Cover

Auf der leeren Karlsbrücke




An meine Ankunft an einem kalten Winterabend bei meinem ersten Prag-Besuch erinnere ich mich noch ganz genau. Ich kam am Freitagabend mit dem Zug aus Nürnberg an. Bei Minustemperaturen machte ich mich gegen Mitternacht gleich zur Karlsbrücke auf. Der Asphalt auf der Brücke war vereist, vielleicht war ich deshalb fast der Einzige weit und breit. Die Luft war kalt, es herrschte eine unglaubliche Stille, als würde man auf Watte gehen. Ich hatte damals keine Ahnung, dass dieses erste Mal alleine auf der Karlsbrücke auch mein letztes Mal sein würde. Seitdem ist die Brücke tags oder nachts durchgehend gesteckt voll von Touristen, wenn ich dort bin.

Auch die Zugfahrt war bemerkenswert. Es gab damals noch die Passkontrolle an der Grenze, allerdings schon von einem tschechischen und einem deutschen Beamten gemeinsam. Es gab also eine Arbeitsteilung zwischen den beiden Grenzschützern, die sich die Passagiere aufteilten, anstatt dass man von beiden nacheinander kontrolliert wurde, wie sonst an den meisten Grenzen dieser Welt üblich. Mein Sitzplatz fiel allerdings in den Bereich des deutschen Grenzers. Der zivil gekleidete Mann mittleren Alters war nicht unsympathisch. Auch verhielt er sich mir gegenüber nicht besonders aufdringlich oder unangenehm. Trotzdem waren seine Fragen, wie meiner Meinung nach bei allen deutschen Grenzbeamten, äußerst seltsam: Sind Sie zum ersten Mal in Tschechien? Was machen Sie beruflich? Haben Sie Gepäck dabei? Es war mir klar, dass es nur darum ging, bei mir Nervosität oder fehlende Deutschkenntnisse festzustellen – dann würde vielleicht etwas mit mir nicht stimmen. Das Verhalten des tschechischen Grenzers in diesem Großraumwagen wirkte im Vergleich zu der Ernsthaftigkeit und Pflichtversessenheit seines deutschen Gegenüber wie von einem anderen Planeten: Mit völlig unverstelltem Gang, mit hängenden Schultern, ließ dieser junge Mann sich oberflächlich und ohne jedes Gehabe ein paar Ausweise zeigen, bevor er sich an die Seite stellte und seinen Blick schweifen ließ. Als er zwei tschechische Mädchen im Alter von vielleicht 18 Jahren miteinander reden sah, setzte er sich zu ihnen. Seine Annäherung war nicht aufdringlich, dafür fast schüchtern. In der darauf folgenden Unterhaltung lächelte er oft verschmitzt, den Mädchen zuhörend. Er schaltete sich in ihr Gespräch vorsichtig ein, ließ die Mädchen ausreden und wartete darauf, etwas sagen zu können. Später musste er sich ein paar Mal schütteln vor Lachen, bis das Gespräch wieder ruhig wurde und schließlich ausklang, bevor er beim nächsten Bahnhof nach der Grenze wieder aussteigen musste.

Was war das für ein Land, dachte ich mir ungläubig, nachdem die beiden Grenzer uns verlassen hatten. Die Uniform hatte bei dem tschechischen Grenzbeamten nicht den geringsten Einfluß auf sein Verhalten gehabt, er wirkte ganz natürlich und unverstellt – in Deutschland wäre das völlig undenkbar! Was war das nur für ein Land, überlegte ich vor mich hin, das einen Dichter zu seinem Präsidenten macht. Ich würde es herausfinden, dachte ich mir, aber was ich in meinen ersten fünf Minuten in Tschechien gesehen hatte, gefiel mir.

Freiheit




Zur Verteidigung Deutschlands muss man allerdings hervorbringen, dass ich als Kind polnischer, zufälliger Einwanderer mein ganzes Leben das Gefühl besessen hatte, sowieso nicht dazuzugehören. Fremdsein und Anderssein prägten von klein auf mein Lebensgefühl. Während ich schon früh merkte, dass die Deutschen sich gerne in der Öffentlichkeit Luft verschafften, wenn Sie etwas ärgerte, waren meine Eltern das genaue Gegenteil: Zurückhaltend, Haltung bewahrend, ihre Emotionen im Griff oder besser gesagt für die eigenen vier Wände reserviert. Während die Deutschen morgens mit verbissener Miene zur Arbeit hetzten, verließen meine Eltern locker beschwingt, ohne Hast und verspätet das Haus, fast so, als würden sie zum Tanzen gehen. Mein Problem war nur, dass die Deutschen 99 Prozent aller Leute in meinem Umfeld ausmachten, so dass ich das Gefühl hatte, wir seien die Seltsamen, die, die aus dem Rahmen fallen.
Und dann gab es die Ausnahmen, diese Deutschen, die einen vergessen ließen, dass man in Deutschland war: Dieter und Antje aus Hamburg, die aus Frankreich Antikmöbel am Zoll vorbei schmuggelten und in Deutschland verkauften. Der Taxiunternehmer aus St. Pauli und erster Arbeitgeber meines Vaters, der meinen kaum deutsch sprechenden Vater bei jeder Gelegenheit bedingungslos unterstützte. Die Eltern meines Schulfreundes Tino aus Oldenburg, die mich mit in den Urlaub in ihr Ferienhaus in die Toskana mitnahmen, ohne mit der Wimper zu zucken und alles für mich mitbezahlten. Das war nicht das Deutschland, das meine Eltern aus der Schule im kommunistischen Polen kannten. Nazis und Imperialisten musste man hier schon gründlich suchen, wenn man welche finden wollte.

20 Jahre später in München hatte ich allerdings ein quasi-traumatisches Erlebnis, das mich alles Gute, was ich bis dahin erlebt hatte, in Frage stellen ließ. Ich war gerade in die frühere Wohnung meines Freundes Daniel in der Griegstrasse eingezogen. Daniels Eltern waren Gastarbeiter aus dem heutigen Kroatien, die auch in dem Häuserblock wohnten. Daniel hatte hier seine Kindheit und Jugend verbracht. Nachdem er sich als Musikproduzent schon einen Namen gemacht hatte, zog er mit seiner südafrikanischen Frau aus der Drei-Zimmer-Wohnung aus, um sich ein “Upgrade” im noblen Bogenhausen zu gönnen. Ich war vor ein paar Tagen eingezogen, hatte mir notwendigerweise in der teuersten Stadt Deutschlands einen Untermieter geholt, und eine Latte Möbel in Ikea besorgt. Als ich dann eines Samstags morgens mit ein paar großen Ikea-Kartons in den Hof rausging, wo die Mülltonnen standen, geschah es. Der kroatische Hausmeister des Häuserblocks war mit seinem Auto bereits losgefahren, als er mich sah und daraufhin plötzlich einen Bogen fuhr, um mich anzuhalten: “Grrrüß Gott! Die Kartons müssen's fei schon zerkleinern, gell!”, erklärte er mir in astreinem Bayerisch aus dem Autofenster heraus.

Dieser Vorfall gab mir in mehrerlei Hinsicht zu denken. Es war ja eigentlich Zufall, dass ich nach meinem Masters-Studium in Cardiff nach München zum Arbeiten zurückgekehrt war. Eigentlich wollte ich mich in meiner absoluten Lieblingsstadt London niederlassen. Nur hatte mir letztlich der Mumm gefehlt, mich dort auf eigene Faust durchzuschlagen. Und dann kam dieses Jobangebot, dass Daniel mir in München bei einem Verlag aus der Musikbranche vermittelt hatte. Wie auch immer, ich sah gewisse Vorteile an München. Einer davon war der heterogene ethnische Mix seiner Bevölkerung – viele München-Besucher sind geschockt, wenn sie feststellen müssen, dass vor allem nördlich des Mittleren Rings niemand mit Lederhosen und Tirolerhut rumläuft und die am meisten gesprochenen Sprachen in Wirklichkeit nicht Deutsch, sondern Türkisch, Arabisch, Russisch, Polnisch und Serbo-Kroatisch sind. Und wenn ich bis dahin an Kroatien dachte, dem Urlaubsland Nummer eins der Tschechen heute, dann fielen mir nur das Mittelmeer, verschlafene Inseln, geniale Fußballer wie der ehemalige 1860er Davor ¦uker und eine dem Leben zugewandte, tolerante Lebensart ein. Welch' Illusion! In Deutschland wurden selbst die vermeintlich so lockeren und lustigen Kroaten zu Müllnazis! Das Tausendjährige Reich hätte sich ohne seine vielen Unterstützer in Kroatien, Rumänien, der Ukraine und der Slowakei ja auch nie so ausgebreitet. Der gute Mann und Hausmeister wusste gar nicht, was ich mit meinen Kartons vorhatte, aber vorsorglich änderte er seine Fahrtrichtung, um mich auf das richtige Verhalten hinzuweisen. Wenn ich die Geschichte amerikanischen Freunden in Prag erzähle, höre ich immer, obgleich unter lautem Gelächter, dass das bestimmt ein Einzelfall gewesen sei. Auf diese Finte bin ich allerdings vorbereitet und habe dafür eine weitere Geschichte, die sich vier Jahre später in Berlin abspielte, parat: Als ich dort in die Steglitzer Wohnung meines Vaters einziehen wollte, fand ich diese von meinen polnischen Vormietern völlig verwahrlost und vermüllt vor. Ich musste in den ersten Tagen so viele Sachen wegwerfen, dass die Mülltonne des Hauses irgendwann voll war, so dass ich mich trotz eifriger Mülltrennung irgendwann entschloss, eine kleine Tüte mit Restmüll und ein paar Schuhe in die fast leere, riesige Tonne des Nachbarhauses zu entsorgen. Die Müllnazis handelten diesmal nicht umgehend wie damals in München, sondern ließen sich noch ein paar Tage Zeit, bevor mich eine Gruppe von sieben Leuten auf der Straße abfing, um mich für mein Verhalten zur Rede zu stellen. Ich musste mich mehrmals entschuldigen, die ganze Situation und den Hintergrund erklären, bis sich die Empörung gelegt hatte, und man sich entschied, mich laufen zu lassen.

Man kann diese Episode natürlich auch so interpretieren, dass es den Leuten in Deutschland schon wahnsinnig gut geht, wenn sie sich derartige Probleme erst selbst erschaffen müssen. In Prag sind die Leute doch zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, bei den gewaltigen Preissteigerungen der letzten Jahre. Und wenn sie sich nicht den Kopf über Existenzielles zerbrechen, genießen sie das Leben jeden Tag, so gut es geht. Daneben käme niemand auf die Idee, seine Mitmenschen über ihr vermeintliches Fehlverhalten aufzuklären. So herrscht ein Klima von Freiheit, das ich vom ersten Tag an mit Wonne genossen habe. Hier kann man förmlich die Freiheit mit der Luft einatmen. Oberlehrertum und Gesinnungsterror, wie in Deutschland an der Tagesordnung, sind den Tschechen völlig fremd.

Ein sehr erfolgreicher Unternehmer aus Starnberg mit besten Beziehungen zur bayerischen Staatsregierung hatte es mir einmal so erklärt: “Der Deutsche ist in seinem Wesen ein Bürokrat, der darin Befriedigung empfindet, seine Mitmenschen von seinem Schreibtisch aus zu drangsalieren.” Die damit einhergehenden Komplexe und der schwierige Umgang mit Fremden beziehungsweise die Scheu davor, auf Fremde zuzugehen und Kontakte zu knüpfen, war eine große Misere für ihn, erzählte mir dieser Geschäftsmann, weil sein Geschäft vom Verkauf lebte. Gute Verkäufer würde er allerdings auch in Tschechien nicht finden. Es herrscht hier das gleiche Denkmodell wie in Deutschland vor, dass Verkäufer grundsätzlich nur freundlich zu Kunden sind, wenn sie dies in dem Moment auch ehrlich damit meinen - also nie. “So bin ich halt nicht”, erklären die Tschechen ihre dauerhafte Griesgrämigkeit bei der Arbeit, ganz ähnlich wie ihre deutschen Nachbarn. “Wie geht es dir?” ist eine Frage, die während der Arbeit bei Tschechen einen Fast-Affront bedeutet. “Was interessiert den das? Bestimmt führt er irgendetwas gegen mich im Schilde!”, ist der erste Gedanke, der bei einem Tschechen mit der Frage nach dem Wohlbefinden ausgelöst wird. Im Unterschied zu den Deutschen tauen die Tschechen aber nach der Arbeit auf und widmen sich Freundschaften und persönlichen Beziehungen in einer Art und Weise, wie ich es in Deutschland nur unter Zugewanderten, dort nicht selten Tschechen, erlebt habe. Jeden Abend herrscht in den meisten öffentlichen Verkehrsmitteln, auf den Straßen und in den unzähligen Hospody

(dt.: Kneipen) eine Lebensfreude und Leichtigkeit, die deshalb umso angenehmer ist, weil sie mir gleichzeitig als ungekünstelt und authentisch erscheint.

Gleichzeitig ist das soziale Verhalten in vielerlei Hinsicht formaler als in Deutschland. Man sieht zum Beispiel noch jeden Tag Männer, die mit einem Blumenstrauß in der Hand in der U-Bahn unterbwegs sind. Was mir sofort

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Lukas Sadowski
Bildmaterialien: Massimiliano Mortillaro (außer S. 62)
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2012
ISBN: 978-3-95500-044-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Melissa

Nächste Seite
Seite 1 /