Die gläserne Höhle
Ein Märchen über Heinrich I. von Yv Mohs
Covergestaltung Yv Mohs
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Für Anja
Der junge Heinrich ritt auf seiner Stute in Richtung Westen dem Sonnenuntergang entgegen. In aller Frühe war er von der Ostgrenze des Landes aufgebrochen, um seine Familie zu besuchen. Er freute sich sehr darauf, seinen Vater den Grafen Otto und seine Mutter sowie seine Schwestern und die alte Großmutter Oda wiederzusehen. Lange Zeit hatte er bei seinem Ausbilder Dietmar verbracht, dieser hatte ihm beim Abschied auf die Schulter geklopft und gelobt: „Du hast fleißig geübt und gelernt mit Speer und Schwert umzugehen, damit hast du dir eine Woche zu Hause verdient.“
Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und er würde heute die Familienburg Gandersheim nicht mehr erreichen. Heinrich schlug sein Lager unter einer alten Weide auf, um dort die Nacht zu verbringen. Gleich in der Nähe erhob sich ein Hügel, der über und über mit dichtem Wald bedeckt war. Ein bisschen unheimlich fand Heinrich und entzündete ein kleines Feuer.
Er lehnte sich an den Stamm der Weide und sah den Flammen zu, wie sie um das trockne Holz züngelten. Seine Lider wurden schwer und er schlief ein.
Ein Rascheln riss ihn aus seinen Träumen. Das kleine Feuer war fast niedergebrannt, nur ein bisschen Glut erhellte die Nacht.
„Pssst, ich glaube, er wacht auf“, sagte ein daumengroßes, verrunzeltes Männlein mit durchsichtigen, hell schimmernden Flügeln auf dem Rücken. Der Grafensohn rieb sich die Augen, doch es war kein Trugbild. Heinrich erkannte; der kleine Kerl war nicht allein, um ihn waren noch mindestens zwanzig weitere dieser Wesen versammelt und alle hatten es sich auf Heinrichs Körper gemütlich gemacht. Manche hockten auf seiner Brust, andere lümmelten sich auf seinem Bauch und drei von ihnen saßen auf seinem Handrücken. Er wedelte mit der Hand und sie flogen alle auf.
„He, he, wie unhöflich, uns zu verscheuchen“, beschwerte sich das Männlein.
„He, he, wie unhöflich, sich auf schlafende Reisende zu setzen.“ Heinrich richtete sich auf, während sich die kleinen Wesen zu seinen Füßen geschlossen niederließen.
„Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?“
„Wir sind Sternenelfen und wohnen in der Krone dieser alten Weide, unter der du dein Lager aufgeschlagen hast. Am Tag schlafen wir und in der Nacht werden wir wach.“
„Und da habt ihr euch gedacht, wir ärgern mal den Kerl, der unter unserem Baum schläft?“
„Oh nein!“ Eine junge niedliche Elfe mit blonden Korkenzieherlöckchen flog auf und drehte einen Kreis in der Luft vor Heinrichs Nase, um dann direkt in der Luft vor ihm zu schweben. „Mein Name ist Lumina. Es tut uns Leid, wir wollten dich nicht verärgern. Wir sind eigentlich sehr scheu und zeigen uns den Menschen nicht.“
„Und warum kann ich euch dann sehen?“
„Weil …“ Die Kleine kam noch ein wenig näher geflattert und faltete die Hände vor ihrer Brust. Sie klimperte gewinnend mit ihren langen Wimpern und legte den Kopf schief. „Weil wir deine Hilfe brauchen.“
„Meine Hilfe?“
„Ja, der Baum, an dessen Stamm du eingeschlafen bist, ist unser Zuhause und wenn du uns nicht hilfst, verlieren wir alle unsere Heimat. Wir sind Hunderte und es ist nicht nur dieser Baum, der stirbt. Alle Weiden hier werden eingehen.“
„Warum sterben die Bäume?“
„Unter dem Waldhügel dort drüben lebt ein Hexenmeister. Er hat mit seiner Zauberkraft die schöne Zurega gegen ihren Willen entführt.“
„Wer ist diese Zurega?“
„Eine Nymphe. Seit er sie gefangen hält, ist das Wasser verschwunden. Sie ist der Geist des Flusses, der hier floss und der die Weiden am Leben gehalten hat. Nun ist sie weg und unsere Welt stirbt.“
„Ein Hexenmeister? Warum soll gerade ich mich darum kümmern?“
„Weil nur ein Mensch die Macht von Zauberern brechen kann.“
Im Schein der Sterne sah er zum trockenen Flussbett neben dem Baum, dann wieder zu den kleinen Sternelfen.
„Wie soll ich diesen Magiermeister finden?“
Lumina klatschte in die Hände. „Ich werde dir den Weg zeigen.“ Sie drückte die gefalteten Hände vor ihrer Brust fest zusammen, kniff die Augen zu, presste die Lippen fest aufeinander und ihre kleinen Flügel surrten schneller durch die Luft. Es machte plopp und sie leuchtete noch viel heller, als die anderen kleinen Wesen.
„Meine Enkelin!“, rief der runzlige Alte voll Stolz.
Lumina umkreiste Heinrichs Kopf. „Los komm!“, forderte sie ihn auf.
Der Grafensohn nahm sein Schwert und etwas Proviant, dann folgte er dem kleinen Licht, das vor seiner Nase her in Richtung Berg flatterte.
Lumina führte ihn zu einer Stelle, wo der Hügel steil über ihnen in den Himmel ragte. Hier wucherte sehr viel Efeu. Die kleine Elfe zeigte auf das Gestrüpp.
„Du musst die Pflanzen beiseite schieben.“ Heinrich tat es und vor ihnen zeigte sich ein dunkles schwarzes Loch, welches in den Berg führte.
Lumina flog vor ihm unter die Erde und leuchtete den Gang aus. Heinrich ging ein Stück hinein und gerade noch rechtzeitig sah er etwas im Weg stehen.
„Was ist das?“
Lumina flog um das Gebilde herum. „Sicher einer der Bauern, aus dem Örtchen flussabwärts.“
„Aber was ist mit ihm geschehen, er sieht so …“ Heinrich betrachtete ihn genauer.
„… so durchsichtig aus, meinst du wohl? Der Hexer hat ihn mit seiner Magie zu Glas werden lassen.“
Heinrich sah sich die Statue von der anderen Seite an. Der Mann war mitten in der Bewegung erstarrt, sein Mund und seine Augen waren weit aufgerissen, sicher hatte der Zauber ihn überrascht.
„Glas? Wann wolltest du mir sagen, dass er Menschen in Glas verwandeln kann?!“
„Oh, das tut er ja nur, wenn er sie entdeckt. Dir wird das sicher nicht passieren, weil … weil …“, sie überlegte, „… weil, du hast ja ein Schwert.“ Zufrieden verschränkte sie die Arme vor der Brust und nickte. Heinrich deutete auf die Hand der Glasfigur. „Er hatte ein Messer.“
„Jaaa, aber was ist schon ein Messer im Vergleich zu einem Schwert?“
Heinrich war nicht überzeugt, trotzdem setzten sie ihren Weg fort. Die Höhle wurde breiter und höher. Lumina flog nach oben, um den Raum unter der Erde zu erleuchten. Fünf Männer und zwei Frauen standen hier, ebenfalls zu Glas erstarrt. Sie waren durchsichtig und schimmerten grünlich, wie schon der Mann im Gang. Heinrich wurde flau im Magen. Er sah Lumina an. „Warum mache ich das hier noch mal?“
„Weil er die wunderbare und einzigartige Fluss-Nymphe Zurega entführt hat. Seitdem stirbt unser Baum. Auch diese Menschen hier, sind nur hergekommen, weil sie kein Wasser haben. Jeder braucht es um zu leben, Menschen Tiere und Pflanzen. Und du machst es natürlich auch, weil du mutig bist. Noch viel mutiger, als diese Bauern hier, die sich immerhin auch schon bis hier hin vorgewagt haben.“
„Du weißt, wie du mich überzeugen kannst, was?“ Natürlich wollte Heinrich mutig sein. Er straffte seine Schultern und schritt weiter. Lumina beeilte sich, wieder vor ihm zu fliegen und zu leuchten, doch bald wurde das Licht der kleinen Sternenelfe immer schwächer.
„Warum leuchtest du nicht mehr, ist es zu anstrengend?“
„Nein, nein, wir sind bald da. Hinter der nächsten Biegung des Ganges öffnet sich die Höhle erneut und dort wohnt der Hexenmeister. Ich will nicht, dass er uns entdeckt, weil ich zu viel Licht mache. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein.“
Heinrich zwängte sich an einem weiteren Glasmenschen vorbei und folgte Lumina in geduckter Haltung, auf leisen Sohlen, mit gezogenem Schwert.
Das Licht der kleinen Elfe erlosch vollends. Ganz vorsichtig lugte er mit ihr zusammen um die nächste Ecke. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Ein riesiger Saal mit hoher Kuppel tat sich auf. Hunderte Kerzen sahen sie überall verstreut; auf der Erde, an den Wänden und viele von ihnen schwebten sogar in der Luft. Die Wände der großen Höhle waren glasüberzogen, halb durchsichtig und halb spiegelten sie das Kerzenlicht. Im Zentrum des Hexerheims stand ein riesiger schwarzer Kessel auf einer gemauerten Feuerstelle. Direkt daneben wirbelte der Zauberer geschäftig zwischen dem Kochgefäß und Regalen mit gläsernen Behältern hin und her.
Einen Hexenmeister hatte Heinrich sich größer, stattlicher und irgendwie auch älter vorgestellt. Der Mann, den er beobachtete war klein, bewegte sich in gebückter Haltung und sein Gesicht war mit Warzen und Schmutz bedeckt. Die fettigen mausgrauen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. Seine Augen waren winzig und erinnerten ihn an die eines Schweins. Das Auffälligste an seinem Gesicht war jedoch eine unglaublich große Knollennase.
Er nahm Glasfläschchen verschiedenen Inhalts aus den Regalen, schüttete von manchen Elixieren alles und von anderen nur Tropfen in den brodelnden Sud im Kessel.
„… und jetzt nur noch ein bisschen Schleim von einer gesprenkelten Nacktschnecke, grüner Popel eines Bären, Alraunenpulver, ein Blatt nur von der Tollkirsche und die Asche einer verbrannten Kreuzspinne, ein Gläschen voll Bienenköniginnenflügel und das Pipi einer Kreuzotter. Ein mächtiger Trank, du wirst schon sehen!“ Er rührte mit einem großen Metalllöffel um.
Mit wem sprach er? Heinrich ließ seinen Blick weiter durch die Höhle schweifen, da sah er sie: Die Flussnymphe Zurega. Sie war eingesperrt. Gegenüber von Heinrich und Lumina war in der Rückwand des Saales ihr Gefängnis eingelassen und mit einer dicken Glasscheibe verschlossen wurden. Die Nymphe schwebte in Wasser, ihr langes hellblaues Haar umspielte ihren Körper, dessen Haut silbern schimmerte und sie sah trotz ihrer atemberaubenden Schönheit so traurig aus, dass es Heinrich tief in seinem Herzen berührte.
„Ich werde dich mit diesem Trank gewinnen! Wenn du ihn getrunken hast, wirst du bei mir bleiben müssen, denn es ist ein Liebeszauber“, redete der Hexer weiter. Er war abgelenkt und Heinrich musste das nutzen, ungesehen an ihm vorbei zu schleichen. Vielleicht konnte er Zurega so befreien. Sein Schwert am Griff fest umklammernd bewegte er sich langsam vorwärts und huschte an der Wand entlang hinter eines der Regale, von dort kroch er weiter auf allen Vieren.
Der Hexer hatte aufgehört mit Reden, das hätte Heinrich auffallen müssen, doch er merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als er hörte, wie das Wasser hinter der Glaswand in Bewegung geriet. Er sah zum Gefängnis der Nymphe, diese ließ das Wasser aufsprudeln und wies mit ihrer Hand energisch in seine Richtung, meinte aber wohl etwas, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Heinrich wusste sofort, in welcher Gefahr er sich befand. Der Magier hatte ihn entdeckt!
Schnell drehte sich Heinrich, sprang auf und hielt das Schwert vor sich.
Er sah den Hexer nur wenige Schritte von sich entfernt. Ihre Blicke trafen sich und Heinrichs Knie wurden weich, doch er wich nicht zurück. Die winzigen Augen des Magiers funkelten böse und er begann laut und grimmig zu lachen. „Du Wicht, glaubst du, du kannst mich besiegen und mir meinen größten Schatz entreißen? Was willst du mit diesem Schwert? Kannst du zaubern? Einem Magier besiegt man nur in einem Zauberduell, weißt du das nicht?!“
Der Hexer hob seinen Zauberstab in die Höhe, es zuckten Blitze um ihn herum, die sich an der Spitze des Stabes bündelten, als sauge er die Energie aus der Umgebung auf, dann schleuderte er mit dem Stab in Heinrichs Richtung und Lumina schrie erschrocken auf. Der Blitz zuckte auf Heinrich zu, der sein Schwert aufrecht vor sich hielt und den Blitz mit dessen Klinge abwehrte. Der Zauber zischte auf den Magier zurück. Er traf ihn an der Brust und von dort aus begann der hässliche gefährliche Mann durchsichtig zu werden. Er wurde zu Glas und selbst der Stab in seiner Hand, von dem der Zauber ausging, blieb davon nicht verschont.
Im selben Moment zerbrach die Scheibe, welche das Gefängnis der Nymphe verschloss. Zurega wurde selbst zu Wasser und durchfloss in einem mächtigen Schwall die Höhle nach draußen, dabei riss sie die Glasfigur des Zauberers nieder und der böse Hexer zersprang in tausende Teile. Im gleichen Augenblick fielen die schwebenden Kerzen zu Boden und all ihre Flammen, auch die der stehenden, erloschen augenblicklich. Gleich darauf gab sich Lumina größte Mühe, die Höhle zu erleuchten, damit Heinrich mit ihr zusammen diesen Ort verlassen konnte.
Auf dem Weg nach draußen begegneten sie den Bauern, die nun, nicht mehr aus Glas, ins Leben zurückgekehrt waren. Sie waren orientierungslos und Heinrich forderte sie auf, ihm und Lumina zu folgen. Draußen vor der Höhle war zwar immer noch Nacht, doch die frische Luft und der Schein der Sterne befreiten Heinrich von einer schweren Last. Erst jetzt begriff er so richtig, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Noch während er darüber nachdachte, schloss sich hinter ihnen der Eingang der Höhle, als wäre er niemals da gewesen.
Die Menschen um ihn konnten sich alle nur noch wage daran erinnern, wie der Hexer sie verzaubert hatte. Sie dankten Heinrich und Lumina für die Befreiung und machten, glücklich darüber ihr Leben zurückerhalten zu haben, sich auf, zurück in ihr Dorf.
Heinrich begab sich zusammen mit der kleinen Sternenelfe zu seinem Lager unter der Weide.
Er sah gleich, dass das Flussbett sich wieder mit Wasser gefüllt hatte und freute sich darüber fast so sehr wie Lumina und deren Verwandte sowie Freunde.
Direkt aus der Mitte des Stromes stieg die Gestalt der Zurega empor. Ihre Stimme war hell und melodisch, als sie sagte: „Ich danke dir, für die Rettung. Du hast mir und allen Wesen meiner Ufer sehr geholfen.
Höre nun, was ich dir zu sagen habe: Baue oben auf dem Berg, in dem du den Zauberer besiegt hast, eine Burg. Dort werden du, deine Frau und deine Kinder glücklich leben, wenn du später einmal König dieses Landes sein wirst.“
„König dieses Landes?“
Die Flussnymphe lächelte und ließ sich nach hinten in die Fluten gleiten, bis sich ihr Körper ganz im Wasser verlor. Er stand noch eine Weile am Ufer und dachte: ‚König? Da wird sich Zurega wohl einen Scherz erlaubt haben. Die Sache mit der Burg hingegen ist eine Überlegung wert.‘
Heinrich gähnte und rieb sich die Schläfen. „Ich merke gerade, wie müde ich bin“, sagte er zu der kleinen Elfe.
„Dann leg dich hin und schlafe, du hast es dir mehr als verdient.“
Er wickelte sich in seine Reisedecke, legte sich unter der Weide nieder und lächelte noch einmal der kleinen Elfe zu, ehe er die Augen schloss. Er hörte das Gurgeln des Wassers und das Rascheln der Blätter des Baumes, als wenn sie ein Zwiegespräch miteinander führten und schlief darüber ein.
Am nächsten Tag ritt Heinrich nach Gandersheim zu seiner Familie. Doch wenig später kehrte er zurück und ließ auf dem Hügel eine Burg erbauen.
Nach etlichen Jahren wurde er von den Grafen des Landes tatsächlich zum König gewählt und heiratete die schöne Mathilde. Sie gebar ihm auf der Burg zwei seiner Kinder und er lebte glücklich mit ihr bis ans Ende seiner Tage.
Aber manchmal, ging er ganz allein hinunter zum Fluss, setzte sich unter die alte Weide, schloss die Augen und lauschte dem Gurgeln des Wassers und dem Rascheln der Blätter.
Ende
Zurega: alter Name der Zorge
Heinrich = Heinrich I.
Die Burg = Nordhausen
Texte: Eva Marvel-Oak
Bildmaterialien: Eva Marvel-Oak
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2015
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