst ganz okay zu sein.“, lächelte Olli. Wenn er meinte… „Erzähl mal.“ „Was?“ „Was machst du so beruflich?“, nickte Olli in Michas Richtung. „Ich habe keinen Job.“ „Also bist du momentan arbeitslos?“, hakte Olli weiter nach. „Ja.“ „Tut mir leid. Aber, du findest bestimmt was Neues.“ Wahrscheinlich sollte das jetzt aufmunternd klingen? Doch das war es nicht. Außerdem hatte Olli doch keine Ahnung. „Was für ´nen Beruf hast du denn gelernt?“ „Können wir nicht über was anderes reden?“, fragte Micha plötzlich und sah Oliver ernst an. „Okay, ähm…“ Einen kurzen Moment überlegte Olli und versuchte sich ein anderes Thema einfallen zu lassen. „Ähm… Hast du eine Freundin oder… äh, einen Freund?“ „Nein.“, schüttelte Micha mit dem Kopf. „Was nein?“ „Nein, ich hab keinen Freund.“ „Hab ich mir schon gedacht, dass du so tickst.“, meinte Olli und lächelte. Ja, war scheinbar kaum zu übersehen… „Also, ich find das vollkommen in Ordnung.“ „Okay.“, nickte Micha nur. „Ich bin selber zur Hälfte schwul, wenn man´s so will.“, sagte Olli, woraufhin Micha seinen Kopf schief legte. „Du bist bi?“ „Ja.“, nickte Olli und lächelte, während ihn Michas graue Augen ihn dann eine Weile betrachteten. „Ähm, hast du dann einen Freund oder eine Freundin?“ „Ich hatte ´ne Freundin.“ Fragend zog Micha die Augenbrauen zusammen. „Sie hat Schluss gemacht.“, erklärte Olli. „Oh.“ „Ja.“, nickte Olli, atmete schwer und blickte einen Moment zu Boden. „Ich hab viel Scheiße gebaut.“

Ja, er hatte wirklich viel Scheiße gebaut. Wenn man das überhaupt so nennen konnte… Das was an diesem einen Abend passiert war, hätte nie passieren dürfen. Nein, nie! Olli fragte sich noch immer, wie er nur so hatte die Kontrolle über sich verlieren können? Normalerweise war er immer so ruhig gewesen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er einmal… Doch in diesem Moment war ihm alles nur noch zu viel geworden. Er hatte sich in die Enge getrieben gefühlt, als Victoria - als er ihr den Rücken zugekehrt auf dem Bett gelegen war - an seinem Arm um Aufmerksamkeit gerüttelt und ihm mit lauter Stimmgewalt Ignoranz unterstellt hatte.

„Hallo, ich rede mit dir!... Hör auf mich zu ignorieren!“, hatte sie geschrien, während sie an seinem Arm gezogen hatte. Immer und immer wieder, während er die Augen geschlossen dagelegen war und sein Herzschlag sich bis ins Unermessliche beschleunigt hatte.

Er hatte sie nicht ignorieren wollen. Nur… zu einem Gespräch über ihre Beziehung war er an diesem Abend nicht fähig gewesen.

Es sollte keine Ausrede sein, doch zuvor - als er nach einem 14-Stunden-Tag nicht einmal zehn Minuten Zuhause gewesen war - hatte er noch zu ihr gesagt: „Lass uns morgen darüber reden. Wir sind gerade beide zu emotional.“

Weil sich ihr Gespräch schon da in eine negative Richtung entwickelt und Victoria ihn angeschrien hatte. Weil sie sich alleine gelassen gefühlt und weil er wegen seiner beruflichen und familiären Verpflichtungen, so gut wie nie Zeit für sie gehabt hatte.

Er konnte es ja verstehen. Nur brachte es nichts sich anzuschreien. Es half nicht und führte zu keiner Lösung. Deshalb hatte Olli sie gebeten das Gespräch am nächsten Tag ruhig und sachlich fortzuführen.

Doch sie hatte ihn nicht erhört. „Morgen! Immer wieder morgen!... Ich will, dass du mir jetzt zuhörst! Jetzt!!!“, hatte Victoria auf ihn eingebrüllt. Deshalb war er ins Schlafzimmer gegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen und sich aufs Bett gelegt. Weil es ihm zu viel geworden war. Doch sie war ihm hinterher gegangen, hatte wutentbrannt den Raum betreten, weiter auf ihn eingeschrien und immer wieder an seinem Arm gerüttelt, als er sich nicht hatte zu ihr umdrehen wollen.

Außerdem, die Nächte zuvor hatte Olli nicht schlafen können. Ständig hatten ihn Albträume über die Arbeit geplagt und sein Herz zum rasen gebracht. Dann war er meist den ganzen Tag unterwegs zu irgendwelchen Kunden, die am Wochenende noch um 22 Uhr auf seinem Handy anriefen, weil sie Fragen hatten. Zuhause hatte er dann meist auch noch arbeiten müssen. Bürokram, Verträge fertig stellen. Das Übliche eben. Dann noch die Sache mit seiner Familie. Ständig war irgendwas. Freunde hatten sich nach und nach auch immer mehr verabschiedet. Weil Olli keine Zeit mehr für sie gehabt hatte.

Dabei hätte er gerne Zeit für seine Freunde gehabt. Doch besonders für Victoria. Schließlich hatte er sie vermisst, wenn sie sich manchmal tagelang nicht gesehen hatten. Dennoch hätte Olli auch gerne mal etwas Zeit für sich gehabt. Die einzigen ruhigen Momente, vor allem im letzten Jahr, waren die paar Stunden gewesen, in denen er vollkommen fertig und übermüdet ins Bett gefallen und dann sofort eingeschlafen war.

Er hatte es doch allen nur recht machen wollen. Mehr nicht. Seiner Familie, seinem Chef, Victoria… Doch nie war es genug. Egal wie viel er tat, es hatte nicht gereicht, um das Gerüst seines Lebens am Zusammenbrechen zu hindern.

Das alles rechtfertigte natürlich nichts. Doch es war eine Erklärung. Der Mensch war nun mal kein Fass ohne Boden. Und die Situation mit Victoria an diesem Abend… Sie hatte sich zurück gestoßen gefühlt und sein Gesuch nach Ruhe als Ignoranz ihr gegenüber interpretiert. Deshalb hatte sie auf ihn eingeschrien und an ihm gerüttelt. So viel war Olli bewusst. Doch konnte ihn so gar niemand verstehen?

Olli konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft er sich wegen seines Ausrastens bei Victoria entschuldigt hatte. Wie oft er versucht hatte sie zu erreichen. Auch hier. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht, aber…

Olli atmete schwer, als er wieder zu Micha aufsah, der den Kopf schief legte und sein Gegenüber betrachtete. Olli wirkte auf einmal vollkommen niedergeschlagen.

„Tut mir leid… das mit deiner Freundin.“, sagte Micha leise. „Das belastet dich sehr, oder?“ „Mhm.“, nickte Olli, als sich auf einmal die Tür öffnete und ein alter, leicht dicklicher Mann wütend in den Raum blickte.

„Was machst du da?!“, fauchte der alte Mann Oliver entgegen. „Ich…“ „Das ist mein Bett! Geh weg da!“ „Entschuldigung, ich wollte nicht…“ „Geh weg!“ „Ich wollte sowieso gerade eine rauchen gehen.“, meinte Olli und stand vom Bett des Anderen auf. „Hast du vielleicht Lust mitzukommen?“, fragte Oliver dann an Micha gerichtet. „Ähm… okay.“, stimmte Micha nickend zu und stand von seinem Bett auf. Er hatte auch nicht gerade Lust mit seinem Mitbewohner alleine zu sein. Vor allem, weil der die letzten Tage wieder etwas gehäuft austickte.

„Was hast du auf meinem Bett gemacht?!“, sagte der Alte an Olli gerichtet, als der vor dessen Bett stand, Micha neben ihm. „Ich hab nichts gemacht.“ „Da sind überall Flecken!“, sagte Michas Mitbewohner und deutete mit seinem Zeigefinger auf die Oberfläche seiner Bettdecke. Einen kurzen Moment sah Olli auf die Decke und schüttelte dann mit dem Kopf. „Da sind keine Flecken.“ „Doch! Da! Was hast du auf meinem Bett gemacht?!“ „Nichts. Ich bin nur drauf gesessen. Außerdem, da sind keine Flecken.“ „Doch! Da! Schau!“, meinte der Mann und zog ruckartig an Michas Arm, um ihm etwas zu zeigen, das nicht existierte. „Ich sehe da auch nichts.“, meinte Micha und zog seinen linken Arm weg. Der tat noch immer weh. Vor allem, wenn man ihn zu sehr belastete oder daran zog. Vielleicht lag das aber auch an dem metallenen Zeug, das die damals bei dieser OP in seinen Arm eingepflanzt hatten? „Wollt ihr mich verarschen?! Macht ihr euch etwa lustig über mich?!“, keifte der Alte und sah sie beide zornig an. „Nein.“, sagte Micha und schüttelte mit dem Kopf. „Doch! Ihr denkt, ich hab sie nicht mehr alle!“ „Nein.“, schüttelte Olli mit dem Kopf. „Nur, da ist wirklich nichts.“ „Doch! Da, schau doch! Wegen dir ist jetzt alles dreckig!“ „Okay. Ist gut.“, meinte Olli, als sie es dann endlich bis zur Tür geschafft hatten und Micha die Klinke nach unten drückte.

 

„Ist der immer so drauf?“, fragte Olli, als sie schließlich gemeinsam den langen Flur entlang liefen. „Manchmal hat er seine Ticks.“, antwortete Micha etwas abwesend, als ihnen zwei andere entgegen kamen und ihn ansahen. Micha mochte diese Blicke überhaupt nicht.  „Und wie läuft´s mit der Schnarcherei von dem? Lässt ´s sich inzwischen aushalten?“ „Ähm… Es geht so.“, meinte Micha und zuckte mit den Schultern. „Was ich dich noch fragen wollte…“, sagte Olli, als sie nach rechts abbogen. „Hm?“ „Wie alt bist du eigentlich?“ „22… Und du?“ „27.“

Vor der Tür des Aufenthaltsraums angekommen, fischte Olli seine Zigarettenschachtel aus der Hose seines grauen Jogginganzugs. Währenddessen drückte Micha die Klinke nach unten und zuckte kurz zusammen. Dort waren noch ein paar andere. Drei an der Zahl. Zwei beim rauchen und einer, der in der Ecke saß.

Scheiße, lief es durch Michas Hirn, als er Ollis Hand spürte, die sich auf seine Schulter legte.

„Alles okay?“

Ein Nicken war alles, das Micha zu Stande brachte, bevor er tief einatmete und sich dann zwang einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Ohne einen Blick in eines Anderen Augen zu wagen, ging Micha mit Olli zu einem der Aschenbecher am Fenster. Einmal durch den ganzen Raum. Die Augen der anderen im Rücken. Micha konnte spüren, wie sie ihn mit ihren Blicken auseinander nahmen, musterten und zu zerfleischen versuchten, während sein Herz wie verrückt gegen seinen Brustkorb hämmerte.

„Hey. So sieht man sich wieder.“, hörte Micha Ollis Stimme und zuckte wieder kurz zusammen. „Jep, die Raucher unter sich.“, stimmte der Mann mit den schwarzen, kurz geschnittenen Haaren mit ein, als er mit seinen braunen Augen in Michas Richtung blickte. „Wer ist denn das?“ „Das ist Micha.“, erklärte Olli und zündete sich seine Zigarette an. Wieder ließ der Kerl seine Augen über Michas Körper wandern. Als würde er ihn abscannen. „Ich bin Enrico.“, sagte der dann schließlich und hob kurz die Hand. „Hi.“ „Hab dich noch nie hier gesehen.“, meinte Enrico, als er den Kleinen noch immer mit prüfendem Blick besah. „Ich… ich geh auch nicht so oft hier her.“, sagte Micha leise und mit nervösem Herzen. „Kannst vielleicht ´n bisschen lauter sprechen? Ich versteh dich sonst nicht.“ „Ich geh nicht so oft hier her.“ „Achso.“, nickte Enrico und unterhielt sich dann eine Weile mit Olli, sodass Micha mehr oder weniger nur schweigend daneben stand, sich mit seinen Händen um seinen Bauch festhielt und zuhörte.

So erzählte Enrico von seinem Tag, dem einen oder anderen belanglosen Kram, bis sein Blick plötzlich wieder auf Micha gerichtet war. „Erzähl mal, was hast du gemacht, um hier zu landen? Oder bist du auch freiwillig hier, wie dein Freund da?“, wollte Enrico wissen und deutete mit qualmender Zigarette auf Olli, der gerade einen tiefen Zug tätigte. Die Erinnerung an Victoria hatte ihn wieder einmal ziemlich aufgewühlt... „Nein, ich bin nicht freiwillig hier.“ „Also haben die dich auch hier eingewiesen?“ „Mhm.“, nickte Micha. Leider… „Und wie lange musst du noch absitzen?“ Micha zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Also open end sozusagen.“ „Ja.“ Sozusagen… „Da hast du´s echt gut.“, scherzte Enrico und lächelte in Ollis Richtung. „Ist schon scheiße nicht zu wissen, wie lange das hier noch dauert, was?“, wandte er sich wieder Micha zu. „Mhm.“, nickte der nur. „Kriegst du dann auch Medis?“ „Mhm.“, nickte Micha wieder. „Und wirken deine?“ „Geht so.“ „Meine haben letztens den Geist aufgegeben. War echt übel.“, berichtete Enrico. „Aber jetzt geht´s wieder.“ „Okay.“, nickte Micha. „Gibt auch gute News. Die verlegen mich auf die Offene.“, berichtete Enrico dann wieder an Olli gewandt, der an seiner Zigarette zog und lächelte. „Klasse. Das freut mich für dich.“ „Ja, dann kann ich vielleicht demnächst auch mal wieder übers Wochenende Nachhause, haben die gemeint.“

Während sich Olli weiter mit Enrico unterhielt, klinkte Micha sich aus und stand wieder einmal nur schweigend daneben. Wenn man Menschen da draußen hatte, die auf einen warteten und einen liebten, dann war so ein Wochenende in Freiheit sicherlich etwas Schönes, dachte er und wurde dabei traurig.

„Ja. Vor allem gäb ´s dann endlich mal wieder was Ordentliches zum Essen. Der Fras hier ist das Letzte.“, sagte Enrico und wandte sich wieder Micha zu. „Stimmt´s?“

Ein stummes Schulterzucken war alles, das er zustande brachte. Es war ja schön für diesen Enrico, dass der die Aussicht hatte wieder Nachhause zu dürfen und das alles. Doch irgendwie… Es erinnerte Micha einfach zu sehr daran, dass er das alles nicht hatte.

Eine Weile noch hörte Micha den Gesprächen zwischen Olli und Enrico zu und fühlte sich währenddessen einmal mehr überflüssig und klein. Außerdem, zu großer Kommunikation war er jetzt sowieso nicht mehr aufgelegt.

Enrico, genauso wie Olli hatten etwas zu berichten. So schwärmte Enrico von der Küche seiner Frau, während Olli von seiner kleinen Schwester erzählte…

Es musste wirklich schön sein einen anderen Menschen an seiner Seite zu haben. Einen Menschen, der sich, egal wie schlecht es einem auch ging, nicht von einem abwandte, sondern zu einem hielt.

Ja, das musste schön sein…

Kapitel 6

 

Kaum dass Olli die Wohnung betreten hatte, überkamen ihn wieder altbekannte Gefühle. Bereits als er ein Kind gewesen war, hatte er sich wegen der Unordnung seiner Mutter geschämt und nie Freunde zu sich eingeladen. Das konnte man ja auch keinem zeigen. Denn – Unordnung war noch untertrieben. Schon seit Jahren sammelte sie alles Mögliche. Dinge, die sie mal auf dem Flohmarkt entdeckt oder über Ebay ersteigert hatte. Oder einfach Schrott, den sie nicht wegwerfen wollte. So besaß sie beispielsweise mindestens 4 Laptops – keiner davon funktionierte.

Alles türmte sich gestapelt in der Wohnung, verengte den Gang. Ollis altes Zimmer war mittlerweile sogar komplett mit dem angesammelten Kram vollgestopft. Blaue Beutel, Flaschen, Zeitungen, alte Kleidungsstücke… Sein Kinderzimmer war zu einer Müllhalde geworden.

Vom Zustand des Zimmers seiner kleinen Schwester Katharina wollte Olli gar nicht erst sprechen. Von dem des Badezimmers erst recht nicht. Wenn er früher hatte baden oder duschen wollen, dann hatte er erst einmal einen Stapel Wäsche aus der Badewanne auf den Boden auf einen anderen Stapel Wäsche werfen müssen, um überhaupt Platz darin zu finden. Der Spiegel war da auch so eine Sache. Ständig klebten dort getrocknete Zahnpastareste. Auch die metallenen Armaturen, die vor ein paar Jahren noch geglänzt hatten, waren von einer dicken Schicht Kalk überzogen. Das Innere der Toilettenschüssel sah auch nicht besser aus. Überall hatten sich bräunliche, fast schwarze Kalkablagerungen eingenistet. Um das wieder einigermaßen restaurieren zu können, hätte man das komplette Bad erneuern müssen.  Die Küche war der Ort, den Olli stets versuchte zu meiden. Schon als Kind hatte er sich nicht daran gewöhnen können. Es ekelte ihn so dermaßen an, dass er es keine zwei Minuten darin aushielt. Denn er wollte nicht wissen was sich in den Müllbeuteln und gelben Säcken, die unter den Ablagen abgestellt waren, befand. Bestimmt schimmelten da irgendwelche alten Lebensmittel seelenruhig vor sich hin…

Wenn Olli sich schon damals über diesen Zustand aufgeregt hatte, so war der seit der Trennung seiner Eltern noch weit schlimmer geworden. Früher hatte sein Vater noch alles irgendwie versucht unter zu Kontrolle zu halten und nach der Arbeit noch im Haushalt Hand angelegt. Doch jetzt…

Auch Olli hatte ein paar Male versucht hier aufzuräumen, war aber jedes Mal daran gescheitert. Denn seine Mutter war alles, nur keine Hilfe. Denn sie wollte oder konnte sich von dem ganzen Müll nicht trennen. Auch Hilfe wollte sie keine annehmen. „Ich bin nicht krank!“, hatte sie nur jedes Mal beleidigt entgegnet, wenn Olli sie darauf angesprochen hatte sich an einen Psychologen zu wenden. Olli hätte sich einfach ein anderes Umfeld für seine Geschwister gewünscht… Aber deshalb war er nicht hier.

„Also, was genau funktioniert jetzt nicht?“, fragte er und rieb sich mit der Hand über die Stirn. „Der Trockner wird nicht mehr warm.“, erklärte seine Mutter und strich sich die blonden, langen Haare aus dem Gesicht. „Okay.“, meinte Olli und nahm den Gegenstand unter die Lupe.

Eigentlich hatte er keine Lust gehabt hier her zu kommen. Schließlich war er erst seit heute wieder Zuhause. Doch, statt ihm die Zeit zu geben, die er gebraucht hätte sich wieder einzuleben oder ihn zu fragen, wie es ihm ging, hatte seine Mutter ihn angerufen, ob er vorbei kommen könne, denn der Trockner funktioniere nicht. Also war er dann wohl oder übel doch hier her gefahren.

Als Olli eine Stunde später alles überprüft, die einzelnen Programme durchgespielt und auch das Flusensieb gereinigt und neu eingesetzt hatte, gab es nur eines, das er sagen konnte: „Der Trockner ist hin.“ „Das habe ich doch gesagt. Und was soll ich jetzt machen?“ Genervt rollte Olli mit den Augen und zuckte mit den Schultern. „Du weißt genau, dass ich mir keinen Neuen leisten kann. Dein Vater weigert sich ja Unterhalt zu zahlen. Und vom Jobcenter will ich gar nicht erst anfangen.“

War ja klar, dass sie wieder damit kommen musste. Ich bin so arm dran und so weiter und so fort... Doch, was Olli am allermeisten aufregte war, dass er ihr schon an die hundert Mal gesagt hatte, dass sie sich ans Amt wenden sollte, damit die den Unterhalt vorschießen sollten, wenn sein Vater nicht zahlte. Oder besser gesagt, wenn der es sich momentan nicht leisten konnte, weil der weder ein Einkommen hatte, noch eine Wohnung besaß. Nur darum gekümmert hatte sie sich, so wie es aussah, bis jetzt immer noch nicht. Außerdem hatte er ihr erst die Woche zuvor von der Klinik aus noch 300 Euro auf ein separates Konto, das auf seinen Namen lief, überwiesen – Geld für Essen und zum Bezahlen diverser Rechnungen…

„Ich weiß, Mama.“, sagte Olli und atmete tief ein. Gerade mal einen Tag war er wieder hier… „Kannst du nicht ein bisschen…?“, wollte seine Mutter wissen und sah Olli abwartend an.

Wenn Olli in der Therapie eines gelernt hatte, dann, dass er nicht mehr die Rolle des Ersatzehemannes übernehmen wollte. Seine Mutter musste allmählich lernen alleine klar zu kommen. Andere schafften das schließlich auch.

„Nein, kann ich nicht.“, entgegnete Olli direkt. „Was soll das heißen „nein, du kannst nicht“?!“, wiederholte Olivers Mutter seine Worte und stemmte die Hände in die breiten Hüften. „Ich kann dir nicht ständig Geld geben. Ich muss auch irgendwie über die Runden kommen.“ „Also, jetzt hör mal! Du tust gerade so, als wären wir irgendwelche Penner, die dich um Geld anbetteln würden! Wir sind deine Familie!“, zischte sie und verschränkte die Arme vor ihrem voluminösen Körper.

War ja klar, dass sie das nicht verstand. Er war nur knappe fünf Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung gewesen, mitunter auch ihretwegen. Doch alles, was sie interessierte war nur, ob er ihr Geld leihen könnte. Wieder einmal. War er denn ein Geldscheißer, oder was?!

Oliver atmete tief ein, versuchte sich innerlich zu beruhigen. „Ich muss jetzt erst einmal an mich denken. Das ist alles.“ „So?! Ist dir deine Familie jetzt also egal geworden?! Das haben die in dieser Irrenanstalt ja ganz toll hinbekommen!“, warf sie ihm mit lauter Stimme vor. „Nein, das hab ich nicht gesagt.“ „Du bist genauso wie dein Vater! Der hat uns auch nur im Stich gelassen!“

Und schon ging es wieder los.

Wahrscheinlich hätte Olli an dieser Stelle einfach abbrechen und wieder gehen sollen. Aber als seine kleine Schwester Nachhause gekommen war und Oliver sie gesehen hatte, hatte er sich dann doch wieder einmal breit schlagen lassen und zwei Tage später einen neuen Trockner organisiert.

Er konnte seine Familie nicht so einfach im Stich lassen…

Früher hatte sich sein Vater immer um solche Dinge gekümmert. Doch irgendwann hatte der auch keine Kraft mehr gehabt, bis der sie schließlich verlassen hatte.

Kein Wunder, wie Olli fand. Immerhin war er damals ja auch mehr oder weniger vor seiner Mutter geflüchtet. Und jetzt war seine kleine Schwester Katharina die Letzte, die noch bei ihr blieb. Abgesehen von den beiden Zwillingen. Kat kam so ziemlich nach ihm und war mit ihren 18 Jahren schon sehr erwachsen. Bei seinen 11-jährigen Brüdern dagegen sah das etwas anders aus. Das machte Olli am meisten Sorgen.

Doch darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken machen. Er musste an sich denken. Aber das war meist leichter gesagt, als getan.

Bereits jetzt fühlte sich Olli wieder in diesem Strudel gefangen.

 

 

Es war sieben Uhr morgens als der Wecker in seinem Handy laut schrillte und ihn aus dem Schlaf riss.

Die grünen Augen nach oben gerichtet, starrte Olli Minutenlang regungslos an die Decke und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Er wollte nicht aufstehen. Er wollte liegen bleiben.

Wieder einmal spürte er wie sich sein Herzschlag auf diese Weise beschleunigte, die den Körper in Unruhe und aufsteigende Nervosität versetzte. Olli hasste diesen Job. Er hasste ihn! Nicht der Aufgabe wegen, vielmehr war es das Unternehmen, für das er tätig war, das er hasste.

Fünf Wochen hatte er Zeit gehabt sich darüber Gedanken zu machen, wie es jetzt weiter gehen sollte. So war er zu dem Entschluss gekommen sich einen neuen Job zu suchen. Doch das konnte einige Zeit dauern. Und dann stand ihm auch noch diese Kündigungsfrist im Weg. Also wäre er so oder so noch vier weitere Wochen an dieses Unternehmen gebunden, für das Zahlen mehr wert waren als Menschen. Davon lebte das Geschäft. Verkäufe, steigende Zahlen. Immer nach oben und weiter nach oben. Davon finanzierte sich sein Job. So viel war Olli schon klar. Er war ja nicht dumm. Trotzdem brachte er es nicht über sich einem Hartz-4-Empfänger fünf Euro aus der Tasche zu ziehen, die der sowieso nicht besaß. Oder den Leuten Versicherungspakete zu verkaufen, welche jene nicht brauchten. Alles für ein bisschen mehr Provision und bessere Zahlen… Das konnte Olli nicht mit seinem Gewissen vereinbaren.  Aber genau das wollte sein Arbeitgeber.

Doch musste man für einen Job wirklich seine komplette Seele verkaufen?

Am besten hätte er noch in der Psychiatrie irgendwelche Versicherungspakete verkauft!

Bei dem Gedanken daran musste Olli lachen. Die Vorstellung war schon skurril…

Doch genau das hatte eine Kollegin von ihm getan, während sie wegen einer Herzoperation im Krankenhaus gelegen war.

War das wirklich die Art und Weise, wie die heutige Gesellschaft funktionierte?

Vor allem aber beschäftigte Olli die Frage wie sich seine Kollegen ihm gegenüber verhalten würden. Würden sie ihn verurteilen oder vielleicht hinter seinem Rücken irgendwelche kuriosen Gerüchte verbreiten und lästern?

Wenn Olli daran dachte, rief das die Erinnerung an eine ehemalige Mitschülerin von ihm wach. Sie waren damals in der neunten Klasse gewesen als Klaras Vater - ein Lehrer an ihrer Schule – psychisch erkrankt war. Aufgrund von Wahnvorstellungen war der damals 47-jährige Mann mit seinem Auto bis auf die höchste Etage des Parkhauses im nahegelegenen Einkaufszentrum gefahren, hatte dieses dort abgestellt und war dann, mit einem Spaten in der Hand, ziellos umher geirrt. Passanten hatten daraufhin die Polizei gerufen, die den Mann letzten Endes in Gewahrsam genommen hatte.   Als sich das in der Schule rumgesprochen hatte, hatten sich die kuriosesten Gerüchte verbreitet. Das Schlimmste war, als behauptet worden war, dass Klaras Vater jemanden umgebracht hätte und deshalb im Gefängnis säße. Dementsprechend hatten ihre Mitschüler sie dann behandelt, sie getreten, wenn sie durch den Flur gelaufen war. Dabei war so etwas für die Familienangehörigen selbst schon schwer genug…

Olli wusste nicht ob es daran gelegen hatte… Doch wahrscheinlich war das mit ein Grund gewesen, warum Klara immer dünner geworden war und sich fast zu Tode gehungert hatte.

Klara hatte zwar versucht ihren immer dünner werdenden Körper unter weiter Kleidung zu verstecken, dennoch war ihre Veränderung nach außen nicht verborgen geblieben. Olli hatte die Gerüchte hinter ihrem Rücken mitbekommen und auch versucht sie in Schutz zu nehmen. Einmal hatte Jens, ein schlaksiger Typ mit großer Klappe, sich penetrant neben Klara gesetzt und sie gefragt, wie es ihrem Vater im Gefängnis so gefiele. Klara hatte Jens versucht zu ignorieren, doch als der weiter gemacht hatte, hatte Olli sich eingemischt. Später jedoch hatte er dann die Konsequenzen dafür tragen müssen, als Jens und seine Kumpels auf ihn losgegangen waren. In der Elften war Klara dann weg gewesen. Es hieß sie wäre zusammen gebrochen. Was genau passiert war, das wusste Olli nicht. Er hatte ein paar Mal mit ihr gesprochen damals, doch sie war so in sich gekehrt gewesen und hatte ihn nicht an sich heran gelassen. Eines jedoch war ihm besonders im Gedächtnis geblieben: An ihren Armen waren dieselben Kratzer zu sehen gewesen wie bei Micha…

Noch immer blickte Olli starr an die Decke, während der Wecker ein zweites Mal schrillte. 7 Uhr 15.

In einer Stunde hatte er seinen ersten Kundentermin. Den Fahrtweg dorthin hatte er mit einer dreiviertel Stunde berechnet. Also hatte er noch genau 15 Minuten um ins Bad zu gehen, kurz einen Kaffee zu trinken und sich dann auf den Weg zu machen.

Einen Moment schloss Olli die Augen.

Wie es Micha jetzt wohl ging?

Wahrscheinlich war der Kleine gerade auf dem Weg zum Frühstück. Oder er hatte wieder einmal verpennt und musste von einem der Pfleger geweckt werden.

Bei dem Gedanken daran musste Olli lächeln.

Der Kleine war nun mal ein Langschläfer. Süß irgendwie. Vor allem, wenn Micha dann immer mit zerzausten Haaren angeschlurft kam…

Wieder schrillte der Wecker.

Die Stirn in Falten gelegt, blickte Olli müde auf sein Handy.

7 Uhr 30.

Mist!

 

 

[style type="italic"]„Ich lass dich nicht allein.“[/style]   -- Ein schöner Satz. Schöne Worte. Süß in ihrem Klang.

[style type="italic"]„Ich lass dich nicht allein.“[/style]

-- Romantisch. Ja, romantisch. Auf gewisse Art und Weise. So etwas sagte man doch nicht einfach so?

[style type="italic"]„Ich lass dich nicht allein.“[/style]

-- Ehrlich. Liebevoll. Sanft.

Bei dem Gedanken daran wurde Micha warm. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte - Wärme im Inneren.

[style type="italic"]„Ich lass dich nicht allein.“[/style]

So etwas sagte man doch eigentlich nur, wenn einen etwas besonders berührte und man sich mit dem anderen auf spezielle Weise verbunden fühlte. Oder?

Bereits seit einer Weile stand Micha nun schon vor dem Spiegel in diesem Badezimmer und betrachtete sich.

Er mochte die Vorstellung, dass diese Worte irgendetwas bedeuten könnten. Mehr als nur hohle Phrasen, die jemand aus einem Gefühl des Mitleids heraus gesagt hatte. Aus einem kurzen Moment emotionaler Verbundenheit mit seinem Gegenüber. Vielmehr hoffte er, dass Olli es ernst gemeint und es aus seinem Herzen heraus gesagt hatte, als Micha ihm damals einen Teil seines Selbst anvertraut hatte. Beide hatten sie - nachdem Micha auf die Offene verlegt worden war und sich mit Olli zwei Wochen ein Zimmer geteilt hatte - hier gesessen und darüber gesprochen, wie es war anders zu sein. Besonders wenn man so war wie Micha… Im Laufe des Gesprächs waren sie dann bei dem Punkt angekommen, den Micha meistens zu umgehen versuchte. Denn die Meisten schreckte es ab, wenn man ihnen gestand, dass man weder Freunde, noch Familie besaß. Denn jeder hatte doch jemanden… Doch Olli schien da anders zu sein. Selbst als Micha dann Tränen in die Augen gestiegen waren, hatte Oliver sich nicht von ihm abgewandt. Ganz im Gegenteil. Er hatte Micha angesehen und dann gesagt, dass er ihn nicht alleine ließe. Zuerst hatte Micha Olli nur ungläubig angesehen und sich gedacht, dass der das doch nur aus Mitleid heraus zu ihm gesagt hätte. Doch als Olli dann gesagt hatte, dass sie Freunde seien, da hatte das auf gewisse Weise Michas Herz berührt.

Den schwarzen Gummi um Daumen und Zeigefinger geschlungen, fuhr Micha sich mit beiden Händen durch die Haare und band diese zu einem Knoten zusammen.

Bereits seit zweieinhalb Monaten war Olli nun schon nicht mehr hier. Der Abschied von seinem Freund war Micha alles andere als leicht gefallen. Trotzdem hatte Olli Wort gehalten, ihn regelmäßig hier angerufen und auch ein paar Male besucht. Und jedes Mal hatte Micha sich gefreut. Gefreut Ollis Stimme zu hören und ihn zu sehen oder mit ihm draußen etwas umher zu laufen. Dann waren sie meist einmal um das Gebäude herum gegangen, während Olli eine geraucht hatte und hatten über dieses und jenes gesprochen. Außerdem hatten sie mehr oder weniger eine Gemeinsamkeit. So hatte Olli ihm beispielsweise erzählt, dass er sich nie öffentlich als bisexuell geoutet hatte, weil seine Eltern dazu ganz spezifische Ansichten hatten. Genauso wie Michas…

Doch jetzt war es an Micha seine Sachen zu packen und sich für die Außenwelt bereit zu machen. Etwas, das Micha Angst bereitete. Zwar hatte sich sein Zustand deutlich verbessert. Vor allem nachdem er Hilfe zugelassen hatte. Dennoch machte es ihm Angst. Denn er wollte nicht mehr zurück in dieses alte Leben, von dem aus er gestartet war.

„Das packst du schon.“, hatte Olli mit einem Lächeln in der Stimme gesagt, als sie gestern zuletzt mit einander telefoniert hatten. „Keine Ahnung, ich hab einfach Angst. Verstehst?“ „Keine Sorge, wenn was ist, dann hast du ja meine Nummer. Abgesehen davon, würd ich mich freuen, wenn wir auch weiterhin in Kontakt bleiben.“, hatte Olli darauf geantwortet, sodass Micha sich ein Lächeln nicht hatte verkneifen können. „Das würde mich auch freuen.“ Ja, das wäre schön.

Als Micha aus dem Bad kam und seine restlichen Sachen in die Tasche, welche auf seinem Bett lag, packte, war das ein komisches Gefühl.

„Ich glaub, ich hab dann alles. Oder?“, fragte Micha sich selbst, als er noch einen letzten Blick um sich warf und dann den Reisverschluss seiner Tasche zu zog und seinen Mantel zuknöpfte. Ja, er hatte wirklich alles. Oder?

„Wohnungsschlüssel?“

Ein Griff in seine Manteltasche verriet ihm, dass auch dieser noch da war.

„Okay, dann mal los...“, sagte Micha und atmete tief, bevor er nach der Tasche griff und diese über seine rechte Schulter hängte.

Die Tasche war nicht einmal schwer. Ein paar Kilo vielleicht. Bei dem Gedanken daran musste Micha wieder mal an seine Mutter denken. Seit diesem einen Besuch hatte sie sich nur noch einmal bei ihm gemeldet. Per Telefon. Doch Micha hatte den Anruf abgelehnt und ihr ausrichten lassen, dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Seitdem hatte sie aber auch keinen weiteren Versuch mehr unternommen mit ihm in Kontakt zu treten. Vielleicht war es auf Dauer gesehen auch besser so? Schließlich interessierte sich seine Mutter sowieso nicht für ihn. Und sein Vater erst recht nicht. Für den war Micha mit Sicherheit schon ab dem Zeitpunkt gestorben, als er hatte mit ansehen müssen, dass Micha nicht das war, was er sich von seinem Sohn gewünscht hätte zu sein. Er war eben anders und würde es immer sein. Entweder sein Vater lernte das zu akzeptieren, oder er musste mit den Konsequenzen leben – so Ollis Worte, als sie darüber gesprochen hatten.

Es war ein seltsames Gefühl jetzt diesen Gang zu gehen. Unzählige Male hatte Micha sich seine Freiheit wieder gewünscht und jetzt, da es so weit war, spürte er tatsächlich so etwas wie Bedauern. Komisch, nicht?

Als Micha am Ende des weißen Ganges angekommen war, bog er nach rechts und blieb dann abrupt stehen, als ihm ein bekanntes Gesicht begegnete. „Ist es jetzt soweit?“, fragte Enrico. „Ja.“, nickte Micha, während sein Gegenüber lächelte. „Dann wünsch ich dir mal alles Gute, ne.“ „Danke.“ Freundschaftlich klopfte Enrico Micha noch auf die Schulter und steuerte dann die entgegengesetzte Richtung an.

Es war noch immer ein seltsames Gefühl. Besonders als Micha plötzlich draußen vor dem großen, weißen Gebäudekomplex stand.

Kapitel 7

 

Micha atmete tief ein und schloss einen Moment seine Augen, denn das war er also – der Moment. Zurück in sein altes Leben mit dem Vorsatz auf Änderung.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, auch seine Hände zitterten und waren feucht vor Nervosität. Dennoch, er schaffte das. Ja, er schaffte das…

Noch einmal atmete Micha tief ein, spürte wie sich sein Brustkorb hob und wieder senkte,  bevor er seine Augen wieder öffnete und den Wohnungsschlüssel aus der Manteltasche zog, diesen dann in das Loch in der Tür schob und umdrehte.

Ein altbekanntes Geräusch ertönte. Das Klicken, kurz bevor sich die schwere, dunkle Holztür dann einen Spalt öffnete und Micha Einlass in sein altes Leben gewährte.

Als er schließlich die Tür hinter sich schloss, schlug ihm, neben der betrübenden Dunkelheit, sofort ein muffiger Geruch entgegen. Es war schon Ewigkeiten her, seit er einmal die Rollläden hoch gezogen oder die Fenster geöffnet hatte. Damals hatte er keinen Sinn mehr darin gesehen. Doch jetzt erschrak er fast schon über sich selbst.

Es sah alles so verwahrlost aus. Heimatlos irgendwie.

Überall lagen leere Verpackungen. Auf dem schwarzen Coachtisch mit der Glasscheibe, auf dem Boden, auf dem Sims vor dem Fenster. Pizzaschachteln, leere PET-Flaschen, zerknüllte Papierreste, Taschentücher…

Leise betätigte Micha den Lichtschalter rechts neben der Tür, trat durch seine eigenen Hinterlassenschaften und bahnte sich einen Weg zum Schlafzimmer.

Dort angekommen, ließ Micha seine Tasche auf den Boden fallen.

Sein Bett war genauso, wie er es damals an jenem Morgen hinterlassen hatte. Es wirkte als wäre er gerade erst aufgestanden.

Und, obwohl das alles seins war – seine Welt - wirkte es doch auf eine unbestimmte Weise fremd. Wie die Wohnung eines Toten, die er nun zum ersten Mal betrat.

Immer wieder ließ Micha seinen Blick über die Hinterlassenschaften seines Selbst wandern, betrachtete was aus ihm geworden war. Bis er entschlossen die Knöpfe seines schwarzen Mantels öffnete, den auf sein Bett schmiss und dann damit begann aufzuräumen. Das erste Mal seit Ewigkeiten, wie es schien. Denn eigentlich wusste er schon gar nicht mehr, wann er das das letzte Mal getan hatte. Es war einfach zu lange her…

Langsam arbeitete er sich von Raum zu Raum. Angefangen beim Schlafzimmer, über das Wohnzimmer, bis hin zur Küche. Bis das Gröbste beseitigt war und man den Gesamtzustand der Wohnung als so etwas wie bewohnbar bezeichnen konnte.

Doch, als er letztendlich fertig war und sich, auf seinem schwarzen Sofa mit den weißen Kissen sitzend, umsah, schlich sich wieder diese Leere in sein Innerstes. Eigentlich wollte er nicht darüber nachdenken, aber: Was kam jetzt? Was kam jetzt nach alledem – nach seinem Klinikaufenthalt?

Schon allein diese Frage machte Micha wieder Angst. Zwar hatte er mit seinem Therapeuten einige Ansätze durchgesprochen, gerade um diesem Gefühl vorzubeugen, trotzdem, so ganz abstellen ließ sich das dennoch nicht.

Nichts desto trotz… „Ich pack das. Ganz bestimmt. Ich kriege das hin… Ja, ich kriege das hin…“, versuchte Micha sich immer wieder von Neuem selbst gut zuzureden. Außerdem, jetzt war er ja nicht mehr alleine. Nicht ganz zumindest. Trotzdem fiel es Micha schwer sich nicht wieder von diesem Angstgefühl vereinnahmen zu lassen. Auch wenn das Medikament, auf das er eingestellt worden war, seine Stimmung deutlich aufhellte und ihm neuen Antrieb gab. Vieles war dennoch eine Sache der eigenen Denkweise.

 

 

Die Zeit verging ziemlich schleppend.

Eine Zeitlang hatte sich Micha mit TV-Sendungen berieselt. Doch es lief nichts, das ihn interessierte. Dann hatte er versucht sich mit Musik abzulenken und zwischenzeitlich überlegt sich vor seinen Laptop zu setzen und etwas im Internet zu surfen. Doch so ganz überzeugt hatte ihn diese Idee auch nicht. Spätestens als er seinen alten Verlauf gesehen hatte, war ihm die Lust vergangen. Deshalb war Micha irgendwann im Bad angekommen. Wo er dann vor dem Spiegel stand und sich mit offenen, schulterlangen Haaren betrachtete.

Die letzten Jahre hatte er die einfach wachsen lassen. Vor allem, nachdem er sich damals, auf Drängen seines Vaters, seine Haare hatte abschneiden lassen.

Micha erinnerte sich noch genau an den Streit… damals… mit seinem Vater. Daran wie er ihn angesehen hatte. So angewidert und hasserfüllt… Alles nur, weil Micha mit seinen Haaren herum experimentiert hatte. Damals mit 15 hatte Micha noch nicht gewusst, was das in ihm war, geschweige denn wie er es benennen sollte. Alles, das er zum damaligen Zeitpunkt immer deutlicher gespürt hatte war, dass er nicht so war, wie er sein sollte. Doch vor allem, dass er nicht so fühlte, wie er scheinbar fühlen sollte.   „Das kannst du nicht ernst meinen!... Schämen solltest du dich! Ja, schämen!“, echoten die Worte seines Vaters durch Michas Hirnwindungen.

Er erinnerte sich noch ziemlich genau daran, was er in dem Moment empfunden hatte, als sein Vater in sein Haar gegriffen und ihm diese rote Spange mit der weißen Blume vom Kopf gerissen hatte.

Grob und kalt…

„Du bist ein Junge und kein Mädchen, verdammt nochmal!!!“, hatte sein Vater auf ihn ein gebrüllt, ihn aus zusammen gekniffenen Augen angesehen. Fast so als wäre das, was er da vor sich hatte stehen sehen nicht das Kind, das er einst im Arm gehalten und so voller Stolz, mit den Augen eines liebenden Vaters, angesehen hatte.

„Das hat ab jetzt ein Ende!... Dieser Unsinn hört ein für alle Mal auf! Hast du mich verstanden?!“ Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst, war Micha zitternd da gestanden, unfähig etwas zu erwidern, geschweige denn zu entgegnen. „Hast du das verstanden, habe ich gefragt?!“ „…“ „Ob du mich verstanden hast?! Antworte gefälligst!!!“ „Ja!“, hatte Micha geschrien, während sich seine Augen mit Tränen gefüllt hatten.

Gezwungenermaßen hatte sich Micha seinem Schicksal ergeben und versucht sich anzupassen.

Sein Vater war zufrieden gewesen. Seine Mutter auch. Ja, auf diese Weise waren sie fähig gewesen ihn zu lieben… ein bisschen zumindest... Denn es hatte ihnen gefallen ihren Sohn als das zu sehen, was er sein sollte: Michael und nicht Micha!

Dennoch, jedes Mal, wenn Micha sich auf diese Weise im Spiegel betrachtet hatte… Die Haare kurz, das Gesicht, der Körper… Sein eigenes Abbild war ihm so fremd gewesen. Selbst nach Monaten hatte sich an diesem Zustand nichts geändert. Es hatte sich nicht verbessert. Micha war damit nicht klar gekommen. Doch seine Eltern hatten das nicht verstanden.

Wie kann einem der eigene Körper fremdartig erscheinen?

„Was soll das heißen: ´Du fühlst dich in dir selbst wie verkleidet´?“

Ja, was sollte das heißen?... Was bedeutete das?...

 

 

Mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa sitzend, starrte Micha bereits seit einigen Minuten auf dieses viereckige Teil in seinen Händen und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass das alles, nur keine gute Idee war.

Einen Moment lang lehnte Micha seinen Kopf gegen das Kissen in seinem Rücken. Es war 23 Uhr 36, wie ihm das Display seines tragbaren Telefons zeigte.

Es war vollkommen sinnfrei um diese Zeit noch jemanden anzurufen, oder? Die Meisten schliefen doch schon. Außerdem mussten die auch arbeiten und lebten nicht bei Nacht. Und…

Micha schloss seine Augen.

Als es damals hieß, dass sich sein Zustand soweit verbessert habe, dass er auf die Offene verlegt werden konnte, war das... Micha fehlte das richtige Wort um zu beschreiben, was er dabei empfunden hatte, als Dr. Niedermair ihm das mitgeteilt hatte. Das Antidepressivum hatte langsam angeschlagen und… Ja, das Medikament hatte angeschlagen. Dennoch hatte er eigentlich nur darauf hin gearbeitet so schnell wie möglich entlassen zu werden. Deshalb hatte er denen erzählt, was die hatten hören wollen. Um frei zu sein und…

Micha atmete schwer.

Er erinnerte sich noch genau, wie er mit seiner Tasche da gestanden war und Schwester Beatrice – eine dicke Frau mit schwarzen, lockigen Haaren und Brille – ihm sein neues Zimmer gezeigt hatte. Zwei Betten, zwei Schränke, zwei Nachttische, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein kleines Badezimmer. Fast dieselbe Einrichtung wie in der Geschlossenen. Nur mit dem Unterschied, dass Micha endlich seinen nervigen Zimmermitbewohner los geworden und von dessen Schnarcherei erlöst worden war.

Dennoch war Micha nervös gewesen auf wen er wohl treffen würde. Immerhin war das Zimmer leer gewesen, als die Schwester Beatrice den Raum verlassen hatte, sodass Micha seine Sachen hatte einräumen können.

Er erinnerte sich noch, wie er einen Blick durch das Fenster auf der rechten Seite geworfen hatte. Das Wetter war düster gewesen an diesem Tag, der Himmel grau und ein paar Regentropfen hatten gegen die Fensterscheibe geprasselt, als er seine Tasche auf das Bett vor dem Fenster gelegt und den Reisverschluss geöffnet hatte.

Nach und nach hatte Micha dann damit begonnen seine Kleidungsstücke in die Fächer des Schranks zu packen,  als plötzlich die Zimmertür aufgegangen war.

Aus aufgerissenen Augen und mit nervösem Herzschlag, einen zusammen gelegten, schwarzen Pullover in seinen Händen, hatte er erschrocken in die Richtung des Anderen geblickt.

„Hey, haben die dich jetzt auch verlegt?", war er freundlich und mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßt worden, während Micha sein Gegenüber erstaunt angesehen hatte. „Find ich ja cool… Bist du dann auch schon mit den Abläufen hier auf der Station vertraut gemacht worden?" „Mhm.", hatte Micha zur Antwort genickt.

Ja, er hatte eine sehr ausführliche Einweisung erhalten. So war ihm der Gruppenraum, der Speiseraum, das Stationszimmer und überhaupt der ganze Flur gezeigt sowie der Stationsablauf in allen Einzelheiten erklärt worden. Dennoch, einen großen Unterschied zur Geschlossenen hatte es nicht gegeben. Bis auf etwas mehr Freiheit. So war es Micha beispielsweise erlaubt gewesen sich, ab dem Zeitpunkt seiner Verlegung, im kompletten Gebäudekomplex aufzuhalten, die Cafeteria im Erdgeschoss zu nutzen, um das Gebäude herum zu gehen und auch die eine oder andere Stunde Ausgang nach eigenem Ermessen zu nutzen.   „Dann teilen wir uns also ein Zimmer.", hatte Olli dann gesagt und ihn angelächelt, während Micha den schwarzen Pullover in eines der Fächer gelegt und die Schranktür geschlossen hatte. „Freut mich echt."

Stumm hatte Micha sein Gegenüber angesehen und ein Lächeln aufgesetzt. Damals war es ihm egal gewesen ob Olli sich darüber freute mit ihm ein Zimmer zu teilen oder nicht. Seit diesem einen Gespräch in seinem Zimmer hatte Micha Olli nicht mehr gesehen. Denn der war keinen Tag später auf die Offene verlegt worden. Eigentlich hatte Micha gedacht Oliver wäre längst aus seinem Leben verschwunden. Eine kurze Begegnung, doch ohne Wiedersehen…

Erwartungsvoll war Micha damals den langen, weißen Flur zu Ollis Zimmer entlang gelaufen, hatte an dessen Tür geklopft. Doch da war Olli schon längst nicht mehr da gewesen, wie Schwester Leni ihm mit mitfühlendem Blick mitgeteilt hatte. Einen Moment hatte Micha einen Stich in seiner Brust gefühlt. Ein Gefühl der Enttäuschung. Kalte Einsamkeit… Er hätte nicht so dumm sein sollen. In dieser Welt war jeder sich selbst am nächsten. Du oder ich… Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Hatte er wirklich gedacht, dass Olli irgendwas von ihm wissen oder mit ihm befreundet sein wollte?

Klar, hatte Micha über sich selbst gelacht.

Nein, Oliver war nicht anders als all die anderen. Auch er dachte nur an sich selbst. Ja…

Und genau dasselbe sollte er auch tun. Er sollte aufhören zu hoffen und endlich einsehen, dass es keinen Platz für ihn gab. Nicht in dieser Welt. Er würde sich zusammenreißen, darauf hin arbeiten entlassen zu werden, lächeln… Und dann… Wenn der Tag seiner Entlassung gekommen wäre, dann würde er noch am selben Abend diesem ganzen Leid ein Ende bereiten…

Dennoch…

Die erste Nacht in diesem fremden Bett war furchtbar gewesen. Immer und immer wieder hatte Micha sich von einer Seite auf die andere gedreht, hatte seinen stummen Abschied durchlebt. Den Sturz direkt in die Tiefe… Graue Pflastersteine… Kalter Wind… und schließlich der Aufprall, der ihn schweißgebadet in die Gegenwart zurück katapultiert hatte.

Aufrecht und mit aufgehetztem Herzschlag war Micha da gesessen, war sich mit der Hand durch die schweißgetränkten Haare gefahren und hatte sich mit aufgerissenen Augen in dem Zimmer umgesehen. Immer und immer wieder. So lange bis er verstanden hatte wo er war… Einige Minuten hatte Micha einen Blick zu Olli rüber geworfen, der tief und fest zu schlafen schien. Selige Ruhe… Ein Zustand, nach dem Micha zum damaligen Zeitpunkt mehr als nur gesehnt hatte. Nur einmal eine Nacht durchschlafen. Ohne Gedanken, ohne Albträume…

Einen Moment war Micha noch so verharrt, doch als er aufstehen wollte, hatte Olli sich plötzlich zu ihm umgedreht und ihn durch das nächtliche Grau angesehen. „Alles okay?“, hatte er mit einer Art Besorgnis in der Stimme gefragt.

Einige Sekunden hatte Micha an der Kante seines Bettes gesessen und in Ollis Richtung gesehen. Stumm und mit klopfendem Herzen, das Leben pulsierend in seinen Adern. Tausende Gedanken in seinem Kopf, Wunden zerbrochenen Vertrauens in seiner Erinnerung… Halt suchend... „Ich… ich kann nicht schlafen.“ „Hast du schlecht geträumt?“, hatte Olli wissen wollen und sich in seinem Bett ein Stück aufgesetzt. „Ja… Mein Kopf will mich einfach nicht in Ruhe lassen.“ „Kenne ich. Kann ziemlich übel sein.“ „Mhm.“, hatte Micha leicht genickt. „Und was denkst du dann so?“ „Verschieden.“ „Gleich so viel auf einmal.“, hatte Olli gemeint und Micha angelächelt. Kurz hatte er sich davon anstecken lassen, war dann aber wieder ernst geworden. „Also, ich denk auch über vieles nach… Ganz besonders schön sind die Albträume über meine Arbeit. Dann spinnt sich mein Hirn den unmöglichsten Scheiß zusammen.“ „Und was ist das dann… so?“, hatte Micha wissen wollen. „Alles Mögliche… Letztens hab ich geträumt, dass meine Mutter meinen Chef geheiratet hätte, der dann wollte, dass ich ihn Papa nenne.“ „Das klingt übel.“ „Ja, ich hab echt gedacht, ich müsste mir die Kugel geben.“, hatte Olli gelacht, während Micha sich kurz davon hatte anstecken lassen. „Erzähl mal, was hast du geträumt?“ „Ich hab geträumt, dass…“

Fast die ganze Nacht hindurch hatten sie mit einander geredet. Über alles Mögliche. Zwar hatten sie beide kein Auge mehr zugemacht, dennoch war es schön gewesen, wie Micha fand.

Auch wenn es zu Anfang schwer gewesen war, aber…Es hatte gut getan…

Olli war ein netter Mensch. Und irgendwie... Ja, irgendwie... Es waren schöne zwei Wochen gewesen. Sie hatten viel mit einander geredet, auch über sehr tiefgründige Dinge. Über Dinge, über welche Micha noch nie so mit einem anderen gesprochen hatte. Irgendwie waren sie auf einer Wellenlänge gewesen. So hatte Micha das Gefühl, als würde er Olli schon mehrere Jahre kennen. Vielleicht waren es auch die gegebenen Umstände gewesen, die dieses Gefühl hervor riefen? Denn anders als draußen, war das Leben in der Klinik ein komplett anderes. Olli hatte Probleme, so wie er auch. Er war also nicht anders als Micha.

Micha erinnerte sich sehr gerne an diese Zeit zurück. Der Kontakt zu Olli hatte ihm so etwas wie Halt gegeben. Neuen Mut...

Ja, vielleicht waren es die Umstände, die dieses Gefühl in Micha hervor riefen. Doch auch so hatten sie viele Gemeinsamkeiten. Sie beide mochten Serien wie How i met your mother und The Big Bang Theory. Hierbei mochten sie beide ganz besonders die Rolle des Dr. Sheldon Cooper.

„Penny?... Penny?...Penny?“ - Olli hatte das wirklich gut drauf. So gut, dass Micha jedes Mal hatte lachen müssen, wenn Oliver den Sheldon gegeben hatte…

Ollis Lieblingsfarbe war blau – hellblau. Am liebsten hörte er Hip Hop, aber auch gerne Rock. In letzter Zeit eigentlich alles von Macklemore. Seine Lieblingsfilme waren Shaun of the dead, Transporter, allgemein Filme mit Jason Statham, und alles mit Bruce Willis…

„Shaun of the dead können wir mal zusammen anschauen.", hatte Olli ihm vor einer Woche angeboten, als er Micha zuletzt besucht hatte. „Der ist echt lustig." „Gerne.", hatte Micha gesagt und gelächelt, genauso wie Oliver.

Micha mochte Ollis Lächeln. Doch eines, das er nicht so mochte war das Thema Victoria.

War das anmaßend?

Vielleicht... So genau wusste Micha das nicht. Es war ja nur verständlich, dass Olli an ihr hing und über sie sprach, immerhin waren die beiden sechs Jahre ein Paar gewesen. Trotzdem, Micha hörte zwar zu, dennoch mochte er das Thema nicht... Aber er konnte es verstehen. Olli war ein netter Mensch, sah gut aus und...

Micha schüttelte den Kopf, öffnete seine Augen wieder und blickte auf das Telefon in seinen Händen.   Er hatte Olli viel anvertraut, doch eines hatte er ihm verschwiegen und so gut wie möglich versucht zu verbergen. So wie er es immer tat. Micha hatte es ihm zwar sagen wollen, aber… Die Angst Olli könnte ihn deshalb zurück stoßen war einfach zu groß. Denn die Narben an seinem Körper waren zu schrecklich. Das würde jeden abschrecken… Seinen Ex hatte es wahrscheinlich auf Dauer gesehen ebenfalls abgeschreckt, wenn nicht sogar angewidert.

Wer wollte schon mit einem Menschen befreundet sein, der sich selbst Schmerzen zufügte?

Nein, er wollte nicht riskieren Olli zu vergraulen, genauso wenig wie er riskieren wollte wieder einmal die Erfahrung zu machen deshalb zurück gestoßen zu werden. Nein…

Micha atmete schwer.

Egal wie er es drehte oder wendete, auch wenn es vielleicht verrückt war, aber er hatte zu große Angst, um jetzt alleine zu sein. Die ganze Zeit in der Klinik war er immer von irgendwelchen Menschen umgeben gewesen und das fast fünf Monate lang. Ob er es gewollt hatte, oder nicht. Doch jetzt, so in seiner Wohnung… Nein, er konnte nicht alleine sein!

 

 

„Ja?“, machte sich eine müde Stimme bemerkbar.

„Hallo?“, sprach Oliver in sein Telefon, während er sich mit Daumen und Zeigefinger über die geröteten Augen rieb.

„Hallo?“

„Hey.“, reagierte Micha endlich und setzte sich auf seinem Sofa auf. Es dauerte einige Sekundenbruchteile, bis Ollis Gehirn begriff, wem die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte. „Micha?“, fragte er erstaunt. „Ja.“, nickte dieser und lächelte ein bisschen. Es tat gut Olivers Stimme zu hören. „Hey… Wie geht´s dir?“, wollte Olli wissen und setzte sich in seinem Bett auf, während er suchend nach einer Uhr Ausschau hielt. „Ähm…“ „Wie spät ist es eigentlich?“ „23 Uhr 52.“, sagte Micha und hörte ein leichtes Stöhnen. „Ich weiß, es ist spät… Ich…“ „Schon okay… Was kann ich für dich tun? Du hörst dich nicht so gut an.“ „Doch, alles… alles okay.“, versuchte Micha durch das Telefon hindurch zu lächeln und möglichst überzeugend zu klingen. Doch Olli war nicht dumm. Außerdem rief niemand so spät am Abend noch an, wenn alles in Ordnung war. „Irgendwas ist doch.“ Einen Moment schloss Micha seine Augen und atmete tief durch.  Auch wenn es sich höchstwahrscheinlich vollkommen bescheuert anhörte… „Ich hab Angst.“ „Ist etwas passiert?“, fragte Olli besorgt und setzte sich, jetzt hellwach, in seinem Bett auf. „Nicht wirklich… Also…ich… ich fühl mich einfach allein, weil… ich bin heute das erste Mal seit damals in meine Wohnung gekommen… und ich hab´s auch versucht, aber irgendwie…“, stammelte Micha, während Olli sich einen kurzen Moment selbst verfluchte. Dass heute Michas Entlassungstag war, hatte er vor lauter Stress vollkommen vergessen. „Sorry, ich wollte dich wirklich nicht nerven.“, meinte Micha und kaute auf seinen Nägeln herum. „Keine Sorge, du nervst nicht. Soll ich vorbei kommen?“, wollte Olli wissen, woraufhin sich Michas Herzschlag einige Takte beschleunigte. „Ähm…“ „Du musst es nur sagen.“ „Du musst doch bestimmt morgen arbeiten?“, entgegnete Micha. „Ja.“, war Ollis Antwort. „Aber das macht nichts. Abgesehen davon bin ich jetzt sowieso wach.“ „Ja, weil ich dich geweckt habe.“, meinte Micha und presste seine Lippen auf einander. Olli musste lächeln. „Macht nichts, Kleiner. Also?“ Kleiner…, wiederholte Micha Olivers Worte in seinem Kopf. „Ähm…“ Er war sich noch immer nicht schlüssig. „Ist das wirklich okay? Ich meine, ich will nicht, dass-“ „Das ist wirklich in Ordnung.“ „Ähm… okay.“, willigte Micha schließlich ein. „Cool. Dann bis gleich.“ „Bis gleich.“

 

 

Hausnummer 15. Neun… Elf… 13. Und dann hatte Oliver sein Ziel erreicht.

Hausnummer 15.

Zielstrebig fuhr Olli rechts ran und stellte den Motor seines schwarzen Mercedes ab.

Micha wohnte gar nicht so weit von ihm entfernt. Gerade einmal zwanzig Minuten hatte er bis hierhin gebraucht.

Einmal um sein Auto herum und dann geradeaus, ging Olli auf das Gebäude mit der weißen Fassade, an welchem sich eine Wohnung über die nächste reihte, zu und suchte auf einem der Klingelschilder nach dem Namen Sokolow. Bis er diesen schließlich gefunden hatte und dann die Klingel betätigte.

Es dauerte nicht einmal ein paar Sekunden, da hörte Olli auch schon das Summen des Türöffners.

Michas Wohnung lag im dritten Stock. Doch, dank des gebäudeinternen Aufzugs, konnte Olli sich das mühselige Treppenlaufen sparen.

 

 

„Hey.“, lächelte Olli, als Micha schließlich die schwere Tür öffnete.

Kurz erwiderte Micha das Lächeln seines Gegenübers und trat dann beiseite. „Komm rein.“ „Danke.“

„Danke, dass du vorbei gekommen bist.“, sagte Micha leise, als er dann die Tür hinter Oliver schloss und sich zu ihm umdrehte. „Kein Thema.“, lächelte Olli. „Wo kann ich…?“ „Ähm, einfach da… an der Wand.“, meinte Micha und deutete auf ein paar Haken hinter Ollis Rücken.

Als die Jacke schließlich ihren Platz gefunden hatte und Oliver sich wieder zu Micha umdrehte, konnte jener nicht anders, als Micha etwas genauer zu betrachten. „Deine Haare sind kürzer.“ Micha nickte und fuhr sich derweil mit seiner Hand über den Hinterkopf. „Ja… Na ja, ich hatte mir ja vorgenommen ein paar Dinge in meinem Leben zu ändern. Und das hier ist so eins davon.“

Noch immer stand Olli da und betrachtete sein Gegenüber.

Die kürzeren Haare standen Micha wirklich gut, wie Olli fand. Nicht, dass ihm dessen langen Haare vorher nicht gefallen hätten. Aber… Insgesamt hatten Michas Haare ein beträchtliches Stück an Länge verloren. So reichten diese jetzt nur noch bis knapp über die Ohren und waren hinten höchstens noch zwei Zentimeter lang.

Olli erinnerte sich noch genau, wie sich Victoria einmal die Haare um die Hälfte hatte kürzen lassen. Achtzig Euro hatte der Spaß gekostet. Mit Fönen und dem ganzen Schnick Schnack. Doch statt mit dem Ergebnis zufrieden zu sein und mit einem Lächeln Nachhause zu kommen, hatte sie den ganzen restlichen Abend mit Jammern zugebracht. Sie hätte das nicht tun sollen. Ihre schönen Haare…

Wozu ging eine Frau denn überhaupt zum Frisör, wenn ihr danach das Ergebnis nicht gefiel?

Wie er Victoria kannte, hatte die wahrscheinlich zu demjenigen, der sie so „entstellt“ hatte, dann noch gesagt, wie toll sie es doch fände. Nur um sich den Frustteil für Zuhause aufzuheben.

Dabei hätte Olli sich nichts sehnlicher gewünscht als Nachhause zu kommen und eine glückliche Frau vorzufinden. Eine Frau, die sich an ihn gekuschelt und, so banal sich das auch anhörte, aber einfach nur mit ihm auf dem Sofa gelegen wäre, sich an ihn gekuschelt und mit ihm gemeinsam Fern gesehen hätte. Alles, einfach alles andere wäre Olli lieber gewesen, als den ganzen Abend – stundenlang - über den Verlust ihrer Haare zu sprechen und sie deshalb trösten zu müssen. „Nein Schatz, die Frisur steht dir… Ja, ich finde dich wirklich hübsch… Ja, auch mit kurzen Haaren… Ja…“ Immer und immer wieder. So lange bis es, aufgrund der vielen, durch Victorias Unsicherheit hervorgerufenen, erzwungenen Zusprüche, nicht mehr glaubhaft klang und sich an ihrer Unzufriedenheit letzten Endes auch nichts geändert hatte… Dabei hätte Olli vielleicht auch mal jemanden zum Reden gebraucht. Jemanden, der zugehört hätte, statt zu fordern. Jemanden, der-

„Ist alles okay mit dir?“, holte Michas Stimme ihn wieder aus seinen Gedanken. „Ja, wieso?“ „Du starrst mich die ganze Zeit so an.“, stellte Micha fest und legte den Kopf schief. Nervös kratzte Olli sich am Hinterkopf und lächelte. „Veränderungen sind gut.“ „Ja.“, nickte Micha und lächelte ebenfalls.

Micha sah wirklich gut aus, dachte Oliver. Vor allem in den letzten Wochen hatten Michas feine Züge etwas mehr an Leben gewonnen. Doch am meisten mochte Olli, wenn der Kleine lächelte. Es war einfach schön, wenn er lächelte. Süß irgendwie.

„Ähm…“, setzte Micha an, als sie sich noch immer gegenüber standen. „Ja… ähm…“

Micha musste lachen.

Irgendwie war die Situation komisch. Er hatte eigentlich nur mit Olli telefonieren wollen und jetzt stand der vor ihm und weder Olli, noch er wussten genau, was sie sagen sollten.

„Die Frisur steht dir.“, sagte Oliver schließlich, während ihm zwei große, leicht schattierte Augen entgegen sahen. „Danke.“ „Nein, ehrlich, das sieht wirklich gut aus.“ „Okay.“, sagte Micha und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Ähm, wir können gerne noch hier im Flur stehen bleiben, aber… wir können auch ins Wohnzimmer gehen, wenn du willst? Ist halt… ähm… vielleicht besser…“ „Klar. Gerne.“, nickte Olli und folgte Micha in dessen Leben.

Vom Flur aus ging es direkt ins Wohnzimmer. Ein großer viereckiger Raum mit einem großen Fenster direkt gegenüber der Tür. In der Mitte standen ein schwarzes Sofa mit weißen Kissen und davor ein schwarzer Tisch mit Glasscheibe und diesem gegenüber einer dieser Flachbildfernseher, die Olli sich selbst schon lange mal anschaffen wollte. Doch bisher hatten es die finanziellen Mittel nie erlaubt. An den Wänden hingen ein paar große Leinwände mit schwarzen Linien. Fasziniert blieb Olli vor einem stehen und betrachtete das Abbild. Dieses zeigte eine Ansammlung aus schwarzer Tinte gezeichneter Striche, die, zusammen gesetzt, das Bildnis eines Körpers aus männlichen und weiblichen Einzelteilen zeigte, der, mit dem Rücken zu Olli stehend, seinen zerschundenen Körper mit seinen Händen fest hielt. Insgesamt wirkte das Bild so zerbrechlich. Düster irgendwie.

„Wie findest du´s?“, machte sich Michas Stimme hinter ihm bemerkbar. „Das ist wirklich gut gemalt. Aber ´n bisschen traurig…“ „Ich weiß, ich war damals in ´ner nicht so guten Stimmung, als ich das gemalt hab.“ „Das ist von dir?“, fragte Olli erstaunt. „Ja.“, nickte Micha und zeigte ein kleines Lächeln, wurde dann aber ernst und fast schon nachdenklich. „Ich hab früher echt gerne gemalt. Aber jetzt nicht mehr.“ „Wieso?“ Einen Moment atmete Micha tief durch. „Ich hatte ab ´nem gewissen Punkt einfach keine Ambition mehr.“

Micha erinnerte sich noch genau, wie sein Vater einst in sein Zimmer gekommen war. Eigentlich hatte dieser ihn darauf aufmerksam machen wollen, dass er sich für eine dieser gesellschaftlichen Pflichtveranstaltungen fertig machen sollte. Aber als sein Vater vor dem Bild, an dem Micha damals gearbeitet hatte, stehen geblieben war und es betrachtet hatte, hatte der Micha wieder einmal kritisiert. „Musst du immer so düsteres Zeug malen?! Das will doch niemand sehen!“, hatte ihn sein Vater mit rauer Stimme in russischer Sprache angefahren, während Micha ihn nur stumm angesehen hatte.

Kapitel 8

 

„Ähm… Willst du vielleicht was trinken?“, riss Micha sich wieder aus seinen Gedanken. Lächelnd drehte Olli sich zu ihm um. „Ja, gerne.“ „Okay, ich muss halt schauen, was ich da habe. Ich war heute noch nicht einkaufen…“, erklärte Micha und lief vom Flur aus in die angrenzende, kleine Küche.

Alles, was er finden konnte war eine Flasche Cola, von der er nicht einmal wusste, wie lange die schon dort unten, unter der kleinen Ablage neben dem Kühlschrank, stand. Konnte gut sein, dass die schon weit über ein Jahr alt war. Denn die letzten Monate hatte Micha, wenn er überhaupt mal Hunger gehabt hatte, immer nur beim Lieferservice um die Ecke bestellt.

Zu seiner schlimmsten Zeit hatte Micha fast vollkommen auf Essen verzichtet. Er hatte einfach keinen Appetit mehr gehabt… So hatte ihn diese „Diät“ etwas über zehn Kilo Körpergewicht gekostet. Es war nicht bedrohlich gewesen… Dennoch hatte er sich in der Klinik erst einmal wieder daran gewöhnen müssen zu essen, Bissen für Bissen in sich hinein zu zwängen und den Sinn dahinter zu verstehen…

Nichts desto trotz, morgen würde Micha einkaufen gehen. Und dann würde er ein paar gesunde Sachen holen. Karotten, Salat und noch ein paar andere Dinge. Und vielleicht würde er sogar damit beginnen etwas zu kochen. Wenn auch nur für sich…

„Ich hab eine Flasche Cola und… öh… sonst nur Leitungswasser.“, rief Micha gerade durch die Küche ins Wohnzimmer, als er sich umdrehte und, mit der Flasche Cola in der Hand, plötzlich Olli vor sich stehen sah. Erschrocken zuckte Micha zusammen. „Hab ich dich erschreckt?“ „Ja, ein bisschen.“, gestand Micha und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare. Olli lächelte. „Also Cola ist immer gut. Besser als Leitungswasser auf alle Fälle.“ „Sorry, dass ich dir nicht mehr anbieten kann… Ich hab ehrlich gesagt nicht daran gedacht einkaufen zu gehen, aber…“ „Hey, schon okay.“ „Wirklich, tut mir leid.“, entschuldigte sich Micha erneut. „Setz dich nicht so unter Druck. Du bist erst seit heute wieder hier. Da braucht man erst einmal etwas Zeit sich wieder einzuleben.“, meinte Olli und lächelte. „Wo hast du Gläser?“ „Da oben.“, sagte Micha und zeigte auf das kleine Hängeregal rechts neben dem Herd. Gezielt holte Olli dann zwei Gläser aus dem Schrank und ging dann mit Micha zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich dann auf das schwarze Sofa setzten.

„Ich find´s schade, dass du nicht mehr malst. Du hast wirklich Talent.“, sagte Olli, während Micha gerade damit beschäftigt war die Cola in die Gläser einzuschenken. Ob man das wirklich noch trinken konnte? „Warum malst du nicht mehr?“ Zwei große, graue Augen sahen Olli an. „Ist etwas passiert? Oder…?“ Micha atmete schwer. „Nein, es ist nichts passiert. Es war nur so, dass ich keinen Antrieb mehr dazu hatte… Ich hatte es zwar ein paar Mal versucht und… Ideen waren auch da… Aber ich hab dann immer wieder nach kurzer Zeit damit aufgehört… Es hatte einfach keinen Spaß mehr gemacht.“ Olli nickte verstehend. „Und würde dir das jetzt wieder Spaß machen?“ „Keine Ahnung… Ich weiß es nicht.“, antwortete Micha und zuckte mit den Schultern. In der Gestaltungstherapie hatte er zwar hier und da mal ein paar Striche zusammengesetzt, aber ob ihm das wieder Spaß machen würde? Er wusste es nicht.

Gerade zu der Zeit, als es am Schlimmsten gewesen war, hatte er in so gut wie gar nichts mehr einen Sinn gesehen. Zeichnen, aufstehen, essen… Alles war Micha nur noch sinnlos erschienen. Vielmehr hatte er seine Zeit damit verbracht im Internet nachzuschlagen, wie man sich am besten umbringen konnte…

 

 

Noch einige Stunden hatten sie mit einander geredet. Über alles Mögliche, dies und das, bis Olli am nächsten Morgen dann Nachhause gegangen war.

Müde lag Micha in seinem Bett mit der schwarzen Bettwäsche und drehte sich auf die Seite.

Er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wie lange es her war, dass er überhaupt Besuch bei sich in der Wohnung empfangen hatte. Es mussten sicher schon Ewigkeiten sein. Mindestens über ein Jahr, wenn nicht sogar noch länger.

Erschöpft gähnte Micha.

Es hatte auf jeden Fall gut getan, dass Olli noch gekommen war. Ja, es war schön gewesen. Sehr schön. Obwohl er schon ein schlechtes Gewissen hatte. Immerhin hatte Oliver wegen ihm kein Auge zugemacht und musste jetzt dann auch noch arbeiten gehen.

Nichts desto trotz hatte es gut getan. Olli war ein guter Freund. Ein sehr guter Freund. Denn, nicht jeder würde sowas tun. Eigentlich hatte das noch nie jemand für Micha getan.

Nein, das hatte noch nie jemand für ihn getan…

Nichts desto trotz, sobald er ausgeschlafen wäre, würde er sich fertig machen und dann würde er zum Supermarkt gehen. Ja, so war der Plan. Und dann würde er was kochen. Da würde sich bestimmt was finden und dann… mal schauen… Dann einfach mal schauen…

Schläfrig kuschelte Micha sich unter die Decke und schloss die Augen.

 

 

Währenddessen parkte Olli gerade sein Auto, als sein Handy klingelte.

„Mayer?“, gähnte er. „Hey.“ „Hey… hey…“ „Störe ich gerade?“ Olli schüttelte mit dem Kopf und lächelte. „Bist du noch da?... Oliver?“ „Ja… ja… ich bin noch da.“, zuckte Angesprochener zusammen. „Schön deine Stimme zu hören.“ „Mhm.“ Olli gähnte, lehnte seinen Kopf einen Moment nach hinten. „Ich find´s wirklich schön.“ Doch alles, was ihm entgegen kam war Schweigen. „Ähm… Wie geht´s dir?“, fragte er und schloss einen Moment seine Augen. „Gut.“ „Schön… das ist schö…“ „Oliver!“ „Hm?“ „Schläfst du?!“ „Nein, nein, ich bin wach… Ich bin wach.“, zuckte Olli, der noch immer am Steuer seines Mercedes saß, erneut zusammen und versuchte seine Augen daran zu hindern von Neuem zuzuklappen.

Er war sich durchaus bewusst, wie das wirken musste… Aber er war jetzt schon etwas mehr als 24 Stunden wach. Wenn man von der einen Stunde, die er im Bett gelegen hatte, einmal absah. Das konnte ganz schön anstrengend sein und eigentlich hatte er in nicht mal einer Stunde auch schon einen Termin. Doch andererseits konnte er den auch ausfallen lassen. Lohnte sich höchstwahrscheinlich sowieso nicht. Eine Stunde Autofahrt für eine Erstberatung. Nein, das lohnte sich definitiv nicht.

Trotzdem war es schön gewesen mit dem Kleinen zu reden. Einfach nur dazusitzen und zu reden...

„Oliver! Bist du noch da?!“ „Was?... Was?“, erschrak Angesprochener und fuhr in seinem Autositz hoch. „Ich hab dich was gefragt!“ „Ey, sorry…“ Müde rieb Olli sich über die Augen. „Soll ich später wieder anrufen?“ „Nein… nein, das passt schon… Ich bin wach.“ „Ja, das merke ich. Hast du wieder die Nacht durchgearbeitet?“ Einen Moment überlegte Olli. „Ja.“ „Wann passt es dir jetzt am besten?“ „Wegen was?“

Olli musste keine Worte hören, um zu wissen, dass Victoria gerade mit dem Kopf schüttelte. Wahrscheinlich erinnerte sie sich an einen der unzähligen Momente, an denen er ihr auch nicht zugehört hatte. Weil er so fertig gewesen war, dass sein Hirn hatte keine weiteren Informationen aufnehmen können…

„Sorry, ich hab einfach wenig geschlafen.“, versuchte Olli sich zu erklären. „Ist ja nichts Neues.“ „Jetzt sei nicht so.“ „Wie bin ich denn?!“, zischte es ihm vom anderen Ende entgegen. „Hör zu, ich will mich jetzt nicht streiten… Ich bin einfach fertig. Was kann ich für dich tun?“, versuchte Olli einzulenken, während er im Innenspiegel seine Augen betrachtete. Er hätte wirklich an Ort und Stelle einschlafen können. Einfach nur schlafen. „Ich habe noch ein paar Sachen in unserer Wohnung. Wenn du mir sagen würdest, wann es dir zeitlich am besten passt, dann würde ich kurz vorbei kommen.“

Oliver blickte bedrückt aus der Frontscheibe.

Einerseits freute er sich endlich mal wieder Victorias Stimme zu hören, doch andererseits machte ihn der Grund des Gesprächs traurig.

„Ich hab heute den ganzen Tag Zeit. Also… du kannst vorbei kommen, wann immer du möchtest.“, sagte Olli und schloss einen Moment seine Augen. „Wäre 15 Uhr dann für dich okay?“ Aus geröteten und übermüdeten Augen blicke Olli aus der Frontscheibe. „Ja, das passt.“ „Okay, bis dann.“ „Bis-“, wollte Olli sich noch verabschieden, als Victoria schon aufgelegt hatte.

Musste sie so mit ihm reden? Ja, er verstand es ja… Da rief Victoria einmal an und dann döste er so gut wie jede Minute weg. Dennoch… Hatte sie wirklich keine guten Worte mehr für ihn übrig?

Ja, er hatte einen Fehler gemacht damals an diesem Abend. Und er wünschte sich auch, dass er das irgendwie rückgängig machen könnte. Es tat ihm leid. Aber scheinbar konnte sie ihm das nicht verzeihen. Er konnte es ihr ja nicht einmal verübeln…

Erschöpft öffnete Olli die Autotür und stieg aus, als ihm ein kalter Windhauch entgegen zischte. Es war Anfang Dezember. Normalerweise hätte um diese Zeit schon längst Schnee daliegen sollen. Doch, wenn Olli genauer darüber nachdachte, dann war ihm das sogar ganz recht. So blieb ihm wenigstens die Schipperei erspart. Doch andererseits… Früher hatte er sich immer über den Schnee gefreut. Vor allem, weil Victoria um diese Zeit immer damit begonnen hatte die Wohnung mit Sternen und Kunstschnee zu dekorieren. Etwas, das Oliver jetzt umso mehr vermisste… Er hätte sich einfach mehr bemühen und sich mehr Zeit für sie nehmen müssen. Aber was nutzte das jetzt? Auch wenn er sich seiner Fehler bewusst war, ändern konnte er die jetzt auch nicht mehr…

Müde schleppte Oliver sich die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, tätigte noch einen Anruf um seinem Kunden abzusagen und fiel schließlich ins Bett.

 

 

Es war kurz nach 14 Uhr, als Micha sich gähnend die Zähne putzte und aus dem Radio irgendwelche Musik vor sich hin rieselte. Das übertönte die unerträgliche Stille…

Micha hatte gerade mal ein paar Stunden geschlafen und war eigentlich noch müde. Trotzdem hatte es auch ein Gutes: So verschlief er wenigstens nicht den ganzen Tag, sondern nur den halben.

Fertig mit Zähneputzen, spuckte Micha in das weiße Waschbecken und spülte mit Wasser nach, bevor er zu seiner neu gewonnen Routine überging.

Nach einer guten Schicht Concealer folgte Lidschatten, Lidstrich, oben und unten sowie innen und Mascara. Danach waren dann die Haare an der Reihe. Es war ungewohnt plötzlich so kurze Haare zu haben. Nichts desto trotz gefiel es Micha. Doch als er kurz die Ärmel seines grauen Pullovers hoch krempelte, um seine Hände zu waschen, wurde er einen Moment nachdenklich.

Wie gebannt sah er auf seine entblößten Unterarme. Nur um sich dann von dem grauenvollen Anblick zu entreißen und die Ärmel in einer hastigen Bewegung wieder nach unten zu ziehen.

Glücklicherweise war es Winter. Oder, was hieß glücklicherweise? Es war Dezember. Bald würde wieder Weihnachten sein. Die Zeit des Jahres, die Micha am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte. Er erinnerte sich noch genau, wie er sich letztes Jahr gefühlt hatte. Vollkommen alleine und isoliert hatte er versucht die Weihnachtsfeiertage sowie das Sylvesterfest zu überstehen. Es war eine Qual gewesen.

Konnte sich überhaupt jemand vorstellen, wie sich das anfühlte? Wenn man alleine in seiner Wohnung saß, während alle anderen zusammen mit ihren Liebsten feierten?

Höchstwahrscheinlich nicht.

Micha graute es vor dieser Vorstellung. Es machte ihm Angst. Einfach nur Angst…

Trotzdem versuchte sich Micha wieder von diesem Gedanken loszulösen. Bis Weihnachten war es noch ein gutes Stück hin, außerdem dachte er definitiv zu viel nach. Etwas, das er sich gerne gewünscht hätte abstellen zu können. Denn, wahrscheinlich dachte er über Dinge nach, über die andere nicht einmal den Hauch eines Ansatzes verloren. Wie zum Beispiel sein Vorhaben in den Supermarkt zu gehen. Für den normalen Menschen ein ganz normaler Gang. Doch für Micha war die Vorstellung daran eine Qual. Schon allein, wenn er daran dachte, wie die Menschen ihn ansahen, begannen seine Hände zu zittern und sein Herz wie wild zu pochen…

 

 

Die Hände in seinen Manteltaschen vergraben, betrat Micha eine gute Stunde später den Supermarkt. Bereits jetzt klopfte sein Herz wie verrückt. Auch seine Hände zitterten.

Die ganzen Gesichter... All diese Menschen…

Ein Kind, das neben seiner Mutter an dem kleinen Backstand gegenüber den Kassen stand, schaute ihn mit großen Augen aufmerksam an. Auch ein alter Mann, der an ihm vorbei die Schiebetür hinaus lief, kreuzte kurz seinen Blick. Es war ein abwertender, musternder Blick. Ja, abwertend…

Michas Herzschlag beschleunigte sich um ein paar weitere Takte, während er, mit gesenktem Blick, seinen Körper in Bewegung setzte. Er wollte es hinter sich bringen. Einfach nur hinter sich bringen…

Außerdem war das nur ein Supermarkt. Ein stinknormaler Supermarkt. Mehr nicht, versuchte Micha sich einzureden, als er nach einem der Körbe links neben der Einlassschranke griff.

Trotzdem, er hätte nicht erst jetzt hier hingehen sollen. Entweder früh am Morgen, kurz nach acht oder spät am Abend, nach 20 Uhr. Denn dann war am wenigsten los.

Jetzt war es das Gegenteil.

Besonders weil zwischen 15 Uhr 30 und 16 Uhr die Ersten ihren Feierabend antraten. Nach 17 bis kurz nach 19 Uhr war es am Schlimmsten. Dann war noch mehr los als jetzt.

Gedränge… Die ganzen Menschen…

Doch vor allem an Samstagen oder kurz vor Feiertagen war es am Allerschlimmsten. In die Stadt wagte Micha sich deshalb schon seit Jahren nicht mehr. Vor allem an Samstagen. Wegen all den Familien mit ihren Kindern.

Das Geschrei… Der Lärm… Diese Enge…

Beispielsweise erinnerte er sich gar nicht mehr, wann er das letzte Mal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen war. Da musste er noch ein Kind gewesen sein… Doch die Vorstellung… All diese Menschen, die in diesen engen, kleinen Gängen zusammengepfercht da standen und einem jeglichen Raum zum Atmen raubten. Wie die einen ansahen… Das laute, schrille Auflachen irgendwelcher Frauen. Als wäre es nicht möglich normal zu lachen, als müssten die so erschreckend laut sein… So laut, dass man es einfach nicht überhören konnte… Micha hasste laute Stimmen. Vor allem laute Frauenstimmen. Das klang immer so grässlich… Wie das Kratzen von Fingernägeln an einer Tafel… Furchtbar!

Schon bei dem Gedanken an all diese Dinge wurde Micha schlecht. Es war ein Gefühl als würde einem jemand die Kehle mit beiden Händen zudrücken. Man versuchte zwar nach Luft zu schnappen, aber man schaffte es nicht…

Am liebsten wäre Micha wieder umgekehrt. Denn sein Herz schlug jetzt schon wie verrückt, auch seine Hände zitterten und waren triefend nass. Vom Rest seines zierlichen Körpers ganz zu schweigen… Doch umdrehen und wieder gehen war auch nicht gerade so leicht, wie sich das anhörte. Es hätte bedeutet, dass er sich an der Kasse hätte anstellen müssen. Und dann hätte er gewartet, weil er sich nicht getraut hätte die Leute zu bitten, ihn durchzulassen.

Er hätte das Ganze besser durchdenken sollen.

„Echt, geht´s noch!“, blaffte Micha plötzlich eine Stimme hinter ihm an und ließ ihn erschrocken zusammenfahren, während er einen Schritt zur Seite sprang. „Tut… tut mir leid…“, entschuldigte er sich, als er den Anderen mit großen Augen ansah. Doch ein verständnisloses Kopfschütteln des Middreißigers war alles, das er als Resonanz erhielt.

Der Andere hatte ja recht. Was stand er auch hier und blockierte den Durchgang?

Alles nur, weil er zu viel nachdachte. Weil er einfach nicht normal sein konnte! Nicht wie all die anderen Menschen!

Den Blick stets auf die Regale und deren Produkte gerichtet, versuchte Micha möglichst schnell mit seinem Einkauf fertig zu werden und dabei jeglichen Blickkontakt mit einem Anderen zu vermeiden. Er wollte nicht wissen, was die, oder der Typ von vorhin über ihn dachten. Ja, er sah anders aus. Und ja, er trug Make-up. Und ja, auch seine Fingernägel waren lackiert. Und-

„Entschuldigung.“, riss die Stimme einer älteren Frau Micha aus seinen Grübeleien. „Entschuldigen Sie, aber können Sie mir bitte helfen?“

Erschrocken blickte Micha neben sich, wo eine kleine, alte Dame ihm aus braunen Augen entgegen sah.

Was wollte die jetzt von ihm?

„Können Sie mir bitte die Packung Reis da reichen? Ich komme leider nicht ran.“, sagte sie und lächelte.

Nervös und mit zitternder Hand griff Micha in das Regal und reichte ihr den gewünschten Artikel.

„Danke. Das ist aber lieb.“, lächelte die Frau.  

Immerhin ein positives Erlebnis…

Trotzdem, als Micha einige Minuten später an der Kasse und inmitten dieser Schlange neben dem Fließband stand, pochte sein Herz wieder wie verrückt. Er konnte genau spüren, wie ihn dieser Typ hinter ihm ansah, genauso wie die Frau, eine Kasse weiter. Auch die beiden Jugendlichen vor ihm… Einer drehte sich immer wieder um, der andere wagte auch einen Blick, dann kehrten sie ihm den Rücken zu, lachten und flüsterten irgendwas mit einander. Wahrscheinlich philosophierten sie was er darstellen sollte. Ist das ein Mann oder eine Frau? Oder ein Es? Hast du den/die gesehen? Wie der/die schon rumläuft…

Michas Herz schlug und schlug, während er seinen Blick von den beiden Jugendlichen abwandte und in Richtung Ausgang blickte.

Er wollte einfach nur noch raus. Raus und dann Nachhause.

Als dann endlich seine Artikel über den Scanner geschoben wurden und er die in die Plastiktüte packte, war es nicht mehr weit. Bald hätte er es geschafft.

„Das macht 44 Euro 83. Zahlen Sie bar oder mit Karte?“, fragte die Kassiererin. „Mit Karte.“, antwortete Micha. „Bitte Karte einstecken, Geheimzahl eingeben und bestätigen.“ Mit zitternden Fingern, den schweren Beutel in der linken Hand, spürte Micha, wie es ihm schwer fiel jenen noch länger zu halten. Sein Arm war noch immer empfindlich. Deshalb stellte er den Beutel zwischen seine Beine und begann seine Geheimzahl einzutippen.

Als Micha dann endlich hörte, wie der kleine Drucker in der Kasse den Bon ausspuckte, spürte er ein wahres Gefühl der Erleichterung.

„Schönen Tag noch.“, war alles, was Micha noch hörte, bevor er aus dem Laden trat und, einige Straßen weiter, endlich wieder frei atmen konnte.

 

 

„Wie geht´s dir?“ „Gut.“ „Wo wohnst du jetzt eigentlich?“ „Ich habe eine kleine Wohnung gefunden.“ „Schön.“ „Ja.“, nickte Victoria, als sie Olli in dessen Flur und mit ihren restlichen Sachen in der Hand gegenüber stand.

Früher hatten sie sich nie so angeschwiegen.

Olli versuchte sich zu einem Lächeln durchzuringen. Doch eigentlich war ihm nicht danach zumute. „Und wie geht es dir so? Dein Job nimmt dich immer noch sehr in Beschlag, oder?“, fragte Victoria, als Olli sich mit der Hand am Hinterkopf kratzte. „Es geht.“ „Okay.“, nickte Victoria und lächelte verkrampft, während sie sich eine ihrer blonden, kinnlangen Strähnen hinters Ohr klemmte. „Ja… Und… Wie geht´s deiner Mutter?“ „Olli, lass gut sein.“ „Was denn?“ „Du musst kein Interesse vorheucheln.“, entgegnete sie ernst.

Zugegeben, er hatte Victorias Mutter noch nie ausstehen können. Das beruhte so ziemlich auf Gegenseitigkeit. Und ja, er hatte diese Frage gestellt, weil ihm nichts anderes eingefallen war, aber…

„Ich heuchel kein Interesse vor.“, verteidigte er sich. Doch sie glaubte ihm nicht. Sie kannte ihn einfach zu gut. „Ich mache mich dann jetzt auf den Weg.“ 

Warum war das alles nur so schwer?

„Ich…“, begann Olli und atmete schwer. „Ja?“ „Wenn ich irgendwas für dich tun kann oder wenn du etwas brauchst…“ „Ich brauche nichts. Aber danke.“, sagte Victoria, während Olli einen Stich in seiner Brust spürte. „Okay.“ „Ich muss los, Andrea wartet unten auf mich.“ „In Ordnung.“, nickte Olli schwach und beobachtete, wie Victoria die Tür öffnete und sich noch einmal zu ihm umdrehte. Nur um ihn dann einige Sekunden stumm aus blauen Augen anzusehen. „Mach´s gut.“ „Mach´s besser.“, sagte Olli noch, als sich die Tür hinter Victoria schloss und damit ein schmerzendes Pochen in seinem Herzen hinterließ.

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Tag der Veröffentlichung: 17.03.2013

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