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Prolog

 

 

Oh je!“ Ich lief schnell zum Neptunbrunnen. Eine alte Frau stützte sich auf dessen steinernen Rand. Sie war blass um die Nase und weiße Haarsträhnen fielen zerzaust aus der Hochsteckfrisur in ihr Gesicht. Ich war sicher, sie würde jeden Moment zusammenbrechen und hakte mich schnell bei ihr unter.

Einiges kleiner als ich selbst, sah sie mich wie durch einen Schleier an.

Kann ich helfen gute Frau?“

Ja danke, vielleicht sollte ich mich setzen.“

Ich musterte die nähere Umgebung.

Da, um den Brunnen, standen drei Bänke. „Kommen Sie!“ Vorsichtig setzte ich sie auf die mittlere. Ihr Gesicht war noch immer bleich. Meine Füße wippten auf und nieder, ich reckte den Hals und ließ meinen Blick über den Hauptweg der Promenade wandern. Weder oberhalb noch unterhalb des Neptunbrunnens konnte ich einen Spaziergänger entdecken. Kein Wunder; es war Sonntagfrüh, gerademal sieben Uhr.

Soll ich Ihnen einen Arzt rufen?“ Ich griff in die Tasche und zückte mein Handy.

Nein, danke junger Mann, es geht schon wieder.“ Sie schaute auf und ihre hellblauen Augen verloren den Schleier. Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel und ihr durchdringender Blick lag auf mir. Ein Schauer durchlief mich vom Steiß den Rücken hinauf. Nicht unangenehm, aber eigentümlich. Ich zog die Schultern nach hinten.

Wie ... Wie heißen Sie? Oder besser; wo wohnen Sie? Wenn Sie möchten, bringe ich Sie nach Hause“, stammelte ich.

Mein Name ist Najeneve, wo ich wohne, spielt keine Rolle mein junger Freund. Doch wenn Ihr Euch zu mir setzen möchtet und mir etwas Gesellschaft leisten wollt, würde das mein altes Herz erfreuen.“ Ich zögerte, ließ mich aber neben ihr nieder und schaute sie von der Seite an, wie ein Päckchen Dynamit, welches jederzeit hochgehen konnte. Welche Nummer war doch gleich die für den Notarzt? Ich legte das Handy neben mir griffbereit auf die Bank. Man konnte nie wissen ...

Najeneve?“, wiederholte ich. „Ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?“

Es ist mein Name.“ Sie schaute in die Ferne und zuckte mit den Achseln. „Ich bin einfach Najeneve.“

Wieder fixierten mich ihre Augen scharf. „Früher, das ist schon eine Weile her, war ich Apothekerin. Heute nenne ich mich Erzählerin.“ Sie strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht in die Hochsteckfrisur. „Ich sitze öfter hier und manchmal will jemand meine Geschichten hören. Sie kosten nichts, außer ein wenig Zeit und ich versichere: Sie sind alle wahr.“

Aus alterstechnischen Gründen durchgeknallt’, da war ich mir jetzt sicher. „Ah ja, Geschichten.“ Hätte ich ja gleich drauf kommen können!

Ich könnte dir eine erzählen. Willst du?“

Ich hatte doch nur helfen wollen! Warum nun auch das noch?

Verstohlen fiel mein Blick auf die Uhr, die gleichzeitig ein Pulsmesser war. Ich hatte mich mit zwei Freunden zum Joggen verabredet. Egal, ich war eh viel zu früh dran.

Aus dem Augenwinkel sah ich zu ihr. Mal sehen, vielleicht konnte die Alte ja wirklich gute Geschichten erzählen.

Nun ja, warum nicht.“ Ich ließ mich schicksalsergeben gegen die Lehne der Bank fallen.

Die Alte überlegte kurz, strich ihren Rock glatt und begann zu sprechen:

„Es war einmal vor langer Zeit, ...“

Welch origineller Anfang. Ich grinste.

 

... um das Jahr 766 heutiger Zeitrechnung. Man nannte das Gebirge Harz noch Haardt, was damals ‚hart’ bedeutete. Genau das war es auch; raues Klima herrschte, der Wald war unheimlich und die Felsen schroff.

Das hat sich bis heute nicht geändert. Aber inzwischen führen geteerte Straßen durch diese Gegend, überall gibt es kleine Orte und Ausflugsgaststätten. Damals war es gefürchtetes Niemandsland.

Die absolute Stille des Winters hielt den Bergwald fest in ihrem eisigen Griff. Seit drei Tagen legte sich Flocke über Flocke, jede für sich ein kleines kaltes Kunstwerk. Mit der Zeit hatten sie eine Höhe erreicht, die einem ausgewachsenen Mann bis zum Nabel reichte. Glitzernde Eismassen, deren Gewicht schwer auf den Bäumen und Sträuchern lastete.

Von einer altersschwachen Buche rieselte Schnee. Es knackte in das weiße frostige Schweigen gefolgt von einem lauten Grollen. Der Stamm des Baumes brach auf halber Höhe. Die mächtige kahle Krone fiel umgeben von einem tosenden Schneeschleier zu Boden und blieb ein Stück weit ihrer einstigen Wurzel liegen. Ihre Äste wogten noch nach, doch die Stille war längst zurückgekehrt und der Winter setzte sein grausig schönes Schauspiel fort.

 

Im darauffolgenden Spätsommer, nördlich des Haardt - damals sächsisches Gebiet in der Nähe von Quitilingen. Schweißtriefend arbeitete der junge Mann mit dem Dreschflegel. Seit fünf Wochen tat er nichts anderes.

Er hielt inne und blinzelte zum leuchtend blauen Himmel. Mit dem Unterarm wischte er sich die hellbraunen Haare aus der Stirn, die aus dem Lederriemen im Nacken in sein Gesicht gefallen waren. Die Spätsommersonne knallte mit erbarmungsloser Hitze auf die Erde als gelte es, alles Leben darauf zu versengen. Um ihn herum flimmerte die Luft über den Roggenstoppeln seines abgeernteten Feldes.

Vor der Scheune zu seiner Rechten saß sein dreijähriger Sohn und war ganz in sein Spiel vertieft. Der Bauer sah ihm eine Weile zu, wie er kleine Steinchen hin und her schob und konzentriert vor sich hin brabbelte.

„He Arman! Bringst du mir die nächste Garbe?“ Der Kleine sprang auf und verschwand in der Scheune. Nicht lange und er kehrte mit einem der wenigen verbliebenen Getreidebündel zurück. Es war so groß wie er selbst. Mit zusammengepressten Lippen und Blick auf den Boden vor sich hielt er es hoch, um nicht zu stolpern. Sein Vater ging ihm lächelnd entgegen. Er griff ihm unter die Arme und hob ihn mitsamt der Garbe hoch über seinen Kopf, drehte sich und machte ein paar Schritte zum Dreschplatz. Er setzte Arman dort ab und ging in die Hocke. „Danke mein Kleiner. Schön, dass du mir hilfst.“ Er streichelte dem Jungen über das Haar und nahm ihm das Roggenbündel aus den Armen.

Mit wenigen Handgriffen verteilte er die Halme auf dem Boden, holte mit dem Flegel aus und schlug zu. Dreimal, dann löste sich der vordere Teil des Werkzeugs und traf mit einem lauten Knall die Rückwand des Holzhauses. Von drinnen hörte er den erschrockenen Aufschrei seiner Frau Minnegard, gefolgt vom Aufjammern seiner fünf Wochen alten Tochter.

Gerade, als die Mutter mit dem Baby im Arm um die Ecke des Hauses gesprungen kam, stieß ihr Mann einige wirklich schändliche Schimpfworte in Richtung des kaputten Flegels aus. Er hob ihn auf und betrachtete grimmig die beiden Enden des gerissenen Lederriemens.

„Das musste ja so kommen. Dabei habe ich ihn gut gefettet und dachte, diese Ernte wird er es noch machen. Zum Glück ist er keinem an den Kopf geflogen.“

Minnegard schluckte. „Nur gut, dass Arman nicht bei dir war.“

Der Bauer sah sich um. Der Kleine war wie vom Erdboden verschluckt, doch seine weitere Aufmerksamkeit galt dem kaputten Werkzeug.

„Blöd, dass wir kein Leder im Haus haben. Wie soll ich das Ding reparieren? Ich fürchte ich muss nach Quitilingen zum Gerber.“ Er hielt nach dem Stand der Sonne Ausschau. „Bis zur Abenddämmerung bin ich zurück und ich kann deiner Hebamme gleich ihren ausgemachten Lohn mitnehmen.“ Er füllte einen Sack mit Roggenkörnern.

„Mein Liebster?“

„Was, meine Blume?“ er drehte sich zu ihr. Minnegard lächelte gewinnend.

„Könntest du vielleicht ein größeres Stück Leder mitbringen?“

Er fasste sie bei der Schulter, sah ihr in die Augen und versuchte ihren Tonfall nachzuahmen: „Minnegard meine Liebste, wozu brauchst du es denn?“ Sie ignorierte, dass er sich über ihre Bettelei erheiterte, und fuhr fort, indem sie den Kopf neigte und ihn von unten herauf mit großen Augen ansah: „Schuhe!“

Er grinste. „Da musst du wohl etwas von deinem hervorragenden Käsevorrat opfern.“

„Dafür gern.“ Schon war sie auf den Weg nach drinnen, um ihrem Mann die gewünschte Tauschware zu holen.

Als sie wieder vor die Tür trat, hielt sie anstelle des Babys die eingewickelten Käseleiber im Arm.

„Bitte schön, versuch ein möglichst dickes Leder dafür zu bekommen.“

„Was sonst?“ Von drinnen brüllte das Baby nach der Brust der Mutter und Arman kam gerade dreckverschmiert um die Ecke der Hütte spaziert und strahlte seinen Vater breit an. Minnegard warf ihrem Mann ein bedauerndes Lächeln zu, griff Arman am Kragen und schob ihn vor sich in die Hütte.

„Wenn ich Widira gestillt habe, gehen wir beide zum Bach du kleiner Schmutzfink. Bis dahin fasst du hier nichts an. Klar?!“

Der Bauer sah die Tür hinter ihnen zufallen, kratzte sich an der Augenbraue und schmunzelte. Wie sehr er sie doch alle drei liebte. Er machte sich auf zur Siedlung.

Sein erster Weg führte ihn zum Haus der Hebamme. Während der Geburt seiner Tochter hatte sie ihn mit ihrem immensen Wissen schwer beeindruckt und er fand, sie war jedes Korn Getreide wert. Andererseits hatte sie eine Art an sich, die ihn verunsicherte. Schwer zu sagen warum, aber sie unterschied sich von den Frauen, die er sonst kannte. Deshalb war er froh, als er ihr den Lohn ausgehändigt hatte und sich auf den Weg zum Gerber machen konnte. Nach zähen Verhandlungen erstand er das gewünschte Stück Leder.

Ein Blick zum Himmel sagte ihm, dass noch Zeit war, bis die Sonne unterging. Gearbeitet hatte er für heute genug und es war wohl angemessen sich dafür etwas zu belohnen. In der kleinen Wirtsstube des Ortes nahm er einen guten Becher Honigwein zu sich, dann trat er den Heimweg an. Der Himmel verfärbte sich bereits orange und die Sonne stand gerade noch eine Handbreit über dem Horizont.

Er hatte das Leder zusammengerollt unter den Arm geklemmt und war mit seiner Neuerwerbung mehr als zufrieden. Es war ein wirklich schönes dickes Stück Rindsleder. Gerade richtig für einen Riemen für den Dreschflegel und Minnegard würde vor Freude außer sich sein. Er grinste bei dem Gedanken an ihr frohes Gesicht und konnte es nun nicht mehr erwarten nach Hause zu kommen.

Während er gutgelaunt seinen Schritt in Richtung Heimat lenkte, bewunderte er immer wieder das Farbenspiel des Himmels. Die untergehende Sonne färbte einige große Schleierwolken in ein tiefes dunkles Blutrot. Schlicht betrachtet bedeutete das für den morgigen Tag strahlenden Sonnenschein, zudem sah es einfach schön aus.

Eine dickgefressene Feldmaus huschte zu seinen Füßen über den Weg und verschwand im hohen Gras. Vor ihm tauchte eine Rauchsäule in der Ferne auf, die sich in den Himmel bohrte. Wer machte jetzt bei diesem trockenen Wetter ein Feuer? Je länger er darüber nachdachte, umso schneller wurde sein Schritt. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Lag nicht genau dort sein Feld, sein Haus? Minnegard! Arman! Das Baby! Er begann zu rennen. Das Leder störte, er warf es im Vorrübereilen unter ein Gebüsch.

Nach der letzten Wegbiegung konnte er es sehen: Sein Haus und die Scheune, alles brannte lichterloh. Ein riesiges Feuer mit Flammen, größer als er selbst. Er keuchte auf, als hätte man kochendes Wasser über ihm ausgeschüttet.

Qualm stand über allem und das Feuer prasselte laut. Er stand davor und wusste, dass er nichts mehr tun konnte - alles war verloren. Aber wo war seine Familie?

„Minnegard!“, rief er und lauschte kurz - keine Antwort.

„MINNERGARD!“ Schnell lief er um das Haus herum, so nah wie möglich an das Feuer heran. Ein leises Weinen drang an sein Ohr - das Baby, es war doch wohl nicht da drin?! „Oh ihr Götter!“ rief er und alle Verzweiflung seiner Seele lag darin. „Bitte nicht!“

Nein, wenn seine Tochter mitten in diesem Inferno wäre, dann würde sie nicht mehr schreien. Er horchte durch das Tosen des Feuers nach ihrem Stimmchen und entdeckte sie unweit der Stelle, wo sich einmal die Eingangstür befunden hatte. Sie lag gefährlich nah am Feuer auf dem Boden. Ihre Ärmchen und Beinchen zappelten aus dem halb um sie geschlagenen Tuch, mit der Hilflosigkeit eines auf dem Rücken liegenden Maikäfers, und sie schrie aus Leibeskräften um ihr junges Leben.

Der Vater hastete zu ihr, umfasste sie mit beiden Händen und hob sie an seine Brust.

„Oh, weine nicht mein kleiner Liebling, weine nicht ...“ ‚Alles wird gut‘, wollte er noch sagen, aber es kam ihm nicht über die Lippen. Er drückte das Kind an sich und die Hitze des Feuers zwang ihn, mehrere Schritte rückwärtszugehen, dabei verharrten seine Augen auf den alles verzehrenden Flammen. Verbrannten darin gerade Minnegard und sein Sohn?

Er fiel auf die Knie und schrie. Er brüllte ihre Namen immer und immer wieder in die Feuersbrunst und hielt sich an seiner Tochter fest, die aufgehört hatte zu weinen und mit großen Augen in die ganz in Rot gehüllte Welt blickte.

Das Haus fiel mit einem lauten Krachen in sich zusammen. Funken stoben in den Nachthimmel und der Bauer hielt den Atem an. Er konnte nicht mehr schreien, denn er hatte keine Stimme mehr. Tränen rannen über sein mit Ruß verschmiertes Antlitz und er flüsterte heiser in das Tuch, in welches der Säugling gewickelt war.

„Warum? Warum nehmt ihr sie mir weg?“

Die Flammen wurden kleiner und dunkler. Er kniete noch immer davor; erschöpft, mit einer Seele so ausgebrannt wie die Holz- und Aschereste vor ihm. Er erhob sich mit der Trägheit eines Greises. Eine bange Hoffnung stieg in ihm auf, während er mit stierenden Augen in das ausgehende Feuer späte. Er sah die Reste der Feuerstelle, konnte wage schwarzverkohlte Bruchstücke des Webstuhls ausmachen. Wenn das noch zu sehen war, dann müsste man doch auch die Reste eines Menschen ...?

Er ging näher heran. Die Angst vor dem, was er sehen könnte, hinderte ihn nicht daran, angestrengt durch die Rauchschwaden zu blicken. Nein, da war nichts, was an Knochenreste erinnert hätte. Aber vielleicht war auch einfach nichts von ihnen übriggeblieben.

Und doch - ein kleines Licht begann in seinem Herzen zu glimmen. Es war nicht groß genug, es laut auszusprechen, aber hell genug, zu hoffen.

Das Gewicht des schlafenden Säuglings lag beruhigend warm in seinem Arm. So klein sie war, sie war alles, was ihn in der letzten Nacht mit dem festen Erdboden unter ihm in Verbindung gehalten hatte. Er sah sie an und ihm wurde schmerzlich bewusst; ihr Tod war nur aufgeschoben, denn sie würde sterben ohne die Milch ihrer Mutter.

Über allem ging strahlend die Sonne auf, als wenn nichts gewesen wäre, und er hasste sie dafür.

 

Die Alte neben mir schwieg und schob ihren Hintern auf der Bank hin und her.

„Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte, oder?“

„Ganz ruhig mein junger ungeduldiger Freund, natürlich nicht.

Aber wir werden den Schauplatz wechseln. Wir gehen auf die andere Seite des Harzes.

Sicher hast du gehört von Karl dem Großen. Den Beinamen bekam er erst später. Damals war er einfach nur König Karl und er war Herrscher über das riesige Frankenreich, zu dessen Gebiet auch das Land der Thüringer gehörte.

Der Ort, zu dem ich dich bringe, heißt heute Auleben. Damals nannten die Leute ihn Awanleiba und er hatte mit dem heutigen Dorf wenig gemeinsam. Urkundlich erwähnt wurde er auch erst später, so wie fast alle Orte, von denen ich berichte. Gegeben hat es sie natürlich schon vorher. Sie strich mit den Händen erneut ihren Rock glatt und entführte mich zurück in ihre Welt:

 

1.Kapitel: Sunja

 

 

Etwa zwanzig Jahre später; man schrieb das Jahr 787 nach Christus.

Wie noch heute, war das damalige Awanleiba ein fruchtbares Fleckchen Erde. Es lag am Rand eines langgezogenen Riedsumpfes, direkt am Fuß eines Ausläufers des Kyffhäusergebirges. Einige Bauernfamilien hatten sich hier niedergelassen, um das ertragreiche Land urbar zu machen.

Sunja trat nach draußen und drückte schnell die Holztür aus groben Brettern hinter sich zu, um so wenig wie möglich von der klirrenden Kälte des Morgens in das Innere ihres Elternhauses hineinzulassen. Der Frost kroch unter den Stoff ihrer Kleider. Mit der linken Hand zog sie den Wollumhang vor dem Hals ein Stück enger zusammen.

„Brrrr, wie kalt!“ Dabei war es schon Ende März und immer noch lagen zwei Handbreit Schnee über dem Helmegau.

Gleich einer dicken Decke hatten sich die Eiskristalle über die ganze Gegend gelegt, ein Überzug, der jeden Ton erstickte. Nicht mal der einsame Gesang eines Vogels war zu hören - bedrohlich und beklemmend zugleich. Sunja dachte an die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

Die Ältesten in der Siedlung waren sich einig: Einen so langen und harten Winter hatte es seit Ewigkeiten nicht gegeben. Viele Menschen hungerten und manch einer hatte diese Laune der Natur bereits mit dem Leben bezahlt.

Sunja erschauderte und ließ ihren Blick weiter schweifen. Hinter den wenigen verstreuten Häusern lagen die kleinen verschneiten Felder, an deren Enden sich die bewaldete Hügelkette erhob. Nicht ein Windhauch strich durch die dunklen Skelette der Bäume. Dort, wo sich die dicken Zweige gabelten, lag zu Eis gefrorener Schnee. Das sah aus, wie große weiße Vogelnester. Sunja grinste bei der Vorstellung, dass sich die Küken in solchen Brutstätten wohl den Hintern abfrieren würden.

Sie sah zum Himmel, der mit grauen, eintönigen Wolken überzogen war. Ob es heute überhaupt richtig hell werden würde?

Die Bauerntochter öffnete den kleinen Holzverschlag, in dem die drei Ziegen voll Ungeduld auf sie warteten. Mit einem Meckerkonzert wurde sie empfangen. Dies durchbrach die Stille des späten Winters. Die Tiere tänzelten auf dem Stroh hin und her und schauten aufgebracht zu Sunja. Diese wusste, das Interesse der Geißen galt weniger ihr, als dem hölzernen Futtereimer, den sie in der Hand trug.

„Ja ja, ihr verfressenen Biester!“ Mit Schwung wuchtete sie den vollen Kübel über die Tiere hinweg. Die Blicke der Ziegen folgten der Bewegung des Eimers. Sie reckten ihre Hälse, nicht einen Moment ließen sie ihn aus den Augen.

„Ich möchte wissen, warum ihr jedes Mal diesen Aufstand macht. Bis jetzt habt ihr immer was gekriegt! Oder fressen meine Schwestern euch das Zeug weg?“ Sunja war nur alle sieben Tage mit dem Füttern dran. Den Rest der Woche war je eine ihrer sechs Schwestern dafür verantwortlich.

„Ich muss jedoch zugeben: Viel ist es nicht.“ Im Eimer waren Reste und Heu vom Vorjahr, das war grade genug, die Tiere am Leben zu halten. Später würde Mutter die Ziegen melken. Die Milch und was daraus gemacht wurde bereicherte den Speiseplan der Familie und half ihnen, den langen Winter zu überstehen.

Sunja schüttete das Futter in den groben Steinguttrog. Die Tiere machten sogleich leise Schmatzgeräusche und beachteten die Spenderin nicht weiter.

Während Sunja noch einen Blick auf die Gierschlunde warf, konnte sie es kaum erwarten, wieder in die warme Hütte zurückzukehren. Da hörte sie von draußen das Schlagen von Pferdehufen, welches die zurückgekehrte Stille erneut durchbrach. Wegen der Schneedecke klangen die Schritte der Tiere dumpf, aber sie waren schon sehr nah.

Sunja stellte den leeren Eimer ab. Besser, wenn sie jetzt nicht nach draußen ging. Stattdessen zog sie die Tür des Ziegenschuppens von innen zu und spähte interessiert durch die Ritzen.

Sie sah bald, wie auf dem Weg, der von Ost nach West durch Awanleiba führte, Reiter herannahten. Das Mädchen zählte elf von ihnen. Es waren die Männer von König Karl. Jener war seit dem Jahr von Sunjas Geburt alleiniger Herrscher über das gewaltige Frankenreich. Sein Vasall hatte den Kriegern befohlen, in unregelmäßigen Abständen auf den Reichsstraßen zwischen den Königs- und Reichshöfen Patrouille zu reiten. Nicht so gern gesehen waren Karls Männer im Spätsommer, wenn sie nach der Ernte den Anteil für den König forderten. Doch das war diesmal wohl kaum der Grund ihres Auftauchens.

Sunja hoffte, dass sie nur auf der Durchreise waren, damit sie sich bald aus ihrer selbst gewählten Gefangenschaft befreien konnte.

Wenn man die Soldaten nicht reizte, ging von der Patrouille keine Gefahr aus. Trotzdem war Sunjas Mutter immer sehr darauf bedacht, ihre sieben Töchter vor fremden Männern zu verbergen. Schon allein aus diesem Grund blieb Sunja im Verschlag, obwohl sie inzwischen erbärmlich fror. Für einen längeren Aufenthalt im Freien hatte sie sich nicht warm genug angezogen.

Warum Mutter nicht wollte, dass die Männer ihre Töchter sahen, hatte sie ihr nie erklärt. Doch die Aufregung, in die sie jedes Mal verfiel wenn ein Fremder auftauchte, verängstigte auch Sunja. Manchmal, wenn Vater nicht in der Nähe war, dann sagte sie eigenartige Dinge. „Nehmt euch vor Männern in acht!“, oder: „Betet für eure Reinheit!“ Sunja hatte das nie kapiert und sich auch nie getraut, es laut zu hinterfragen. Vater war doch auch ein Mann und er machte seine Sache als Oberhaupt der Familie nicht schlecht. Die Sache mit der Reinheit verstand sie noch viel weniger. Sie wusch sich schließlich täglich und hatte nicht das Gefühl, besonders dreckig zu sein.

Sunja erinnerte sich, wie Mutter sie vor einem halben Jahr erwischte, als sie sich mit dem Sohn des Nachbarn vergnügt unterhielt. Mit ein paar Ohrfeigen hatte jene ihr daraufhin erklärt, es sei anstößig und unsittlich mit einem Mann so zu reden.

„Ich wusste schon bei deiner Geburt, dass du mir nur Ärger einbringen wirst“, hatte sie hinzugefügt, während sie Sunja am Arm hinter sich her ins Haus gezerrt hatte.

Sunja wusste weder was „unsittlich“ bedeutete, noch wäre sie auf die Idee gekommen, dass der Sohn des Nachbarn ein Mann sein könnte. Bis vor Kurzen hatten sie noch miteinander gespielt, da hatte niemand etwas dagegen gehabt. Sunja fand es schade, aber nach derart schlagkräftigen Argumenten verzichtete sie lieber auf eine weitere Plauderstunde ähnlicher Art.

Die Sache mit ihrer Geburt musste sich Sunja ständig anhören, und das so lange sie denken konnte. Großmutter hingegen nannte sie, wegen dem Tag ihrer Ankunft auf Erden, immer ‚Schattenkind’. Bei ihr klang das, als wenn sie etwas ganz Besonderes wäre. Doch Mutter wollte das nicht hören. Sie schalt die Alte dafür; solche Worte seien Gottesfrevel.

Großmutter war letztes Frühjahr gestorben und Sunja war darüber noch immer sehr traurig.

 

Zu Sunjas Unmut brachten die Reiter ihre Tiere direkt vor dem Haus der Bauernfamilie zum Stehen und der Vorderste stieg von seinem Hengst. Vor den Mündern der Menschen und den Nüstern der Pferde kringelte sich der Atem in Schwaden.

Das Mädchen begann an den Nägeln zu kauen und beäugte die Fremden angestrengt durch die Spalten zwischen den Brettern.

Sie trugen lederne Stiefel und wollene Beinlinge, die mit Bändern gehalten wurden, außerdem Tunikas, die bis zu den Knien reichten und darüber ein Wehrgehänge, welches aus einem breiten Gürtel und einem ebenso breiten Riemen bestand, der quer über die Brust führte. Dieser diente dazu, den Gürtel zu halten, denn daran war die lederumwickelte Schwertscheide mit einem Eisenhaken befestigt. Sie umschloss und schützte das schwere Schwert. Außerdem gab es am Gürtel noch eine kleinere Lederscheide, in welcher sich der Sax, ein langes Messer, befand. Der Stiel der typischen Frankenwurfaxt steckte ebenfalls in den Gurten quer vor ihren Bäuchen. Einige von ihnen hatten metallene Helme mit Wangenklappen auf den Köpfen, die unter dem Kinn mit einem Riemen verschlossen waren. Sie alle trugen eine Manteldecke, die über der Schulter mit einer länglichen Fibel gehalten wurde. Auf den Pferden führte jeder von ihnen eine Lanze mit Widerhaken im Steigbügel und ein selbstbemaltes Holzschild mit sich. Die Männer sahen mit dieser Ausrüstung gefährlich aus.

Sunja hörte und sah, wie der Truppenführer mit der Faust heftig gegen die Eingangstür ihres Elternhauses schlug.

Was konnten sie von ihrer Familie wollen? In ihrer Magengrube verdichtete sich alles zu einem schweren Klumpen. Sunjas Vater war doch nur ein einfacher Bauer und sie hatten außer den drei Ziegen kaum etwas, was für die Soldaten von Interesse war.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Sunja sah ihre Mutter aus der dunklen Öffnung treten. Diese zuckte beim Anblick der Soldaten merklich zusammen. Sie machte augenblicklich eine unterwürfige Geste, indem sie den Kopf senkte, und bat den Hauptmann herein. Die Tür schloss sie hinter dem Gast und die restlichen Soldaten vertrieben sich die Zeit des Wartens, indem sie ebenfalls von den Pferden stiegen und Wegzehrung aus ihren Taschen hervorkramten. Sie sprachen kaum miteinander, nur der Schnee knirschte unter ihren Füßen.

Sunja zitterte vor Kälte jämmerlich, während sie erschrocken bemerkte, dass ein großgewachsener Soldat dem Verschlag mit den Ziegen gefährlich nahe kam. Er schaute interessiert auf das windschiefe Hüttchen, während er genüsslich das letzte mehrerer getrockneter Apfelstücke in den Mund schob. Unter seinem Helmrand wanden sich wild braune Locken hervor und Sunja konnte genau in seine blaugrauen Augen sehen, die unter den zusammengezogenen Augenbrauen ausschließlich auf den Verschlag gerichtet waren.

Er stand nun direkt vor der Tür und Sunja kroch in panischer Angst an die Rückwand des Stalls hinter die Ziegen. Sie drückte ihren Rücken gegen die Bretter. Mit angezogenen Knien schaute sie zwischen den Beinen der fressenden Tiere hindurch.

Der Soldat zog die Tür langsam auf. Sunjas Blick haftete unlösbar an einem Paar Lederstiefel. Mehr konnte sie nicht erkennen. Sie hatte aufgehört zu atmen. Es war dunkel. In dem Verschlag gab es kein Fenster. Die Stiefel verharrten einen Moment. Sunja kam es vor wie eine Ewigkeit. Dann - endlich - machten sie langsam einen Schritt zurück und die Tür wurde geschlossen. Sie hörte, wie der hölzerne Riegel von außen vorgeschoben wurde.

Sunja blies leise und langsam die Luft aus den Lungen. Obwohl sie nun gefangen war, wichen der Schreck und die Furcht.

Dem Kerl musste aufgefallen sein, dass der Riegel offen stand. Nur deshalb war er zum Verschlag gekommen. Er hatte die drei Ziegen gesehen und den kleinen Stall verriegelt, aus Sorge, dass die Tiere entwischen könnten.

‚Ein sehr aufmerksamer, aber trotzdem dummer Frankensoldat!’, urteilte Sunja. Wie konnte er glauben, dass eine arme Bauernfamilie vergessen würde, die Tür zum Ziegenstall zu schließen? Ihr nicht und keiner ihrer Schwestern wäre das jemals passiert. Schon allein deshalb, weil sie die Strafe ihres Vaters fürchteten. Eine solche Schussligkeit würde er sicher mit einer Tracht Prügel und einem Tag ohne Essen vergelten. Selbst vor ihr, seiner mit fünfzehn Jahren ältesten Tochter, würde er da nicht haltmachen.

Sunja, die gerade vor Angst ins Schwitzen gekommen war, hielt nun die Kälte kaum noch aus. Sie zitterte und rieb sich mit den Händen über die Schienbeine. Bald traute sie sich wieder hinter den Ziegen hervor und spähte erneut durch die Ritzen zwischen den Brettern.

Endlich! Sie glaubte schon, es würde nie mehr geschehen. Die Tür ihres Elternhauses wurde geöffnet. Doch nicht der Hauptmann trat nach draußen, wie Sunja erwartet hätte, sondern ihr Vater. Er schloss, ebenso wie sie zuvor, die Stube so schnell wie möglich, um die Wärme nicht entweichen zu lassen. Mit zielstrebigen Schritten kam er auf den Ziegenstall zu. Sunja versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob er Gutes oder Schlechtes von dem Hauptmann erfahren hatte. Doch seine Miene verriet nichts.

Er schob den Riegel beiseite, ohne darüber nachzudenken warum dieser von außen verschlossen war, und zog ruckartig die Tür auf.

„Komm!“ Sunja war froh, endlich wieder in die warme Stube zu können. Sie schritt hinter ihrem Vater her und konnte nicht umhin, dem jungen Soldaten, der den Stall verriegelt hatte, einen spöttischen Blick zuzuwerfen. Sie freute sich diebisch über seinen verwirrten Anblick.

 

Als Sunja den Wohnraum betrat, stand da im Schein des Feuers der Hauptmann der Soldaten. Er hatte seinen Helm abgesetzt und trug ihn unter dem Arm. Seine fettglänzenden schwarzen Haare standen in alle Richtungen. Mit seinen kleinen kohlefarbenen Augen starrte er sie unverhohlen an. Mutter saß auf einem Schemel und Sunjas drei Jahre alter Bruder krabbelte gerade auf ihren Schoss und forderte mit ausgestreckten Händchen, in den Arm genommen zu werden.

Von Sunjas sechs Schwestern war nicht eine zu sehen. Sie wusste, Mutter hatte sie in der hintersten Ecke der Behausung hinter einer Wand aus Schilf versteckt. Normalerweise war dort der Schlafplatz der Familie.

Warum hatte Vater sie aus dem Ziegenverschlag geholt? Hätte er nicht froh sein können, dass sie sich ebenfalls versteckt hielt?

„Das ist sie!“ Ihr Vater schob Sunja vor sich her in die Mitte des Raumes zu dem Hauptmann hin. Sie stolperte und wäre fast gestürzt, wenn ihr Vater sie nicht am Arm festgehalten hätte.

„Gut!“ Der Soldat kam näher und schritt langsam um sie herum. Sunjas Vater zog ihr den dünnen Wollumhang von den schmalen Schultern. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, doch sie konnte nicht sagen, dass dies an der Kälte gelegen hätte. Was ging hier vor? Warum stellte ihr Vater sie zur Schau?

Der Blick des Fremden wanderte an ihr von oben nach unten und wieder zurück. Er schaute ihr in die dunkelblauen Augen. Sie senkte die Lider. Darauf trat er hinter sie und strich langsam mit der Hand über ihre glatten fast schwarzen Haare. Sie spürte den Druck seiner Hand auf ihrem Kopf und Rücken. Sunja ballte ihre Hände zu Fäusten. Doch gegen Soldaten des Königs begehrte man nicht auf.

„Ich nehme sie!“, sagte der Hauptmann plötzlich entschlossen und durch Sunjas Körper schoss der Schreck wie ein Blitz.

„Was ...?“ Sunja schaute Hilfe suchend zu ihrer Mutter. Diese blickte sie mit einem gekünstelten Lächeln an und nickte bedächtig. Langsam dämmerte es Sunja.

„Nein! Nein, ich will nicht!“ Um ihre Worte zu bekräftigen, schob sie ihre Hände nach vorn und ballte sie noch fester.

„Sei still!“, zischte ihre Mutter. „Etwas Besseres kann dir nicht passieren!“

Sunja verspürte plötzlich den Drang davonzulaufen, doch ihre Knie wurden weich und die Beine versagten den Dienst. Nein, das hier geschah nicht wirklich, oder?

Mit vor Entsetzten weit aufgerissenen Augen und herunter geklapptem Unterkiefer, war sie zu keinem Wort mehr fähig und hatte das Gefühl, als stände sie neben sich. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass jeder Widerstand nichts nützten würde. Vater hatte das Recht, sie wegzugeben und er tat es gerade.

Sicher, ihr war klar, dass sie nicht für immer bei ihren Eltern bleiben konnte. Doch warum so plötzlich und warum nicht zu einer Familie aus Awanleiba? Dann wäre sie in der Nähe ihrer Sippschaft geblieben und hätte ihre Eltern und Geschwister zumindest ab und zu sehen können. Wohin nur würde sie dieser Hauptmann mitnehmen?

„Mädchen!“ Der Hauptmann fasste sie bei der Schulter. „Ich will dich nicht für mich.“ Sunja war sich nicht sicher, ob sie das gut oder schlecht finden sollte.

„Du kommst mit uns zum Reichshof Nordhusen. Der Müller dort sucht eine neue Frau.“

Soll er doch suchen, was hatte sie damit zu schaffen?! Trotzdem wusste sie tief in ihrem Inneren genau, welche Rolle ihr dabei zugedacht war. Aber sie konnte im Moment keine klaren Gedanken fassen. Ihr wurde nur abwechselnd heiß und kalt.

Über ihren Verstand hatte sich eine Leere der Unfassbarkeit gelegt. Somit fühlte sie sich außerstande, angemessen zu reagieren. Vielleicht hätte sie geschrien oder getobt, doch so stand sie einfach nur da und schaute die Anwesenden ungläubig an. Selbst ihre Hände hingen nun kraftlos herunter.

Hatte Mutter nicht immer gesagt, Männer seien schlecht? Warum gaben sie sie nun zu einem ganz Fremden?

Natürlich wusste Sunja, dass man die Mädchen der Familie gegen einen Obolus an andere Familien verkaufte, aber da sie die Älteste war, hatte sie das noch nie in der eigenen Familie erlebt. Dass auch ihr Vater das eines Tages tun würde, darüber hatte sie bis jetzt nie nachgedacht.

Ihre Mutter war aufgestanden. Auf dem Arm trug sie Sunjas Bruder und sie griff nach der Hand ihrer ältesten Tochter und zog sie hinter die Schilfwand. Dort setzte die Mutter diese auf einen Schemel.

Ihre Schwestern wollten Sunja mit Mitleidsbekundungen überschütten, doch Mutter brachte sie alle mit einer Handbewegung zum Schweigen. Mutter drückte den Bruder einem der Mädchen in den Arm, stellte sich hinter Sunja und entwirrte ihre Haare. Dann bearbeitete sie diese mit einem Hornkamm und flicht einen langen glänzenden Zopf. Sunja saß nur da und ließ es über sich ergehen. Ihr Gesicht war blutleer.

„Kind, du wirst gut heiraten! Ein Müller in einem Reichshof ist ein angesehener Mann. Er wird besser für dich sorgen können, als ein Bauer hier aus dem Ort. Verstehst du mich?“ Sunja nickte. Langsam begann sie zu begreifen, dass ihre Eltern so handeln mussten. Um besser denken zu können, begann sie an den Nägeln zu kauen.

„Lass das gefälligst!“ Ihre Mutter schlug ihr die Hand herunter.

„Du hast großes Glück! Du bist jetzt fünfzehn Jahre alt und es wird Zeit, dass du jemanden hast, der für dich sorgt. Er wird uns einen guten Preis für dich zahlen, mehr als wir je erwarten konnten. Das wird uns helfen, über den Rest des Winters zu kommen, ohne weiter hungern zu müssen.“ Sunja nickte abermals und diesmal verstand sie wirklich. Ihre Eltern hatten keine andere Wahl. Sie konnten dem Hauptmann seinen Wunsch nicht verwehren, selbst wenn sie es gewollt hätten, und außerdem half ihr Opfer, die Familie zu ernähren. Endlich, jetzt wo sie die Tragweite ihrer Situation begriffen hatte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie spürte die Blicke ihrer Schwestern und schämte sich.

„Zieh das an, das brauchst du auf dem Pferd.“ Mutter hielt ihr eine abgetragene Wollhose ihres Vaters hin. Sunja griff danach und stieg umständlich in sie hinein.

Mutter packte währenddessen zusammen was Sunja gehörte. Sie gab ihr das Bündel auf den Schoß. Es war nicht groß, sie besaß nicht viel. Dann nahm ihre Mutter aus einem hölzernen Kästchen eine Kette.

„Sie gehörte Vaters Mutter, deiner Großmutter. Ich gebe sie dir, weil du ihr die liebste Enkeltochter warst.“

Sunjas Blick war so verschwommen, dass sie den Schmuck kaum erkennen konnte, trotzdem nahm sie ihn gern an sich. Etwas Bleibendes von ihrer Großmutter zu besitzen machte ihr den Abschied von den Geschwistern etwas erträglicher. Ihre Mutter legte ihr das Kleinod um den Hals, dann zog sie die Tochter vom Schemel hoch und führte sie wieder zurück in die Wohnstube.

„Sie ist so weit“, sagte die Bauersfrau zu dem Hauptmann. Jener ließ einen kleinen Lederbeutel in die Hand des Vaters fallen. Ein leise klirrendes Geräusch war zu vernehmen. Was er auch immer enthielt, es war der Gegenwert einer Tochter.

„Komm noch einmal zu mir.“ Ihr Vater nahm Sunja in die Arme, doch seine Tochter konnte die Umarmung nicht erwidern. Ihr war einfach nur noch zum Weinen. Das schlechte Gewissen war ihm anzusehen, und vielleicht hängte er ihr deshalb seine alte Manteldecke über die Schultern. Diese war aus Filz und würde sie auf der Reise warmhalten. Mit einer großen einfachen alten Spange schloss er sie über ihrer Schulter. Sunja würgte noch ein „Lebt Wohl“ hervor und dann griff der Hauptmann schon nach ihrem Arm und schob sie vor sich her nach draußen in die Kälte.

 

Vor der Tür starrten die Soldaten alle in ihr verheultes Gesicht. Schnell senkte sie den Blick.

„Aufsitzen!“, befahl der Anführer seinen Männern. Die Krieger hatten lange warten müssen und schwangen sich schnell mit klirrender Ausrüstung auf ihre Tiere. Er selbst half Sunja auf sein Pferd und setzte sich hinter sie.

„Wir wollen heute noch in unsere Heimfeste kommen!“ Der Befehlshaber ritt dem Trupp voraus.

Sunja hatte aufgehört zu weinen und schluchzte noch etwas vor sich hin. Sie zwang sich, nicht zurückzusehen, aus Angst, den Anblick ihres Elternhauses nicht ertragen zu können. Der Ort, an dem sie aufgewachsen war. Sie hatte Awanleiba noch nie zuvor verlassen. Weiter als bis zum Waldrand war sie nie gekommen. Und nun? Wahrscheinlich  würde sie diesen Ort nie wieder sehen.

Rechter Hand lag der Riedsumpf, der auch an Awanleiba vorbeiführte. Links türmten sich Hügel mit Wäldern, an dessen Rand sich die Heerstraße entlang zog. Sunja sah es, doch es interessierte sie nicht. Für sie war es nur verschneites Land.

Ihre Gedanken kreisten um ihre Zukunft. Was erwartete sie in der Reichsfeste? Wie würde ihr zukünftiger Mann aussehen, was war der Müller für ein Mensch und wie würde ihr weiteres Leben verlaufen?

Als wenn der Hauptmann ihre Gedanken gelesen hätte, sprach er: „Du brauchst keine Angst zu haben. Du heiratest einen gutbetuchten Mann. Er ist Witwer und hat zwei Kinder. Sicher, er ist nicht mehr ganz jung, aber er wird gut für dich sorgen, wenn du ihm eine gute Frau bist. Er hat mir aufgetragen, ihm ein Weib zu beschaffen und mir dafür etwas Schmuck mitgegeben.

Wir sind vor etlichen Tagen aufgebrochen und auf der anderen Seite des Sumpflandes in die entgegengesetzte Richtung geritten. Ich habe mich erst nicht darum gekümmert, doch bei euch in Awanleiba musste ich dringend jemanden finden, der die passende Frau für unseren Müller hatte. Man schickte mich zu deinem Vater. Die Leute sagten, er sei mittellos und habe viele Töchter. Sicher nicht einfach für einen Bauern. Es soll dein Schaden nicht sein.“ Sunja schwieg, was sollte sie darauf sagen? Auch der Hauptmann sprach nicht weiter.

Das Einzige, was sie interessierte, von all dem was er ihr erzählt hatte war: ‚Er hat zwei Kinder’. Über Kinder und deren Betreuung wusste Sunja alles, was man nur wissen konnte. Schließlich war sie das älteste Kind ihrer Eltern und hatte sich immer um ihre Geschwister gekümmert. Sie liebte Kinder, deshalb klammerte sie sich an die Vorstellung von zwei kleinen liebebedürftigen Sprösslingen. Den Gedanken an den fremden Mann versuchte sie von sich zu schieben, was nicht gelingen wollte.

Nachdem sie schon einige Zeit unterwegs waren, ritt der Trupp an einem einsamen Bauernhof vorüber. Dort hielt der Hauptmann sein Pferd an und die anderen taten es ihm gleich. Er ließ Sunja zu Boden gleiten.

„Heh du! Nimm sie auf dein Pferd!“, rief er einem seiner Soldaten zu. Er wollte sein Reittier nicht länger mit ihr teilen und Sunja spürte, dass er froh war, sie loszuwerden. Die Wahl des Hauptmannes fiel dabei auf den jungen Soldaten, der sie, ohne es zu wissen, in den Stall gesperrt hatte. Er besitze angeblich das beste Pferd. Auch das noch! Hatte Sunja ihn doch so schadenfroh angesehen, als sie hinter ihrem Vater ins Haus stolziert war. Aber nun war sie nur noch eine verheulte Ware. Sicher empfand er ihr gegenüber Genugtuung. Sie versuchte, ihn nicht anzusehen, als er ihr auf sein Pferd half.

Der Tross setzte seinen Weg schweigend fort. Nur das Knirschen der vereisten Schneekruste unter den Pferdehufen war zu vernehmen und um sie war weitere weiße Einöde. Die kahlen Äste der Bäume ragten mit ihren dürren Fingern in den wolkenverhangenen Himmel und krallten sich in ihm fest. Nichts um sie herum war schön und in diese Erkenntnis mischte sich die Angst vor dem Ungewissen. Das trug nicht dazu bei, das Durcheinander in ihr zu ordnen.

Am späten Nachmittag ritten sie auf eine befestigte kleine Niederlassung zu.

„Ist das unser Ziel?“, wagte sie den Soldaten mit leiser Stimme zu fragen.

„Nein, das ist die Reichsfeste Sundhusen. Aber es ist nicht mehr weit.“ Sunja nickte.

Der Tross ritt an dieser Wachfeste unbehelligt vorbei. Am Wegesrand stand ein fränkischer Posten und grüßte freundlich.

Von nun an reisten sie in Richtung Norden. Sunja wunderte sich, dass sie direkt auf das Sumpfgebiet zuhielten. Doch hier war es gar nicht so feucht, wie sie vermutet hatte. Der Weg war befestigt und führte an mehreren Stellen über breite Stege. Ein paar alte Weiden und jede Menge Ried säumten ihren Pfad.

Vor ihnen lag in einiger Entfernung die Bergkette, deren Anblick Sunja schon von Awenleiba her kannte. Auf halber Strecke entdeckte Sunja eine Anhöhe, an deren Fuß sich eine weitere Feste schmiegte und am Hang darüber konnte man mehrere Häuser erkennen.

„Ist das Nordhusen?“

„Ja, das ist es.“ Der Soldat beantwortete ihre Frage bereitwillig und wurde erstaunlich gesprächig. Scheinbar lag ihm etwas an diesem Ort. „Der Reichshof wurde vor einigen Jahren zusammen mit der Feste Sundhusen erbaut und sichert diese Straßen und die Orte der Gegend. Zu diesen gehört auch Awanleiba.

Die meisten Bewohner des Reichshofs sind fränkische Soldaten. Ungefähr dreißig von ihnen, drei Hauptmänner und ein Vasall. Dieser ist dem König direkt unterstellt, er hat die Hauptbefehlsgewalt über die Feste und nimmt auch die Steuern der ganzen umliegenden Gegend ein. In dem dahinterliegenden Dorf sind eingeborene Bauern und Handwerker, aber auch hinzugezogene fränkische Bewohner ansässig. Der Ort ist vermutlich älter als die Feste. So genau weiß ich das aber nicht, solange bin ich selbst noch nicht hier.“

Das war Sunja erst mal gleich. Für sie waren sie alle Fremde, egal, ob sie von weit her oder aus der Gegend kamen. Der Weg erschien ihr plötzlich viel zu kurz, sie wäre gerne noch länger auf dem Pferd des Soldaten mitgeritten. Nicht dass ihr das besonders gefallen hätte, aber sie wollte nicht ankommen. Die Angst vor dem, was sie erwartete, stieg erneut in ihr hoch.

 

Sie ritten ein Stück an der Mauer entlang, die man zum Schutz des Hofes errichtet hatte. Dann kamen sie an ein großes Holztor, von dem ein Flügel offen stand. Davor befanden sich mehrere Wachposten. Sie trugen ähnliche Kleider und Waffen wie die Reiter und traten ohne Fragen zu stellen zur Seite, um die Ankommenden einzulassen.

Der Boden des Hofes bestand aus gestampftem Lehm, von dem man den Schnee gefegt hatte. Auf den Wegen, die hauptsächlich genutzt wurden, hatte man helle Steinplatten verlegt. Die Hufe der Pferde klapperten über diese hinweg und die Geräusche hallten von den Mauern wider.

Gleich beim Durchreiten des Tores fiel Sunjas Blick auf den eigentlichen Reichshof, ein großes Steinhaus, das in der Abenddämmerung etwas Unheimliches an sich hatte. Dort wohnte also der Vasall des Königs mit Familie und unfreien Untergebenen.

„Dort ist die Mühle. Da wirst du leben.“ Der Soldat wies auf ein Haus auf der rechten Seite des Hofes. Es stand dort ganz einsam und war teilweise aus Stein, Holz und Lehm gebaut. Ein künstlich angelegter Bach floss darunter hindurch und hielt das riesige Mühlrad in Bewegung. Sunja musste sich eingestehen, dass dieses Haus um einiges besser gebaut war als das ihrer Familie, und doch hätte sie die zugige Holzhütte ihrer Eltern dieser fraglichen Zukunft vorgezogen.

„Aber du musst noch warten, du kannst noch nicht dort wohnen, ehe du nicht mit dem Müller verheiratet bist.“ Sunja kamen diese Worte zynisch vor. Doch der Krieger hatte es so gemeint, wie er es gesagt hatte.

Der Hauptmann, welcher neben ihnen ritt, gab dem Soldaten recht und setzte hinzu:

„Ich denke, das mit dem Heiraten wird sich morgen regeln lassen. Jetzt bringen wir dich erst einmal in die Kirche.“

Sunja hatte also noch eine letzte Frist bis zum nächsten Tag. Der Soldat ritt zusammen mit ihr und dem Hauptmann zum Gotteshaus. Ein großes Bauwerk aus Stein, direkt hinter dem Reichshof. Es war vom Grundriss kleiner als dieser, doch dafür um einiges höher. Sie blickte nach oben und es begann, ihr schwindelig zu werden. Sie war beeindruckt, solch riesige Gebäude und auch noch aus Steinen hatte Sunja noch nie gesehen.

Direkt vor dem Eingang der Kirche hielten die beiden Krieger ihre Tiere an. Der Hauptmann half dem Mädchen vom Pferd des Soldaten. Dann führten beide Sunja in das Bauwerk. Drinnen war es sehr dunkel, denn es gab nur zwei ganz schmale Durchbrüche in den ungeheuer dicken Wänden. Hier war es genauso kalt wie draußen und feucht dazu. Sunjas anfängliche Begeisterung für das Bauwerk ebbte schnell ab.

Warum brachte man sie nicht in irgendeine Hütte? Hier auf dem Burghof gab es Gesindehäuser und selbst wenn man sie dort nicht haben wollte, hätte man sie in der Siedlung hinter der Feste unterbringen können. Warum also in diese große furchterregende und kalte Kirche?

„Ich werde gehen; den Müller holen.“ Der Hauptmann verließ sie durch das Portal.

Der Soldat senkte den Blick um Feuerstein und Schlageisen aus der Tasche zu holen und machte sich daran einen Funken herauszuschlagen, um Zunder zum Glimmen zu bringen. Damit zündete er eine der Talglampen an, von denen es hier gleich mehrere gab.

„Bald wirst du deinen zukünftigen Mann kennenlernen.“

Sunja nickte unsicher. Ihr Blick schweifte von dem Soldaten durch das Gotteshaus und dann zum Eingang. Es herrschte Stille in der Kirche. Der Krieger zündete mit der ersten bereits die vierte Talglampe an. Sunja beobachtete, wie er sie alle auf extra dafür vorgesehene Absätze stellte und das Innere des Gebäudes spärlich erleuchtete. Als er damit fertig war, lehnte er sich gegen die Mauer und wartete zusammen mit ihr auf die Rückkehr seines Hauptmanns.

Es war einige Zeit vergangen, als die schwere Holztür knarrend geöffnet wurde und drei Männer eintraten. Einen von ihnen kannte Sunja bereits, es war der Hauptmann. Ein Anderer hielt eine Laterne in der Hand und trug das Gewand eines Geistlichen. Sein Gesicht war hager und von tiefen Furchen durchzogen.

Der Dritte war wohl niemand anders, als der Mann, den sie heiraten sollte, obwohl sie das kaum glauben mochte. Er hatte einen kräftigeren Körperbau als die meisten anderen Männer und war dabei nicht sehr groß. Seine strohigen Haare könnten blond gewesen sein, jedoch schon vor längerer Zeit. Inzwischen hatte sich allerhand Grau darunter gemischt. Sunja versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken, doch er blieb. Sie wusste aus den Worten des Hauptmannes, dass er Witwer war. Doch so alt hatte sie ihn sich nicht vorgestellt. Er hätte ohne Weiteres ihr Vater sein können und war möglicherweise sogar noch älter als ihr tatsächlicher Erzeuger.

Aber seine Kleidung war ordentlich und sauber. Sunja sah, dass er sich frisch rasiert hatte und gekämmt war er gewiss auch, wenn man von zwei Strähnen am Hinterkopf mal absah, die sich vermutlich von einem schnöden Kamm nicht beeindrucken ließen. Seine Augen lagen abschätzend auf ihr und Sunja glaubte, seinen Blick körperlich zu spüren. Sie senkte die Lider und konzentrierte sich auf die Unebenheiten im Steinfußboden.

„Man hat mir gesagt, dein Name sei Sunja?“ Seine Stimme war kratzig und rau. Jetzt schaute sie ihn wieder an. Er hatte zumindest im Oberkiefer noch beinahe alle Zähne, stellte sie dabei trotz allem fest.

„Ja.“ Sie zwang sich, ihm weiterhin in die Augen zu sehen.

„Mein Name ist Ordo. Kannst du einen Haushalt führen?“

„Ja, das kann ich! Man hat mir gesagt, ihr habt Kinder. Auch um diese kann ich mich kümmern.“

„Um meine Kinder brauchst du dich nicht zu sorgen. Mein Sohn ist neunzehn Jahre und nicht mehr zu Hause, er dient beim Heer des Königs. Nur meine vierzehnjährige Tochter wohnt noch bei mir in der Mühle. Ich hoffe, du wirst dich gut mit ihr verstehen.“

Sunja nickte und war enttäuscht.

„Beantworte mir noch eine Frage und ich rate dir, die Wahrheit zu sagen! Bist du Jungfrau?“

Sunja überlegte. Eigentlich wusste sie nicht so recht, was ‚Jungfrau’ bedeutete. Maria war eine Jungfrau, das hatte Mutter ihr gesagt. Sie hatte den Heiland geboren, ohne bei einem Mann gelegen zu haben. Was auch immer das bedeuten mochte. Doch Sunja war sich einigermaßen sicher, dass auch sie noch nie bei einem Mann gelegen hatte, also sagte sie: „Ja.“

Der Priester schaute sie verächtlich an. Ihm hatte die Antwort zu lange gedauert. Doch Ordo ließ sich nicht beirren.

„Gut, ich werde dir morgen ein Kleid meiner verstorbenen Frau bringen lassen. Du sollst es tragen, wenn wir uns die Ehe versprechen.“ Sunja nickte zum Zeichen ihrer Zustimmung. Was hätte sie sonst tun sollen?

„Ich verspreche dir; wenn du mir ein gutes Weib bist, soll es dir an nichts fehlen. Bis morgen.“ Damit war für ihren zukünftigen Mann das Gespräch beendet. Als er durch das Portal nach draußen in die noch junge Nacht schritt, sah er so aus, als wäre er mit seiner Neuerwerbung zufrieden.

Sunja hingegen sah ihm ernüchtert nach und beobachtete, wie die beiden losen Strähnen auf seinem Haupt auf und nieder wippten. Deshalb bemerkte sie nicht, dass der Priester sie inzwischen genauer musterte. Erst, als er ihr mit der Laterne ins Gesicht leuchtete, wurde sie sich dessen bewusst. Dabei fiel der Blick des Geistlichen auf die Kette um ihren Hals.

„Was ist das?!“ Seine hohe Fistelstimme überschlug sich. „Nach dem neuen Gesetz des Königs könnte ich dich für das Tragen einer solchen Kette in den Kerker werfen lassen oder noch schlimmeres. Wie kannst du es wagen?!“

„Die ist von meiner Großmutter.“ Sunja sah ihn verstört an. Was wollte er von ihr? Es war nur eine Kette aus Ton. Nicht mal wertvoll. Sie selbst hatte sie sich kaum angesehen, als Mutter ihr das Kleinod umgelegt hatte.

„Nimm sie ab! Sofort!“ Sunja suchte den Verschluss und fummelte mit zitterigen Fingern an dem Häkchen, welches das Schmuckstück zusammenhielt. Doch sie bekam es nicht gleich auf. Der Priester griff ungeduldig nach der Kette und riss sie ihr mit einem Ruck vom Hals. Bemalte Tonperlen schossen nach unten zu Boden. Sunja bückte sich unweigerlich danach und erhaschte nur noch drei von ihnen. Mit stockendem Herzen und weit aufgerissenen Augen schaute sie den restlichen nach, wie sie über den steinernen Fußboden kullerten und hüpften. Alles, was ihr von ihrem vergangenen Leben noch geblieben war, hatte sich gerade über den Kirchenfußboden verflüchtigt.

„Steh auf!“, schrie der Alte Sunja an. Sie kam langsam nach oben. „Siehst du das? Was hat das zu bedeuten?!“

Er hielt ihr einen aus Ton gefertigten Anhänger so nah vor die Augen, dass sie den Baum, der darauf abgebildet war, kaum erkennen konnte.

„Die Kette ist von meiner Großmutter und ich weiß nicht, was sie zu bedeuten hat“, stammelte sie verängstigt. Der Priester kam ihr ganz nah und Sunja richtete ihre Augen zu Boden, um seinem stechenden Blick zu entgehen.

„Höre mir gut zu! Ich könnte dich vor ein Gericht bringen lassen. Aber wir wollen mal davon ausgehen, dass du tatsächlich nicht wusstest, dass dies ein verbotenes heidnisches Symbol ist. Das zeugt jedoch nicht gerade von einer guten Erziehung! Der Müller hat einiges für dich ausgeben müssen und davon soll er auch etwas haben.

Aber du wirst dich vor dem Altar auf die Knie werfen und Gott die ganze Nacht um Vergebung bitten. Außerdem wirst du um die Reinigung deiner Seele von der Sünde beten! Morgen sollst du geläutert den Bund der Ehe eingehen.“

Der Priester öffnete seine Hand und der Anhänger fiel zu Boden. Er setzte seinen Fuß darauf und ließ den Ton unter seinem Schuh zerbersten.

Sunja waren schon längst wieder die Tränen in die Augen geschossen. Die drei Perlen, die sie noch in der Hand hielt, schob sie unauffällig in die Tasche, die sie an ihrem Gürtel trug, damit der Priester ihr diese nicht auch noch nehmen konnte.

Der Gottesdiener griff nach Sunjas Oberarm und führte sie vor sich her zum Altar. Dort entzündete er eine weitere Talglampe. Unsanft wurde Sunja von ihm nach unten gedrückt, sie kam auf dem unebenen Steinfußboden zum Knien.

„Senke den Kopf und leiste Abbitte!“, befahl die kreischende Stimme des Priesters. „Ich werde mich morgen früh selbst davon überzeugen, dass du dich die ganze Nacht nicht vom Fleck gerührt hast. Außerdem wird immer ein Soldat da sein, um dich zu beobachten! Gute Nacht!“ Sunja wagte es nicht, den Kopf zu heben oder sich zu bewegen.

Der Priester und der Hauptmann entfernten sich. Nur der Krieger, auf dessen Pferd sie mitgeritten war, blieb zurück. Erst spät kam eine Wachablösung, um diesen von seinem langen Dienst zu entbinden.

Trotz der Bewachung war sie mehr oder weniger allein. Das erste Mal, seit sich ihr Leben so abrupt verändert hatte. Der Tag lief noch einmal an ihrem inneren Auge vorüber und blieb beim Bild ihres zukünftigen Gatten hängen. Es hätte noch schlimmer kommen können, versuchte sie sich einzureden. Er war alt, aber es schien tatsächlich so, als wenn sie während einer Ehe mit ihm keinen Hunger leiden musste. Zumindest ließ sein Leibesumfang darauf schließen.

Der Fußboden war hart und sie war müde. Die Unebenheiten der Steine drückten sich in die Haut ihrer Knie und es schmerzte zunehmend. Die Zeit wollte nicht vergehen und so bewegungslos zu verharren wurde zur Qual. Zum Glück trug sie ihre warme Reisekleidung, sonst hätte sie sicher gefroren. So war ihr nur leicht kühl.

Später griff sie in ihre Tasche und umschloss mit der Hand die drei Perlen. Es war nicht viel, was sie von dem Erbstück hatte retten können, und doch besser als nichts.

Sunja überlegte, was ihre Mutter ihr über das Beten beigebracht hatte. Für diese wäre stundenlanges Knien vor einem Altar wahrscheinlich die Erfüllung gewesen. Sunja konnte sich noch nie so richtig auf diese Dinge einlassen. Der Glaube wurde vom König befohlen und man ging eben jeden Sonntag zum Gottesdienst. Das war gar nicht so schlecht. An diesem Tag durfte man nicht arbeiten und Sunja fand, das was der Priester zu sagen hatte, immer recht unterhaltsam, jedenfalls bis zu dem Moment, wo er begann in Lateinisch zu reden. Aber das war auch schon alles.

Zum Ende der Nacht war sie soweit: Leise begann sie mit gefalteten Händen ein Gebet zu sprechen. Sicher konnte das nicht schaden. Angestrengt überlegte sie, was für Sünden sie begangen haben könnte. Doch ihr fiel nicht viel ein, deshalb verfiel sie bald darauf, für ihre Zukunft zu bitten. Sie versprach, sich zu bemühen, eine gute Ehefrau zu werden, damit Ordo gut zu ihr wäre. Dass sie mit dem Müller auskam, war für sie das Wichtigste überhaupt. Schließlich musste sie für immer bei ihm bleiben. Durch das Zwiegespräch mit Gott verflog die Zeit etwas schneller als zuvor.

Am Anfang der Nacht hatte sie noch geweint, doch nun waren keine Tränen mehr übrig. Sie beschloss, sich in ihr Schicksal zu fügen. Sunja wusste, dass es egal war, ob sie das tat, denn sie würde ohnehin nichts daran ändern können.

 

2. Kapitel: Frau des Müllers

 

 

Als der Morgen dämmerte, waren sie dahin, die Träume und Illusionen der Kindheit und ihr tat alles weh. Sunja war kalt und sie hätte so gerne wenigstens für ein paar kurze Augenblicke geschlafen.

Der Priester kam und obwohl sie ihn alles andere als mochte, konnte sie nicht leugnen, dass sie froh war ihn zu sehen, denn das bedeutete das Ende dieser entsetzlichen Nacht.

„Guten Morgen!“ Er half ihr aufzustehen. Es fiel Sunja schwer, die Beine durchzudrücken. Der ältere Mann musste sie stützen. Steif ging sie mit ihm zum Ausgang. Sunja sprach nicht, er hingegen quasselte gutgelaunt auf sie ein, als wäre die Sache vom gestrigen Abend niemals geschehen.

Er führte sie hinter die Kirche. Sunjas Blick fiel auf eine weit offenstehende kleine Holztür in der Festungsmauer. Sie war so schmal, dass gerade mal ein Mann hindurchpasste. Im Falle eines Angriffs auf die Feste wäre sie somit einfach zu verteidigen.

„Das ist der kürzeste Weg von der Feste zur Ortschaft. Nachts wird die Tür aus Sicherheitsgründen fest verschlossen.“ Der Geistliche ließ Sunja den Vortritt.

Direkt hinter der Mauer der Feste überquerten sie eine der beiden befestigten breiten Straßen, die sich hier bei der Reichsfeste kreuzten. Auf der anderen Seite standen die ersten Häuser der Siedlung. Sunja sah mit Befremden die Ortsaufteilung. Die Häuser standen frei und waren von einem Gemüse und Kräutergarten umgeben. Es gab auch Ställe. Doch warum standen diese Häuser so dicht beieinander? Es gab nirgendwo Felder. Die Bewohner konnten sich wohl kaum nur von dem bisschen Gemüse und den paar Tieren ernähren.

In Awanleiba war das anders. Die Höfe der Bauern lagen weit auseinander. Man konnte das Haus des nächsten Nachbarn zwar sehen, aber wenn man ihn besuchen wollte, musste man die eigenen Felder und die des Nachbarn durchqueren.

Sunja und der Gottesdiener bogen auf einen kleineren Weg ab, der direkt durch die Ortschaft führte und von dem kleinere Pfade zu den einzelnen Wohnstätten abzweigten. Sie durchquerten den ganzen Ort. In den Gärten, vor den Häusern aus Holz, Lehm und Stroh sah sie den einen oder anderen Bewohner. Meist schauten diese von ihrer Arbeit auf, um dem Priester einen Gruß zuzurufen. Dann blieben ihre Blicke neugierig an Sunja hängen. Fast, als wenn der Priester ein seltenes Tier mit sich führte. Sunja gab sich Mühe, nicht zurück zustarren. Auf den Strassen vor den Hütten spielten kleine Kinder Fangen.

Sie gingen den Hauptweg der Ortschaft bis zum Ende. Dort erhob sich der dichte Wald. Unter den ersten Bäumen stand die letzte Hütte. Sie war nicht sehr groß, aber solide aus Baumstämmen gezimmert und mit Lehm verschmiert. Der Priester klopfte gegen die Tür. Es dauerte etwas und der Eingang wurde von einer dunkelblonden Frau mittleren Alters geöffnet. Diese lächelte gewinnend, als ihr Blick auf Sunja fiel. Dann schaute sie auf den Geistlichen. „Guten Tag euer Hochwürden. Ihr bringt mir die Braut?“

„Ja, dies ist Ordos zukünftige Frau.“

„Gut, ich kümmere mich darum.“ Sie zog Sunja am Arm durch die Tür und schloss diese hinter ihr, ohne den Priester weiter zu beachten. Sunja war nicht böse, dass sie ihn los war.

„Ich bin Dankrun und wie heißt du?“ Endlich mal jemand, der wirklich freundlich war. Sunja mochte diese Frau vom ersten Augenblick an. Sie vernahm ein Geräusch aus der hinteren Ecke des Raums und fuhr mit dem Kopf herum. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Dann sah sie ihn.

„Das ist Einar, mein Jüngster.“ Dankrun trat zu dem Jungen und strich ihm liebevoll über die blonden Locken. Er hielt ein Stück Holz und ein Messer in den Händen und war ungefähr in demselben Alter wie Sunja.

Seine weißen Zähne blitzten aus der Dunkelheit als er den Besuch anlächelte. Sunja betrachtete ihn genauer. Er war irgendwie anders als die Jungs die sie kannte. Ja, es war sein Blick der sie irritierte.

„Ich Einar“, sagte er und nickte ihr zu. „Und du? Wer du?“

„Mein Name ist Sunja.“ Sie schaute ihn mit schiefem Kopf und krausgezogener Stirn an. Konnte er nicht normal sprechen?

„Er ist wie ein fünfjähriges Kind.“ Dankrun strich ihm eine Locke aus der Stirn und lächelte. Sunja verstand - er war nicht der Schlauste.

„Woher Du?“ Neugierig war er trotzdem.

„Aus Awanleiba.“

„Aaaah!“ Er tat so, als wüsste er ganz genau, wo und was das war. Dann schwieg er und begann wieder den Stock mit dem Messer zu bearbeiten. Seine Mutter setzte an seiner Stelle die Unterhaltung fort.

„Oh Awanleiba, das habe ich schon mal gehört. Ist es schön dort?“

„Ja sehr.“ Sunja sah ihr Dorf mit Wehmut vor ihrem inneren Auge und ihr Blick trübte sich.

„Ich verstehe, dass du traurig bist.“ Dankrun strich ihr über den Oberarm. „Aber hier ist es auch ganz schön. Wenn du dich erst hier eingelebt hast, dann wirst du schon sehen.“ Sie ging zum Tisch in der Zimmermitte.

„Schau, ich habe hier etwas Hübsches für dich. Ordo hat in aller Frühe dieses Kleid gebracht. Er war ganz gelöst und scheint es kaum erwarten zu können, dich zu heiraten.“ Dankrun hielt ein Gewand ohne Ärmel nach oben. „Wie gefällt es dir?“

Sunja kam näher und betrachtete es genauer. Das hellgrüne Kleid war mit einem dunkelgrünen Saum abgesetzt und in eben dieser Farbe mit filigranen Ornamenten bestickt. Ein derart schönes Kleidungsstück hatte Sunja tatsächlich noch nie gesehen. Sicher gab es in ganz Awanleiba nicht ein solches Kleid.

Durchaus beeindruckt befühlte sie den Stoff.

„Es ist wunderschön.“

„Ja genau! Ich muss es für dich noch etwas umändern. Aber bis zur Trauung ist noch Zeit. Du bist etwas schmaler als Ordos erste Frau. Na los, komm, zieh es an!“

Sunja beeilte sich, ihr altes Kleid und die Hose des Vaters auszuziehen. Nur ein ärmelloses Unterkleid aus Wolle trug sie noch. Dieses reichte bis kurz übers Knie. Ganz vorsichtig, um es nicht zu beschädigen, stieg sie in das grüne Gewand. Dankrun schloss es mit zwei einfachen Kleiderspangen über den Schultern. Sunja stand ganz still, mit leicht abstehenden Armen, wie eine Puppe und rührte sich nicht.

Dankrun hingegen schritt mit kundigem Gesichtsausdruck immer wieder um das junge Mädchen herum.

„Hier hinten mache ich einfach eine Naht, die den Ausschnitt etwas zusammenzieht. Um die Taille kannst du ein Band tragen.“ Sie machte direkt am Kleid einige Heftstiche, um es später besser nähen zu können.

„So, gut! Und nun leg das Tuch um.“ Sie reichte Sunja ein Wolltuch in demselben dunklen Grün wie die Borte des Kleides. Die junge Frau legte es über ihre Schultern und Dankrun befestigte eine Fibel über der Brust, um so die Enden zusammenzuhalten. Sunja schaute nach unten auf das zweckmäßige Schmuckstück, das zu dem Kleid zu gehören schien. Die Spange war aus Bronze und mit einem feinen Muster versehen. In ihrer Mitte prangte ein grünschimmernder Stein.

„Wirklich schön. Dreh dich noch einmal um!“ Dankrun sah Sunja an und war mit dem Anblick der Braut zufrieden.

„Du musst dich noch waschen und ich werde dich frisieren. Vorher werden wir das Kleid ändern.“ Sunja half ihr gern dabei. Das Kleid war schön und Dankrun war nett. Sie merkte gar nicht wie die Zeit verging, da war die Arbeit schon getan.

„So Einar, mach dass du rauskommst! Sunja muss sich waschen.“ Der Junge stand auf und reichte dem Besuch das Stück Holz an dem er gearbeitet hatte.

„Da, für dich.“ Er ließ es in Sunjas Hand fallen. Diese betrachtete das unförmige Kunstwerk.

„Danke, es ist ... schön. Was ist es?“

„Ist Hase!“ Der Stolz war Einar anzusehen.

„Aaah ja, jetzt sehe ich es auch“, log Sunja. „Es ist wirklich schön.“ Einar verließ daraufhin zufrieden grinsend die Hütte.

„Er mag dich. Er schenkt nicht jedem seine Figuren!“ Dankrun goss Wasser aus einem Eimer in einen Holztrog. Dann wusch sich Sunja mit einem Lappen und einer Seife aus Holzasche und Rindertalg. Dankrun flocht ihr später die Haare zu zwei Zöpfen, deren Enden sie rechts und links auf dem Kopf des Mädchens feststeckte.

 

Inzwischen war es Nachmittag, als es an die Tür klopfte. Dankrun bat Ordo herein. Er trat über die Schwelle und sein Blick fiel auf Sunja.

„Oh je, Dankrun, was hast du mit meinem zukünftigen Weib gemacht? Ich erkenne das Mädchen von gestern kaum wieder.“ Er wandte sich seiner Braut zu, griff nach deren Hand und sah in ihre dunkelblauen Augen.

„Sunja, du gefällst mir. Du wirst mich zum glücklichsten Mann auf der Welt machen und das in meinem Alter.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„Dankrun, du entschuldigst uns, der Priester wartet bereits in der Kirche. Wenn du möchtest, kannst du mitkommen.“

„Ich würde wirklich gern, aber ich habe noch viel zu tun. Meine beiden älteren Söhne wollten trotz des Wetters nach dem Feld sehen, und ehe sie heimkommen, will ich mit allem fertig sein.“

Ah ‚Feld’, es gab also doch Getreideanbau hier in Nordhusen. Es hätte Sunja auch gewundert, wenn dem nicht so gewesen wäre. Schließlich sollte sie ja einen Müller heiraten und was machte ein Müller ohne etwas zu mahlen?

„Ordo, ich hoffe, du erlaubst deiner Gemahlin, mich hin und wieder zu besuchen. Sie ist sehr nett.“

„Das werde ich. Komm meine Braut!“ Er hielt Sunja seine rechte Hand entgegen. Sie zögerte einen Moment, dann griff sie langsam danach. Nebeneinander gingen sie durch den Ort nach unten zurück zur Feste.

„Wo ist das Feld von dem Dankrun gesprochen hat?“

„Nach der Trauung werde ich dir alles zeigen. Die ganze Reichsfeste, die Felder und natürlich dein neues Zuhause.“ Sunja nickte und konnte es kaum erwarten.

Sie ging neben ihm und spürte seine Hand in der ihren. Sie war warm, groß, kräftig und rau - die Hand ihres baldigen Ehemannes. Bestimmt würde er mit diesen Händen in der Lage sein, gut für sie zu sorgen und sie zu beschützen, versuchte sie sich einzureden. Es gelang ihr, denn sie hatte sich eigentümlicherweise seit dem Aufbruch von Awanleiba nicht mehr so geborgen gefühlt, obwohl sie noch immer Angst vor ihrem neuen Leben hatte. Aber vielleicht wurde doch noch alles gut.

Währenddessen waren sie am Kirchenportal angelangt. Dort stand nur ein junges Mädchen in ungefähr demselben Alter wie sie selbst. Sunja wusste sofort wer sie war. Sie hatte hellblonde Haare, wie ihr Vater sie gehabt haben musste, und sehr helle blaue Augen. So blau wie der Himmel an einem kalten Wintersonnentag. Dabei war sie ausnehmend hübsch. Das hatte sie wohl nicht von ihrem Vater, sondern eher von ihrer verstorbenen Mutter geerbt. Ihre Haare wurden am Hinterkopf mit einer Spange gehalten und sie trug ein zimtfarbenes Kleid, welches Sunjas Hochzeitskleid nicht an Schönheit nachstand.

Auf ihrem Gesicht lag ein breites Lächeln. Sie lächelte die ganze Zeit, aber nur auf ihrer unteren Gesichtshälfte. Ihre Augen lächelten nicht. Es war eine aufgesetzte, erstarrt grinsende Maske. Sie schaute auf Sunja und eine Kälte ging von dem hellen Blau ihrer Augen aus, dass es die Braut fror.

‚Oh je!’ Sunja hoffte, dass sie sich mit ihr verstehen würde, wenn sie einander erst kennengelernt hatten. So etwas wie eine Freundin könnte sie jetzt wirklich gut gebrauchen.

„Das ist meine Tochter Nada. Meine Frau und ich waren mit Kindern nicht gerade gesegnet, darum gaben wir ihr diesen Namen. Er bedeutet Gnade. Wir haben ihre Geburt als solche empfunden.“ Sunja nickte ihr freundlich zu.

„Sei gegrüßt Nada. Ich bin Sunja.“

„Aber du wirst Mutter zu ihr sagen!“, bestand Ordo. Seine Tochter verzog das Gesicht, aber widersprach nicht. Sunja war es ebenfalls unangenehm. Wie sollte sie mit ihr auskommen wenn Nada sie mit Mutter anreden musste?

Zu dritt betraten sie die Kirche. Der Priester wartete tatsächlich. Mit Verachtung schaute er auf die Braut. Was ihm an ihr nicht gefiel, war dabei nicht ganz klar. War es die Sache mit der Kette oder gefiel ihm nicht, dass sie so ausstaffiert war?

Das wusste nur er selbst.

„Ordo kommt, wir wollen beginnen!“ Ungeduldig trat der Gottesmann von einem Bein auf das andere. Hand in Hand schritt der Müller mit seiner Braut in die Kirche vor den Altar.

Die Zeremonie selbst war kurz. Sie reichten einander die Hände und gaben sich das Eheversprechen. Danach erteilte der Diener Gottes den Segen. Nada stand etwas abseits und zwei Bauern des Ortes waren Zeugen der Eheschließung. Es war nicht wirklich feierlich und die Braut war enttäuscht. Als Sunja die Kirche wieder verließ, war sie immerhin die Frau des Müllers der Reichsfeste Nordhusen. Das klang noch sehr ungewohnt.

Ordo und Sunja gingen später, wie er ihr versprochen hatte, durch den Reichshof. Als Erstes zeigte er ihr den Garthof in dem die Apfelbäume wuchsen. Doch diese waren im Moment noch kahl und Schnee lag auf der Wiese darunter.

„Im Frühling ist es hier schön“, sagte Ordo. Sunja glaubte ihm gern, sie konnte sich vorstellen welche Blütenpracht dann die Bäume trugen.

In dieser Richtung war die Feste nur durch einen Wall gesichert. Ordo half Sunja darüber hinwegzusehen.

Dort waren sie, die Felder der Bauern. Schön ordentlich, wie weiße Handtücher lagen sie vor ihr ausgebreitet. Man konnte von hier weit in den Helmegau blicken. Keine Bäume, nur linkerhand am Hügel begann der Wald. Sunja stieg nach unten. Sie rieb sich die Hände und schob sie unter ihr Schultertuch.

„Frierst du?“ Ordo legte seinen Arm um ihre Schulter und sie verließen den Garthof. Sie durchquerten die Hütten der Soldaten, die hier vor dem Eingang zum Apfelbaumgarten standen, und dann hatten sie einen guten Überblick über den ganzen Hof.

Die Feste war in Richtung Norden und in Richtung Westen von zwei Mauern umschlossen. An diesen beiden Einfassungen führten draußen die zwei wichtigen, sich kreuzenden Reichsstraßen vorbei. In der Westmauer befand sich das große Holztor durch das sie geritten waren, und in der anderen war die kleine Tür eingelassen, die zu dem Ort oberhalb der Reichsfeste führte.

Von Osten kamen sie gerade her, dort lagen die große Wiese mit den Apfelbäumen und der Wall mit den Feldern dahinter.

Sie gingen jetzt nach unten in Richtung Süden, dort war die Feste durch den Mühlbach und den dahinter liegenden Fluss, der Zurrega, eingegrenzt. Es war eine Sumpflandschaft, die nur schwer zu überwinden wäre, wenn man die Festung aus dieser Richtung angreifen wollte.

Dort am Mühlbach, am unteren Rand der Feste gelegen, befand sich die Mühle, die Sunjas neues Zuhaue werden sollte. Vor dem Haus befanden sich ein Stall mit Kaninchen und ein Auslauf für die Hühner. Ordo zeigte ihr noch seine zwei Schweine und ein kleines, aber kräftiges Pferdchen. Sunja streichelte diesem über die Nüstern.

„Das ist Odin. Er trägt für mich die Säcke mit dem Mehl und dem Korn zwischen Mühle und Siedlung hin und her.“

Der untere Teil der Mühle war aus hellgrauem Stein gemauert. Er beherbergte Ordos Arbeitstätte; das Innenleben der Mühle. Ordo meinte, das sei für sie weniger interessant und sie könne es sich in den nächsten Tagen immer noch ansehen. Sunja war da ganz und gar anderer Meinung. Nur zu gern hätte sie gewusst, wie die Mühle funktioniert. Doch sie wollte ihm nicht gleich am Anfang widersprechen.

Der obere Teil des Hauses bestand aus Fachwerk. Sie stiegen an der Außenwand eine Steintreppe nach oben zu einer Holztür. Es gab kein Geländer und Sunja musste achtgeben, nicht hinunterzufallen.

Sie traten durch die Tür und Sunja sah sich um. Vor ihren Augen tat sich eine große Wohnstube auf. In der Mitte war ein dicker Balken, der vom untern Stockwerk herauf bis zum Dach des Hauses reichte. An ihm befanden sich jede Menge Haken, an denen etliche Kleidungsstücke hingen. Linker Hand waren zwei Lattentüren. Ansonsten gab es keine weiteren Räume. Ein kleines Fenster sah sie auf der gegenüberliegenden Seite. Dieses war jedoch bei der Kälte, die draußen herrschte, mit Holzläden und Fellen verschlossen. Somit erhellten nur die Feuerstelle und ein Kienspan das Innere des Zimmers.

Ordos Tochter begrüßte beide knapp. Sie schien schon auf sie gewartet zu haben.

„Nada wird dir später zeigen, wo sich alle Haushaltsgegenstände befinden. Es wird jetzt dunkel und morgen ist dafür noch genug Zeit. Ihr beiden solltet das Abendessen richten.“

Sunja bereitete mit Nada gern das Nachtmahl zu. Obwohl es schon seltsam war, dass ihre neue Verwandte nicht ein Wort mit ihr sprach.

Am Tisch wurde auch kaum gesprochen. Sunja wunderte sich, als Nada nach dem Essen aufstand, sich einen Umhang überwarf und ohne ein Wort zu verlieren, das Haus verließ.

„Sie schläft bei Dankrun“, erklärte Ordo. Sunja verstand nicht warum. Sie erhob sich und räumte das Essgeschirr zusammen.

„Lass das, wir gehen jetzt schlafen!“ Ihr neuer Mann lächelte zweideutig und das beunruhigte Sunja.

Nur widerstrebend folgte sie ihm in die linke der vom Wohnraum abgetrennten Kammern. Aus Decken und Fellen war dort ein Lager ausgebreitet.

Ordo befestigte den Kienspan in einer Spalte zwischen den Brettern der Wand. Dann zog er sie am Oberarm zu sich heran und strich mit der Hand über ihre Wange hinunter zum Hals, bis zum Ausschnitt ihres Kleides. Er drückte seinen Mund auf den ihren und ließ seine Zunge zwischen ihre Lippen gleiten. Sunja wich zurück.

„Zieh das Ding aus!“, befahl er und grinste.

Sunja hatte kein gutes Gefühl, sie löste trotzdem ungelenk das Lederband und die Fibeln. Sie ließ das Oberkleid über die Schultern nach unten fallen, hob es auf und legte das kostbare Gewand auf einen Schemel. Der Müller beobachtete jede ihrer Bewegungen und ließ seinen Blick gierig über ihren Körper schweifen. Unter dem Stoff des Wollunterkleides waren dessen Konturen deutlich zu erkennen. Sunja konnte seine Augen auf sich spüren.

Seine Hände umfassten ihre Schultern. Mit leichtem Druck schob er Sunja zum Lager.

„Leg dich hin!“ Seine Stimme duldete keinen Widerstand. Sunja gehorchte und legte sich verängstigt nieder. Eine der Decken zog sie über sich und sie sah, wie Ordo im flackernden Schein des Kienspans seine Leinentunika auszog.

Sein Oberkörper war von grauen Haaren übersäht. Selbst auf dem Rücken standen sie in die Höhe. Unter einem kleinen Bauchansatz öffnete er den Knoten der Kordel, die das Beinkleid am Leib hielt. Er beeilte sich, dies abzustreifen. Vollends nackt stand er dann vor ihr.

Sunja konnte einfach nicht ihren Blick von seiner Körpermitte wenden, obwohl sie es gewollt hätte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf sein in die Höhe ragendes Geschlechtsteil, welches über seinem dunklen Hoden aus einem Busch grauer geringelter Haare hervorstand.

Noch nie hatte sie einen Mann nackt gesehen. Nur weil sie ihren Bruder hin und wieder versorgt hatte, wusste sie überhaupt von dem gravierenden Unterschied zwischen den Geschlechtern. Doch bei ihrem Bruder sah dieses Ding viel kleiner und harmloser aus.

Ordo erfasste ihren Blick und ihm wurde klar, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. Einen Moment lang sah es so aus, als wenn er mit sich rang. Doch mit einer Handbewegung wischte er dieses Gefühl weg und ein anderer Drang bemächtigte sich seiner umso mehr.

Er entzündete einen neuen Span, den er in eine Ritze im Boden steckte, direkt neben dem Lager. Das andere Hölzchen war fast heruntergebrannt, darum löschte er es.

„Die brauchen wir jetzt nicht.“ Er zog ihr die Decke weg und beugte sich langsam über sie. Sunja schaute ihm angsterfüllt entgegen. Sie hatte ihre Arme vor sich über die Brust und den Bauch gepresst und auch sonst spannte sie jeden Muskel ihres Körpers an.

Ordo versuchte mit der Hand, unter den Arm zu gelangen. Sunja drückte diesen noch fester gegen sich.

„Wehre dich nicht! Ich bin jetzt dein Mann. Lieg einfach nur still, dann wird es schon nicht so schlimm werden!“

Was würde nicht so schlimm werden? Gegen was sollte sie sich nicht wehren? Sunjas Angst stieg. Er hatte sie bezahlt und geheiratet. Sie gehörte mit Haut und Haaren ihm.

Ordo hatte nach ihrem Handgelenk gegriffen und zog ihren Arm nach unten weg. Auch den zweiten schob er gegen den Widerstand Sunjas neben sie. So schwer es ihr fiel, versuchte sie zu befolgen, was er ihr gesagt hatte. Sie lag so still sie konnte und schaute hinauf zum Dachgebälk, um Ordo nicht ansehen zu müssen. Ihre Hände hatte sie rechts und links in die Decken gekrallt. Immer noch war ihr ganzer Körper angespannt.

Ihr Ehemann krallte seine Finger grob durch den Stoff hindurch in das Fleisch ihrer Brüste und fuhr dann an ihrer Seite über die Wolle des Unterkleides nach unten. Das Kleid reichte ihr bis knapp über die Knie. Er fasste unter den Saum und schob diesen nach oben. Sunja biss die Zähne fest aufeinander. Ordo schob ihr den Stoff bis weit über den Bauch und ließ dann seine Hand wieder unter das Kleid über ihre Brüste gleiten. Er drückte fest zu und es tat weh. Sunja sog vor Schmerz und Unbehagen die Luft scharf durch die Nase und drückte ganz fest die Augenlieder zu. Sie konnte ihn nicht ansehen, seine Berührungen waren unerträglich, widerten sie an und sie hoffte noch immer, dass er bald damit aufhören würde.

Während sie seinen angestrengten Atem auf ihrem Gesicht spürte, versuchte er mit dem Knie zwischen ihre Beine vorzudringen. Doch Sunja konnte nicht anders, als ihre Knie gegeneinander zu pressen, sodass ihr die Knochen wehtaten.

„Du sollst dich nicht wehren!“, keuchte Ordo drohend und mit Gewalt und aller Kraft schob er sein Bein zwischen die ihren. Während er mit seiner Pranke die Innenseite ihres Oberschenkels empor strich, zog er das andere Bein nach. Sie zog noch immer ihre Knie nach innen. Mit der Hand betastete er ihre Scham.

„Nein, nicht! Bitte!“, bettelte sie leise und Tränen begannen ihr in die Augen zu steigen.

„Stell dich nicht so an, du hast es bald hinter dir!“ Er legte sich auf sie und sie spürte sein steifes Glied an der Innenseite ihres Beins.

„Nein! Nein, bitte nicht!“, schrie sie und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen ihn, so sehr sie konnte.

„Oh doch!“, sagte er entschlossen und griff nach ihren Handgelenken. Mit seinem Oberkörper drückte er sie nach unten, während sein Stachel sich in Sunjas Unterleib bohrte. Sie schrie auf, vor Entsetzen, vor Scham und vor allem vor Schmerz. Er ließ ihre linke Hand los, um ihr den Mund zuzuhalten, während er erneut in sie eindrang.

Sie kratzte mit der Linken über seinen Rücken. Entnervt traf seine rechte Faust auf ihre linke Gesichtshälfte und dann noch einmal auf die unteren Rippen in die Seite. Sunja blieb einen Moment die Luft weg, ihren Widerstand brach er nicht. Doch sie schrie danach nicht mehr so laut und heulte nur noch. Wieder griff er nach ihrem Handgelenk und drückte es nach unten.

Er bewegte sich rhythmisch über ihr. Sunja war verkrampft bis in den letzten Winkel ihres Körpers. Es fühlte sich an, als würde er immer wieder in die Wunde stechen, die er ihr zugefügt hatte.

Sie sah sein vor Schweiß triefendes Gesicht über sich und sie hörte seinen schnellen keuchenden Atem. Es war schmerzhaft und ekelerregend. Sie würgte und ihr war so unendlich übel, dass sie Mühe hatte, sich nicht zu übergeben, während ihr linker Wangenknochen und die Rippen von den Hieben immer noch schmerzten.

Er verzog das Gesicht, stieß noch heftiger in sie, dabei brummte und knurrte er wie ein Tier. Nach einem besonders heftigen und tiefen Eindringen ließ er plötzlich von ihr ab. Er rollte sich von ihr und lag schwer atmend neben Sunja auf dem Lager.

Immer noch weinend, zerrte sie ihr Kleid nach unten, rollte sich zur Seite, mit dem Rücken zu ihm und zog die Beine an. Ihr Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.

Nach einer Weile regte sich Ordo. Er nahm eine der Decken und breitete sie über Sunja aus.

„Es tut mir leid. Ich ..., aber warum hast du dich auch so blöd angestellt!“ Sie reagierte nicht. Ihr Jammern wurde leiser und Ordo wollte ihr über das dunkle Haar streichen, doch plötzlich getraute er sich nicht, sie zu berühren. Er drehte sich von ihr weg, löschte das Feuer des Spans und schlief kurz darauf ein.

Sunja hörte sein Schnarchen. Sie hatte begonnen an den Nägeln zu kauen und fühlte sich unendlich elend. Wie konnte er nur so ruhig schlafen nach alle dem? Wie sollte sie nur noch einen Tag mit diesem Mann zusammenleben können? Dabei hatte sie sich doch Mühe gegeben. Sie wollte eine gute Ehefrau sein, das hatte sie sich in der Nacht zuvor in der Kirche vorgenommen.

Als sie am Nachmittag auf dem Weg zum Altar ihre Hand in seine raue Pranke legte, da hatte sie so etwas wie Fürsorge gespürt und sich auf seltsame Weise geborgen gefühlt. Niemals wieder könnte sie das verspüren wenn er sie berührte.

Ihr Körper schmerzte innen wie außen. Als sie ganz sicher war, dass er tief schlief, kroch sie vom Lager, öffnete behutsam die Tür und trat aus der Kammer. Sie durchquerte die Wohnstube und ging nach draußen. Vorsichtig stieg sie mit wackligen Beinen und zitternden Knien die Stufen nach unten und schaute um die Gebäudeecke.

Beim Tor sah sie Soldaten im Schein einer Fackel. Doch diese waren weit weg. Sicher hatten sie Sunja nicht entdeckt. Außerdem lag die Mühle im Dunkel. Barfuss im Unterkleid huschte sie durch den schmutzigen Schnee hinter das Haus, dorthin, wo sich tags das Mühlrad drehte. Sie griff mit der Hand in die weiße Masse und kühlte ihre linke Gesichtshälfte. Dann raffte sie ihr Gewand noch etwas höher und stieg in den Mühlbach. Obwohl er kalt wie Eis war, spürte sie das anfangs kaum. Es war ihr egal. Sie wollte einzig den Schmutz von sich waschen den er über sie gebracht hatte. Fast zwanghaft spülte sie ihn aus sich heraus.

Als sie aus dem eisigen Wasser emporstieg hatte sie das Gefühl, ein Stück ihrer Würde zurückgewonnen zu haben.

Auch wenn es ihr widerstrebte, begab sie sich zurück zur Treppe der Mühle. Wohin sonst hätte sie gehen sollen? Dies war jetzt ihr Zuhause. Es gab nur zwei Wege für sie; erfrieren oder wieder dort hineingehen.

Am Morgen schauten Ordo und Sunja einander nicht an. Nebeneinander saßen sie schweigend am Tisch und frühstückten. Sunja hatte kaum etwas gegessen als Nada von Dankrun zurückkam. Sie schaute zu Sunja und sah mit Sicherheit deren roten geschwollenen Wangenknochen, ließ sich aber nichts anmerken. Sunja war froh über ihr Erscheinen. Nicht lange danach zog Ordo seinen Mantel über und ging nach unten, um seine Arbeit zu erledigen.

 

„Was soll ich jetzt tun ... Mutter!?“ Sunjas Lächeln erstarb und ein kalter Schauer lief ihr über den Nacken beim Klang dieser höhnischen Worte. Denn sie spürte, welche Überwindung es Nada gekostet hatte, sie auszusprechen.

„Nada, ich lege keinen Wert auf diese Bezeichnung. Ich weiß wie du, dass sie albern ist. Wenn du mit mir allein bist, musst du sie nicht gebrauchen. Im Gegenteil, es würde mich freuen, wenn du einfach Sunja zu mir sagst.“

„Mein Vater wünscht, dass ich ‚Mutter’ zu dir sage, also werde ich es tun. Oder willst du, dass ich mich dem Wunsch meines Vaters widersetzte?“ Nada schwieg einen Moment, um ihre Worte wirken zu lassen und fuhr dann fort: „Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass du mir diesen Vorschlag gemacht hast und du so bereits am ersten Tag eurer Ehe seine Anordnungen missachtest.“

„Tu, was du nicht lassen kannst!“ Sunja war verärgert und wollte sich nicht von ihr drohen lassen. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. „Du könntest mir aber vorher noch zeigen, wo im Haushalt alles liegt.“

Nada flötete mit zuckersüßer Stimme ein „Gern“ und half ihr, Wasser aus dem Mühlbach zu holen, die Holzteller abzuwaschen und an den rechten Ort zurückzustellen. Danach machte Nada mit Sunja einen Rundgang durch die obere Etage der Mühle und erklärte ihr alles, was sie wissen musste.

„Unten in der Mahlstube gibt es nichts Interessantes zu sehen. Mein Vater wird sie dir aber sicher gern zeigen, wenn du ihm das Essen bringst.“ Nadas Feindseligkeit vom Morgen schien verschwunden. Sunja vermutete, dass Ordos Tochter ebenso wie sie selbst mit der neuen Situation in ihrem Leben etwas überfordert war.

Mittags brachte Sunja Roggenbrot und Rübensuppe nach unten in die Mahlstube. Diesen Gang anzutreten, kostete viel Überwindung.

„Sehr schön“, freute sich Ordo. Er musste laut sprechen, damit sie ihn verstand, denn das Mahlwerk machte ordentlich Krach. Er nahm ihr das Essen ab und tat so, als wäre zwischen ihnen nichts vorgefallen. Sunja entschied, es besser ebenso zu halten.

Während er aß, schaute sich Sunja verstohlen um. Ein kleines schwarzweißes Kätzchen schlich durch die Mühle und ein gestreiftes schlief in der Ecke. Sunja hob die gestreifte auf den Arm und kraulte ihr den Kopf. Das Tierchen ließ es sich gefallen. Ordo betrachtete sie dabei aus dem Augenwinkel, während er sich einen großen Löffel Suppe in den Mund schob.

„Wie ... heißen die beiden?“ Auch wenn es ihr schwerfiel, das zu akzeptieren: Er war und blieb ihr Mann und sie musste irgendwann mit ihm sprechen.

„Katzen! Sie haben keinen Namen. Aber ich brauche sie gegen die Mäuse. Wenn du willst, kannst du ihnen Namen geben“, antwortete er versöhnlich mit vollem Mund.

Sunja ging mit dem Tierchen auf dem Arm durch die Mahlstube und schaute auf die sich drehenden Räder.

Nachdem Ordo den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte, stand er auf und nahm ihre Hand. Sie zuckte unter der Berührung zusammen und ließ das Kätzchen nach unten springen.

„Komm, ich werde dir alles zeigen.“ Er ging darin auf, ihr alles zu erklären. Auf Dauer konnte Sunja nicht leugnen, dass es sie tatsächlich interessierte. Ordo merkte das schnell und holte mit seinen Erklärungen immer weiter aus.

„Das ist die Welle, die mit dem Mühlrad verbunden ist. An ihr ist dieses andere Rad befestigt. Es ist aus Holz und man nennt es Zahnrad. Siehst du? Wegen dieser Zacken hier. Es ist abgeschrägt und greift so in das andere Zahnrad, welches dann unten den Mühlstein bewegt. Ganz einfach, verstehst du?“ Sunja nickte und schaute auf das Mahlwerk.

„Der untere Stein ist glatt, der obere hat Kerben.“ Er zeigte mit der Hand darauf. „Ich werde wohl bald einige der Soldaten bitten müssen, damit sie mir helfen den oberen der beiden Mühlsteine herunterzuheben und umzudrehen.“

„Wozu das?“

„Ich muss ihn schärfen. Das ist schwere Arbeit. Mit einem Meißel aus Metall und einem Holzhammer muss ich die Rillen nachbearbeiten, damit die Mühle weiterhin gut mahlt.“

„Wirklich? Ich hatte keine Ahnung, wie eine Mühle funktioniert. Das ist spannender als ich dachte.“ Sunja legte ihre Hand leicht auf den oberen sich drehenden Mühlstein.

„Ja, nicht wahr?! Obwohl das Kerbennachziehen nicht einfach ist und das Schleppen der Korn- und Mehlsäcke mir auf die Knochen geht, mag ich diese Arbeit“, geriet er ins Schwärmen. „Es ist die Mechanik und die Wartung der Mühle, was mir so große Freude macht.“

„Ich glaube, das verstehe ich.“ Sie nickte und griff nach der Holzschüssel und dem Löffel aus Horn. Ordo war doch auch Mensch und nicht nur nächtliches Ungeheuer, so schien es ihr.

In der nächsten Nacht ließ er sie in Ruhe und Sunja war froh, einfach schlafen zu können, denn sie hatte dies zwei Nächte lang nicht getan. Doch am Abend darauf strich er ihr vorsichtig über den Arm.

„Sunja?“ Sie lag steif wie ein Brett neben ihm und das pure Grauen bemächtigte sich ihrer. Sie wusste, er würde ihr erneut Gewalt antun und dies wahrscheinlich immer wieder, solange sie zu ihm gehörte. Aus Mensch würde wieder Tier werden.

„Bitte schrei nicht und wehre dich nicht. Nada schläft nebenan. Ich will dich nicht wieder schlagen. Ich will doch nur tun, was alle Männer mit ihren Frauen machen.“ Sunja nickte nicht und schüttelte auch nicht den Kopf. Sie lag einfach nur angespannt auf ihrem Lager. Ordo war geneigt, dies als Einverständnis zu werten.

Sie schloss die Augen, biss die Zähne aufeinander und krallte die Hände in die Decke. Ihre Knie zog sie unwillkürlich nach innen und es fiel ihr schwer, schweigend zuzulassen, dass Ordo diese mit Gewalt auseinander schob.

Dann drang er in sie ein. Es tat weniger weh, als beim ersten Mal. Sie lag so still sie konnte und ließ ihn widerwillig gewähren. Das Gefühl, benutzt zu werden wie ein Gegenstand, machte sich erneut in ihr breit und es war kaum auszuhalten. Lautlos liefen ihr die Tränen seitlich in die Haare. Sie hatte die ganze Zeit nur einen Wunsch, dass es endlich vorbei wäre.

Nachdem er sich von ihr gerollt hatte und eingeschlafen war, ging sie nach unten zum Mühlbach, um sich zu waschen.

Das war es also, was alle Männer mit ihren Frauen tun. Wie die Tiere. Kein Wunder, dass Mutter gesagt hatte, Männer seien schlecht.

Sie ging zurück, legte sich neben ihn. Er schnarchte erbarmungslos und Sunja schlief spät ein.

 

3. Kapitel: Einar

 

 

Die ersten Tage in der Reichsfeste waren nicht einfach. Überall im Haus gab es viel zu tun. Bis Sunja den Tagesablauf in sich aufgenommen hatte, verging einige Zeit.

Nach dem Aufstehen fütterte sie die Tiere vor der Mühle. Vormittags waren sie und Nada fast ausschließlich mit Kochen und Wäschewaschen beschäftigt. Am Nachmittag blieb sie fast immer allein, machte sauber, flickte und tat, was sonst noch anfiel.

Sunja lebte inzwischen mehr als zwei Wochen bei Ordo. Der Müller war fast den ganzen Tag in der Mahlstube und sie sahen sich nur zu den Mahlzeiten. Bis jetzt war Sunja tagsüber gut mit ihm ausgekommen. Wenn man von den Nächten mal absah, war es mit ihm auszuhalten. Doch an diesem Tag stand er plötzlich mit hochrotem Kopf in der Tür.

„Sunja!“ Sie rührte gerade den Kessel um und schreckte zusammen, als sie ihn so laut brüllen hörte. Sie ahnte nichts Gutes.

„Warum ist das Essen nicht fertig? Ich habe Hunger!“

„Es ... es tut mir leid. Aber das Huhn ...“

„Das Huhn?!“ eine Ader trat auf seiner Stirn hervor. „Das Huhn ist schuld?“, brüllte er.

„Nein, aber erst ließ es sich nicht fangen und ich habe noch nie zuvor eines gerupft. Ich wusste nicht, dass es so lange dauert.“

„Ich will deine Ausreden nicht hören! Ich will essen!“

„Ja sofort. Setz dich.“ Sunjas Hände zitterten, als sie mit einem tiefen Holzlöffel Hühnersuppe in eine Steingutschale tat. Die Schüssel war fettig von der Brühe und rutschte ihr aus der Hand. Sie zerbrach nicht, aber der Inhalt ergoss sich auf die Dielen. Erschrocken schaute sie auf. Sie hielt schützend die Hände vor sich, als sie Ordo mit großen Schritten auf sich zuhasten sah. Er packte ihre Schultern und schüttelte sie heftig.

„Du nichtsnutzige kleine Schlampe! Du taugst zu gar nichts!“ Er hielt sie mit der Linken weiter an der Schulter und erhob die Rechte zum Schlag. Sie konnte nicht ausweichen und er verpasste ihrer linken Wange eine laut schallende Ohrfeige. Nicht der Schmerz sondern Demütigung und Hilflosigkeit machten es schwer, die Tränen zu unterdrücken und doch gelang es ihr.

„Ich gehe jetzt in die Mahlstube und du bringst mir den Fraß, den du zusammengekocht hast nach unten und wenn du nicht gleich dort erscheinst, dann gnade dir Gott!“ Er ließ die Tür hinter sich mit einem lauten Knall zufallen und war weg.

Sunja war benommen. Sie schmeckte Blut, ihr Gesicht schmerzte und der Schädel summte. Ordo war weg, doch die Angst vor seiner letzten Drohung blieb. Sie beeilte sich, sein Verlangen zu erfüllen. Auf dem Weg nach draußen fiel ihr Blick auf Nada. Diese stand beim Eingang und hatte alles beobachtet. Ein unergründliches Lächeln lag auf ihren Zügen, als sie für ihre Stiefmutter die Tür öffnete.

„Na also geht doch!“ Ordo nahm Sunja das Essen ab, schob sie aus der Mahlstube hinaus und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Seine Neigung zum Jähzorn machte ihr von da an öfter zu schaffen. Sie versuchte, ihm wenig Gelegenheit zu geben, diesen Wesenszug auszuleben. Das war nicht immer einfach, oft lag der Grund für seinen Ärger ganz wo anders und trotzdem ließ er seine Wut an ihr aus.

Nachts war es immer dasselbe. Er bestieg sie, schimpfte leise mit ihr, dass sie sich nicht so blöd anstellen solle, brachte sich schwitzend, schwer atmend und keuchend zum Höhepunkt. Wenn er sie benutzt und sich in sie ergossen hatte, rollte er sich beiseite und schlief ein. Sie hielt still, ertrug es mit Ekel und ging später zum Mühlbach.

Sunja gab sich inzwischen selbst die Schuld, dass es ihr so schwer fiel, ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen. Er selbst hatte es ihr gesagt, dass sie sich blöd anstellte. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie es immer wieder als demütigend empfand. Tränen vergoss sie keine mehr, sie wusste inzwischen, dass es immer irgendwann vorüber war.

Mit Nada auszukommen, war fast noch schwieriger, als mit deren Vater zusammenzuleben. Von ihr war zwar keine Gewalttätigkeit zu erwarten, aber Sunja wusste nie, woran sie bei ihr war. Manchmal sprühte Ordos Tochter vor Freundlichkeit und im nächsten Moment schleuderte sie Sunja bodenlose Gemeinheiten an den Kopf. Einen Menschen, der so launisch war, hatte Sunja noch nie zuvor gekannt. Im Großen und Ganzen kam sie jedoch mit ihr aus. Sie hatte den Glauben daran, dass sie Freundinnen werden könnten, noch nicht ganz aufgegeben.

Beide arbeiteten oft zusammen im Haushalt, obwohl Sunja den größeren Anteil zu bewältigen hatte. Nada zog sich immer mehr aus ihrer Verantwortung. Oft war sie die Hälfte des Tages nicht da und dachte auch nicht daran, Sunja zu sagen wohin sie ging.

 

„Schmeckt’s?“, fragte Sunja Ordo vorsichtig des Mittags in der Mahlstube. Inzwischen war sie bereits mehr als vier Wochen bei ihm.

„Gut.“ Er kaute weiter vor sich hin.

„Ich habe eine Bitte.“

„Ja?“ Er schaute von seiner Schüssel auf und sah Sunja an als wenn er erwartete, dass sie von ihm die Sonne geschenkt haben wollte. Doch diese ließ sich nicht beirren.

„Ich würde gerne Dankrun besuchen.“ Sie nestelte mit den Fingern an ihrem Schürzensaum und wartete geduldig auf Antwort.

„Mh! Grm!“, brummte er und aß weiter. Sunja wusste mit diesen urtümlichen Grunzlauten nichts anzufangen. Jetzt ja keinen Fehler machen! Jedes Wort musste gut überlegt sein, um ans Ziel zu kommen.

„Darf ich?“ hauchte sie leise.

„Hm ja. Aber ich warne dich! Dankrun ist sicher nett. Doch sie ist mir nicht geheuer. Sie und ihre Söhne kommen ganz allein zurecht. Sie hat keinen Mann und stell dir vor, sie will keinen. Mehrere Männer im Dorf wollten sie schon heiraten, doch sie hat dankend abgelehnt.“ Sunja überlegte, ob Ordo vielleicht einer von ihnen war. Da machte ihr Ehemann plötzlich ein gönnerhaftes Gesicht.

„Nada hat mir erzählt, dass du mit ihr nicht auskommst. Ich möchte nicht, dass du dich hier in der Feste einsam fühlst, deshalb erlaube ich dir trotz meiner Bedenken, zu Dankrun zu gehen. Wenn du willst, kannst du sie besuchen, so oft du magst. Aber wehe dir, wenn deine Arbeit darunter leidet!“

„Bestimmt nicht! Ich danke dir!“ Sunja verließ bald darauf mit leerem Geschirr die Mahlstube. Sie war so gut gelaunt, dass sie erst später genauer über seine Worte nachdachte. ‚Nada hat mir erzählt, dass du mit ihr nicht auskommst.’ So eine Unverschämtheit von diesem Gör! Sunja gab sich redlich Mühe mit ihr zurechtzukommen, es war Nada, die immer wieder stichelte! Im Moment war Sunja aber nicht in der Stimmung, sich darüber aufzuregen. Sie würde Dankrun besuchen dürfen, da ließ sie sich nicht von Nebensächlichkeiten wie Nada die Laune verderben. So schnell sie konnte erledigte sie ihre Arbeiten.

Am Nachmittag ging sie quer über den Reichshof zu der Tür in der Mauer, die zum Dorf führte. Bei Dankruns Heim angelangt, sah sie Einar auf der Bank neben der Eingangstür sitzen. Er wickelte Garn auf eine Rolle. Der Junge blickte auf und mit einem breiten Lächeln im Gesicht strahlte er sie an.

„Ah du!“ Er legte das Knäuel beiseite und sprang auf. „Du komm!“ Er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie hinter sich her, in das Innere der Behausung. „Komm! Komm!“ Dann nahm er etwas von einem Brett an der Wand und drückte es ihr in die Hand.

„Für dich! Geschenk.“

Sunja betrachtete es. Ein Stück Holz, welches mit einem Messer scheinbar wahllos bearbeitet worden war.

„Einar selbst gemacht. Für dich!“, strahlte er.

„Ich danke dir. Ein Hase, sehr schön.“

„Nein, es ist Katze!“ Einar sah irgendwie beleidigt aus.

„Ja, natürlich, sehr schön.“ Sunja drehte es in der Hand hin und her, gab es dann aber auf, darin eine Katze sehen zu wollen. „Sag mal, wo ist eigentlich Dank ... ich meine, wo ist deine Mutter?“

„Oh, nicht da. Bei der Frau des Gerbers tauscht Stoff gegen Leder.“

„Ob sie bald wieder kommt?“ Einar schüttelt den Kopf.

„Nein, bleibt immer länger.“

„Schade.“ Sunja wandte sich zum Gehen.

„Nein, nicht schade! Sunja kommt mit mir.“ Er machte erneut Anstalten nach ihrem Arm zu greifen, doch Sunja zog ihn zurück.

„Nein, ich kann nicht mit.“ Einar schaute enttäuscht zu Boden.

Sie hatte all ihre Arbeit erledigt, um Dankrun zu besuchen. Da die nun nicht da war, hinderte Sunja eigentlich nichts daran, mit ihm zu gehen.

„Wo wolltest du denn hin?“ Sein Gesicht erhellte sich augenblicklich. Er kam ganz nah zu ihr und flüsterte in ihr Ohr.

„Ich dir zeige Geheimnis.“ Er presste die Lippen aufeinander und sah sie erwartungsvoll an. „Du kommst?“

Sunja glaubte nicht, dass es interessant werden könnte, doch sie nickte trotzdem. Da hatte er schon nach ihrem Handgelenk gegriffen und zog sie vor die Hütte und weiter zum Wald hin.

„Einar!“ Sunja lachte ganz außer Atem. „Du kannst mich loslassen, ich laufe dir nicht weg.“

„Oh! N‘schuldigung!“ Er ließ ihren Arm los und ging zielstrebig vor ihr durch das Unterholz, den Berg immer weiter nach oben. Sunja raffte den Rock und hatte Mühe, ihm zu folgen und es drückte sie auch das Gewissen, sich so weit von der Siedlung zu entfernen. Was würde ihr Mann dazu sagen? Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken.

Der Wald lud nicht gerade zum Spazierengehen ein. Die Bäume waren noch fast kahl und nur wenig Grün zeigte sich hier und da an den Spitzen der Äste. An manchen Stellen, wo die Sonne nicht hinkam, lag sogar noch schmutziger Schnee.

„Sind wir bald da?“ Sunja wurde ungeduldig. Sie sah vor ihrem geistigen Auge einen aufgeregt brüllenden Ordo mit hochrotem Kopf auf sich zukommen.

„Bald, bald!“ Einar ging beschwingt weiter voran. Er zögerte keinen Moment und schien genau zu wissen, wohin er wollte. Inzwischen hatten sie den höchsten Punkt des Hügels überschritten und es ging verhalten bergab. Das Unterholz in dem Bergeinschnitt wurde immer dichter. Sunja hatte Mühe, überhaupt noch vorwärtszukommen und sie bereute inzwischen ihre leichtsinnige Zusage.

Sie kamen an eine Senke, in der ein Brombeergebüsch wuchs, welches um einiges höher war als Sunja. Sie hatte nicht vor, dies auch noch zu durchqueren. Der Stoff ihres Kleides würde darunter erheblich leiden. Sie wollte gerade Protest einlegen und jeden weiteren Schritt verweigern, als Einar direkt vor der Hecke stehen blieb. Er deutete darauf und sagte:

„Dort Geheimnis!“ Stolz und Erwartung waren in seinen Zügen zu lesen.

„Ehm, ja, ganz schön.“ Sunja war verwirrt. „Sicher pflückst du hier im späten Sommer jede Menge Beeren. Ein schönes Geheimnis, wirklich.“

„Nein, nicht Beeren. Ich zeige dir.“ Er hob mit der Hand etliche der Zweige vorsichtig beiseite und ein Gang tat sich dahinter auf. Er führte direkt in das Gebüsch hinein. Er war so hoch, dass Sunja sich kaum bücken musste, um hindurchzugehen. Dann stand sie im Inneren der großen Brombeeransammlung. Sie konnte sich aufrichten und über ihr war noch mindestens zwei Handbreit Platz. Das Tageslicht leuchtete durch die noch fast kahlen Zweige und sie konnte gut sehen. Die offene Fläche war rund und hatte den Durchmesser von zwei Mannslängen. Eine Strohunterlage lag am Rand ausgebreitet und jede Menge kleinere Holzstückchen lagen darauf. Material für Einars Schnitzkünste, vermutete Sunja.

„Ich bin beeindruckt!“

„Ja, Einars Geheimnis auch Sunjas Geheimnis. Du darfst niemanden sagen. Niemand anders weiß.“

„Nein, ich verspreche dir, dass ich es niemandem verraten werde.“ Sie war gerührt von dem Vertrauen, das Einar ihr entgegenbrachte, dabei kannte er sie doch kaum. Die beiden blieben kurz und machten sich dann auf den Weg zurück in die Siedlung.

Zum Ende des Weges wurde Sunja immer schneller. Sie raffte ihr Kleid, sprang über umgefallene Baumstämme und rannte, dass Einar ihr kaum folgen konnte. Nicht mehr lange, und es würde dunkel werden. Bevor das geschah, musste sie zurück in der Mühle sein.

Sie verabschiedete sich schnell von Einar und ging zügig weiter durch die Siedlung. Hoffentlich war Ordo noch in der Mühle, wenn er oben auf sie warten musste, dann würde dieser Tag kein gutes Ende nehmen, dessen war sie sich sicher.

Sie hastete die Stufen hinauf und drückte die Tür auf. Ängstlich schaute sie sich um.

„Na, wo waren wir denn heute?“ Es war zum Glück nur Nada - von Ordo keine Spur. Sunja, die noch ganz außer Atem war, warf erleichtert ihre Manteldecke über einen der Haken am Mittelbalken und begann sogleich alles für das Abendmahl vorzubereiten. Nada saß auf einem Schemel und schaute ihr zu.

„Ich hab dich was gefragt!“

„Und ich hab dir nicht geantwortet, weil dich das gar nichts angeht!“

„Dann sollte ich es wohl deinem Mann erzählen“, drohte sie. Sunja fiel ein, was Nada Ordo gesagt hatte und dieser ihr wiedererzählt hatte.

„Weißt du was? Du kannst deinem Vater erzählen, was du willst. Er weiß, wo ich war!“, ‚Zumindest glaubt er zu wissen, wo ich war, du kleine, faule, hinterhältige, petzende, blonde Ziege!’, fügte sie jedoch nur in Gedanken hinzu, und während sie überlegte, welche unvorteilhaften Eigenschaften noch auf Nada zutreffen könnten, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie war gerade fertig, als Ordo die Tür öffnete.

„War es schön bei Dankrun?“ Er schien gutgelaunt.

„Ja, sehr.“ Sunja beobachtete während ihrer Antwort, nicht ohne Genugtuung, Nadas enttäuschtes Gesicht.

 

Zwei Tage später halfen die Soldaten Ordo, den Mühlstein zu drehen. Ehefrau und Tochter schauten interessiert zu. Sunja sah so etwas das erste Mal. Nada ihrerseits war auch begierig aufs Zuschauen, aber der Grund war ein anderer. Sunja entging nicht, wie sie verzückt zu einem der Soldaten starrte. Zu Sunjas Erstaunen war es jener, der sie auf sein Pferd nehmen musste, als sie zur Feste gebracht wurde. Von den Helfern war er der jüngste und augenscheinlich auch der kräftigste. Er war großgewachsen und nicht gerade hässlich. Nada schien er jedenfalls zu gefallen.

Mit gesenkter Stimme fragte Sunja: „Möchtest du, dass ich ihn dir vorstelle?“ Eigentlich war sie sich nicht sicher, ob sie ihr einen solchen Gefallen tun sollte. Doch sie lebte mit Nada unter einem Dach und hatte keine Lust, sich ständig mit ihr zu streiten. Sie wollte Frieden haben und dafür war jedes Mittel recht.

Nada war gar nicht verlegen darüber, dass Sunja bemerkt hatte, wie sie den Mann beäugte, und nutzte die Gelegenheit:

„Oh ja, er ist so niedlich!“

„Niedlich“, wiederholte Sunja und fragte sich ernsthaft, was an einem ausgewachsenen Mann - selbst wenn man ihn mochte - niedlich sein konnte. Ja, kleine Hühnerküken und junge Katzen waren niedlich ..., aber Männer?

Als die Soldaten aus der Mahlstube kamen, standen Sunja und Nada unten an der Steintreppe. Der Krieger grüßte Sunja und diese grüßte zurück. Sie hatte bereits darüber nachgedacht, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln würde, damit sie ihn mit Nada bekannt machen konnte. Doch wie sich herausstellte, waren diese Überlegungen überflüssig. Als er an ihnen vorüberkam, blieb er stehen und sprach zu Sunja. „Wie geht es dir?“

„Danke, gut und dir?“

„Danke ebenso.“ Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen.

„Kennst du Nada? Sie ist Ordos Tochter. Ich würde ihr auch gerne deinen Namen sagen, doch ich weiß ihn nicht.“

„Mein Name ist Berinhard. Ich dachte, ich hätte ihn dir gesagt.“

„Hast du nicht.“

„Tut mir leid, dann hab’ ich es wohl vergessen.“

„Macht ja nix. Also, das ist Nada.“ Sunja hatte alles versucht, doch der Soldat antwortete nur mit:

„Ja schön, aber ich muss los. Morgen breche ich mit der Patrouille auf, du weißt doch, die Reichsstraßen kontrollieren. Diesmal in die andere Richtung. Bis ein anderes Mal. Leb‘ wohl Sunja!“ Er wandte sich von ihnen ab, um seinen Kameraden zu folgen.

Die beiden Frauen sahen ihn davongehen und auch Ordo schaute den Kriegern hinterher, um sich dann wieder seiner Arbeit zuzuwenden.

Nada war sichtlich enttäuscht, dass der junge Soldat sie so wenig beachtet hatte, sie warf Sunja einen garstigen Blick zu und stakste quer über den Reichshof davon.

‚War wohl auch wieder nicht richtig’, dachte Sunja, als sie ihr schweren Herzens nachschaute.

 

Als die Frau des Müllers sich das nächste Mal auf den Weg zu Dankrun machte, durchschritt sie den Reichshof, um ihn durch die kleine Tür zum Dorf hin zu verlassen. Noch ehe sie diese erreichte, traf sie auf Einar, der denselben Weg wie sie hatte. Er war langsam unterwegs, weil er auf einem Bein sprang. Sie hatte ihn schnell eingeholt.

„Hallo Einar, bist du auf dem Weg nach Hause?“ Er nickte.

„Hab Stoff zum Reichshof gebracht.“ Er war sichtlich außer Atem, während er sich auf sein weiteres Fortkommen auf einem Bein konzentrierte. Inzwischen hatten sie die kleine Tür erreicht. Er holte Schwung, blieb an der Schwelle hängen und fiel der Länge nach zu Boden.

„Au!“ Er rieb sich abwechselnd das Knie und den Ellenbogen, während er, so schnell er konnte, aufstand und sich wieder auf ein Bein stellte. Sunja konnte es sich nicht verkneifen, zu lachen. Doch Einar schaute sie schwer beleidigt an. Sie bemühte sich schnell um ein ernstes Gesicht.

„Warum machst du auch so einen Unfug?“ sie klopfte ihm den Staub von den Kleidern.

„Kein Unfug!“, bestand Einar.

„Was sonst?“

„Einar große Angst!“ Sunja glaubte ihm das sofort, man konnte es in seinem Gesicht lesen. Sie schaute ihn fragend an, denn sie sah überhaupt keinen Grund dafür.

„Dämonen sind in Erde. Dämonen furchtbar böse. Du besser auch hüpfen auf ein Bein.“ Seine Stimme klang ernst, doch Sunja verstand noch immer nicht. Das veranlasste Einar zu einer weiteren Erklärung:

„Man soll wenig Erde berühren.“ Langsam dämmerte es ihr.

„Als ich dir das letzte Mal begegnet bin, bist du noch auf zwei Beinen gelaufen. Wer hat dir diesen Blödsinn erzählt?“

„Kein Blödsinn, Nada hat’s gesagt!“

„Alles klar. Es ist Blödsinn! Wenn es stimmt, warum hüpft Nada dann nicht auch auf einem Bein?“ Einar sah Sunja an und schien zu überlegen. Ganz langsam und vorsichtig setzte er den zweiten Fuß auf den Boden.

„Siehst du, nichts wird dir passieren und jetzt komm, lass uns zu deiner Mutter gehen“, sagte sie und griff nach seiner Hand.

„Einar froh, dass er nicht mehr hüpfen muss“, bemerkte er wenig später.

Diesmal war Dankrun zu Hause und freute sich, als sie Sunja sah.

 

„Warum hast du Einar so einen Quatsch erzählt?“, stellte Sunja Nada abends zur Rede.

„Ach komm, dieser Trottel. War doch lustig, ihn hüpfen zu sehen.“

„Für ihn war es nicht lustig! Weißt du eigentlich, was er für Angst hatte?“

„Er ist eine Missgeburt, wen interessiert ob er Angst hat? Aber du scheinst ihn ja zu mögen.“

„Auch wenn er zugegeben nicht besonders helle ist, so ist er doch liebenswürdig und nett - mehr, als manch andere.“ Nada verstand die versteckte Botschaft in Sunjas Worten nicht.

„Liebenswürdig“, höhnte sie, „Er ist ein Idiot!“ Sie grinste hämisch. Sunja schnaubte und klapperte lauter mit dem Geschirr als notwendig gewesen wäre. Nada hatte Spaß daran, dass Sunja sich über ihre Worte ärgerte.

 

Sunja besuchte Dankrun in der darauffolgenden Zeit immer öfter. Ab und zu spielte sie mit Einar Fangen oder Verstecken im Wald. Doch meistens half sie Dankrun Garn wickeln und unterhielt sich mit ihr. Wenn sie Fragen zur Führung des Haushalts oder zur Pflege der Tiere hatte, dann stellte sie diese lieber ihr anstatt Nada.

Mit Dankrun saßen die Frauen des Dorfes und der Feste ohnehin öfter zusammen und machten Handarbeiten. Denn sie besaß den größten Webstuhl des Dorfes und fertigte damit, die Dinge für den Ort, welche die kleineren Webstühle nicht hergaben. Die anderen Frauen besserten währenddessen ihre alten Kleider aus, nähten neue oder spannen Wolle. Nada suchte man dort vergebens.

Sunja war es gelungen, Ordos Erlaubnis zu erhalten, daran teilzunehmen. So erfuhr sie einiges über das Dorfleben und über die Menschen in der Feste. Meist Klatsch und Tratsch, von dem doch einiges der Wahrheit entsprach.

Die Frauen hatten sie schnell ohne viel Aufhebens in ihre Gruppe integriert. Sie war immer freundlich zu allen und deshalb mochte man sie leiden. Obwohl sie bald merkte, dass es unter den Frauen einige gab, die ihr die Ehe mit Ordo neideten. Im Vergleich zu den Bauern war er ein wohlhabender Mann.

 

Inzwischen war der letzte Schnee getaut und die Frühblüher zu voller Pracht erwacht. Nada war im Moment etwas einfacher zu ertragen und Ordo hatte in letzter Zeit weniger Interesse an ihr gezeigt. Was wohl daran lag, dass es ihm nicht so gut ging. Er litt unter Übelkeit und Erbrechen. Aber es war keine anhaltende Krankheit. Zwischendurch ging es ihm mal besser und dann kam es wieder zu einem Rückfall.

Sunja wusste, dass es nicht besonders nett von ihr war, doch sie war auch froh darüber. So ließ er sie nachts in Ruhe.

Als es aber über mehrere Tage so weiterging, Ordo immer blasser wurde und er sich nur noch über den Tag schleppte, machte sie sich trotz allem Sorgen. Sie drängte ihn, den Heiler im Dorf aufzusuchen. Doch Ordo weigerte sich.

Was sollte sie tun? Er ließ sich von ihr nichts sagen.

Sunja besuchte am Nachmittag Dankrun. Einar war auch da, er hätte gern mit ihr im Wald gespielt, doch Dankrun wollte ihren Besuch heute nicht an ihren Sohn abtreten.

„Weißt du was? Ich habe eine Idee. Möchtest du etwas Neues lernen?“

„Ja!“ Sunja lernte gern von Dankrun. Sie konnte die Dinge immer gut auf den Punkt bringen und hatte viel Geduld, wenn es nicht gleich klappte.

„Sieh, ich habe hier so kleine viereckige Holztäfelchen. Sie haben ein Loch in jeder Ecke und eines in der Mitte.“ Sunja sah sie an und nickte.

„Ich werde dir jetzt zeigen, wie du Bänder damit weben kannst. Die kann man später an den Saum der Kleidung nähen, um diesen zu verstärken und vor Beschädigungen zu schützen, und natürlich sieht es auch noch gut aus.

Am Anfang nehmen wir nicht alle Holzblättchen, sondern nur die Hälfte, dann wird das Band etwas schmaler, aber so kannst du es besser lernen.“ Sie zeigte Sunja, wie sie das Garn in die Löcher fädeln musste und wie sie später die Querfäden hindurch stecken sollte. Gewebt wurde, indem man die Brettchen immer alle gleichzeitig hin und her drehte. Sunja begriff schnell und ein kleines Stück Band war bald entstanden.

„Das sieht gut aus!“, lobte Dankrun. „Wenn du es richtig kannst und noch schneller bist, könntest du für mich welche anfertigen. Ich habe nämlich mit dem Weben des Stoffes genug zu tun. Für die Bänder werde ich dir den einen oder anderen Obolus zukommen lassen. Ordo wird sicher nichts dagegen haben, wenn du ein wenig dazu verdienst.“ Sunja fiel ein, was ihr Mann über Dankrun und ihre Selbständigkeit gesagt hatte.

„Ich danke dir für das Angebot. Aber ich werde Ordo besser vorher fragen.“

„Tu das und sag mir dann, wie ihr euch entschieden habt. Was macht dein Mann eigentlich, ich habe ihn lange nicht gesehen.“

„Er ist vorhin mit dem Pferd weggeritten. Er wollte dorthin, wo der Mühlbach beginnt, den Holzschott ansehen und ihn etwas verstellen. Er hat Probleme mit dem Hochwasser. Der Frühling lässt das ganze Eis in den Bergen auf einmal tauen.“

„Ja die Berge.“ Dankrun schien in Gedanken.

„Was weist du über die Berge?“

„Nun ja, der Haardt ist sehr unheimlich. Aber ich weiß ein wenig mehr darüber als die meisten. Mein Vater kam aus diesem Gebirge und hat sich hier in Nordhusen niedergelassen. Er hat jedoch nicht viel darüber geredet. Aber man sagt, in den Bergen leben an besonderen Stellen die Geister der Toten weiter. Es ist dort geheimnisvoll und gruselig.

Wir sind Randgebiet von Thüringen und dem Fränkischen Reich. Doch am Haardt endet die große Macht Karls. Dort regiert die Wildnis mit den Gesichtern der Felsen, dem Krachen der uralten Bäume, dem Grauen der Sümpfe und der Nebelschleier. Dazwischen jaulen die Wölfe. Die Zwerge, Alben, Riesen und Feen treiben mit dem Wanderer ihr Unwesen, bis er sich verläuft und es kein Entkommen mehr gibt. Aber am schlimmsten sind die Werwölfe und Bärmenschen!“

„Bärmenschen?“

„Ja, sie verwandeln sich zuweilen von einem Menschen in einen Bär, so wie auch die Werwölfe.“

„Aha!“ Sunja war es kalt den Rücken heruntergelaufen während Dankrun erzählte und sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Die Weberin sah sie besorgt an.

„Naja, es sind Geschichten, die man so erzählt. Vielleicht ist ja auch nicht alles wahr. Aber keiner traut sich weit in dieses Gebirge hinein. Ich weiß, dass der Vasall hin und wieder mit einigen seiner Männer auf dem Heidenstieg zum Fuße des Bergwaldes reitet. Weiter trauen auch sie sich nicht.“

„Was macht er dort?“

„Er trifft sich mit Bergbewohnern und kauft ihnen billig wertvolles Eisen ab, was er dann hier bei uns in der Schmiede zu guten Waffen verarbeiten lässt.

Es leben nur wenige Menschen in dieser unwirtlichen Gegend, in der Wasser, Fels und undurchdringlicher dunkler Wald die Vorherrschaft haben.“ Sunja hatte genug gehört.

Einar legte das Knäuel Wolle, das er gerade fertig gewickelt hatte, in den Korb und stand auf. Breitbeinig und mit erhobenen Händen stapfte er durch die Hütte.

„Huah, ich Bärenmensch!“ Sunja lachte.

„Ich glaube, mir wird es bei euch zu gefährlich, ich sollte heimgehen.“

Sie hatte noch etwas Zeit, und da der Himmel so blau war und die Natur so wunderbar zu blühen begonnen hatte, schlenderte sie durch die Häuser der Siedlung hindurch und betrachtete die kleinen Gärten. Dann beschloss sie, mit einem kleinen Umweg durch das große Tor, in die Feste zurückzukehren. Sie ging außen an der Mauer entlang und schaute über den Sumpf und zu den Wäldern.

Der Krieger mit Namen Berinhard kam ihr auf seinem Pferd entgegen und brachte sein Tier vor ihr zum Stehen.

„Schön dich zu sehen, Sunja.“

„Ebenfalls. Du hast wirklich ein schönes Pferd.“ Sie betrachtete es genauer und streichelte ihm den Kopf. Es war größer und schlanker als Odin.

„Es heißt Aschari, das bedeutet ‚Eschenspeer‘. Weil es so schnell ist. Ich will mit ihm ein Stück reiten, um es in Bewegung zu halten.“

„Musst du bald wieder auf Patrouille?“

„Erst in einigen Tagen.“ Während sie mit ihm sprach, kam Nada, ohne ein Wort zu sagen, an ihnen vorbeigeschlichen. Sie schien wie Sunja aus dem Dorf zu kommen und nach Hause unterwegs zu sein. Sie warf ihrer Stiefmutter einen kalten feindseligen Blick zu. Das hatte gerade noch gefehlt! Dass Sunja mit dem Soldaten sprach, den Nada für sich gewinnen wollte, war für Ordos Tochter wieder ein Grund mehr, sie zu hassen. Sunja atmete schwer aus und schloss die Augen.

„Was ist?“

„Ach nichts. Ich muss heim. Mach‘s gut.“ Er sah ihr kurz nach, wie sie durch das Tor verschwand, und ritt dann mit seinem Pferd weiter über die Reichsstrasse.

Als Sunja die Wohnstube betrat, sah sie Ordo am Tisch sitzen, obwohl er sonst um diese Zeit noch arbeitete. Er hatte die Hände in die strohigen Haare gekrallt und blickte nicht zu ihr auf.

Sie schloss hinter sich die Tür und hörte ihn schwer atmen. Nada saß ebenfalls da, schaute Sunja mit zusammengekniffenen Augen an und tat so, als wenn sie Ordo nichts anging.

Sunja sah ihren Mann besorgt an. „Ist dir wieder nicht gut?“ Er stöhnte zur Antwort und hob den Kopf. Sunja erschrak. Ordos Gesicht hatte eine graugrünliche Färbung angenommen.

„Oh je, leg’ dich besser hin. Ich werde den Heiler holen.“

„Bloß nicht diesen Scharlatan!“

„Na gut, wie du willst. Ich werde dir einen Tee kochen, aber du solltest dich wirklich hinlegen!“

Er ließ sich widerstandslos von ihr in die Kammer führen. Mit einem lauten Stöhnen sank er auf das Lager. Sunja goss Wasser in den Kessel und hängte ihn über die Feuerstelle. Sie war gerade damit fertig, als sie hörte, wie Ordo zu würgen begann. Sie griff nach einer Schüssel, doch dafür war es schon zu spät. Der Müller hatte sich im weiten Schwall über das gesamte Schlaflager, inklusive seiner Tunika erbrochen. „Auch das noch!“

Sunja zog ihm das Oberteil über den Kopf, half ihm ein Frisches anzuziehen, räumte die Decke und das Stroh aus der Kammer und reinigte den Fußboden. Dabei würgte sie selbst und kämpfte mit den eigenen Innereien. Dann richtete sie ein neues Lager her, während Ordo damit beschäftigt war, die Schüssel, die sie ihm gegeben hatte, mit weiteren Brechattacken zu füllen.

Das Wasser über der Feuerstelle war inzwischen verkocht. Nada beobachtete das Treiben um sie herum tatenlos. Sunja füllte den Kessel erneut, doch zum Teetrinken kam Ordo so schnell nicht. Er würgte bis in die frühen Morgenstunden immer wieder. Am Schluss war es nur noch Magensaft und er zitterte am ganzen Körper. Dann endlich schlief er ein. Sunja sah im Schein eines Kienspans auf ihn hinab. Er tat ihr leid, trotz allem.

Als sie aufstand, ließ sie ihn weiterschlafen. Nada verschwand gerade zur Tür hinaus. Sunja hatte gar nicht mehr an sie gedacht, zu sehr war sie mit Ordo beschäftigt gewesen. Wo wollte sie nur jetzt schon wieder hin?

Sunja aß einen Happen und überlegte, wie sie Ordo helfen konnte. Im Moment schien es ihm besser zu gehen, aber wer weiß, wie lange, und er hätte wieder einen Rückfall? Mit ihm stimmte etwas nicht, aber zum Heiler wollte er nicht. Sollte sie heimlich zu dem kräuterkundigen Mann gehen und sich etwas für Ordos Heilung geben lassen? Nein, wenn ihr Mann das herausfände, dann würde er sehr böse mit ihr sein. Das wollte sie nicht riskieren.

Natürlich! Warum war ihr das nicht gleich eingefallen? Die Lösung des Problems war Dankrun. Sunja wusste, dass auch sie sich mit Heilkräutern auskannte. Ordo hatte ihr nicht verboten sie zu fragen, dann konnte er auch nicht böse sein, wenn sie es tat.

Kurze Zeit später nahm sie ihre Manteldecke vom Haken und warf sie sich über. Der Frühlingsmorgen schlug ihr kalt ins Gesicht. Hoffentlich war die Weberin zu Hause.

 

Auf halbem Weg über den Reichshof kamen ihr drei Soldaten entgegen. Erst beachtete sie diese nicht. Dann bemerkte sie, dass sie direkt auf sie zuhielten. Einer von ihnen war Berinhard. Gestern war er freundlich zu ihr, aber jetzt schaute er sie grimmig an. Als sie einander gegenüberstanden, sah er auf sie hinab. Sie schluckte und bekam Bauchschmerzen.

„Was ist?“ Sie sah, wie der Soldat zögerte. Ihm war vermutlich auch nicht ganz wohl.

„Ich habe den Auftrag, den Inhalt deiner Tasche zu kontrollieren.“ Sunja schaute zu ihrer Gürteltasche.

„Da ist nichts Besonderes drin.“

„Das möchte ich gern selbst sehen.“ Sunja öffnete sie und nahm alles heraus. Erst ein Stück Tuch, dann einen bunten Stein, den sie immer mit sich trug.

„Das ist alles.“

„Darf ich?!“ Der Soldat griff selbst hinein. Sunja sah, wie er zusammen mit einigen Krümeln etwas Grünes heraufbeförderte. Sie konnte sich nicht erinnern, es hineingetan zu haben. Ebenso wie der Soldat schaute sie es interessiert an. Es war das Blatt irgendeiner Pflanze. Berinhard atmete tief ein und machte eine eindeutige Handbewegung zu seinen beiden Kameraden. Diese ergriffen Sunjas Arme.

„Bringt sie zum Kerker.“

„Bitte?!“ Der Boden drohte unter ihr wegzurutschen.

„Warum?“ Ihr Mund wurde trocken, Hitze und Kälte stiegen abwechselnd in ihr auf.

Berinhard schwieg. Sie versuchte sich zu wehren und sich dem Griff der Soldaten zu widersetzen, ohne jede Chance. Berinhard ging voran. Sunja wusste nur zu gut, wohin man sie brachte.

„Nein, ich will nicht! Ich hab’ doch gar nichts gemacht!“

„Das sagen sie alle“, höhnte einer der beiden Soldaten neben ihr und griff ihren Arm so fest, dass blaue Flecke bleiben würden.

Das Verließ war ein dreckiges Loch, was in den Boden des Hofes gegraben war. Oben verschloss man es mit einem Eisengitter. Es befand sich nahe beim Wohnhaus des Vasallen.

Berinhard öffnete es und die beiden Soldaten nahmen ihr den Mantel ab. Sunja stemmte ihre Füße gegen den Boden und zeterte laut: „Nein, ich hab nichts getan! Lasst mich los!“ Das nützte ihr nichts, die beiden Soldaten waren größer als sie. Sie hoben sie hoch und warfen sie hinein. Sunja fiel mehr als eine Mannslänge tief.

„Aaau!“ Sie hatte sich das Knie aufgeschlagen und noch viel mehr schmerzte ihr rechtes Handgelenk. Sie hatte es sich, bei dem Versuch den Aufprall abzufangen, verstaucht.

„Geht vor, ich komme nach.“ Berinhard nahm seinen Kollegen den Mantel ab. Die schauten ihn verwundert an. Er wartete einen Moment, bis sie weg waren, dann kniete er sich an den Rand der Öffnung und warf den Mantel hinunter. Sunja hielt sich das Handgelenk und schaute zu ihm auf. Tränen rannen ihr über das schmerzverzerrte Gesicht. „Warum?“

„Sie haben mir gesagt, dass ich in deiner Tasche Pflanzenteile finden werde. Ich habe das nicht geglaubt. Ich hätte nie gedacht, dass du so etwas tun würdest.“

„Wer hat das gesagt und was soll ich getan haben?!“ Sunjas verheulte Stimme klang verzweifelt. Wovon redete er?

„Der Hauptmann hat mir den Befehl gegeben. Wie er dazu kam, weiß ich nicht. Sie sagen, du hast versucht, deinen Mann zu vergiften.“ Er stand auf und schloss das Gitter. Sein Gesicht war hart wie Stein. Sunja weinte. Ihre Beine versagten ihr den Dienst, sie setzte sich in den Dreck des Verliesbodens.

„Das habe ich nicht getan“, flüsterte sie leise, als er schon gegangen war.

Sunja brauchte eine Weile, bis sie die Tragweite dieser Anschuldigung begriff. Ihr wurde nur langsam klar, dass sie für ein solches Vergehen den Tod erwarten konnte und wenn nicht der, dann auf jeden Fall etwas äußerst Unangenehmes. Dagegen war ihr Handgelenk, was inzwischen den doppelten Umfang angenommen hatte, eine Kleinigkeit.

Sie versuchte sich einzureden, dass ihr schon nichts passieren würde, denn sie hatte nichts getan. Doch wie sollte sie beweisen, dass sie nichts über den Inhalt ihrer eigenen Tasche wusste?

Sie hörte Schritte und schaute nach oben. Ordo! Sie zuckte bei seinem Anblick zusammen. Er sah noch immer krank aus. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er wusste also schon, was man ihr vorwarf. Ihr Mann glaubte, sie hätte ihm die letzte Kotznacht eingebrockt und würde ihm nach dem Leben trachten.

„Ich war es nicht.“ Sie wusste, dass er ihr nicht glauben würde, und war im Moment sogar froh darüber, dass sie ein Gitter von ihm trennte.

„Dafür wirst du büßen!“ Er spuckte durch die Stäbe hinunter und ging.

Sunja blieb zurück. Niemand war an ihrer Seite, keiner glaubte ihr. Sie stand allein.

Nicht lange, da kamen die Kinder des Dorfes und schauten zu ihr hinab. Da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder für sich zu sein. Die Bälger beschimpften sie, sangen laut selbstgedichtete Lieder über die Giftmischerin und warfen stinkendes, verfaultes Essen nach ihr. Gerade, als sie Anstalten machten herunter zu urinieren, kam jemand und trieb sie auseinander.

Sunja erkannte über sich das Gesicht des Hauptmanns, der sie aus ihrem Elternhaus mitgenommen hatte.

„Holt sie raus!“ Ein Soldat öffnete das Gitter und ein anderer ließ ihr eine Holzleiter hinab. Sunja hatte Schwierigkeiten die Leiter hochzusteigen, da sie sich nur mit der linken Hand festhalten konnte. Sie war noch nicht richtig oben, als man sie ergriff. Der Hauptmann persönlich band ihr die Hände auf den Rücken. Er beachtete ihr geschwollenes Handgelenk nicht und zog die Hanfstricke darum fest zusammen.

Um sie ertönten laute Stimmen. Zu den Kindern gesellten sich immer mehr Erwachsene aus dem Dorf und der Feste, die in die Rufe mit einstimmten und sie beschimpften. Was man ihr vorwarf, war keine Kleinigkeit.

Sunja schaute sich verstohlen um. Vor dem großen Eingang in das Hauptgebäude des Reichshofs hatte man einen Tisch und einen Stuhl gestellt. Bis jetzt war der Platz noch leer, aber aus der Tür trat bereits der Vasall. Ein hagerer Mann um die dreißig Jahre, mit langen blonden Haaren. Seine äußere Erscheinung war respekteinflößend. Er trug aufwendig bestickte Kleidung und unter seinem schwarzen Umhang hatte er seine Waffen angelegt. Bemessenen Schrittes ging er zu dem Stuhl. Die Anwesenden verstummten augenblicklich. Ehe er sich setzte, zog er die Frankenaxt aus seinem Gürtel und legte sie auf die Seite der Tischplatte.

Der Hauptmann führte Sunja durch die Umstehenden vor den Tisch. Sunja hatte den Befehlshaber über die Feste bis jetzt nur von Weitem gesehen. Er war, wenn man von der Hakennase einmal absah, ohne Zweifel ein hübscher Mann. Doch in seinen Zügen lag Härte und Sunja konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr gegenüber Gnade walten lassen würde.

„Wie ist dein Name?“ Seine Stimme hallte über den ganzen Hof. Sie war klar und schneidend.

„Sunja.“

„Lauter!

„Sunja!“ Ihr Blick fiel auf Ordo, neben dem Nada mit ausdruckslosem Gesicht stand. Ordo hingegen war die Wut noch immer anzusehen. Sie standen beide nah beim Tisch des Vasallen.

„Was wird ihr vorgeworfen?“ Der Hauptmann trat nach vorn zu dem Tisch.

„Sie soll versucht haben, ihren Mann, den Müller, zu vergiften.“

„Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, wie kam es dazu?“

„Der Heiler hat mich darauf hingewiesen. Ich habe sogleich drei meiner Männer zu ihr geschickt. Sie konnten sie auf dem Hof stellen und den Verdacht bestätigen.“ Sunja verstand gar nichts mehr. Der Heiler? Den kannte sie nur vom Sehen. Wie kam der auf die Idee, sie würde so etwas tun? Hatte er ihr dieses Zeug zugesteckt? Er hatte das nötige Wissen über Pflanzen. Aber warum sollte er das tun?

Der Hauptmann rief Berinhard als Zeuge nach vorn. Dieser brauchte eine Weile bis er durch die Umsehenden hindurch zu ihnen kam. Er trat zum Tisch und legte das grüne Blatt dort ab.

„Also ich habe das hier in ihrer Tasche gefunden.“

„Was ist das?“

„Ich habe keine Ahnung.“ Er kratzte sich am Hals. „Der Hauptmann hat mir nur gesagt, dass ich sie festnehmen soll, wenn ich Pflanzenteile bei ihr finde und das habe ich getan.“

„Gut, du kannst erst einmal gehen.“ Der Krieger stellte sich zu den Dorfbewohnern.

„Wo ist der Heiler?“

„Er ist nicht hier.“ Es war dem Hauptmann anzusehen, wie unangenehm ihm dieser Umstand war.

„Warum ist der Heiler nicht hier? Er soll uns sagen, was das ist. Holt ihn her!“

Zwei Soldaten machten sich auf in das Dorf und holten ihn zu der Gerichtsverhandlung.

Sunja schaute ihn mit zu Schlitzen verengten Augen an. Er war von unscheinbarer Gestalt und hatte schulterlange schwarze Haare. Er wich Sunjas Blick aus, als er vor den Tisch des Vasallen trat.

„Wie ist dein Name!“

„German der Heiler.“

„Sag uns German, was ist das für eine Pflanze?“ Der Heiler sah nur kurz auf das Stück Grünzeug und antwortete für Sunjas Befinden verdächtig schnell:

„Es ist das Blatt einer Maiglöckchenpflanze. Sehr giftig!“ Der Vasall sah zu Sunja hin.

„Was hast du dazu zu sagen?“

„Ähm, nichts. Ich habe dieses Grünzeug nie gesehen. Es muss mir jemand in die Tasche gesteckt haben.“ Während sie sprach, wusste sie schon, wie unglaubwürdig das klang und wie zur Bestätigung kam Ordo auf sie zugestürzt. Der Hauptmann musste ihn festhalten, damit er nicht über seine Frau herfiel.

„Du ...! Ich habe mir die ganze Nacht die Seele aus dem Leib gekotzt. Du hast mir noch gute Ratschläge gegeben, dabei warst du es selbst, die mich vergiftet hat. Ich hätte tot sein können!“

„Müller mäßige dich vor Gericht!“ Nur langsam bekam sich Ordo wieder unter Kontrolle und der Hauptmann ließ ihn los.

„Nun, Sunja, Frau des Müllers, für mich sind die Dinge klar.“ Sunja spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

„Fragen sie den Heiler, woher er wusste, dass ich dieses Zeug in der Tasche habe.“

„Ja, in der Tat, das wüsste ich auch gern. Also, woher wusstet Ihr das?“

„Ich ähm ... Das kann ich nicht sagen. Ich habe der Person mein Schweigen zugesichert, aber der Verdacht hat sich ja bestätigt. Was spielt es da für eine Rolle, wer es mir gesagt hat?“ Der Vasall schaute eine Weile auf Sunja. Dann nickte er.

„Der Heiler hat recht, die Beweise sind eindeutig.“

Nada drängte nach vorn.

„Endlich sind wir dich los! Vater, jetzt siehst du was sie ist - eine Mörderin!!!“

Die Leute murrten zustimmend und wurden immer lauter.

„Sie soll sterben!“ Bis jetzt hatte es nur einer gerufen, nun wurden es immer mehr. „Ja, schlagt sie tot!“ Ihr Geschrei traf Sunja wie Messerstiche. Sie wich zurück und schaute mit weitaufgerissenen Augen in die verzerrten Gesichter der tobenden Masse, die ihr immer näher kamen. Ihr Ende war nah.

„Halt! Nein!“ Erst wollte niemand auf die schreiende Frauenstimme hören, die sich weiter nach vorn kämpfte.

„Weg da! Geht zur Seite! Lasst mich durch! He du, höre auf zu schreien!“ Dankrun hatte es geschafft. Sie war bis zum Tisch des Vasallen vorgedrungen. Sunja sah, trotz der Bedrohung durch den Mob, wie sie mit ganzer Kraft ihre Faust auf die Tischplatte schlug. Sie zeigte auf das Pflanzenteil und diskutierte mit dem Vasallen. Erst machte es den Anschein, als wenn er sie nicht anhören wollte, dann schüttelte er mit dem Kopf. Aber gar nicht lange und er nickte einmal heftig. Er stand auf und ließ laut seine Stimme über die Anwesenden erschallen.

„Ruuuheee!!!“

Augenblicklich wurde dieser Befehl befolgt. Alle drehten sich zu ihm um.

„Vor diesem Tisch haben nur der Hauptmann und die Angeklagte zu stehen! Tretet zurück!“ Die Leute gehorchten sofort. Sunja atmete auf. Obwohl sie wusste, es war nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.

„Hier möchte noch jemand eine Aussage machen.“ Dankrun drehte sich um und sprach in aufgebrachtem Ton.

„Ja, es stimmt, Maiglöckchen sind giftig! Sie verursachen Übelkeit, nicht wahr Ordo?“

„Worauf du einen lassen kannst!“

„Aber sie sind nicht tödlich! Ist doch so German?!“

„Nun ja ... nein, sind sie nicht.“ Der Heiler sah nicht sehr glücklich aus und trat von einem Bein auf das andere.

„Sie hätte ihn also niemals damit umbringen können, mal davon abgesehen, dass sie es nicht war!“

„Was soll das heißen?“ brüllte Ordo noch immer aufgebracht.

„Nicht deine Frau, sondern deine Tochter war es!“ Nada wurde blass.

„Ich habe sie gesehen! Sie hat im Garthof einen ganzen Strauß davon gepflückt.“

„Nein, das ... das kannst du nicht gesehen haben. Du lügst!“

„Doch, du hast sie gepflückt!“ Dankrun machte drei schnelle Schritte auf Nada zu. Sie stand ihr direkt gegenüber. „Ich habe dich gesehen!“

„Das kannst du nicht! Du warst gar nicht dort! Einar war da, er hat es dir gesagt!“ Dankrun schaute sie noch immer an und ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.

„Euer Hochwürden ihr habt gehört, was sie gerade gesagt hat?“

„Das habe ich. Die Gefangene ist freizulassen! Sie ist unschuldig.“ Sunja spürte, wie sich jemand an ihren Fesseln zu schaffen machte. Sie rieb sich das verstauchte Gelenk und schaute zu Nada.

„Schlange!“ sagte Sunja nur und drehte sich zum Gehen. Die Anwesenden traten zur Seite und ließen sie schweigend und unbehelligt durch.

Augenblicke später wurde es hinter ihrem Rücken erneut lauter. Sie hörte noch, wie Ordo rief: „Das mit Nada regle ich selbst.“

Sunja setzte einen Fuß vor den anderen und durchschritt das Tor. Dann ging sie immer weiter am Mühlgraben entlang. Dieser machte einen Bogen und erst, als sie die Feste nicht mehr sehen konnte, setzte sie sich an den Fuß einer Weide. Sie ließ ihr Gesicht in die Handflächen sinken und begann zu weinen. Die Tränenflut wollte kein Ende nehmen.

Als Ordo noch glaubte, sie wäre schuldig, hätte er ihren Tod in Kauf genommen. Jetzt, wo er wusste, dass es Nada war, hatte er sich schützend vor sie gestellt. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht zu dieser Familie gehörte und wie allein sie wirklich war und die Einsamkeit durchdrang sie wie Flüssigkeit einen Schwamm. Doch der eigentliche Grund ihrer Tränen war die Erleichterung, dass sie weiterleben würde.

 

Erst als es dunkel war, kam sie zum Tor der Feste zurück. Soldaten hielten im Schein der Fackeln Wache. Sie ließen sie ohne zu fragen passieren. Sie waren alle bei der Gerichtsverhandlung dabei gewesen.

„Sunja?“ Sie drehte sich um und ihr Blick fiel auf Berinhard.

„Was?“

„Es tut mir leid.“ Sie nickte und ging weiter zur Mühle.

Als sie die Tür öffnete, sah sie Ordo und Nada am Tisch sitzen. Nadas Gesicht war verheult. Sie sah so aus, als hätte sie von Ordo ein paar Ohrfeigen bekommen.

Als ihr Mann sie sah, stand er auf und eilte ihr entgegen. Er griff ihre Hand und zog sie zum Tisch.

„Setz dich!“ Sie tat, was er gesagt hatte.

„Nada geh sofort ins Bett. Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen!“

Seine Tochter stand ohne ein Wort zu sagen auf und verschwand in ihrer Kammer.

Ordo setzte sich Sunja gegenüber. Er nahm ihre beiden Hände in die seinen.

„Verurteile sie nicht, sie ist doch noch ein Kind.“ Wenn Nada noch ein Kind war, was war sie dann bitteschön? Nur ein Jahr war sie älter als Ordos Tochter. Sie erinnerte sich genau an sein wutverzerrtes Gesicht, als man sie beschuldigte. Doch sie fühlte sich nach diesem Tag nicht dazu in der Lage, ihm die Stirn zu bieten.

„Bitte, ich möchte schlafen. Ich bin müde.“

Sie stand auf. Er hielt sie nicht zurück. Hinter sich schloss sie die Tür der Kammer und legte sich auf das Lager.

Er hatte sich noch nicht einmal entschuldigt. Nur von ihr hatte er Nachsicht mit Nada gefordert. Obwohl es ein aufregender Tag war, schlief sie bald ein.

Am nächsten Morgen war sie mit Ordos Tochter allein.

„Warum Nada?“

„Weil ich dich hasse! Du hast mir meinen Vater genommen. Warum nur hat er dich in unser Haus geholt? Ich habe den Haushalt geführt. Es ging uns gut. Er hatte doch alles, was er brauchte!“

Sunja wusste, was er nicht hatte und was er wohl doch dringend brauchte, aber das sagte sie Nada nicht.

Diese saß wie ein Häufchen Elend vor ihr, allein das konnte Sunja nicht leidtun. Es geschah ihr recht, und doch hatte sie das Gefühl ihr noch etwas sagen zu müssen:

„Dein Vater liebt dich. Glaube mir, ich weiß es.

Niemand hat mich gefragt, ob ich deinen Vater heiraten möchte. Man hat mich hier hergebracht und ich hatte keine andere Wahl. Es ist nicht meine Schuld, dass ich hier bin.“ Kurze Zeit später stand Nada auf und verließ die Mühle. Von diesem Tag an half sie im Haushalt gar nicht mehr. Ordo bemerkte das kaum, weil er mit seiner Arbeit zu tun hatte und Sunja beschwerte sich nicht bei ihm darüber. Ihr war es ohnehin lieber, wenn Nada weit weg war. Doch manchmal fragte sie sich schon, was sie so trieb. Ob sie sich heimlich mit dem Heiler traf?

Am Nachmittag ging Sunja zu Dankrun.

„Ich danke dir! Dir allein habe ich zu verdanken, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Ohne Dich hätte es übel für mich ausgesehen.“

„Komm erst mal herein. Im Übrigen stimmt das nicht, denn eigentlich hast du deine Freiheit Einar zu verdanken. Wenn er nicht zufällig Nada im Garthof gesehen hätte, hätte ich dich da nicht raushauen können. Er hat mich auch erst in die Feste geholt, denn ich wusste von ihm, dass man dich gefangenhält.“

„Wo ist er überhaupt?“

„Er erledigt einen Weg für mich, sicher kommt er gleich. Setz dich! Mit Nada weiter unter einem Dach zu leben ist sicher nicht einfach für dich.“

„Sie hasst mich und nach der Maiglöckchensache kann keiner von mir verlangen, dass ich sie besonders mag.“ Da wurde die Tür aufgeschoben.

„Einar!“ Sunja war aufgestanden und ging ihm entgegen. Sie griff in ihre Gürteltasche und holte den Stein heraus, den sie schon seit Ewigkeiten bei sich trug, und legte ihn in seine Hand.

„Diesen Stein habe ich gefunden als ich ganz klein war. Er lag im Wasser in der Nähe meines Heimatdorfes. Ich fand ihn schön und habe ihn mitgenommen. Seitdem habe ich ihn immer bei mir getragen. Ich möchte ihn dir schenken. Du und deine Mutter habt mir gestern das Leben gerettet, das werde ich euch niemals vergessen.“

„Danke!“ Einar drehte den Stein in der Hand und hielt ihn ins Licht.

„Ist sehr schön. Du keine Sorge. Einar passt gut auf deine Stein auf.“

„Das weiß ich Einar.“

 

4. Kapitel: Brombeeren

4. Kapitel: Brombeeren

Ordo ging es in den nächsten Tagen besser als je zuvor. In den Nächten war sich Sunja nicht mehr so sicher, ob das gut war.

Ihre Gerichtsverhandlung war gerade mal eine Woche her. Ordo ließ von ihr ab und lachte. „Sunja, ich fühle mich so gut, dass ich glaube, in meinem Alter noch ein Kind zeugen zu können.“ Er fand das wohl lustig, denn er lachte noch länger vor sich hin, ehe er einschlief.

Sunja hingegen lag lange wach. Sein letzter Satz erschien ihr wie die Lösung all ihrer Probleme.

Wenn sie ihm ein Kind gebären könnte, würde er ihr endlich den Platz einräumen, der ihr als seine Ehefrau gebührte. Ein bisschen Achtung, das würde ihr schon reichen. Vielleicht würde er sogar nachts von ihr ablassen, solange sie schwanger war.

Ein Baby, genau das war es! Sie wollte plötzlich nichts so sehr wie ein Kind. Etwas, um das sie sich kümmern konnte, jemand, der ihr nahe war. Selbst Nada müsste sie als familienzugehörig anerkennen.

Ein Kind! Darauf hätte sie auch eher kommen können!

Von diesem Tag an ertrug sie seine nächtlichen Überfälle gelassener. Außerdem ging sie danach nicht mehr runter zum Bach, um sich zu waschen.

Am nächsten Tag begab sie sich gleich nach dem Frühstück in die Kirche und betete vor dem Altar um nichts anderes, als dass Gott ihr und Ordo ein Kind schenken solle. Das tat sie von da an jeden Morgen.

Später vertraute sie auch Dankrun diesen Wunsch an. Diese ließ ihr den Glauben, ein Kind mit Ordo haben zu können. Obwohl sie es bei seinem Alter für aussichtslos hielt.

„Hast du mit deinem Mann wegen deines Nebenverdienstes gesprochen?“

„Na ja, eigentlich wollte er es nicht. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich es gern möchte und dass es mir Spaß machen würde. Nach langem Zögern hat er eingewilligt.“

„Oh, das freut mich sehr! Dann werden wir uns also in nächster Zeit noch öfter sehen.“ Die Frau des Müllers nickte, ebenso erfreut wie Dankrun.

Wenn Sunja im Haushalt arbeitete, summte sie ausgedachte Wiegenlieder vor sich hin. In den Stunden bei Dankrun sah sie abwesend auf die Handarbeit unter ihren Händen und malte sich aus, was sie dem Baby für Anziehsachen nähen würde. Vor ihrem geistigen Auge tauchten immer wieder Bilder auf, die sie, Ordo und das Kind zeigten. Nada stand auf diesen Bildern am Rand oder fehlte ganz.

Ihr ganzes Sehnen und Hoffen war auf diese eine Sache gerichtet. Sie hatte schon mehrmals fest geglaubt schwanger zu sein, doch Monat für Monat wurde Sunja enttäuscht. Trotz allem würde sie nicht aufgeben. Die Vorstellung, kein Baby zu haben, war für sie einfach nicht mehr zu ertragen.

Der Priester freute sich sehr, Sunja so oft in der Kirche beten zu sehen und glaubte an einen Fall von plötzlich eingetretener besonders tiefer Religiosität. In Wahrheit jedoch haderte Sunja immer mehr mit Gott. Aber für Schwangerschaften ist ja möglicherweise auch Maria zuständig, dachte sie und zündete für die Gottesmutter ein Licht an. Danach ging sie zu der Weberin.

„Dankrun, hilf mir! Gibt es nicht irgendein Kraut, was mich schwanger werden lässt?“

Diese lachte. „Da hilft kein Kraut, dafür braucht man einen Mann.“„Ja, das ist mir nicht entgangen. Aber gibt es nichts, was mir dabei helfen kann?“

„Nein, aber du könntest dir hiermit einen Tee kochen.“ Sie kramte aus einer Holzkiste ein kleines Leinensäckchen hervor und warf es Sunja zu, die es geschickt auffing.

„Was bewirkt es?“

„Es entspannt und beruhigt. Du siehst so aus, als könnte dir das nicht schaden. Seit du dir in den Kopf gesetzt hast, Mutter zu werden, hast du dich verändert, und ganz ehrlich, es tut dir nicht gut.

“Sunja senkte den Kopf und nickte. „Wahrscheinlich hast du recht.“

Woran auch immer es gelegen haben mochte. Ob an dem Licht für die Mutter Gottes oder am Tee. Nach einigen Tagen bemerkte Sunja an sich Veränderungen, die sie anfänglich nicht deuten konnte. Ihr war am Morgen häufig übel und ihre Brust spannte. Nachdem sie dann auch noch vergebens auf ihre Monatsblutung wartete, war ihr bald klar, dass dies alles nur Eines bedeuten konnte. Diesmal gab es keinen Zweifel, sie war tatsächlich schwanger!

Es musste einfach einen Gott geben, der sie und ihr Flehen erhört hatte. Vor Freude hätte sie am liebsten getanzt und es jedem gesagt, der ihr über den Weg lief. Dann entschied sie aber, es noch eine Weile für sich zu behalten. So eine Art süßes Geheimnis. Auffällig gut gelaunt verbrachte sie die darauf folgenden Tage. In ruhigen Momenten legte sie bedächtig die Hand auf ihren Bauch. Sie horchte in sich hinein und glaubte zu spüren, dass sie nicht allein war. Alles würde gut werden. Ja, ganz bestimmt!

Einen schönen Namen würde das Kind bekommen, aber das würde sie Ordo überlassen, als Vater war das seine Aufgabe. Überhaupt malte sie sich immer wieder aus, was Ordo dazu sagen würde. Bestimmt würde sich dieser genauso darüber freuen, wie sie selbst und dann würde er freundlicher mit ihr sein und sie sicherlich nachts in Ruhe lassen. Sie strich über ihre Bauchdecke und flüsterte: „He, du da drin, es wird noch ein wenig dauern, bis wir uns in die Augen sehen können, aber ich kann es kaum erwarten.“

In den ersten Tagen ihrer Schwangerschaft schlief sie unruhig. Sie träumte öfter Dinge, die ihr Angst machten. Einer dieser Träume schien sich zu wiederholen, darin drehte sich alles um Unmengen von Blut, es war überall und auch an ihren eigenen Händen. Sie wachte dann ruckartig auf und sah die Bilder noch lange vor sich, ehe sie wieder einschlafen konnte. Beunruhigt sprach sie mit Dankrun darüber.

„Mach dir keine Gedanken, alle Frauen, die schwanger sind, träumen beängstigende Dinge, besonders, wenn es das erste Kind ist. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass sie sich Sorgen machen wegen der Geburt und sie haben Angst, das Kind nicht gut versorgen zu können.“

„Wie kommst du darauf, dass ich schwanger bin?“

„Aber das sieht man doch.“ Dankrun lächelte Sunja an, diese erwiderte dies und nickte.

„Es gibt nicht viel, was man vor dir geheim halten kann, was?“

„Zugegeben, ich habe es weniger an deinem Aussehen gemerkt. Aber du warst in den letzten Tagen so fröhlich und ausgeglichen, dass ich mir keinen anderen Reim darauf machen konnte.“

„Oh, dann sollte ich mir wohl Sorgen machen, dass es auch schon anderen aufgefallen ist. Ich warte immer noch auf den richtigen Moment, es Ordo zu sagen. Besser, ich warte damit nicht mehr so lange.“ Dankrun nickte.

„Als Vater hat er schließlich ein Recht darauf und ich glaube, er wird sich sehr freuen.“

Am Abend, als Ordo im Schein eines Kienspans gerade Anstalten machte, seine ehelichen Pflichten erfüllen zu wollen, legte sie ihre Hand auf seine Brust, um ihn aufzuhalten.

„Ordo“, Sunja lächelte. „Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“

„Später mein Liebes, später ...“, er kniff ihr fest in den linken Oberschenkel.

„Nein, jetzt!“ Vorsichtig versuchte sie ihn abzuwehren. „Du wirst dich freuen.“

„Na gut, red’ schon!“ Ungeduldig ließ er von ihr ab.

„Ich erwarte ein Kind.“ Sie schaute ihn erwartungsvoll lächelnd an. Ordo stutzte.

„Was?! Sag das noch mal!“ Seine Worte waren wie Donnerschläge. Sunjas Lächeln erstarb. Alle möglichen Reaktionen hatte sie sich ausgemalt, aber so eine war nicht dabei. Verunsichert wiederholte sie: „Wir werden ein Kind bekommen. Du wirst Vater!“ Ordo war aufgestanden und griff nach ihren Oberarmen. Er zog sie hoch und drückte sie mit dem Rücken gegen die Außenwand.

„Au! Du tust mir weh!“ Sunja verstand nicht, warum er so aufgebracht war. Warum freute er sich nicht?

Noch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, versetzte er ihr mit seinem Knie einen heftigen Stoß in den Unterleib und gleich darauf einen Zweiten. Die Luft blieb ihr weg. Vor Schreck konnte sie nicht mal schreien, sondern stöhnte nur auf und krümmte sich, soweit ihr das unter seinem Griff möglich war. Unter Schmerzen starrte sie ihn von unten her fragend an. Aus ihren Augen sprach pures Entsetzen, während sie schwer und angestrengt atmete vor Schmerz.

„Bänder weben wolltest du?! Ha! Ich weiß, was du wirklich getan hast! Du hast doch wohl nicht gedacht, dass ich dir glaube, dass das Kind von mir ist?!“

„Es ist von dir! Verdammt, lass mich los!“ Sunja dämmerte, warum er so wütend war und sie bekam plötzlich furchtbare Angst vor ihm. In seinen Augen flackerte es unruhig.

„Hure!“ schrie er und dann verlor er die Kontrolle über sich. Er traktierte Sunja, schlug und trat ihr immer und immer wieder in den Bauch, während er haarsträubende Schimpfwörter ausstieß, bis sie vor ihm am Boden lag und sich kaum noch rührte.

„Ich bin noch nicht fertig mit dir!“ Er keuchte über ihr drohend und packte ihren Haarschopf, um ihr Gesicht dem seinen zuzudrehen. „Sag mir auf der Stelle, wer der Vater ist!“

„Du!“ hauchte Sunja kraftlos und gequält. Er schlug ihr ins Gesicht, dass ihre Oberlippe aufplatzte. Dann ließ er sie los, schloss die Kammer hinter sich und verrammelte sie, dass Sunja nicht nach draußen konnte.

„Du wirst mir sagen, wer der Vater ist!“ Dann verließ er das Haus. Mit einem lauten Knall zog er die Tür hinter sich zu.

Sunja jammerte und schluchzte. Sie krümmte sich am Boden und hielt die Hände über ihren Bauch. Sie spürte, wie sich Nässe zwischen ihren Beinen ausbreitete. Erst nur wenig, dann im Schwall. Das Blut rann zwischen ihren Schenkeln hervor und lief auf den Holzboden. Von Schmerzen und Krämpfen geschüttelt, verlor sie ihr Kind. Ihre Hand war voll Blut. Ihrem eigenen und dem des toten Kindes. Das Kind, mit dem sie gesprochen hatte, dem sie vorgesungen hatte, das sie durch ihren Bauch hindurch gestreichelt hatte. Noch ehe es leben durfte, hatte es der eigene Vater umgebracht. Wie konnte dieser nur glauben, es wäre nicht von ihm gewesen?

Gut, er war schon älter, als die meisten Männer, wenn sie Vater wurden. Sie hatte ihm nie Anlass zur Eifersucht gegeben. Warum auch? Es machte ihr mit Ordo schon keine Freude das Lager zu teilen, warum sollte sie es dann noch mit einem anderen tun?

Sunja war so übel, dass sie sich übergeben musste. Da sie eingesperrt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als dies auf den Boden der Kammer zu tun. Dort war sowieso alles voller Blut. Sie zog das Unterkleid hoch und schaute auf ihre Bauchdecke. Die Haut war tiefrot mit Blut unterlaufen. Das würde sicher alles blau werden und es tat so furchtbar weh. Sunja kauerte sich in eine Ecke des Raumes und Ordos letzte Worte fielen ihr ein: „Du wirst mir sagen, wer der Vater ist.“ Was hatte er vor, was würde er noch mit ihr machen? Sunjas Angst stieg ins Unermessliche.

Ihr fiel ein, dass Nada sich nebenan aufhielt. Sie war mit Sicherheit wach und hatte alles mit angehört. Sunja war so verzweifelt, dass sie wenigstens versuchen musste, sie um Hilfe zu bitten. Sie schlug mit der Faust an die Zwischenwand. „Nada! Hörst du mich? Hilf mir, hol mich hier raus! Bitte Nada, ich weiß, dass du mich hörst. Komm und öffne die Tür!“

Nada rührte sich nicht. Entweder wollte sie ihr nicht helfen oder sie hatte selber Angst. Verzweifelt sank Sunja wieder in sich zusammen. Nicht lange danach vernahm sie mit Schrecken, wie die Tür des Hauses aufgerissen wurde und dann hörte sie Ordo fluchen und schimpfen.

„Du dreckige Hure, du Miststück! Niemand hintergeht mich! Bänder weben ...! Du wirst mir sagen, welches Schwein der Vater ist und ich werde ihn abschlachten, wie er es verdient hat!“ Dann hörte sie, wie Ordo kraftvoll die Tür zur Kammer entriegelte. Sunja drückte sich in die Ecke und wünschte, sie könnte sich auf der Stelle in Luft auflösen. Doch leider blieb ihr die Erfüllung ihres Begehrens verwehrt und Ordo schaute zufrieden auf das Blut und das Erbrochene am Boden. Er trat vor sie hin und blickte auf sie hinunter. Dann zog er Sunja aus der Ecke nach draußen in die Stube. Sie wehrte sich heftig, doch Ordo war stärker. Ihre Gegenwehr ließ seine Wut noch wachsen. Er band ihr mit einem mitgebrachten Strick die Hände zusammen und schleppte sie weiter an den Haaren und wo er sie sonst noch zu fassen bekam zu dem Stützbalken, der in der Mitte des Hauses von unten bis nach ganz oben reichte. Er warf die Sachen, die an den Haken hingen achtlos zu Boden. An diesen Haken band er sie mit dem Gesicht zum Holz und den Händen über dem Kopf fest. Er zog sie so weit hoch, dass sie nur noch auf den Zehen stand. Nachdem er die Knoten geprüft hatte, holte er einen langen Dolch aus dem Schrank und hielt ihn vor ihr Gesicht. Mit dem Daumen fuhr er quer über die scharfe Klinge und sah sie mit durchbohrendem Blick an.

„Sag es mir Weib! Wer ist der Bock!“ Sunja schluckte und schwieg.

„Gut, du hast es so gewollt!“ Er trat hinter sie und Sunja schloss die Augen. Gleich würde ihr kurzes Leben zu Ende sein, sie war sich ganz sicher. Doch er stach nicht zu, sondern schlitzte mit dem Messer ihr Unterkleid vom Nacken bis zu den Lendenwirbeln auf. Dann ging er zum Tisch. Sunja drehte forschend den Kopf, so weit es ihr möglich war und sah mit Schrecken, dass er einen Lederriemen von der Tischplatte nahm. Sicher vom Zaumzeug seines kleinen Pferdes.

Drohend hielt er ihr den schmalen scharfkantigen Gurt vor Augen und zeigte ihr, wie er zwei Knoten in das Ende machte.

„Willst du es mir noch immer nicht sagen?!“ Sunja wusste, dass es nichts zu sagen gab, und spuckte voll Wut über das verlorene Kind und voll Verachtung für ihn auf den Boden. Das war nicht gut überlegt, dies machte ihn so unberechenbar, dass er mit aller Kraft die geknoteten Enden des Riemens wahllos auf sie einschlagen ließ. Sunja hörte sich selbst schreien, ohne Einfluss darauf zu haben.Einige Schläge später hörte sie dann auch noch jemand anders brüllen. Es war Nada.

„Vater hör auf!“ Sie versuchte nach seinem Arm zu greifen.

Ordo hörte nicht und schlug weiter auf Sunjas Rücken. Diese wand sich am Balken wie ein gequältes Tier und schrie mit unmenschlicher Stimme unter den Hieben auf.

„Hör auf! Verdammt, ich kann dir sagen, wer der Vater ist!“ Erst jetzt hielt Ordo inne. Er nahm den Riemen quer in beide Hände und mit stierendem Blick schaute er seine Tochter an. Er schwitzte und die dicke Ader an seiner Schläfe pulsiert.

„Du weißt es?!“

„Ja!“, sagte sie und überlegte beim Anblick ihres Vaters, ob es eine gute Idee war, es ihm zu sagen. Doch dann sprach sie. „Es ist dieser Berinhard! Mit ihm hat sie sich ungewöhnlich oft unterhalten. Ich bin mir ganz sicher! Weißt du, wen ich meine?“

„Ja, ich kenne diesen räudigen Hund. Vorhin stand dieser Kerl noch auf Wache.

“Ordo stellte sich ganz nah hinter Sunja, sie spürte seinen Atem im Nacken und er flüsterte ihr ins Ohr.

„Bald wird er seinen Dienst beendet haben und in seine Unterkunft kommen. Doch ich werde vor ihm da sein! Du wirst ihn nicht wieder sehen. Er wird sterben! Ich werde ihn abschlachten und ausbluten lassen, wie ein Schwein und nie wieder wird er mein Weib bespringen! Um dich kümmere ich mich später. Denke nicht, dass ich mit dir schon fertig bin!“

„Nein!“, schrie Sunja und ihre Stimme bebte vor Wut und Verzweiflung. „Er hat nichts damit zu tun! Du! Du allein warst der Vater!“

„Sei still! Oder ich bringe dich sofort zum Schweigen!“ Ordo nahm das Messer und steckte es an seinen Gürtel, dann schlug er die Tür hinter sich zu.

„Nada, du weißt, dass dieser Soldat nichts damit zu tun hat! Ich habe höchstens dreimal mit ihm Worte gewechselt. Nicht mehr als auch mit anderen in der Feste. Du hast das nur behauptet, um dich an ihm zu rächen, weil er dich nicht beachtet hat? Dein Vater wird ihn umbringen. Glaubst du dein Stolz ist sein Leben wert?!“

„Du bist ziemlich undankbar! Eben hast du noch gebrüllt, wie am Spieß. Sei froh, dass ich überhaupt was gesagt habe und wer weiß, vielleicht ist es ja auch die Wahrheit?!“ Noch ehe Sunja Luft holen konnte, um etwas zu entgegnen, sprach sie weiter: „Du hast so furchtbar geschrien. Aber glaube ja nicht, ich hätte es für dich getan. Ich kann es nur nicht ertragen, zu sehen, wie mein Vater die Kontrolle über sich verliert. Weist du eigentlich, wie meine Mutter starb?“

„Nein, ich habe deinen Vater nie danach gefragt.“

„Vielleicht hättest du das tun sollen. Meine Mutter hatte einen Liebhaber. Ordo selbst hat sie erwischt. Er hat sie danach fast totgeprügelt. Dann hat er sie angezeigt und sie wurde vom Vasallen und vom Priester zum Tode verurteilt. Ihr Geliebter, ebenfalls ein Soldat, wurde von hier verbannt. Weist du, wer das Urteil an meiner Mutter vollstreckt hat?“ Sunja schwieg, obwohl sie es wusste. Es war nicht unüblich, dass der Geschädigte den Urteilsspruch selbst vollstreckte.

„Mein Vater, Sunja! Er selbst. Es ist schon einige Zeit her, aber er hat meiner Mutter mit einem Messer die Kehle durchtrennt.“

„Du warst dabei?“ Entsetzten hatte Sunja gepackt.

„Nein, aber jeder im Dorf und auf der Feste weiß das und du wirst bald dieses Schicksal mit ihr teilen.“

„Nada mach mich auf der Stelle los!“ Nada weigerte sich.

„Nein, wie soll ich das meinem Vater erklären?“

„Bitte Nada!“ Sunja überlegte fieberhaft, wie sie Nada dazu bringen konnte, und redete mit Engelzungen auf sie ein: „Damals mag die Sache eindeutig gewesen sein. Doch ich habe deinen Vater nicht betrogen. Selbst, wenn du mir nicht glaubst, mach mich los, um deines Vaters willen! Er wird den Soldaten töten, ganz ohne Grund, und dann wird man ihn gefangen nehmen und wegen Mordes verurteilen. Er wird sich selbst ins Unglück stürzen. Daran kann dir nicht gelegen sein. Wir müssen es verhindern!

Ich werde den Soldaten warnen, mehr will ich nicht. Mach mich los!“ Sunja interessierte Ordos Schicksal in Wahrheit nicht. Einzig und allein das Leben des Soldaten musste sie retten, denn dieser hatte mit all dem hier nichts zu tun. Wenn ihr das gelang, würde sie sich danach um sich selbst kümmern müssen.

„Na gut, wenn es meinem Vater hilft, dann tu es!“, sagte Nada endlich und entknotete das Seil, mit dem Sunja an dem Balken gefesselt war. Diese rutschte in sich zusammen. Was Ordo ihr angetan hatte, hatte sie viel Kraft gekostet. Unter Krämpfen im Unterleib, Schmerzen auf dem Rücken und mit größter Anstrengung rappelte sie sich wieder auf. Schnell warf sie sich ihren alten Mantel locker über die Schultern. Dann schlug sie die Tür hinter sich zu und entschwand in die laue Sommernacht.

Sie überlegte einen Moment. Zu Ordo gehen, war lebensgefährlich. Sie musste handeln, wie sie es Nada gesagt hatte und den Krieger warnen. Nur wie sollte sie das machen? Sie konnte nicht einfach zu ihm auf Wache gehen und es unter den Augen der andern Soldaten tun. Sie wusste, wo er untergebracht war und welchen Weg er nach seinem Dienst nehmen würde. Sie verbarg sich hinter einer Hütte, an der er vorüberkommen musste, und wartete.Die Zeit verstrich. Warum um alles in der Welt dauerte das so lange?! Alles tat ihr weh und sie hatte Zeit nachzudenken. Das war nicht gut. Sie erkannte, wie ausweglos ihre Lage war. Die Angst in ihr wuchs. Sie dachte daran, was Nada ihr über den Tod ihrer Mutter gesagt hatte. Wie sollte es mit ihr weitergehen?

Während sie noch keine Antwort auf diese Fragen gefunden hatte, sah sie im Dunkel die Umrisse eines Mannes. Sie erkannte ihn trotz der Nacht, denn der Himmel war wolkenlos und der Halbmond spendete ein spärliches Licht. Der Soldat war allein unterwegs. Das würde die Sache vereinfachen.

„He, Berinhard!“

„Wer ist da?“ der Krieger hatte sein Schwert halb gezogen und schaute in die Dunkelheit, er erkannte sie nicht.

„Ich bin es, Sunja. Ich muss dringend mit dir reden. Komm!“ Sie griff vorsichtig nach seinem Handgelenk, in der Hoffnung, er würde seine Waffe nicht benutzen und zog ihn hinter die Hütte.

„Was ist, was suchst du hier mitten in der Nacht?! Du zitterst ja, ist dir nicht gut?“

„Mir ist in der Tat nicht gut“, sagte Sunja. „Aber, ich bin nicht wegen mir hier, sondern wegen dir. Dein Leben ist in Gefahr. Hör mir jetzt gut zu ...“ Sunja erzählte Berinhard in groben Worten: Wie sie Ordo gesagt hatte, dass er Vater werden würde und dass dieser nun glaubte, das Kind sei von dem Soldaten. Berinhard kam aus dem Staunen nicht heraus. Er fand es einfach unglaublich und dabei hatte sie ihm nur beiläufig erzählt, dass sie es verloren hatte. Trotzdem war er erstaunt, wie schnell er ohne sein Zutun in diese für ihn so gefährliche Situation gekommen war.

„Wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann wartet Ordo bei mir und trachtet nach meinem Leben?“

„Ja, genau!“, versicherte ihm Sunja matt und froh darüber, dass er es so schnell begriffen hatte.

„Ich werde ihn zur Rede stellen und ihm klar machen, dass er einem Irrtum erlegen ist.“

„Das wäre schön, aber ich denke nicht, dass er dir das glauben wird.“ Sunja schwankte.

„Setz dich hin!“ Berinhard half ihr, sich im Gras niederzulassen. „Soll ich dir den Heiler oder Dankrun holen?“

„Nein, es wird schon gehen.“

„Es tut mir leid Sunja. Du hättest nie zu ihm kommen dürfen.“

„Du weißt, was er mit seiner ersten Frau gemacht hat?“ Sunja sah trotz der Finsternis, wie Berinhard nickte.

„Ihr habt es alle gewusst, nicht wahr? Aber keiner hier, aber auch niemand, hat es mir gesagt! Ihr habt mich alle blind ins Verderben rennen lassen. Dabei habe ich immer geglaubt, sie wäre an einer Krankheit gestorben. Irgendwie tat mir Ordo deshalb sogar leid.“ Sunja erhob sich mit Mühe und ging. Berinhard schaute ihr nach, wie sie davon stolperte und dabei versuchte, möglichst aufrecht zu gehen. Dann sammelte er sich für die Begegnung mit Ordo.

Sunja stieg mit Mühe die Treppen der Mühle nach oben. Nada hockte noch an der gleichen Stelle, wo sie diese zurückgelassen hatte. Fragend schaute sie nun zu ihr auf.

„Ich habe Berinhard gewarnt. Deinem Vater wird es nun schwerfallen, ihn zu töten. Mach dir keine Sorgen, der Soldat wird ihm sicher nichts antun, was er nicht verdient hätte“, sagte sie zweideutig.

Sunja ging in die Kammer und suchte alles zusammen, was ihr Eigentum war. Außer einem großen schmalen Messer und einer Decke nahm sie nichts, was ihr nicht schon vor der Ehe mit Ordo gehört hatte. Sie rollte die Decke zusammen und knotete den Lederriemen mit dem er sie geschlagen hatte darum.

„Was tust du da?“

„Das siehst du doch! Ich packe meine Sachen und gehe. War es nicht das, was du die ganze Zeit wolltest!?“

„Ja, aber ...“

„Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass ich mich von dir wieder an den Balken fesseln lassen würde, um auf meine Hinrichtung zu warten? Ich werde euch verlassen. Vermutlich wirst du unsere Trennung verkraften.“ Sunjas Stimme war voll bitterer Ironie. Ihr Blick fiel auf die beiden Feuersteine und sie ließ sie in ihre Gürteltasche gleiten. Den Beutel mit dem Zunderschwamm drehte sie unschlüssig in der Hand und entschied sich, auch diesen mitzunehmen. Der Pilz wuchs überall im Wald an alten und toten Bäumen. Doch dieser hier war mit Salpeterlösung behandelt und würde besser und schneller brennen.

„Du kannst nicht einfach abhauen! Was wird mein Vater zu mir sagen, wenn ich dich ohne Weiteres gehen lasse?“

„Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal. Aber ich hoffe, er verprügelt dich, weil du das nämlich wirklich verdient hast. Oder noch besser, er wird dich sicher an irgend so einen alten Knochen von Mann verkaufen. Mein Vater hat das jedenfalls mit mir getan. Gönnen würde ich dir das allemal!

Wenn du willst, schlage ich dich aber auch mit Freuden nieder. Dann kannst du sagen, ich hätte dich überwältigt und wäre geflohen. Was wäre dir am liebsten?“ Sunja hatte ihr Bündel fertig gepackt und baute sich herausfordernd vor Nada auf, in der Hoffnung, diese würde nicht erkennen, wie geschwächt sie tatsächlich war. Nada ließ sich täuschen und entschied sich vor lauter Angst vor ihrem Vater für Sunjas letzten Vorschlag.

„Gut!“ Sunja griff nach einem kleinen Tonkrug, der im Regal stand. Ohne noch ein Wort zu verlieren, holte sie aus. Nada zuckte zurück.

„Du musst stillhalten, sonst wird das nichts!“ Mit verhaltener Kraft, aber nicht ohne Genugtuung, zog sie ihr das Gefäß über den Schädel. Nada schrie auf, wurde jedoch nicht ohnmächtig. Dennoch reichte die Verletzung aus, um zu erklären, dass Sunja ohne Nadas Befürworten hatte fliehen können. Sunja drehte sich um und verließ die Stube, ohne sich von ihrer Stieftochter zu verabschieden.

Draußen atmete sie laut hörbar auf. Geschafft!

Nun stand sie vor der nächsten Herausforderung. Wie sollte sie aus der Feste kommen, ohne den Wachen aufzufallen? Denn weg musste sie, wenn sie auch noch nicht wusste wohin.

Der Hof war nur auf zwei Seiten mit einer Mauer gesichert. Sie musste die Flucht auf den anderen beiden Flanken versuchen. Unten hinter der Mühle war Sumpfland, das war nicht der richtige Weg. Sie machte sich auf in Richtung Garthof. Als sie durch die Häuser der Soldaten ging, horchte sie in die Nacht. Doch sie hörte weder die Stimme Ordos noch die des Kriegers. Hinter den Apfelbäumen war der Hof durch einen Wall gesichert.

Im Schatten der Nacht erkannte sie einen dicken Ast unter einem der Apfelbäume liegen. Sie zog ihn zu dem Wall und stellte ihn dagegen. Das war schwierig und es dauerte eine Weile. Sie musste sich sehr anstrengen und dabei spürte sie die Verletzungen, die sie Ordo zu verdanken hatte, doppelt heftig. Doch es gelang ihr mithilfe des Holzes, den Wall zu überwinden. Wohin nun?

Jeder Schritt, den sie tat, war eine Qual. Sie ging ein Stück am Wall zwischen den Feldern entlang, den Berg hinauf. Dort traf sie auf eine der beiden Heerstraßen. Die überquerte sie, hielt sich dann rechts und umschritt so das Dorf.

Auf der Höhe von Dankruns Haus hielt sie inne. Die Weberin hatte es gut mit ihr gemeint als sie sagte, Ordo würde sich über seinen Nachwuchs freuen, doch sie hatte sich geirrt. Dankrun würde ihr nicht helfen können, aber ihr jüngster Sohn hatte ein Geheimnis mit Sunja geteilt, was ihr jetzt nützen konnte. Fürs Erste beschloss sie, die Brombeerbüsche zu suchen, um sich dort zu verstecken. Wie lange wusste der Himmel. Aber in die Feste würde sie auf keinen Fall zurückkehren, das schwor sie, als sie sich unter Schmerzen im Wald vorwärts kämpfte.

Sie war nur einmal dort gewesen. Da war es Frühjahr und alles war kahl. Inzwischen war es Ende August und die Pflanzen hatten große dunkelgrüne Blätter bekommen. Die Nacht war warm. Ein halber Mond schien über ihr und wies ihr dürftig den Weg in eine ungewisse Zukunft.

Sie empfand weder Freude noch Wehmut. Sie hatte erstaunlicherweise auch keine Angst vor dem was kam. In ihr schienen alle Gefühle abgestorben zu sein. Ordo hatte sie ihr aus dem Leib geprügelt. Ganze fünf Monate hatte sie es bei ihm ausgehalten. In dieser Zeit war sie um Jahre gealtert.

Die heiße Glut ihrer Seele war eingebettet in einem kalten Stein. Mit jeder Gemeinheit Nadas und jedem Übergriff Ordos war der Stein ein Stück gewachsen. Ohne diese harte Hülle hätte sie es nicht so lange bei ihnen ausgehalten. Sie schwor, sie würde es niemals zulassen, dass jemand diesen Stein durchbricht. Die Gefahr, dass man sie dabei verletzen würde, war zu groß.

Sie fand die Hecke kurz vor der Morgendämmerung. Mit letzter Kraft zog sie die Zweige auseinander und kroch auf allen Vieren hinein. Dort legte sie sich auf Einars modrig riechendes Stroh. Den Mantel breitete sie über ihre Beine. Trotz der furchtbaren Ereignisse schlief sie vor Erschöpfung auf der Stelle ein.

Als sie erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Sie hatte kaum die Augen aufgetan, da schossen ihr die Fragen wie Blitze durch den Kopf. Ihr Leben war ein einziger großer Scherbenhaufen und sie fühlte sich, als läge sie oben drauf. Immer wieder überlegte sie, wie es weiter gehen sollte, sie konnte nicht den Rest ihres Lebens in einem Brombeergebüsch verbringen, und doch sah im Moment alles danach aus. Unter all diese Sorgen mischte sich aber auch das Gefühl, frei zu sein.

In dem Dickicht war es wie in einer Höhle, was den Nachteil hatte, dass sie nicht erkennen konnte, was sich draußen tat. Ein bisschen fühlte sich Sunja als säße sie in einer Falle. Sie raffte sich auf, um nach draußen zu gehen. Wie eine alte Frau watschelte sie gebückt den kleinen Gang entlang und jede Bewegung schmerzte.

Draußen schaute sie sich um. Der Wald bestand hier aus hohen Buchen, die nicht sehr eng beieinander standen. So schien die Sonne durch ihre Kronen hindurch auf den Waldboden. Dieser war mit jeder Menge Unterholz bedeckt, zu dem auch das Brombeergebüsch gehörte.

Zu ihrer Freude stellte Sunja fest, dass sie zum Essensuchen nicht weit gehen musste. Ihre neue Heimstätte war überall mit reifen Früchten behangen. Das erschien ihr wie eine praktische Fügung, da sie von Ordo nur einen Kanten Brot mitgenommen und im Garthof ein paar unreife Äpfel eingesteckt hatte. Mehr war in der Kürze der Zeit nicht zu organisieren gewesen.

Sie streckte ihre Hände nach den Beeren aus und zog die, welche sich gut lösten, ab und schob sie in den Mund.

Nachdem sie die Bestandsaufnahme ihrer Umgebung beendet und sich satt gegessen hatte, schleppte sie sich zurück in die Hecke, ließ sich auf das Lager plumpsen und dämmerte vor sich hin. Ihr Körper brauchte Ruhe.

Am Nachmittag schreckte sie hoch, als sie Schritte vernahm und das Gebüsch laut raschelte. Sie kroch schnell in die hinterste Ecke ihrer Zuflucht und wartete angespannt.

„Sunja, du hier?“, fragte eine bekannte Stimme. Sie atmete erleichtert auf.

„Ja Einar. Komm, setz dich zu mir!“ Er sah Sunja misstrauisch von allen Seiten an.

„Du krank?“

„Ein bisschen.“

„Wer war das?“ Einar zeigte mit dem Finger auf ihre blutverkrustete Lippe.

„Ein böser Mensch.“ Sunja streckte die Hand nach ihrem Gürtel aus. In der Tasche daran waren die Äpfel und sie reichte Einar einen davon.

„Nun komm, setz dich zu mir!“, forderte sie ihn erneut auf. Doch er tat nichts dergleichen.

Sunjas aufgeschnittenes Unterkleid war ihr über die Schulter gerutscht und Einar hatte einige blaue Flecken und Striemen gesehen. Er stand aufgeregt über ihr. „Und das auch böse Mensch?“

Sunja ärgerte sich über ihre Nachlässigkeit und zog den Stoff hoch.

„Ja Einar.“ Sie nickte und hielt ihm wieder den Apfel hin. Endlich nahm er ihn und ließ sich neben ihr auf der Decke nieder.

„Weißt du, wegen dieser Sache kann ich nicht zurück in die Feste. Ich muss hier bleiben und mich verstecken. Verstehst du das?“

„Ja, Einar versteht. Sunja hat Angst vor bösem Mensch.“ Sie nickte.

„Versprichst du mir, dass du niemandem sagst, dass du mich gefunden hast? Niemandem, auch nicht deiner Mutter, hörst du!“ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Ja, schöne Brombeerhöhle unser Geheimnis. Einar nichts sagt.“ Zur Bekräftigung seiner Worte hielt er sich die Hand vor den Mund.

„Gut“ Sunja war erleichtert. Einar blieb bei ihr, bis die Nacht ihre Vorboten schickte, dann verabschiedete er sich. Sie sah ihm nach, wie er in der Dämmerung durch das Unterholz entschwand.

Er war ein guter Mensch, er würde sein Versprechen halten und sie zumindest nicht absichtlich verraten. Trotzdem hatte sie kein gutes Gefühl. Jetzt, wo er weg war, kam sie sich im Dickicht unter den riesigen Bäumen klein und verlassen vor.

Sie freute sich, als Einar schon am nächsten Morgen zu ihr zurückkehrte. Er hatte Brot dabei und einen Krug frisches Wasser.

„Woher hast du das?“

„Stand da, Einar hat’s genommen.“ Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Du musst vorsichtig sein, dass dich niemand dabei erwischt, sonst fragen sie dich, wofür du es brauchst.“

„Einar nichts sagt!“ Er hielt sich wieder die Hand vor den Mund.

Sunja nickte und grinste.

„Danke Einar, du bist wirklich ein Freund.“ Sunja biss in das Brot und Einar aß aus Gesellschaft mit. Er schaute immer wieder verstohlen zu ihr.

„Ich weiß, wer das gemacht.“ Er deute auf Sunjas Mund und ihren Rücken, diese hörte auf zu kauen.„Woher?“ Sie sah ihn mit großen Augen an.

„Nada mir gesagt.“ Sunja stand der Mund offen.

„Du keine Angst mehr haben.“ Er drückte ihr eins seiner geschnitzten Tierchen in die Hand, stand auf und ging. Sunja schaute ihm entgeistert hinterher, dann schoss sie, so schnell ihr Zustand das zuließ, aus dem Dickicht. Sie sah ihn gerade noch hinter einem Gestrüpp verschwinden.

„Einar!“ Er kam nicht zurück.

Warum zum Teufel hatte Nada es ausgerechnet ihm erzählt?! Ahnte sie, dass er wusste, wo sie sich versteckte?

Am späten Nachmittag schien die Sonne. Sie legte ihren Mantel vor das Gebüsch und ließ sich darauf nieder. Vorsichtshalber stieß sie das Messer, welches sie mitgenommen hatte, neben sich in den Waldboden. Schmerzen im Unterbauch sowie auf dem Rücken marterten Sunja und sie war erschöpft. Zum Glück umfing sie bald der Schlaf.

Sie hatte das Gefühl, noch nicht lange zu liegen, als sie erwachte. Hatte sie geträumt? Da war etwas. Ein Geräusch! Sie richtete sich zum Sitzen auf.

Erleichtert stellte sie fest; es war nur ein Hase, der durch das Buschwerk huschte. Doch das war nicht alles. Irgendetwas hatte ihn aufgeschreckt. Hoffentlich kein Bär oder Wolf.

Nichts von beiden. Sie erschrak, als sie einen riesigen schwarzen zotteligen Hund sah. Dieser ließ den Hasen laufen und stürzte sich auf Sunja. Sie wich zurück, doch der Hund war schneller. Er hatte sie gestellt und sich über ihr aufgebaut. Sunja hatte Todessangst und sicher roch der Hund das ganz genau.

Eine Weile geschah nichts. Sunja war erstarrt unter dem Tier und dieses stand ebenso regungslos über ihr und fletschte knurrend die Zähne. Speichel tropfte ihm aus dem Winkel seines Mauls auf ihr Kleid. Sunja hörte, wie sich jemand Schritt für Schritt durch das Unterholz kämpfte, und auch der Hund schien es zu vernehmen. Er begann laut zu bellen.

„Sei doch still du blödes Vieh!“, flüsterte Sunja eindringlich, aber vergebens. Das Rascheln war schon ganz nah. Sunja konnte es hören, sehen konnte sie durch den Hund, der über ihr hockte, nichts.

„Da bist du ja Godo! Sunja sei gegrüßt! Ich sehe, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht.“ Sunja erkannte die Stimme und war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.

„Aus Godo! Verzieh dich!“ Der Hund ließ von ihr ab und trollte sich. Sunja richtete sich auf und klopfte den Schmutz ab. Sie sah ihre Vermutung bestätigt, es war tatsächlich Berinhard.

„Was machst du hier?“ Sunja schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an.

„Was glaubst du denn? Ich suche dich!“

„Bist du allein?“ Sunja bekam Angst, dass ein ganzer Trupp Soldaten hinter ihr her sein könnte.

„Ja, Godo und ich. Wir sind allein und außer Ordo im Moment auch die Einzigen, die nach dir suchen.“

„Ordo?!“ Sunjas Herz schlug bis zum Hals.

„Keine Angst, er ist in Richtung Awanleiba unterwegs. Er glaubt, du seiest nach dort gegangen, zurück zu deinen Eltern. Ich konnte mir das jedoch nicht vorstellen.“

„Was ist vorletzte Nacht geschehen als du auf Ordo getroffen bist?“

„Er hat mich nicht umgebracht“, stellte er fest und verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln.

„Was du nicht sagst!“ Sunja tat erstaunt.

„Er hat sich aber auch nicht beruhigen lassen.“ Sein Gesicht war wieder ernst. „Ich konnte nicht vernünftig mit ihm reden. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als ihn mit dem Griff meines Schwertes niederzuschlagen. Er ist nicht ernsthaft verletzt.“

„Wie schön für ihn und jetzt ist er unterwegs zu meinen Eltern. Die Armen, was wird er ihnen wohl erzählen?“

„Keine Ahnung, aber vermutlich nichts Nettes über seine Frau.“

„Das befürchte ich. Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

„Ich habe Einar heute Morgen mit einem Päckchen und einem Krug in den Wald gehen sehen. Ich dachte mir, dass er zu dir unterwegs ist. Ich bin ihm gefolgt und habe ihn leider aus den Augen verloren, weil ich ihm nicht zu nahe kommen wollte. Aber Godo hat dich ja gefunden.“

Sunja schaute feindselig zu dem Hund und dann zu dem Soldaten.

„Warum? Was willst du?!“

„Ganz Nordhusen zerreißt sich das Maul über Ordo und uns beide. Jeder weiß etwas. Alle zeigen mit dem Finger auf mich. Ich weiß, du hast mich in der Nacht gewarnt und ohne dies würde ich vielleicht gar nicht mehr leben. Aber man wird mich fortan in der Feste Ehebrecher schimpfen. Du solltest zurückkommen und wir könnten es richtigstellen.“

„Oh nein, das werde ich ganz sicher nicht! Mir als Frau wird sowieso niemand glauben, wenn Ordo das Gegenteil behauptet.Dein Ruf ist leider ruiniert. Bei mir ist es nur der Rest meines beschissenen Lebens. Den Weg hättest du dir sparen können!“

„Sunja, du kannst hier im Wald nicht überleben! Du kannst froh sein, dass es nur Godo war, der dich angefallen hat. Ein Wolf oder ein Bär hätte dich getötet.“

„Das ist mir gleich, lieber vom Bären gefressen, als zurück zu Ordo gehen! Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich zu diesem Irren zurückkehre?

Er hat mir in der ersten Nacht Gewalt angetan und dann immer wieder!“

„Das war sein Recht“, sagte Berinhard, sah sie dabei aber nicht an.

„Ja natürlich und schlagen darf er mich auch. Das ist sicher auch sein Recht!“

„Du bist seine Frau.“

„Warum rede ich überhaupt mit dir?! Vielleicht hast du es ja in jener Nacht nicht richtig verstanden, aber er hat mein Kind umgebracht!“ Sunja redete sich immer mehr in Rage. „Soll ich dir genau erzählen, wie er das gemacht hat?! Er hat mich solange geprügelt und getreten, bis ich es verloren habe. Ja, ich bin sein Eigentum und genauso behandelt er mich. Nein, er behandelt mich noch nicht mal so! Wenn mir etwas gehören würde, dann würde ich besser damit umgehen.“ Sunja war aufgesprungen und zog ihr Überkleid aus. Berinhard wusste vor Schreck und Scham kaum wohin er sehen sollte und wandte sich ab.

„Schau mich gefälligst an, du blöder Kerl!“ Sie drehte ihm ihre Kehrseite zu und zog ihr aufgeschlitztes Unterkleid über die Schultern. „Und das ist noch längst nicht alles. Wenn es der Anstand nicht verbieten würde, könnte ich dir noch viel mehr zeigen.“

Berinhard sah auf ihren Rücken, er atmete tief ein und nickte. „Tut mir leid, das habe ich nicht gewusst. Dazu hatte er natürlich kein Recht.“

„Schön, dass wir uns da wenigstens einig sind.“ Sunja zog sich wieder an.

„Ach Sunja, warum machst du es mir so schwer. Ich kann dich nicht einfach allein hier zurücklassen. Verstehst du denn nicht? Das wäre dein Ende!“

Sunja kamen Bedenken, dass er sie gleich gewaltsam mit sich in die Siedlung zerren würde. Um dem zuvorzukommen, griff sie eilends nach dem Messer, welches im Boden steckte und umfasste es mit beiden Händen. Sie hielt es drohend vor sich hin und gab dem Soldaten damit zu verstehen, dass er ihr nicht zu nah kommen sollte.

„Du wirst mich nicht wieder zurückbringen!“ sagte sie mit zusammengekniffenen Augen und vorgeschobenen Unterkiefer.

Berinhard bemühte sich, bei ihrem Anblick nicht all zu amüsiert auszusehen. Godo knurrte, doch der Krieger pfiff ihn zurück.

„Du musst ja eine hohe Meinung von mir haben.“ Sie beobachtete ihn aufmerksam, doch er machte keine Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Er lehnte sich an den Stamm eines Baumes und sah sie an. „Und nun? Ich habe Zeit. Wie lange willst du so dastehen, es wird bald dunkel.“

„Egal, ich habe die längste Zeit getan, was andere von mir wollten und ich lasse mich nicht einfach von dir zurückschleifen zu diesem Verrückten. Er würde mich umbringen. Du verstehst das nicht!“ Sunja war das Blut in den Kopf geschossen und das Herz raste in ihrer Brust. Berinhard begriff, dass er sie mit zynischen Sprüchen nicht zur Aufgabe bewegen konnte.

„Doch, ich verstehe und es tut mir wirklich leid.“ Godo kam zu seinem Herren getrottet und Berinhard streichelte über sein Fell.

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast.“ Sunjas Haltung entspannte sich etwas.

„Ich glaube, du weißt über mich eine ganze Menge nicht. Hast du schon einmal einen Menschen mit einem Messer getötet? Glaubst du wirklich, du könntest mich umbringen?“ Sunja dachte einen Moment nach.

„Ich muss dich nicht ermorden, es würde reichen, dich genügend zu verletzen.“

„Da ist etwas Wahres dran. Aber denkst du nicht, dass ich mich wehren würde? Ich würde dir wehtun, obwohl ich das gar nicht will. Vielleicht legst du besser das Messer weg.“

„Ich denke gar nicht daran!“ Sie verharrte in ihrer drohenden Gebärde und sie schwiegen eine Weile.

„Sunja, es war nie die Rede davon, dass ich dich mit Gewalt zur Siedlung zurückbringen will.“

„Das würdest du sicher auch nicht vorher ankündigen.“„Wenn ich dir etwas verspreche, würdest du mir glauben?“ Er schaute ihr fest in die Augen. Sie überlegte und schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, ich glaube nur noch mir selbst. Ich werde nicht zulassen, dass wieder jemand anderes für mich entscheidet. Ich lasse mich nicht mehr hin und her schieben, wie es anderen gefällt! Meine Eltern haben das getan, der Priester hat mit mir gemacht was er wollte und Ordo hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt, von Nada mal ganz abgesehen. Ich vertraue niemandem!“

„Das kann ich dir nicht mal übel nehmen, ich habe dir ja auch nicht geglaubt, als du mir deine Unschuld beteuert hast.

Ich versuche es trotzdem. Hör mir zu! Ich verspreche dir, dass ich dich nicht gegen deinen Willen zurück zur Feste bringe. Ich werde dich nicht anrühren. Niemals! Verstehst du?“ Sie nickte.

„Das alles unter einer Bedingung: Du hörst auf, mich mit deinem Küchenmesser zu bedrohen! Ansonsten nehme ich es dir weg und du kannst mir glauben wenn ich dir sage, dass mir das nicht schwerfallen wird! Ich würde jedoch die friedliche Lösung vorziehen.“

„Weißt du, ich bin in letzter Zeit von Menschen, die mir näher standen als du, nur enttäuscht worden. Doch es scheint so, als wenn ich keine Wahl hätte.“ Sunja legte das Messer langsam auf ihren Mantel.

Berinhard atmete auf. Nicht weil er Angst vor ihr gehabt hätte. Er war nur froh, ihr die Waffe nicht rabiat entwinden zu müssen. Nach dem, was er gesehen hatte, hatte sie genug Gewalt erlebt.

Ohne das Messer in der Hand sah sie hilflos aus und auch ihre Stimme klang dünn, als sie fragte:

„Wie soll es jetzt weitergehen?“

„Ich weiß nicht. Es könnte möglich sein, nach dem was vorgefallen ist, die Ehe für ungültig erklären zu lassen. Dafür muss es uns gelingen, eindeutig zu beweisen, dass uns nichts verbindet, schon gar nicht deine Schwangerschaft. Dafür müsstest du jedoch zurückkommen.“

Sunja warf ihm einen drohenden Blick zu. Berinhard lenkte ein:

„Ich denke, du solltest eine Nacht darüber schlafen. Morgen siehst du die Dinge vielleicht anders.“

„Aha, und du schläfst auch hier?“

„Ich denke schon, es ist spät und wird bereits dunkel. Heute Nacht habe ich keinen Dienst.“ Er streichelte Godo erneut.

„Du wirst mich nicht anfassen! Ich mag schwächer sein als du, es wird dir trotzdem nicht gut bekommen!“ Sie steckte das Messer so an ihren Gürtel, dass er es gut sehen konnte. Berinhard erinnerte sie nicht daran, dass er ihr genau das gerade eben versprochen hatte, sondern nickte nur, zum Zeichen, dass er sie verstand.

Sunja setzte sich auf ihren Mantel und Godo kam zu ihr. Sie wich zurück.

„Er will, dass du ihn streichelst. Du brauchst keine Angst zu haben. Er greift nur an, wenn ich es ihm befehle oder um mich zu beschützen.“ Unsicher strich Sunja ihm über sein schwarzes struppiges Fell. Inzwischen begannen die Sterne zu leuchten und die Nacht legte sich über den Wald.

Sie sprachen kaum miteinander. Dann aßen sie etwas, um sich später niederzulegen. Berinhard bettete sich ohne Decke in das Gras und Sunja war auch nicht bereit, ihm eine anzubieten. Godo würde sie bewachen und anschlagen, wenn von Mensch oder Tier Gefahr drohte.

„Soldat?“, fragte Sunja in die Nacht hinein, um festzustellen, ob er noch wach war.

„Was?“ Seine Stimme klang etwas schläfrig.

„Hast du schon einmal einen Menschen mit einem Messer getötet?“ Der Soldat schwieg.

„Gut, das reicht mir als Antwort.“

„Mehr als einen und nicht nur mit dem Messer. Ich habe in mehreren Schlachten gegen die Sachsen gekämpft.“

Sunja war froh, dass es dunkel war und sie sein Gesicht nicht sehen musste. Sie sagte nichts mehr und erst spät schlief sie ein.

Die Sonne blinzelte seitlich durch die Baumstämme.

„Was wirst du jetzt tun, Sunja? Kommst du mit zurück?“ Obwohl Berinhard das selbst kaum glaubte, setzte er hinzu: „Vielleicht hat sich Ordo ja beruhigt.“

„Ich habe noch nie eine Entscheidung treffen müssen, die mein eigenes Leben und meine Zukunft betraf. Wie du weißt, haben das bis jetzt immer andere für mich getan. Entsprechend schwer habe ich mit mir gehadert. Aber mein Entschluss von gestern steht fest, auch dann, wenn es mein Ende sein sollte. Ich hoffe, du erinnerst dich noch daran, dass du mir gestern dein Wort gegeben hast und mich hier zurück lässt.“

Der Soldat nickte. „Ich erinnere mich. Bedaure jedoch, es gegeben zu haben. Vermutlich hast du gerade tatsächlich dein Ende beschlossen.“ Er sah sie schweigend an, ehe er fortfuhr.

„Dann werden sich unsere Wege jetzt trennen. Ich muss zurück zur Feste. Man wird sich schon wundern, dass ich über Nacht nicht dort war. Ich bin nun mal nicht mein eigener Herr. Soll ich deinem Mann noch irgendetwas ausrichten?“

„Ich glaube es ist besser, wenn ausgerechnet du gar nicht mit ihm über mich sprichst.“

„Auch wieder wahr.“ Berinhard machte Anstalten aufzubrechen und rief nach seinem Hund.

„Warte, würdest du mir noch ein Versprechen geben?“

„Ich denke, du traust meinen Versprechen nicht. Aber ich weiß, was du hören möchtest: Ich verspreche dir, niemandem zu verraten, wo du bist.“

„Danke. Es tut mir leid.“

„Was tut dir leid?“

„Na, dass ich dir nicht helfen kann, wegen der Leute und so ...“

„Ach das! Lass gut sein, ich werd’s überstehen. Viel Glück, pass auf dich auf!“ Dann ging er mit Godo durch das Unterholz, ohne sich noch einmal umzusehen. Sunja sah ihm nach und war wieder allein im großen Wald. Es war still um sie, nur das Zwitschern der Vögel war zu vernehmen.

Nun wussten schon zwei Leute außer ihr selbst, wo ihr Versteck lag. Sunja glaubte nicht, dass einer der beiden sie verraten würde, doch Berinhard war Einar gefolgt. Was, wenn noch andere diese Idee hätten? Sie hoffte sehr, dass Einar heute wieder zu ihr kam. Sie musste ihm sagen, dass er noch vorsichtiger sein musste.

Den ganzen Tag über wartete sie, dabei spürte sie, wie sich der Schmerz, der sich sonst auf dem gesamten Rücken ausgebreitet hatte, an eine Stelle zurückzog und dort seine ganze Wirkung entfaltete. Ihr rechtes Schulterblatt pulsierte quälend.

Sie wartete vergeblich, Einar kam heute nicht. Sie nahm ihren Mantel und trug ihn in die Hecke und legte sie sich nieder für die Nacht.

 

5. Kapitel: Der Haardt

Die Morgendämmerung hatte gerade eingesetzt, als sie durch das Rascheln von Zweigen erwachte. Es war jemand zu ihr in die Hecke gekommen. Schemenhaft konnte sie sehen, wie sich beim Eingang etwas bewegte. ‚Einar’ dachte sie sogleich, doch vorsichtshalber sagte sie nichts.

„Sunja?“ Nein, es war nicht Einar, sondern schon wieder dieser Soldat. Warum ließ er sie nicht endlich in Ruhe? Seinen schwarzen Köter hatte er auch dabei.

„Was machst du hier mitten in der Nacht und was willst du noch?“

„Ich bin auf jeden Fall das letzte Mal hier. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich werde die Feste verlassen.“

„Du läufst fort, wegen ein paar unbegründeter Gerüchte, die sie über dich verbreiten?“, Sunja konnte es kaum glauben.

„Nein, leider ist es das nicht. Ich bin heute Nacht überfallen worden, während ich schlief.“ Er schluckte.

„Ja und?“

„Der Angreifer ist tot. Er hat versucht, mich mit einem Messer umzubringen. Es war Notwehr! Wenn sie ihn finden, kann ich nicht beweisen, dass ich mich nur verteidigt habe.“

„Warum erzählst du mir das alles und kommst zu mir, um dich zu verabschieden?“

Da hörten sie nicht weit entfernt mehrere Hunde bellen.

„Sie sind gleich hier. Ich muss weg!“ Er war schon auf dem Weg zum Ausgang, dann besann er sich.

„Sie werden dich finden. Ich habe dich durch mein unbedachtes Handeln verraten. Es tut mir leid.“

„Schön, dass es dir leidtut, aber das nützt mir wenig!“ Sunja sprang auf, warf ihre gesamte Habe in die Decke und schnürte sie hastig mit dem Lederband zu.

„Idiot!“ Sie warf sich das Bündel mit Schwung auf den Rücken und stöhnte auf, denn bei all ihrer Wut landete es genau auf dem rechten Schulterblatt. Sie schoss an ihm vorbei nach draußen. Die Hunde würden bald hier sein. Sie würde ihnen vermutlich nicht mehr entkommen, aber versuchen musste sie es.

Berinhard griff nach ihrem Arm.

„Lass mich los! Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet?!“ Sie versuchte sich loszureißen.

„Nein, du kommst mit mir! Meine Aussichten ihnen zu entkommen sind größer - ich habe ein Pferd.“ Das war ein Argument, welches Sunja nicht von der Hand weisen konnte.

„Schnell!“ Er machte ein paar Schritte und brachte sie zu Aschari. Dann half er ihr hoch. Er selbst führte das Tier am Zügel aus dem dichten Unterholz, dorthin wo der Waldboden etwas lichter wurde, dann schwang er sich hinter sie und sie ritten durch den Wald. Sie folgten dem Einschnitt des Berges nach unten, weg von der Siedlung. Die Meute kam immer näher. Doch er konnte nicht schneller reiten, die Pflanzen wuchsen hier zu dicht und es war noch immer sehr dunkel.

Sunja umklammerte ihr Bündel und hoffte auf ein Wunder. Am Fuße des Berges wurde der Wald offener. Sie trafen auf das feuchte Gebiet der Zurrega. Daran entlang zog sich ein schmaler Pfad. Hier konnte Berinhard endlich sein Pferd zu einer schnelleren Gangart antreiben. Sie flogen förmlich an dem Flusslauf entlang. Berinhard musste Sunja gut festhalten, dass sie nicht vom Pferd fiel. Doch die Hunde waren ausdauernd und folgten ihnen, dabei kamen sie ihnen immer näher. Sie befanden sich rechts des Wassers. Es war kein schmaler fließender Fluss, sondern zwischen dem eigentlichen Wasserlauf und dem Weg gab es stehende Wasserlachen, ähnlich kleinen Teichen. Knorrige Weiden wuchsen um diese herum. Über dem Wasser lag Morgennebel und im Dämmerlicht verlieh das dieser Landschaft ein gespenstisches Aussehen.

Der kleine Pfad führte weiter. Berinhard verließ ihn und lenkte Aschari in Richtung Zurrega. Zwischen den Wasserlachen hindurch begab er sich direkt in das fließende Gewässer. Zum Glück führte der Fluss im Hochsommer nicht so viel Wasser. Er wollte so ihre Fährte zerstören und die Hunde verwirren. Godo zum Bad zu bewegen, war dabei das schwierigste Unterfangen. Doch er war ein gehorsamer Hund und tat seinem Herrn jeden Gefallen.

Sie ritten eine ganze Weile durch das Wasser und das Gebell entfernte sich tatsächlich bald. Berinhards Plan war aufgegangen. Doch sie waren noch nicht in Sicherheit. Die Hunde waren dumm, sie folgten nur der Spur, die sie riechen konnten. Die Soldaten, welche den Tieren folgten, hingegen würden wissen, welche List Berinhard angewandt hatte und den Flüchtigen weiter folgen.

Sunja erkannte, in welche Richtung der Soldat sein Pferd lenkte und erschauderte. Vor ihnen lag der unheimliche und dunkle Bergwald. Seit sie ein Kind war, konnte sie ihn in der Ferne sehen. Die Menschen nannten ihn Haardt und erzählten entsetzliche Geschichten über ihn, wie Dankrun es getan hatte. Kaum einer traute sich in die Berge hinein, nicht einmal der Vasall mit seinen Kriegern. Und genau dorthin waren sie gerade unterwegs.

Der Pfad war eng und gerade noch zu erahnen. Trotzdem schien er ab und zu benutzt zu werden. Die Bäume um sie wurden dichter und Berinhard ritt immer tiefer in den Urwald.

Am Nachmittag führte sie der enge Weg, der dem schmaler werdenden Wasserlauf gegen die Fließrichtung folgte, zu mehreren eigentümlichen Felsformationen. Über ihren Köpfen zu ihrer Rechten ragten Felsnadeln, wie hohe Türme in den Himmel. Wie Wächter, die den Eingang des Haardts bewachten und den Eindringling warnen sollten.

Eine Rast an dieser Stelle behagte beiden nicht und sie ritten weiter. Sunja drehte sich immer wieder um und sah nach den beängstigenden Felsen. Sie hatte die verrückte Vorstellung, diese würden sich in Riesen verwandeln und vom Berg zu ihnen herunter steigen.

Nicht weit von den Felsenhünen kamen sie an eine Stelle, wo es steil bergauf ging und ihnen der kleine Fluss über mehrere große Steine als Wasserfall entgegenkam. Sie stiegen vom Pferd und kletterten zu Fuß nach oben.

Sunja bekam krampfartige Schmerzen im Unterleib. Sie stöhnte auf, drückte die Hand dagegen und schleppte sich weiter. Berinhard ging hinter ihr und schaute besorgt auf ihre Kehrseite. Oben öffnete sich eine feuchte sumpfige Wiese vor ihren Augen. Der Krieger suchte nach einer trockenen Stelle neben dem Pfad.

„Setz dich hin. Wir haben es geschafft.“ Sunja legte ihre Decke ins Gras, ließ sich darauf nieder und schaute noch einmal zurück. Hatten sie es wirklich geschafft? Waren sie hier ihren Verfolgern entkommen? Würden diese Felswächter sie nun beschützen, da sie ihr Gebiet betreten hatten.

Berinhard ging zu Aschari, holte einen Holzbecher aus seinem Gepäck und kniete sich am Flussufer nieder. Er trank etwas und füllte den Becher erneut, um ihn Sunja zu reichen. Sie nahm ihn ohne ein Wort und trank ebenfalls, dann gab sie das Gefäß zurück.

„Was werden wir nun machen?“ Ihre Worte klangen kühl. Berinhard nahm ihr den Becher aus der Hand und schaute auf sie herab. Er verstand ihren Ärger. Es war seine Schuld, dass sie sich in dieser gefährlichen Gegend befand und dass ihr so gut gewähltes Versteck verraten war.

„Mir fällt sicher etwas ein.“

„Hoffentlich bald!“ Sunja schnitt das Brot, welches sie von Einar bekommen hatte, und reichte ein Stück davon dem Soldaten, der sich inzwischen auf seiner Decke niedergelassen hatte. Berinhard hatte keinen Appetit und legte die Brotscheibe nach wenigen Bissen zur Seite.

„Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dein Versteck nicht verraten.“

„Nun, das ist wohl nicht mehr zu ändern. Ich verstehe sowieso nicht, warum du überhaupt zu mir gekommen bist.“

„Ich wollte dir unbedingt noch etwas sagen, ehe ich für immer die Feste verlasse.“ Berinhard senkte den Blick.

„Und was?“

„Letzte Nacht kam ich spät vom Dienst in meine Kammer. Ich legte mich sehr bald auf mein Lager und schlief ein. Ich weiß nicht, ob ich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr allein war, aber es ist wahrscheinlich.

Ich erwachte durch ein leises Geräusch. Als ich die Augen aufschlug, fuhr mir der Schreck durch die Glieder. Über mir erkannte ich die Umrisse eines Mannes. Er hatte schon ausgeholt, mir ein Messer in die Brust zustoßen. Ich rollte mich blitzartig zur Seite und die Waffe durchstach nur die Felle meines Lagers. Im selben Moment griff ich nach meinem Soldatenmesser. Wenn dieser Narr nach dem missglückten Anschlag geflüchtet wäre, würde er noch leben. Ich hätte noch nicht einmal gewusst, wer er war. Doch er riss seine Waffe erneut hoch und sprang auf mich zu. Da traf ihn mein Messer in den Bauch. Er brach augenblicklich vor mir zusammen.Ich war selbst ganz benommen und brauchte ewig, bis es mir gelang, einen Kienspan zu entzünden. Ich drehte ihn auf den Rücken, um ihm ins Gesicht zu leuchten.“ Nach Worten ringend raufte er sich die Haare, dann schaute er sie direkt an.

„Sunja, es war Notwehr! Er hätte mich ohne zu überlegen umgebracht. Ich hatte keine Wahl! Das musst du mir glauben.“

Sunjas Gesicht war blutleer. Es hatte sich alles nach Ordo angehört. Versuchte er ihr gerade beizubringen, dass ihr Mann tot war? Ihre Lippen formten bebend und leise bedrohlich die Worte: „Wer war es?!“

„Einar.“ Es traf sie, wie ein Donnerschlag. Sunja vergaß weiterzuatmen und starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen fassungslos an. Eisiges Schweigen ließ eine unüberwindbare Schlucht zwischen ihnen wachsen. Nur tropfenweise rann die Erkenntnis über den Verlust in ihren Verstand. Als sie zu sprechen anhob, klang ihre Stimme ruhig und schneidend klar.

„Er hatte das Gemüt eines Kindes. Er hat mir geholfen, als niemand mehr an mich geglaubt hat! Du bist ein Mörder!“ Sie stand auf, wie von fremder Hand geführt, und räumte ihre Sachen zusammen. Berinhard sah zu und sagte nichts. Sie schnürte ihr Bündel und legte es sich über die linke Schulter. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, schritt sie auf dem schmalen Pfad weiter in den Bergwald hinein.

‚Es ist gefährlich allein im Gebirge!’, wollte er ihr hinterher rufen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er wusste, er würde sie nur mit Gewalt aufhalten können, und dazu fühlte er sich jetzt nicht in der Lage.

Wenn sie doch wenigstens geweint oder geschrien hätte. Doch so war es noch viel schlimmer. Sie war hinter einer großen Weide verschwunden und er stand allein auf der feuchten Wiese.

Godo schaute seinen Herrn mit schiefem Kopf an, zog den Schwanz ein und trollte sich.

Wütend über sich selbst und all die Dinge, die sich in den letzten Tagen zugetragen hatten, schlug Berinhard mit solcher Wucht die Faust gegen einen abgestorbenen Baumstamm, dass er sich die Fingerknöchel aufriss.

Sunja entfernte sich immer mehr von ihm. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und eine unsichtbare Schnur zog sich immer enger um ihr Herz. Sie schluckte und wischte sich die Augen. Sie wollte nur weg von ihm, ihn nicht mehr sehen müssen. Obwohl sie es noch immer nicht begreifen konnte, dass Einar für immer und ewig tot war. Nie wieder würde er ihr einen Hasen oder eine Katze aus Holz schenken. Der Gedanke an Dankruns Kummer war dabei fast noch schlimmer.

Sie lief, bis sie sicher war, dass er sie nicht mehr sehen konnte, dann setzte sie sich auf einen umgestürzten Baum.

Am nächsten Morgen stand Sunja allein und ratlos im Bergwald. Wohin sollte sie gehen? Am einfachsten war es, dem Flusslauf zu folgen. An ihm zog sich der verwilderte Weg entlang. Ab und zu überquerte sie kleine Bäche. Wenn sie etwas größer waren, führte auch schon mal ein angefaulter Steg darüber.

Ihr Gepäck musste sie vor sich im Arm tragen, da sie es nicht mehr über den Rücken legen konnte, der tat auch so genug weh. Außerdem hatte sie Krämpfe im Unterleib. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, doch Sunja schleppte sich weiter vorwärts. Allein der Gedanke, sich mit jedem Schritt von Berinhard, Ordo und der Feste zu entfernen, hielt sie noch auf den Beinen. Schnell war sie dabei nicht.Am späten Nachmittag traf sie auf eine Stelle, wo der Wald offener war. Die Abendsonne warf große helle Flecke auf den Waldboden. Der kleine Flusslauf, sowie auch der Weg, gabelten sich. Sunja konnte sich nicht entscheiden, sie würde über Nacht hier bleiben.

Sie setzte sich in die Sonne und beobachtete zwei Eichhörnchen. Es sah niedlich aus, wie sie den Baumstamm hoch und runter liefen. Einar hätte das gefallen.

Einar war außer Dankrun der Einzige in der Feste, dem sie immer vertraut hatte. Er hätte niemals etwas getan, was sie verletzt hätte. Er hätte sie auch niemals verraten. Berinhard hatte im Wald ihr Vertrauen eingefordert und sie hatte es ihm gegeben. Das war ein Fehler, er war es nicht wert. Es fiel ihr schwer, das zuzugeben, aber sie hatte nicht nur einen Freund verloren. Genaugenommen waren es zwei. Den einen konnte und den andern wollte sie nie wieder sehen.

Ohne es zu merken, hatte sie begonnen mit den Zähnen an ihren ohnehin nicht sehr langen Fingernägeln zu kauen.

Alles war so sinnlos. Warum versuchte sie überhaupt weiter zu gehen? Darauf fand sie keine vernünftige Antwort. Allein im Bergwald würde sie nicht weit kommen. Irgendein wildes Tier würde bald Interesse an ihr finden und wenn nicht, würde sie spätestens im Winter verhungern oder erfrieren. Sie legte ihre Hände in den Schoß. Eigentlich war ihr Leben zuende. Wer weiß, vielleicht war das gut so. Sie beschloss, morgen nicht weiter zu gehen. Warum auch? Sterben konnte sie genauso gut hier.

Noch während sie nachdachte hörte sie Hufschläge. Sie rappelte sich hoch und verbarg sich hinter einem Gebüsch. Ihr Herz schlug schneller. Vielleicht war sie doch nicht so lebensmüde, wie sie gerade noch gedacht hatte.

Der Reiter war schnell unterwegs. Sunja erkannte ihn durch die weitauseinanderstehenden Bäume. Es war niemand anders als Berinhard. Er sprengte mit seinem Pferd direkt auf sie zu. Sie war zu langsam hinter das Gebüsch gekrochen, auch er hatte an dieser Stelle weit blicken können und sie verschwinden sehen. Was wollte er von ihr und warum hatte er es so eilig?

„Komm!“ Berinhard war außer Atem und hielt sein Pferd mit Kraft und ganzem Körpereinsatz genau vor dem Busch.

„Was?“ Sunja riss die Augen auf, zog die Stirn kraus und ballte die Hände zu Fäusten. „Sag mir einen vernünftigen Grund, warum ich mit dem Mann kommen soll, der den einzigen Freund ermordet hat, den ich in der Feste hatte!“

„Das ist mir ein Leichtes: Hinter mir reiten die Wachen und Ordo! Sie suchen uns beide und sind nicht mehr weit entfernt! Ist das vielleicht ein Grund, mit mir zu kommen?!“

Die Wut gegen Berinhard wurde überlagert von der Angst vor ihrem Mann. Stimmte es, was der Soldat sagte? Warum sollte er lügen?

„Verdammt Sunja, komm! Ich habe es eilig. Sie haben Hunde, die riechen deine Fährte und sie werden dich finden!“

Schon wieder diese blöden Hunde. Mit Berinhard reiten, das war wirklich viel verlangt, trotzdem raffte Sunja ihre Habe zusammen und ließ sich von dem Soldaten auf dessen Pferd ziehen. Sie nahm hinter ihm Platz und schob ihre Röcke weiter nach oben. Dann packte sie das Bündel und die Decke zwischen ihre Beine vor sich auf das Pferd und legte die Handflächen zögernd auf seine Hüfte.

„So wird das nichts!“ Er griff nach ihren Händen und legte sie übereinander unterhalb seiner Brust. Im selben Moment hörten sie auch schon das Bellen der Hunde und die Hufschläge der anderen Pferde. Kurz darauf konnte man sie sehen. Der Hauptmann und Ordo sprengten vorweg. Er und die Soldaten trieben ihre Tiere an.

„Berinhard! Ich befehle dir: Bleib stehen!“ Es war der Hauptmann und der Soldat hielt einen Moment inne. Sunja spürte, wie sich seine Muskeln unter ihren Händen anspannten. Er war es gewohnt, Befehlen dieses Mannes bedingungslos zu gehorchen.

Sunjas Mann ritt nicht auf seinem kleinen Pferdchen Odin, sondern auf einem großen geborgten Rappen. Sein Anblick versetzte sie in Angst und Schrecken.

„Bleibt stehen! Lass sofort mein Weib runter! Sie gehört mir!“ Ordos Gesicht lief rot an. „Du mieses Schwein, es stimmte also, du hast ihr den Balg gemacht! Ich werde euch schon noch einholen und dann seid ihr beide dran!“

Sunja schloss die Augen „Bitte reite!“, flehte sie Berinhard an. Er krallte seine Hände um den Riemen des Zaumzeuges und atmete tief ein. Es war, als wenn eine unsichtbare Schlinge, die sich um ihn gelegt hatte, zerriss.„Hiiia!“ Er rammte Aschari die Fersen in die Seiten. Die Stute schien nur darauf gewartet zu haben. Sie bäumte sich auf, setzte zum Sprung an und preschte davon. Über den Fluss nahmen sie den linken Abzweig des Weges. Sunja war froh, dass er ihr die Hände vor seinen Körper gelegt hatte. Sie hatte auch so genug Mühe, sich an dem Soldaten festzuhalten, um nicht herunterzufallen.

„Kopf runter!“ Sie beugten sich beide weit nach vorn. Trotzdem streifte sie der eine oder andere Ast und hinterließ seine Spuren auf der Haut.

Die Wachen der Feste und Ordo trieben ihre Tiere an und hasteten hinter Sunja und Berinhard her. Es war ein wilder und gefährlicher Ritt. Alle, Berinhard und auch ihre Verfolger mussten achtgeben, dass die Pferde in dem unwegsamen Gelände nicht stürzten. Aschari schaffte es, sich und ihre Fracht mehr und mehr von ihren Verfolgern zu entfernen. Trotz doppelter Last konnte keins der anderen Tiere es mit Berinhards Stute aufnehmen.„Halt!“ Der Hauptmann hielt sein Pferd an. Seine Leute folgten augenblicklich seinem Befehl.„Was ist?“, schrie Ordo erbost. „Ihr wollt doch wohl nicht schon aufgeben?!“„Doch Müller! Wir können sie nicht einholen, siehst du das denn nicht? Dieser Bastard kann am besten reiten und hat das schnellste Pferd von all meinen Männern!“ Der Hauptmann war vom Pferd gestiegen. Er kam auf Ordo zugeschritten und fasste nach den Zügeln des Tieres, auf dem der Müller saß. „Außerdem will ich dir noch etwas sagen: Er war ein guter Soldat. Jetzt ist er ein Geächteter! Ich glaube nicht, dass er den Dorftrottel ohne Grund angegriffen hat. Immerhin geschah es des nachts in seiner Unterkunft. Sicher hat das alles mit deinem Weib zu tun. Nur weil du nicht besser auf sie aufpassen konntest, habe ich einen meiner besten Männer verloren. Weibsvolk!“ Verächtlich spuckte er auf den Waldboden aus und wandte sich ab.Ordo sprang vom Pferd und war so wütend, am liebsten hätte er den Hauptmann erschlagen. Schließlich war der doch an allem schuld, er hatte sie ihm mitgebracht. Doch er wusste: Gegen ihn war er unterlegen, deshalb traute er sich nicht. Stattdessen fluchte er laut und ungestüm vor sich hin, während er auf und ab lief, wie ein aufgescheuchter Gockel. Er wandte seinen Blick immer wieder dorthin, wo Sunja mit dem Krieger im Wald verschwunden war. Der Müller hatte die Fäuste geballt und stellte sich vor, was er mit Sunja machen würde, wenn er sie je wieder zwischen die Finger bekommen sollte. Sein Gesicht war tiefrot und seine Zähne knirschten aufeinander.

Sie waren geritten so schnell sie konnten, und erst lange, nachdem sie die Soldaten nicht mehr hinter sich sehen konnten, hielt Berinhard sein Pferd an. Sunja rutschte kraftlos von dem Tier.Bald würde es dunkel werden. Berinhard legte seine Decke ins Gras und holte die Waffen und sein Gepäck vom Pferd, er rieb das Tier ab und ließ es grasen. Der Krieger sprach nicht und Sunja wollte mit ihm sowieso keine Worte wechseln. In ihren Augen blieb er, trotzdem sie mit ihm zusammen geflohen war, der Mann, der Einar umgebracht hatte und genauso sah sie ihn auch an.Jeder Blick von ihr traf ihn wie ein eisiger Hagel und dabei war doch seine eigene Lage schwierig genug. Er ertrug das nicht länger tatenlos und griff nach seiner Wurfaxt. Sunja zuckte erschrocken zusammen. Er ging ein Stück weit in den Wald damit, umfasste den Stiel der Waffe, holte aus, nahm Maß und schleuderte mit ungeheurer Kraft das Beil in einen der Baumstämme. Dann ging er zu dem Stamm und zog mit einem Ruck die Axt wieder heraus. Er hob sie erneut, um sie auf ein anderes unschuldiges Waldgewächs zu schleudern. Doch er hielt inne, senkte die Hand mit der Waffe und kam zu seiner Decke zurück, ohne Sunja anzusehen.Er legte sich hin und drehte ihr den Rücken zu. Sunja schaute nach ihm. Er lag nicht weit von ihr entfernt. Sie griff vorsichtig nach dem langen spitzen Küchenmesser, das sie am Gürtel trug. Ihre Hand schloss sich fest um den Griff.Sie sah auf sein breites Kreuz. Sie suchte mit den Augen nach der Stelle, in die sie das Messer rammen musste, um Einar zu rächen. Sie hob die Waffe. Ein Sprung zu ihm hinüber und es wäre getan. ‚Hast du schon einmal einen Menschen mit einem Messer getötet? Glaubst du wirklich, du könntest mich umbringen?’, hatte er gesagt, es war noch gar nicht lange her und es hallte in ihrem Kopf wieder.Sie beobachtete, wie sich sein Körper beim Atmen hob und senkte. Wenn sie zustach, wäre das vorbei.Dann schloss sie die Augen, nahm die Hand herunter und ließ den Griff los. Nein, sie konnte es nicht! Er hatte ihr nie etwas getan. Er hatte Einar auf dem Gewissen, doch als eiskalter Rächer taugte sie nicht.Sie sprachen an diesem Tag kein einziges Wort mehr miteinander. Sunja fand bis tief in die Nacht keinen Schlaf. Sie wusste nicht, wie sie sich hinlegen sollte, damit ihr nichts weh tat. Auf ihrem rechten Schulterblatt lag das Zentrum des Schmerzes. Sie setzte sich auf und fühlte mit der linken Hand über diese Stelle. Sie war heiß, dick und die geringste Berührung verursachte noch größere Pein. Sie konnte nichts tun, als sich wieder hinzulegen. Doch an Schlaf war nicht zu denken.Während sie still vor sich hin litt, hörte sie neben sich den Soldaten unregelmäßig atmen. Er wälzte sich ständig von einer Seite auf die andere. Auch er schlief nicht. Die Ereignisse der letzten Tage und Nächte ließen ihn keine Ruhe finden. Das geschah ihm recht! Irgendwann in den frühen Morgenstunden übermannte Sunja der Schlaf.Sie erwachte, als Berinhard sich neben ihr erhob. Er schaute auf sie hinab und verzog keine Miene. Sie rappelte sich hoch. Mit zusammengekniffenen Augen und aufeinander gepressten Lippen verharrte sie im Sitzen. Sie konnte sich kaum vorstellen, den Weg fortzusetzen, egal ob zu Fuß oder auf dem Pferd.„Was ist?“ fragte er. Sunja sah zu ihm auf und presste kopfschüttelnd ein „Nichts“ hervor.„Dann komm, wir müssen weiter! Möglicherweise verfolgen sie uns noch immer. Sie können sich nach unseren Spuren richten, die wir hinterlassen haben.“ Sunja nickte und stand schwerfällig auf. Sie packten ihre Sachen und bestiegen das Pferd. Gerade als sie losreiten wollten, hörten sie ein Bellen. Sunja schreckte zusammen. Doch Berinhard machte keine Anstalten, das Pferd anzutreiben. Es war Godo, der gestern dem schnellen Pferd nicht hatte folgen können. Er freute sich, seinen Herrn wiederzufinden. Sunja beobachtete mit Argwohn, wie auch dieser beim Anblick des Hundes seit langem das erste Mal ein freundliches Gesicht machte.Sie verließen den Pfad und ritten auf Aschari durch den Bergwald, dabei versuchten sie, sich möglichst in den Tälern zu halten. Berinhard überließ die Reisegeschwindigkeit weitgehend der Stute. Godo trottete nebenher.Als die Sonne am höchsten stand, hielt Sunja es nicht mehr aus. Sie wollte nicht mit ihm reden, aber ihre Lage zwang sie dazu.„Können wir eine Pause machen?“ Berinhard hielt das Pferd an. Sie rutschte hinter ihm von Aschari herunter und kam dabei unglücklich mit der Schulter gegen das Tier. Sie stöhne auf, biss sich auf die Unterlippe und verstummte gleich wieder. Berinhard stieg vom Pferd und schaute zu Sunja.„Mag sein, dass ich in deinen Augen ein Mörder bin, aber es könnte helfen weiter zu kommen, wenn du mir sagst, wo es wehtut.“Sunja machte eine Handbewegung zu ihrem Rücken auf das rechte Schulterblatt. Es sah so aus, als wenn Berinhard erleichtert aufatmete.„Es ist also nur der Rücken. Lass sehen!“Sunja sah ihn empört an. „Was soll das heißen? Es ist NUR der Rücken? Es tut weh, wie das Feuer der Hölle!“„Beruhige dich, ich glaub’ dir ja. Es hätte doch sein können, es ist etwas mit deinem Bauch nicht in Ordnung, wegen des Kindes und wegen Ordo ...“ Sunja änderte ihren Gesichtsausdruck von empört zu zornig und ballte ihre Hände. Berinhard beschloss, das Reizthema Ordo nicht auszuweiten. „Wie auch immer, aber da hätte man nichts machen können, außer warten, wie es ausgeht.“Sie dachte gar nicht daran, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie auch dort immer wieder heftige Krämpfe plagten. Sie löste ihre Fäuste und schaute ihn herausfordernd an. „Aha, aber so kannst du etwas machen?“„Vielleicht. Zeig her!“Sunja hatte diesmal mehr Hemmungen, sich zu entkleiden, wie noch vor Kurzem, als sie ihm voll Wut versucht hatte zu erklären, warum sie Ordo verlassen musste. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie von ihm überhaupt Hilfe wollte. Andererseits waren die Schmerzen so groß, dass sie bereit war, ein Stück ihres Stolzes zu opfern. Sie zog ihr Überkleid aus und schob ihr kaputtes Unterkleid über die rechte Schulter.„Hm, ich glaube dir gern, dass das wehtut.“„Warum heilt es nicht, wie der Rest?“„Die Wunde war tief und ist nur oberflächlich zugeheilt. Darunter hat sie sich entzündet und inzwischen hat sich jede Menge Eiter gebildet. Vermutlich, weil die Kleidung darauf reibt.“ Er strich mit dem Finger darüber. Sunja jammerte auf.„Es ist ganz heiß und dick. Wir sollten etwas tun.“„Und was?“„Mal sehn, ich kümmere mich darum. Ruh dich aus, wir reiten heute nicht weiter.“Dieser Entschluss wunderte Sunja zwar, aber sie sagte nichts dazu. Sie legte sich auf die Seite und spürte, wie ihr Rücken pulsierte.Berinhard machte ein Feuer, obwohl es Tag und hell war. Er nahm den Sax, ging damit zu dem Bachlauf und wusch ihn gründlich. Er trocknete ihn nicht ab, sondern ging zurück zum Feuer und hielt die Waffe darüber in die Flammen.„Sag, was willst du machen?“ Sunja war sich noch immer nicht sicher, ob sie sich helfen lassen wollte.„Warte, gleich.“ Er nahm das Messer aus der Flamme und begutachtete es.„Wenn der Eiter abfließt, wird es schneller heilen, und wenn der Druck weg ist, wird es nicht mehr so sehr wehtun.“„Mit andern Worten, du willst es aufstechen?“„Richtig! Setz dich auf!“ Sunja überlegte, nickte und tat es. Berinhard kniete sich hinter sie auf den Waldboden. Er umfasste mit dem linken Arm Sunjas Oberkörper und ihren rechten Oberarm hielt er mit der Hand wie in einem Schraubstock. Er zog sie nach vorn und setzte das Messer an den unteren Rand der eitergefüllten Entzündung. Sunja verdrängte die Erinnerung daran, wie sie ihm noch am Abend zuvor das Messer in seinen Rücken rammen wollte.„Hast du so etwas schon mal gemacht?“ Vielleicht hätte sie das eher fragen sollen.„Nein.“„Was?!“„Ich habe mehrfach beobachtet, wie man es macht.“„Das klingt nicht vertrauenserw... Au!“ Sunja schrie auf und verkrampfte die Muskeln im Oberkörper. Er hielt sie fest in seinem Griff und bald war das Schlimmste überstanden. Langsam und vorsichtig strich er mit der Handkante über die warme Erhebung. Sie biss die Zähne fest aufeinander. Am Anfang floss ein wenig Blut, später nur noch dickflüssiger gelber Eiter. Als die Absonderung dünnflüssiger und hellrot wurde, beendete er den Eingriff und ließ sie langsam los. Sunja war leicht benommen, aber noch Herr ihrer Sinne.„Du solltest es an der Luft heilen lassen. Es ist warm genug, du brauchst nichts überzuziehen.“ Sie hörte kaum, was er sagte und legte sich zur linken Seite. Die Wunde tat furchtbar weh. Sie war so erschöpft, dass sie trotz der Schmerzen bald einschlief.Berinhard breitete, als es dunkel wurde, ihre Decke über Sunja. Er achtete darauf, dass er dabei nicht die aufgeschnittene Stelle berührte, aus der immer noch verhalten Wundflüssigkeit austrat.Der Krieger setzte sich ans Feuer und schaute in die Flammen. Später stand er auf und holte einige heruntergefallene Äste, um sie nachzulegen. Als Berinhard sich zurücksetzte, trottete Godo etwas umher und legte sich neben seinem Herrn nieder. Dieser kraulte sein Fell und sprach leise zu dem Hund.„Sie mag uns nicht. Dafür hat sie ihre Gründe. Weißt du, ich habe aber mehr als nur dieses eine Problem. Auch für uns hat sich einiges verändert und ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie es weitergehen soll.“ Godo rollte sich auf den Rücken, um sich die Bauchseite kraulen zu lassen.„Du hörst mir ja gar nicht zu“, beschwerte er sich mit leiser Stimme, tat ihm aber den Gefallen.

Es war ein schöner Morgen. Die Vögel sangen und die Sonne war gerade dabei, ihre ersten Strahlen zu ihnen hinab zusenden, als Berinhard erwachte. Er wusch sich mit Bachwasser, nahm ein Stück Tuch, machte es nass und weckte Sunja. Es ging ihr bedeutend besser als am Abend zuvor.Er weichte den angetrockneten Wundfluss auf und entfernte ihn. Dann legte er das erneut ausgewaschene Tuch auf die entzündete Stelle, um sie zu kühlen. „Nachher lässt du die Sonne darauf scheinen. Es ist warm genug, du brauchst dieses Überkleid nicht.“„Hm!“ Sunja war nicht begeistert, halb nackt durch den Bergwald zu streifen. Ordo hatte es immer viel zu gut gefallen, wenn sie nur dieses Unterkleid trug. Ein Schwall von Unbehagen stieg in ihr auf. Der Soldat merkte davon nichts.„Trink etwas! Das wird dir helfen.“„Du hörst dich an, als wärst du meine Mutter“, antwortete Sunja schnippisch „Du hättest Heiler und nicht Soldat werden sollen.“„Ich weiß über diese Dinge bescheid, weil ich Soldat bin … war.“Befangen schwiegen sie einen Moment bis sich Berinhard räusperte.„Sunja, ich habe nachgedacht. An manchen Stellen gibt es selbst hier kleine Pfade. Ich glaube nicht, dass diese ausschließlich von Tieren benutzt werden. Ich denke, dass es Menschen gibt und kleine Ansiedlungen. Aber es wird schwer sein, diese zu finden und wenn, wissen wir nicht, ob sie uns gut gesonnen sind. Wir sollten uns eine Stelle suchen, wo wir einen Lagerplatz aufschlagen. Von dort aus können wir die weitere Umgebung erkunden.“Sunja schwieg, während sein Blick fordernd auf ihr lag.„Sag etwas dazu!“„Ganz ehrlich? Du willst wirklich meine Meinung wissen?“ Er nickte und Sunja fuhr fort: „Die Vorstellung, Wochen oder gar Monate mit dir allein zu verbringen, klingt nicht gerade verlockend.“„Heißt das jetzt ‚Ja’ oder ‚Nein’?“„Habe ich eine Wahl, nachdem du mich bis hierher verschleppt hast? Natürlich machen wir es, wie du gesagt hast!“Sie verbrachten den ganzen Tag mit Suchen. Sunja hielt einfach nach Plätzen Ausschau, wo es schön war. Berinhard legte andere Bedingungen als Schönheit zugrunde. Es musste ein Wasserlauf in der Nähe sein. Es durfte keine offensichtlich ausgetretenen Wege geben und es sollte schwer einzusehen sein. Gut wäre es aber, wenn man selbst von dort möglichst viel überblicken könnte.Nach diesen Kriterien kam nur ein Platz infrage, der höher am Berg und nahe an einem Quellbach lag. Aber er durfte auch nicht zu abschüssig sein, damit man ein kleines Feuer machen und sich hinlegen konnte, ohne den Berg hinunterzurutschen.Sie folgten den ganzen Nachmittag einem Bachlauf, der sich durch ein schmales, tief eingeschnittenes Tal schlängelte. Um das Pferd zu entlasten, stiegen sie ab, denn die Hänge rechts und links des Wasserlaufes waren steil und unwegsam. Später öffneten sich die Berge nach rechts und ein größeres Rinnsal kam aus dem breiten Einschnitt herunter geplätschert. Sie bogen dort ab, weil es noch mehr Abgeschiedenheit versprach, als der Hauptarm des Flüsschens.Entgegen der Fließrichtung stiegen sie weiter hinauf. Fast ganz oben öffnete sich das bis dahin wieder enger werdende Waldstück und gab eine Wiese frei, die nur mit wenigen Bäumen bewachsen war.Auf der Grasfläche konnten sie ihr Lager nicht aufschlagen, da diese zwar nicht abschüssig, aber sehr feucht war. Der Bachlauf hatte sich hier zu einer seichten Wasserlache entwickelt. Nachdem sie die Wiese überquert hatten, sahen sie am flach ansteigenden Berghang den perfekten Platz für ihr Vorhaben. Er genügte ihrer beider Ansprüche in allen Dingen. Sie hatten Wasser und Licht, sie waren vor fremden Blicken geschützt, weil die Stelle wie in einem Kessel lag, und wenn sie nur ein Stück nach oben gingen, konnten sie über den Berg in das nächste Tal sehen und auch ihr eigenes überblicken. Selbst Sunja musste zugeben, dass sie keine bessere Stelle hätten finden können.Über ihre Suche war es spät geworden und die Dämmerung brach herein. Sie begnügten sich mit einem einfachen Lager. Berinhard würde erst morgen damit beginnen, einen Unterstand zu bauen, der sie vor Wind und Wetter schützen sollte. Sunja war das recht. Sie machten ein Feuer und grillten einen Hasen darüber, den Godo unterwegs gerissen hatte.„Sunja geht es dir gut?“ Dabei ging es Berinhard weniger um die Verletzung. Sie sah noch unglücklicher aus, als die letzten Tage ohnehin schon.Sie nickte nur und aß weiter, ohne aufzusehen. Da Sunja eisern schwieg, sagte auch Berinhard den Rest des Abends nichts. Er wollte sich schon zum Schlafen ausstrecken, als sie doch noch zu sprechen begann.„Ich muss dir etwas sagen!“„Willst du mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen?“ Berinhard klang verschlafen.„Nein.“„Soll ich dir eine erzählen?“„Nein! Ich will etwas klarstellen.“ Ihre Stimme klang ungeduldig. Berinhard hatte den Eindruck es könnte wichtig sein und setzte sich auf.„Na dann sprich!“„Was ich dir zu sagen habe ist, ... wenn ich die nächste Zeit gezwungen bin, mit dir zusammen zu sein, wir jede Nacht nebeneinanderliegen werden, ... dann ... dann werde ich nicht, ... dann kann ich nicht ...“„Ich weiß schon; du kannst mich nicht leiden.“ Er grinste ein wenig.„Ja, das auch und solltest du versuchen, mich irgendwie ... anzufassen, dann kann ich dir nur davon abraten. Es könnte sein, dass du morgens nicht mehr aufwachst, weil dir ein Küchenmesser zwischen den Rippen steckt. Hast du mich verstanden?!“„Klar und deutlich.“ Er legte sich hin und machte erneut Anstalten einzuschlafen. Sunja schaute zu ihm. Nachdem sie ihre Drohung losgeworden war, wünschte sie sich, er hätte etwas mehr gesagt. Egal was. Wenn er herumgebrüllt oder mit seiner Axt Bäume beworfen hätte, selbst dass wäre nicht so schlimm gewesen, wie diese erdrückende Stille, die jetzt zwischen ihnen herrschte.Sie räusperte sich und ihre Stimme klang unsicher, als sie leise sagte:„Bist du jetzt beleidigt?“ Er wandte ihr daraufhin noch einmal das Gesicht zu.„Irgendwie schon. Du hast mir gerade mit dem Tod gedroht“, brummte er.„Nein, so habe ich das nicht gemeint ...“„Ich weiß, was du gemeint hast!“ Er richtete sich auf und sah sie mit durchbohrendem Blick an.„Jetzt will ich dir mal was sagen: Das ist das dritte Mal, dass du mich mit deinem Küchenmesser bedrohst. Du kannst froh sein, dass du es überhaupt noch hast! Für meinen Geschmack gehst du mit diesem Ding zu leichtfertig um. Ein Messer sein Eigen zu nennen mag praktisch sein, aber es hinter meinem Rücken zu zücken ist gewagt und gefährlich.Du brauchst mich gar nicht so entgeistert anzuschauen! Ja, ich weiß, was du vorgestern Abend hinter mir getrieben hast! Aber glaube mir, zum Zustechen wärst du nicht gekommen!Du solltest es nicht erneut riskieren, denn ich kann dir nicht versprechen, ob es mir noch einmal gelingt, mich so zu beherrschen!Und was die andere Sache betrifft, du weißt schon, das mit dem Anfassen, dazu nur Folgendes: Ich weiß, es haben sich Dinge geändert, seit ich dir versprochen habe, dass ich dich nicht anrühren werde. Aber es ist noch nicht lange her, gerade mal ein paar Tage und ich pflege meine Versprechen zu halten.“Sunja stand der Mund offen und mit großen Augen starrte sie Berinhard an.„Leg dich hin und schlaf! Ich werde nicht über dich herfallen!“ Er ließ sich zurück auf die Decke plumpsen und drehte sich weg von ihr.Sunja blieb am Feuer sitzen und die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Er wusste, dass sie versucht hatte, ihn zu erstechen. Woher? Er hatte doch hinten keine Augen. Je länger sie nachdachte, desto mieser fühlte sie sich.Der Krieger hatte sie im Wald vor Ordo gerettet. Er hätte sie auch in dem Gebüsch sitzen lassen und nur an sich selbst denken können. Die Hunde hätten sie aufgespürt und die Rache ihres Ehemanns wäre ihr sicher gewesen.Sie selbst hatte kurze Zeit später nichts Besseres zu tun, als ihr Messer zu zücken und mit dem Gedanken zu spielen, Berinhard umzubringen. Er wusste das, als er sie am nächsten Morgen mit auf sein Pferd genommen hatte, er wusste das, als er ihr die Entzündung behandelt hatte. Er wusste es - die ganze Zeit!Gerade hatte sie ihm niederträchtige Dinge unterstellt und bedroht. Sie benahm sich in letzter Zeit grauenhaft. Was war nur mit ihr los? Trotz allem hatte er gerade sein Versprechen erneuert und das war gut. Doch die Angst vor ihm blieb. Was er mit Einar gemacht hatte, hatte sie nicht vergessen.Sie schaute in das Feuer, bis die Flammen langsam verloschen.

Berinhard begann am nächsten Morgen, große Äste von einer Buche herunterzubrechen. Mit möglichst wenigen Stricken baute er daraus ein Grundgerüst für den Unterstand. Das war nicht einfach zu bewerkstelligen, da sie nicht das richtige Werkzeug hatten. Am meisten fehlte eine richtige Axt. Die Streitaxt war dafür nicht geeignet. Sie wäre kaputt gegangen. Mit ihr konnte man nur kämpfen. Deshalb versuchte er, die Stämme, die in den Boden gerammt werden mussten, mit seinem Dolch anzuspitzen, was ihm leidlich gelang. Sein Schwert oder die Lanze als Werkzeug einzusetzen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Von diesen Waffen konnte ihrer beider Leben abhängen. Sie mussten in Ordnung sein und durften nicht durch so etwas beschädigt werden.Sunja sammelte heruntergefallene dünne Äste und schnitt frische Zweige mit ihrem Messer von Büschen und Bäumen. Dies alles flocht sie möglichst dicht zusammen und machte daraus ein Dach für das Gestell. Obendrauf legte sie Moos, welches sie in großen Schollen aus dem Waldboden aushob. Am Abend waren sie weiter gekommen, als sie geplant hatten.Den darauffolgenden Tag verbrachte Sunja mit dem Flechten der Rückwand und der Seitenteile. Berinhard schleppte Steine heran, um vor dem Unterstand eine befestigte Feuerstelle anzulegen. Später polsterten sie den Boden ihrer nach vorn offenen Hütte mit trockenem Moos aus. Endlich war alles fertig. Sie standen davor, begutachteten ihre Arbeit und waren zufrieden mit dem, was sie geschaffen hatten.„Wenn wir hier bis zum Winter bleiben müssen, könnte man auch vorn eine Wand einfügen.“ Sunja nickte.Der Gedanke an den Winter gefiel ihr nicht. Doch erst einmal blieb das Wetter schön und sie erholten sich beide von den Strapazen der letzten Tage. Die aufgestochene Entzündung verheilte problemlos. Der Rest war ohnehin kaum noch zu sehen. Eine kleine Narbe würde dort bleiben, wo Berinhard das Messer angesetzt hatte, und auch ihr Unterleib tat kaum noch weh. Die blauen Flecken auf ihrer Bauchdecke waren zahllos, verblassten aber immer mehr.Am Abend gab es Eichelhäher zu essen. Berinhard hatte ihn mit der Lanze erlegt. Eine brachiale Methode, so einen Vogel zu erjagen, doch was zählte, war allein der Erfolg. Sunja rupfte und weidete das Tier mit ihrem Messer aus. Berinhard schaute dabei zu.„Sunja, bei allem Vorbehalt, den ich gegen dein Küchenmesser habe, ist es sehr wichtig, dass du es immer bei dir trägst. Hier im Wald ist es gefährlich, ohne Waffe zu sein.“ Sie nickte, steckte den Vogel auf einen Stock und hielt ihn über das Feuer. Sie redete kaum mit ihm, nur, wenn es nicht anders ging und dann auch nur das Nötigste.Während er ihr weiter bei der Nachtmahlzubereitung zusah, dachte er daran, wie er sie das erste Mal sah. Sie war so unschuldig, noch fast ein Kind. Aber jetzt? Was hatten Nadas Intrigen und Ordos Gewaltausbrüche aus ihr gemacht? Und was hatte er selbst ihr angetan, als er Einar tötete? Kein Wunder, dass sie Angst vor ihm hatte und ihm nicht traute.Sunja riss ihn aus seinen Gedanken, indem sie ihm ein Stück des Vogels vor die Nase hielt.Nachdem sie gegessen hatten, zog sie einen Faden aus ihrem Überkleid. Aus den Gebeinen des Vogels suchte sie einen geeigneten Knochen und bearbeitete ihn solange, bis sie ihn wie eine Nadel benutzen konnte. Dann nähte sie ihr Unterkleid, welches Ordo aufgeschlitzt hatte, wieder zusammen.

 

6. Kapitel: Die Gesetzlosen

 In den nächsten Tagen erkundeten sie zu zweit die nähere Umgebung. Sie hofften und fürchteten zugleich, auf andere Menschen oder Siedlungen zu treffen. Doch weit und breit gab es weder das eine noch das andere. Auf ihren Streifzügen sammelten sie alles, was sie als Nahrung nutzen konnten.Als sie eines Vormittags aus dem Bergeinschnitt nach unten gingen, trafen sie wieder auf den Bach, dem sie am Anfang ihrer Flucht bis dorthin gefolgt waren. Jetzt gingen sie noch ein Stück weiter an ihm entlang. Sie hatten es nicht eilig. Aschari hatten sie im Lager zurückgelassen. Nur Godo hatten sie dabei und als dieser gerade damit beschäftigt war einen Hasen zu jagen, geschah etwas, womit sie längst nicht mehr gerechnet hatten - sie trafen auf Menschen. Doch auf diese Begegnung hätten sie liebend gern verzichtet.Drei schmutzige bärtige Männer in Lumpen sprangen aus dem Gebüsch. Sie waren mit Messern bewaffnet und stürzten mit Geschrei auf die beiden Ahnungslosen. Sunja hatte sich selten so erschrocken.Berinhard rief laut nach Godo, stieß gleichzeitig Sunja mit der linken Hand gegen einen Hang hinter sich, während er mit der Rechten sein Schwert zog. All dies hatte nur einen Wimpernschlag gedauert. Er umfasste die Hiebwaffe und mit der anderen Hand zog er sein Messer. Dann schlug er mit beiden Klingen auf die Gegner ein. Sie waren zu dritt, er allein. Die Axt, das Schild und der Speer lagen im Lager. Die Aussicht hier heil herauszukommen war nicht groß.Godo kam herangeschossen und biss einem der Gegner beherzt ins Bein. Der Gauner jaulte auf und ließ sein Messer fallen. Er hielt sich die Wunde während Godo ihn erneut attackierte. Berinhard drehte sich zu dem Hund und rief ihm ein lobendes Wort zu. Er war nur kurz abgelenkt, doch das hatte genügt. Einer der beiden übrigen Gegner hatte sich hinter ihn geschlichen. Während Berinhard dem Dritten heftig zusetzte, merkte er die Gefahr, in der er schwebte, nicht.Sunja sah das Verhängnis kommen. Ihr blieb nur ein kurzer Moment, in dem sie ihre Entscheidung treffen musste. Der Bandit hob seinen Dolch, um ihn Berinhard in den Nacken zu stoßen. Sie wollte schreien und den Krieger warnen. Er hätte sich eventuell umgedreht und den Angreifer sogar abwehren können, aber dabei nach vorn die Deckung verloren. Zu gefährlich und es würde zu lange dauern, entschied Sunja. Es gab nur eine einzige Möglichkeit ihn zu retten.Die junge Frau sah auf das lange spitze Messer, welches sie bereits vor sich in den Händen hielt. Sie setzte zum Sprung an, schnellte nach vorn und stürzte sich auf den Unhold. Sie umfasste ihn mit dem linken Arm und stach ihm die Waffe von hinten schräg unter die Rippen nach oben in den Brustkorb hinein und zog sie wieder heraus. Sie verharrte einen Moment voll Anspannung. Würde er sich umdrehen und sich an ihr rächen oder seine Tat an Berinhard zu Ende führen?Der Halunke röchelte und fiel vor ihr auf den Boden. Er lag auf dem Rücken und Sunja konnte noch das Staunen auf seinem Gesicht sehen, als das Licht in seinen Augen erlosch. Als der andere Räuber dies sah, ergriff er zusammen mit seinem verletzten Kumpan die Flucht. Godo bellte hinterher und Berinhard sah ihnen verwundert nach. Er verstand nicht, warum er seinen Gegner so schnell los geworden war. Dann sah er sich nach Sunja um.Sie starrte auf die große Gestalt, die vor ihr am Boden lag, und ließ das blutige Messer fallen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen über das, was sie gerade getan hatte. Sie drückte sich die zitternde Hand vor den offenen Mund, um nicht zu schreien.Berinhards Blick glitt zwischen Sunja und dem Toten hin und her. Ohne ein Wort zu sagen, zog er sie von ihm weg und legte seinen Arm um sie. Sunja begann am ganzen Leib zu zittern. Er drückte sie an sich, damit sie nicht in sich zusammenrutschte.„Er hat dich angegriffen und das mit dem Leben bezahlt. Damit musste er rechnen. Du hast nichts Unrechtes getan.“ Er setzte sie auf einen umgestürzten Baumstamm und ließ sie nicht aus den Augen. Godo kam zu ihr und stupste sie mit seiner feuchten Nase an. Sunja reagierte nicht auf den Hund.Berinhard kniete sich auf Sunjas Augenhöhe, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.„Wir können hier nicht bleiben. Sie werden zurückkommen und ihren Kameraden holen wollen. Wer weiß, vielleicht haben sie noch andere Kumpane, die sie mitbringen.Warte, nur einen Moment. Ich bin gleich wieder bei dir.“Er ging hinüber zu dem toten Gauner und untersuchte ihn, ob dieser etwas bei sich trug, was sie gebrauchen könnten. Sein Gürtel war ihnen vielleicht von Nutzen, er nahm ihm diesen ab. Sein Blick fiel auf die tödliche Verletzung und er stellte fest, dass Sunja den Räuber nicht von vorn erstochen hatte, wie er bis jetzt geglaubt hatte, sondern von hinten. Ihm wurde plötzlich klar, dass sie nicht ihr eigenes Leben sondern das seine gerettet hatte.Mit anderen Augen schaute er zu ihr hinüber. Sie zitterte noch immer und sah elend aus.Er steckte den Sax und das Schwert zurück an seinen Gürtel. Dann hob er das blutverschmierte Messer auf und reinigte es an den Kleidern des Räubers. Er hatte nicht vor, es ihr jetzt zurückzugeben, sondern nahm es vorerst an sich. Dann ging er zu ihr.„Komm!“ Behutsam griff er nach ihrer Hand. „Wir müssen gehen.“ Sie ließ sich von ihm durch den Wald führen. Es war ihr völlig egal, wohin er ging und dass er ihre Hand hielt, was sie sonst keinesfalls geduldet hätte.Berinhard folgte nicht dem gleichen Weg, den sie dorthin gekommen waren, sondern entfernte sich von dem Bach. Sie stiegen direkt über die bewaldeten Berge und kamen am Abend bei ihrem abgelegenen Verschlag an.Sunja und Berinhard hatten die ganze Zeit über nicht miteinander gesprochen. Sie war erschöpft und sah geistesabwesend zu, wie er das Feuer entzündete. Dann legte er ihr eine Decke über die Schultern. „Danke.“ flüsterte er ihr von hinten ins Ohr und hockte sich neben sie. Sunja richtete ihren Blick vom Feuer weg zu ihm hin und schwieg.„Du hast mir das Leben gerettet.“ Sie nickte traurig. Ja, das hatte sie wohl. Ironie des Schicksals, vor ein paar Tagen wollte sie ihn noch umbringen. Jetzt hatte sie, um ihn zu retten, einen anderen Menschen getötet.„Es war Notwehr, du hast alles richtig gemacht.“ Notwehr? Dieses Wort durchzuckte ihren Geist. Notwehr war es auch, als Berinhard Einar umgebracht hatte.Er setzte sich neben sie und wollte sie tröstend in den Arm nehmen. Sie wich zurück.„Nein, bitte nicht“, sagte sie leise und er rückte ein Stück von ihr weg. Sie saßen schweigend nebeneinander vor dem knisternden Feuer.„Was waren das für Leute?“, fragte sie in die Stille.„Ich denke es waren Ausgestoßene. Sie haben sich zusammengetan und überfallen andere. Sie waren einfach Räuber.“„Ausgestoßene, Geächtete ... So wie wir.“„Nein, nicht wie wir, sondern eher wie ich. Allerdings, selbst wenn sie dir glauben, dass du keinen Ehebruch begangen hast, würdest du nicht mehr ganz straffrei ausgehen. Immerhin hast du deinen Mann verlassen und dabei dürfen doch nur Männer ihre Frauen verlassen.“„Danke, für die Aufmunterung. Erzählst du mir etwas? Egal was. Du hast doch sicher viel gesehen auf den Heerzügen. Bitte erzähl mir irgendwas von dir.“„Na gut, wenn du das wirklich wissen willst.“ Er streckte die Beine aus und drehte sich auf die Seite. Den Ellenbogen setzte er auf den Waldboden, seine Hand schob er seitlich unter seinen Haarschopf und stützte seinen Kopf in die Höhe. Nachdem er es sich so bequem gemacht hatte, vermutete Sunja, es würde eine längere Geschichte werden. Er blickte zu ihr auf und begann zu erzählen.„Mein Vater war ein freier Mann, ein Bauer. Wir lebten in einem Dorf, in der Nähe von Fulda. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, wurden meine Eltern beide sehr krank. Ich weiß nicht, was es war, aber meine Mutter starb daran und wenige Tage später auch mein Vater. An ihn kann ich mich kaum erinnern. An meine Mutter nur ein wenig. Ich weiß noch, dass ich mehrere Brüder und auch Schwestern hatte. Manche jünger, manche älter als ich. Was aus ihnen wurde, kann ich nicht sagen.Ich kam zu einem anderen freien Bauern. Er hatte meinen Vater gekannt und gab mir ein neues Zuhause. Dort ging es mir wider Erwarten gar nicht so schlecht. Ich habe zwar den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet, aber das mussten die anderen seiner Kinder auch. Er hatte drei Töchter und einen Sohn. Dieser war zwei Jahre älter als ich und wir kamen gut miteinander aus. Wenn wir etwas ausgefressen hatten, bekam ich zwar immer die meiste Prügel, aber das machte mir wenig aus, er war und blieb mein bester Freund. Außerdem gab es in dieser Familie das ganze Jahr über reichlich zu essen und das war nicht bei allen Bauern so.Mein Ziehvater war im Frühjahr und Sommer oft nicht zu Hause, weil er zur Heerschau Karls musste. Meistens zogen die Truppen gegen die Sachsen. Doch er hatte einige Unfreie in seinem Dienst, welche die Arbeit mit uns zusammen erledigten. Seine Frau hatte dann das Sagen auf dem Hof.Im Mai des Jahres 782 waren der Reichstag, und entsprechend auch die Heerschau, in Lippspringe. Ein ungewöhnlicher Ort dafür, denn er lag im sächsischen, unterworfenen Gebiet. Karl rief sein Volk mal wieder zu den Waffen.Auch mein Ziehvater hätte dorthin gemusst. Doch, wenn er einen Sohn schickte, brauchte er selbst nicht mehr gehen. Ich war damals so ungefähr vierzehn Jahre alt. Das Mindestalter für eine Schwertleite. Also gab er mir alle seine Waffen und was er sonst noch hatte und schickte mich zum Heer. Da er nicht zu den ärmsten der Bauern gehörte, war meine Ausrüstung von besserer Qualität. Ich hatte zumindest alle Waffen, die ein Franke so haben sollte. Das eigentliche Problem war, dass mir nicht ein einziges Mal jemand gezeigt hatte, wie man mit ihnen umgeht.Zu Fuß machte ich mich mit einem kleinen Trupp von Männern aus der Gegend auf den Weg. Es war April und die Reise war interessant. Ich verließ das erste Mal die Gegend, in der ich geboren wurde. Niemand behelligte mich, denn ich war ja bis an die Zähne bewaffnet. Keiner konnte wissen, dass mir das bei einem Angriff nichts genützt hätte. Die wenigsten unseres Trupps waren so gut ausgerüstet wie ich. Einige hatten außer einem schlechten Messer lediglich einen Knüppel und einen angespitzten Stock. Ich war stolz, und wie stolz ich war! Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass es einen Grund haben musste, dass mein Vater mich und nicht seinen leiblichen Sohn schickte, der ja zwei Jahre älter war.Der Anblick des riesigen Heeres war gigantisch. So viele Männer auf einmal hatte ich noch nie gesehen. Darunter waren viele junge, aber auch alte Draufgänger. Arme, mit wenig Ausstattung, und ganz Reiche mit den besten Waffen und Rüstungsgegenständen, wie Helmen, Brustpanzer aus gehärtetem Leder, Beinschienen und wirklich wunderbaren Pferden.Während wir dort warteten, kümmerte ich mich darum, den Umgang mit den Waffen, die ich besaß, zu erlernen. Das war gar kein Problem. Es gab immer jemanden, der mir dringend zeigen wollte, was er für ein toller Kerl war und mich im Kampf bezwang. Für mich war das nur von Vorteil. Denn mir wurde schnell klar, dass ich, wenn ich nicht genug übte, nicht sehr alt werden würde.Auf diesem Reichstag in Lippspringe wurde die sogenannte Grafschaftsverfassung beschlossen. Ich habe nicht viel Ahnung von den Herrschergeschäften, aber es war wohl etwas, was den Sachsen nicht sehr gefiel. Man setzte ihnen Grafen der Franken vor die Nase, die über ihre Herrscher bestimmen sollten.Ein großer Teil des Heeres zog an die Grenzen von Thüringen gegen die einfallenden Sorben. Ich blieb jedoch bei denen, die sich gegen die aufrührerischen Sachsen stellen sollten. Im Weserbergland kam es zum Kampf. Dies sollte meine erste Schlacht werden. Ich hatte Glück und meine Truppe kam erst später dort an. Da war der Kampf schon vorbei.Die anderen hatten nicht auf uns gewartet, sich zu weit vorgewagt und es war zur Schlacht mit den Sachsen gekommen, doch unsere Leute waren zu wenige und unterlagen deshalb. Der größte Teil von ihnen starb. Wenn ich vorher noch scharf auf eine Schlacht gewesen bin, war ich es danach nicht mehr.Karl war nach dieser Niederlage wirklich sehr zornig. Er raffte an Truppen zusammen was er fassen konnte und wir zogen nun noch tiefer nach Sachsen hinein. Bei Verden ergaben sich die Sachsen mehr schlecht als recht und lieferten ihre eigenen Leute, die gegen uns gekämpft hatten, aus.“Er machte eine kurze Pause und starrte vor sich auf den Waldboden.„Was geschah weiter?“, wollte Sunja wissen. Er schaute wieder zu ihr auf.„Na ja, ich zog in den darauffolgenden Jahren noch in unzählige Schlachten gegen die Sachsen und kam immer mit ein paar wenigen Verletzungen und dem Leben davon. Dadurch wurde ich immer besser und war bald einer der erfahrensten Kämpfer. Das hatte zur Folge, dass man mir ein Pferd gab. Ich durfte es mir selbst unter vielen aussuchen und ich wählte Aschari. Eines der schnellsten Pferde, die ich kenne. Es war eine gute Wahl. Sie hat mich danach noch in etlichen Schlachten getragen. Insgesamt kämpfte ich mehr als vier Jahre lang für Karl. Die Sachsen haben sich unterworfen und sich trotzdem immer wieder aufs Neue gegen uns erhoben. Vor allem dieser Widukind. Ein Fürst der Sachsen, der niemals Ruhe geben wollte, inzwischen sich aber entgültig ergeben hat. Als es danach etwas ruhiger wurde um die Sachsen, zog ich mit Karls Heer gegen einen Grafenaufstand hier im Thüringer Gebiet. Wir schlugen diesen nieder. Von dort aus wurde ich zur Reichsfeste Nordhusen abkommandiert. Vor nicht ganz zwei Jahren traf ich dort ein.“„Wie alt bist du eigentlich?“„So genau weiß ich das nicht, ich kenne den Tag meiner Geburt nicht. Aber so gut zwanzig, denke ich.“„Und wie bist du zu Godo gekommen?“„Ihn habe ich erst, seit ich in der Reichsfeste bin. Als ich ihn zu mir nahm, war er ein halbes Jahr alt. Er gehörte zuvor einem der Dorfbewohner. Ich hatte in den letzten Monaten viel Zeit, mich mit Godo zu beschäftigen. Deshalb hört er eigentlich ganz gut auf mich.“„Stimmt, ich danke dir, dass du von dir erzählt hast, es hat mich etwas abgelenkt, von dem, was heute geschehen ist.“Er setzte sich auf, schaute ihr tief in die Augen und sagte:„Hör zu, einer musste heute Nachmittag sterben! Die Frage war nur, ob er oder ich das sein sollte. Du allein hast entschieden, dass er es sein würde. Bereust du das jetzt? Wäre es dir andersrum lieber gewesen?“Sunja schüttelte langsam den Kopf. „Nein“, sagte sie leise, dann schaute sie wieder in das Feuer. Sie war wirklich froh, dass er noch lebte.Trotzdem fiel ihr das Schlafen in der Nacht schwer. Immer wieder sah sie den Hünen vor sich zu Boden stürzen. Sie sah das blutige Messer in ihrer Hand und den Toten zu ihren Füßen. Dazwischen mischten sich Teile von Berinhards Erzählung. Er war mit sieben Jahren Waise geworden und mit Vierzehn in den Kampf gezogen. Ein Jahr jünger, wie sie selbst, als man sie zur Reichsfeste gebracht hatte.

In den nächsten Tagen wurde für Sunja das Schlafen wieder einfacher und so etwas wie Alltag stellte sich ein. Berinhard hatte eine junge Hirschkuh mit der Lanze erlegt und zerlegte sie zusammen mit Sunja. Die beiden wickelten alles, was sie nicht gleich essen konnten, in Blätter und vergruben es in der Erde, damit es länger hielt und keine wilden Tiere anlockte. „Wir sollten versuchen, das Fell haltbar zu machen. Weißt du, wie man so etwas macht?“ Berinhard sah Sunja fragend an. Sie schüttelte den Kopf.„Nein, habe ich noch nie gemacht. Ich glaube, man muss es aufspannen und von allen Fleischresten befreien. Dann muss es trocknen. Ich werde es versuchen. Aber für Erfolg garantiere ich nicht.“„Gut, probiere es!“ Sie beschäftigte sich mehrere Tage mit dem Fell. Es stank, aber das Haltbarmachen schien zu funktionieren. Das Fell trocknete und sie würden im Winter sicher Verwendung dafür finden.Nach und nach arrangierten sie sich mit ihren neuen Lebensumständen. Berinhard ging häufig auf Jagd. Er war dafür, dass er das zuvor nicht so oft gemacht hatte, recht erfolgreich. Nicht zuletzt, weil er während seiner Streifzüge zusätzlich Kleintierfallen auslegte. Sunja machte sich währenddessen auf und sammelte die nahrhaften Dinge, die man nicht erst umbringen musste, um sie zu essen. Da es Spätsommer war, gab es viele Beeren. Manchmal grub sie auch essbare Wurzeln aus.Etliche Tage, nachdem die beiden die Hirschkuh geschlachtet hatten, machte sich Berinhard früh davon, um erneut zu jagen und Sunja brach kurze Zeit später auf, den Wald zu durchstöbern. An diesem Tag schlug sie eine andere Richtung ein als gewöhnlich, denn wo sie sonst immer etwas gefunden hatte, war inzwischen alles abgeerntet.Sunja stieg die Hügelkuppe hinter dem Verschlag hinauf und auf der anderen Seite den Hang hinunter. Sie hielt Ausschau und war fast am Fuße des Berges angekommen, als sie einen Teppich aus Blaubeeren fand. Die junge Frau war außer sich vor Freude und kniete sich nieder, um die Büsche zu plündern. Die Früchte waren genau richtig und ließen sich ganz leicht lösen. Sie legte die Beeren auf ein Tuch und war zufrieden mit ihrem Fund. Vergnügt summte Sunja eine kleine Melodie aus Kindertagen vor sich hin.Sie sah und hörte die Gefahr nicht, die sich längst hinter ihrem Rücken zusammengebraut hatte. Erst als sie den festen Griff einer Hand am rechten Oberarm spürte, da merkte Sunja, dass sie leichtsinnig gewesen war. Und nicht nur das, sie hatte außerdem das Küchenmesser beim Unterstand liegen gelassen, weil sie damit noch an dem Fell gekratzt hatte. Innerlich verfluchte sie sich selbst. Jetzt war alles zu spät. Die junge Frau sah sich um und schrak zusammen beim Blick in das Antlitz eines großen schmutzigaussehenden Kerls. Sein Gesicht war von einem Bart zugewuchert, trotzdem sah sie das überlegene Grinsen auf seinen wulstigen Lippen. Zwei seiner Zähne fehlten, die übrigen waren von einer gleichmäßig braunen Färbung überzogen und sein Atem roch entsprechend wenig angenehm.Sunja sah außer dieser sonderbaren Gestalt noch fünf weitere, die sie ebenfalls umstellt hatten. Jene grinsten ebenso selbstgefällig und ihr äußerer Zustand war auch nicht erbaulicher, als der des Ersten. Sunja war sofort klar; das waren Mitglieder einer Räuberbande und ihr Entsetzen wuchs noch ein Stück. Wahrscheinlich waren es die Kumpane des Räubers, den sie niedergestochen hatte. Verstohlen schaute sie in die Gesichter um sich. War einer von ihnen bei dem Überfall dabei gewesen?„Na Kleine, was machste denn so allein im Wald?“Sunja antwortete nicht. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Man zog sie am Arm hoch. Sie hatte begonnen zu treten und versuchte, um sich zu schlagen, doch alle Gegenwehr war umsonst. Zwei der Räuber banden ihr mit einem Seil die Handgelenke aneinander. Währenddessen bedienten sich die restlichen Vier an Sunjas gesammelten Beeren.„Was machen wir jetzt mit ihr?“ Der Räuber kaute und sprach mit vollem Mund.„Na das is doch wohl klar! Wir nehm se mit ins Lager.“„Ja klar, was sonst.“ Er schluckte unter und nahm sich die letzten verbliebenen Früchte, um sie in seinen Schlund zu werfen.Sunja protestierte lautstark, als man sie einfach hinterher zog. Die Schurken interessierte das nicht. Sie zerrten sie weiter. Sunja entfernte sich immer mehr, von ihrem und Berinhards Verschlag.Sie dachte an den Räuber, den sie erstochen hatte. Was, wenn im Lager der Räuber sie einer wiedererkannte, als die, welche ihren Kumpan umgebracht hatte? Man würde sich furchtbar an ihr rächen.Der Weg führte durch dichten Wald und zwischen unwegsamem Unterholz hindurch.Warum hatte sie immer so ein Pech, fragte sie sich, während sie nun inzwischen stumm hinter den Räubern hertrottete. Erst die unheilvolle Verbindung mit Ordo, ihre Flucht, das Zusammensein mit dem Mann, der ihren lieben Freund umgebracht hatte, dann die Begegnung mit den drei Räubern und nun das hier.Inzwischen waren sie in eine Gegend gekommen, wo jede Menge Todholz am Boden lag und Sunja musste immer wieder über Baumstämme steigen. Da sie sich mit den gebundenen Händen nicht abstützen konnte, hatte einer der Räuber ihren Oberarm gepackt und hielt sie fest, damit sie nicht fiel. Voll Groll sah sie ihn von der Seite an. Er schaute zu ihr und grinste breit. Reste von Sunjas Blaubeeren hingen ihm im Bartgestrüpp.„Hauptmann, was machen war miter, wenn mar im Lager sind?“, fragte ihr wenig charmanter Begleiter den Räuber, der Sunja am Anfang gegriffen hatte. Der blieb stehen, und während er sich genüsslich durch den Stoff seiner Hose die Hoden kratzte, schien er nachzudenken.„Ich weiß nicht genau. Doch mir is gerade ne Idee gekommen. Wir könnten ein wenig Spaß gebrauchen. Wir machen nen Wettkampf und spielen um se. Wer gewinnt, der darf se behalten, was meint ihr?“„Warum soll se nur einer allein haben?“„Weil ihr euch sonst ständig um se streitet. Der, der se gewinnt, kann se ja an seine Kumpane ausborgen.“„Na gut. Dann lass uns um se spielen un wann machen mar das?“„Heute Abend noch“, entschied der Hauptmann.Sunja hatte das Gefühl, dass ihre Eingeweide gerade die Plätze tauschten. Die Zukunftsaussichten wurden immer düsterer. War es da nicht besser, wenn sie in diesem Räuberlager jemand wiedererkannte und man sie richten würde? Da musste sie wenigstens nicht den Rest ihres jungen Lebens bei diesen Wilden verbringen, um unter ihnen wie ein Gegenstand ausgeborgt zu werden. Angst, Ekel und ein kalter Schauer bemächtigte sich ihrer. Widerstrebend ging sie weiter. Da wäre es vermutlich sogar besser gewesen, sie wäre bei Ordo geblieben.Kurz nach Mittag lichtete sich der Wald vor ihnen und Sunja konnte sehen, dass der Platz, auf dem man das Lager der Räuber aufgeschlagen hatte, nicht sehr groß war. Sie zählte etwas mehr als zehn Unterkünfte, die man am Rand des Lagers errichtet hatte, sodass sie einen weiten Kreis bildeten. Alle mit einem Gerüst aus großen Ästen erbaut. Über diese recht wackligen Konstruktionen hatten sie Felle gespannt, Moos oder Gestrüpp gelegt. Eine sah anders aus, als die anderen, doch keine davon war so ordentlich, wie die, die Sunja zusammen mit Berinhard gebaut hatte. Dies stellte sie mit einer gewissen Genugtuung fest.Als man sie eintreffen sah, johlten die anderen Räuber ihnen ein Willkommen zu und beäugten neugierig die Gefangene. Der Hauptmann erzählte ausladend, wie man sie gefunden hatte. Danach teilte er ihnen mit, dass es am Abend ein Kräftemessen um sie geben würde. Die Freude über den Inhalt seiner Rede war grandios.Sunja versuchte, nicht hinzuhören und sah sich weiter um. Keiner der Anwesenden schien sie zu erkennen. Wahrscheinlich war dies eine andere Räuberbande, als die, mit der sie es am Fluss zu tun gehabt hatten.In der Mitte des Platzes war eine große Feuerstelle, in der ein kleines Feuer brannte. Die umstehenden Räuber sahen keinen Deut besser aus, als die, welche sie gefangen genommen hatten. Deshalb war es ihr auch unmöglich, einen persönlichen Favoriten für den Wettkampfausgang auszumachen.Auffällig war, dass sie alle die gleiche Angewohnheit hatten. Sie juckten sich ständig zwischen den Beinen, was auf wenig Reinlichkeit, allgemeinen Parasitenbefall oder beides hinwies. Einer der Räuber zog sie nun an der Feuerstelle vorbei. Nicht weit davon stand eine einzelne junge Schwarzerle, die das Zentrum des Lagers markierte. Dort drückte er Sunja nach unten.„Setz dich an den Stamm!“ Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Dann nahm er den Strick und wickelte ihn um Sunjas Oberkörper und den Stamm. So saß sie hilflos in der Mitte des Lagers und alle Blicke waren auf sie gerichtet.Ab und zu kam einer der Räuber und begutachtete sie genauer. Man fasste sie dauernd an und die Räuber gaben ihre Meinung über den Fang lauthals kund.„Eh, was soll ich mit so’ nem Klappergestell anfangen?“„Für meinen Geschmack hat se’ nen ganz schön fetten Arsch.“„Ach komm, die ist doch niedlich.“ Er griff ihren Kopf an den Haaren und drehte ihn nach hinten, dann zog er ihren Mund auf. „Jung, schöne Haare und hat noch alle Zähne. Siehste! Au!“ Sunja hatte zugebissen.„Für dich hätten se lieber ’ne Zahnlose mitbringen sollen! So ’ne richtig olle, weißte!“, johlte ein anderer.Dieses Spiel setzte sich noch eine Weile fort. Irgendwann ließ das Interesse der Räuber nach.Sunja saß mit angezogenen Beinen unter dem Baum, dessen Blätterdach mehr als dürftig war, und da er auch der einzige Baum im Lager war, saß sie den ganzen Nachmittag in der prallen Sommersonne. Es war unerträglich heiß und sie schwitzte aus allen Poren. Außerdem hatte sie Durst. Von den Räubern kam keiner auf den Gedanken, ihr etwas zu trinken zu geben und ihr Stolz verbot es ihr, danach zu fragen. Also verharrte sie dort, bis sich die Sonne langsam senkte und die Schatten der anderen Bäume zu ihr hinüber wanderten. Sunja hatte Angst davor, dass es Abend wurde und vielleicht verging gerade deshalb die Zeit, trotzdem sie nichts zu tun hatte, schneller als sonst.Die Schatten waren schon lang, als die Räuber das Feuer nährten und ein totes Hirschkalb darüber befestigten. Als das Tier über den Flammen briet, begab sich der Oberste der Räuber zu Sunja. Er band sie los und begann zu seinen Leuten zu sprechen.„Meine Freunde, heute Abend werden mar viel Spaß haben. Aber einer von uns wird noch viel mehr Spaß haben als die anderen, denn der Gewinner unseres Wettkampfs bekommt das hier.“ Er zog die Gefangene zum Stehen hoch und hielt sie am Kragen fest. Die Umstehenden johlten laut auf.„Ehe ich euch sag’, nach welchen Regeln mar kämpfen werden, möcht’ ich euch unsere Beute noch etwas jenauer zeigen.“ Er winkte zwei seiner Männer heran.„Ausziehen!“, befahl er diesen und er meinte damit nicht die Räuber selbst. Diese grinsten und warfen sich auf ihr Opfer. Sunja wehrte sich, zerkratzte dem einen das Gesicht und trat dem anderen dorthin, wo es besonders weh tat. Das setzte diesen zwar für eine Weile außer Gefecht, doch letztendlich nutzte ihr das nichts. Die restlichen Räuber schienen dies Schauspiel viel amüsanter zu finden, als Sunja und der, welcher sich gerade am Boden krümmte. Nachdem Letzterer sich wieder erholt hatte, packte er die widerspenstige Gefangene von hinten, was ihm sicherer erschien, und der andere zog ihr das Kleid über den Kopf. Da es warm war, trug sie kein Unterkleid und so stand sie dann doch zur Begeisterung der Anwesenden völlig nackt da. Die Scham und die Wut über diese Demütigung waren ihrem Gesicht nur allzu deutlich anzusehen. Wie ein Stück Vieh auf einem Markt kam sie sich vor.Dann nach einer halben Ewigkeit ließ man sie los. Sie fiel nach vorn über und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. Der Zweite warf ihr das Kleid zu, was sie schleunigst wieder anzog. Sie hatte es noch nicht richtig über ihren Hintern gezogen, als man sie erneut ergriff und ihr die Hände fesselte. Diesmal band man sie stehend an die Erle. Dann ebbte das Interesse ihrer möglichen Besitzer nach und nach ab und alle hörten dem Hauptmann zu.„Mir werden mit nem Messer Zielwerfen und dann Steinweitwerfen. Die vier Besten aus den beiden Wettkämpfen werden gegeneinander antreten, in einem Ringkampf, in dem alles erlaubt ist. Der Gewinner kricht de Kleine. Ham das alle verstanden?“Ein zustimmendes Raunen ging durch die fünfunddreißig bis vierzig Räuber.„So, wer von euch mitmachen will, der soll sich melden.“Sunja schaute angewidert auf das Szenario.„Ihr könnt nicht um sie kämpfen!“, rief da jemand von einem der umstehenden Bäume herunter. Die Köpfe schnellten alle augenblicklich nach oben. Dort saß ein Kerl in dem Geäst einer großen Buche. Sein Aussehen ließ einiges zu wünschen übrig. Er hatte keine Schuhe an. Seine zerfranste Hose ging ihm gerade mal bis zu den Knien. Er trug eine zerschlissene Tunika unter einem Fell. Dieses hatte er geschlitzt über den Kopf gezogen und hinten und vorne hing es herunter. Darüber hatte er einen Gürtel geschnallt. Seine Haare standen vor Dreck in alle Richtungen, er war seit mehreren Tagen unrasiert und auch sonst, war er alles andere als sauber.„Warum sollten wir das nicht können?“, riefen mehrere der Räuber nach oben.„Weil ich sie haben will, sie gehört mir!“ Die Räuber lachten laut.„Eh Hauptmann, soll ich den Baum fällen?“ Der Gauner grinste seinen Chef breit an.„Keine schlechte Idee“, gab dieser zu. „Aber warte! Er will das Mädchen, soller sich doch mit uns messen. Das würde de Sache doch noch viel interessanter machen.“ Keiner der anwesenden Räuber glaubte, dass er dazu in der Lage war, und sie stimmten alle gern zu.„He, du da oben! Komm runter, wenn’de dich traust. Wenn’de meinst, dass’se dir gehört, dann hätteste se dir selber fangen sollen. Jetzt gehört se zu uns. Aber du kannst um se kämpfen, wenn’de willst. Ich verspreche dir, es wird ein fairer Kampf und wenn’de verloren hast, dann darfst uns unbehelligt verlassen.“„Und wenn ich gewinne?“ Die Anwesenden brachen erneut in schallendes Gelächter aus.„Dann darfst de se mitnehmen.“ Der Räuberhauptmann bog sich vor Lachen. „Du siehst aus, wie einer von uns. Überfällst de Wanderer auf eigene Faust?“, fragte er glucksend den Kerl auf dem Baum.„Ja, so ist es.“ Der Mann dort oben schien die allgemeine Belustigung nicht zu teilen.„Gut, dann gebe ich dir mein Wort als Räuber darauf. Wat is’, kommst nun runter und nimmst die Herausforderung an?“„Ich komme!“ Er brauchte nicht lange. Behände schwang er sich von Ast zu Ast und kletterte hinunter.Am Boden angekommen, versammelten sich die Räuber und begutachteten ihn genauer. Einige waren misstrauisch, andere klopften ihm sogar kameradschaftlich auf die Schulter.Als er in die Mitte des Platzes trat, sah Sunja ihn von Nahem und er schaute zu ihr hinüber. Hätten die Räuber sie nicht so fest an den Baum gebunden, wäre sie vermutlich umgefallen. Einen Moment lang glaubte sie, sie hätte vielleicht einen Sonnenstich bekommen, während sie den Nachmittag unter dem Baum gesessen hatte. Aber dann erkannte sie, dass sie sich nicht irrte. Er war es wirklich, dieser vor Dreck strotzende Waldgeselle war niemand anders als Berinhard.Sie konnte sich nicht erinnern, sich über seinen Anblick schon mal so gefreut zu haben. Ihr Herz tat einen Sprung und ein wenig Hoffnung keimte in ihr auf. Dann überlegte sie, wie lange er wohl schon in dem Baum gesessen hatte. Natürlich hatte dieser Mistkerl sie genauso nackt gesehen, wie alle anderen hier auch. Das gefiel ihr gar nicht und sie ballte die gefesselten Hände vor Wut, so weit das die Stricke zuließen. Doch schnell beruhigte sie sich wieder und kam sich ziemlich undankbar vor. Er war schließlich wegen ihr hier und er hatte es immerhin geschafft in das Lager der Räuber zu kommen, ohne dass sie ihn auf der Stelle umgebracht hatten. Er glaubte doch aber nicht, dass er diesen Kampf gewinnen könnte?Na ja, die Räuber dachten, er sei einer von ihnen und sie unterschätzten ihn auf jeden Fall. Aber diese Männer waren auch nicht gerade schwächlich.Sunja schaute ihn genauer an. Er trug nicht eine seiner eigenen Waffen bei sich. Er hatte nur Sunjas Messer in dem Gürtel, der ehemals dem niedergestochenen Räuber gehört hatte. Nichts an ihm erinnerte auch nur im Entferntesten an den Frankensoldaten, den Sunja kannte. Seine Schienbeine waren zerkratzt und das rechte Knie aufgeschlagen, wahrscheinlich war er schnell durch den Wald gerannt. Doch irgendwie passte das alles zu seinem Räuberauftritt. Woher nur wusste er, was mit ihr geschehen war?Egal! Das war jetzt alles ganz egal. Er war hier, und wenn er konnte, würde er ihr helfen. Bei allen Zwistigkeiten, dessen war sich Sunja sicher. Immerhin hatte sie ihm damals bei dem Überfall auch den Rücken freigehalten.Außer Berinhard hatten sich noch achtzehn Räuber gemeldet, um am Kräftemessen teilzunehmen. Auf ein Ziel mit dem Messer werfen, Steinweitwurf und wer es unter die ersten vier schaffte - Ringkampf.Sunja glaubte zu wissen, dass dem Soldaten das Erste am meisten lag. Dabei kam es auf Zielgenauigkeit an und das konnte er, da er die Streitaxt warf, hoffentlich gut. Doch dann fiel ihr Blick auf das Messer, welches er am Gürtel trug, und ihre Zuversicht schwand. Das Küchenmesser, welches sie aus Ordos Haushalt hatte mitgehen lassen, war nicht gerade ein Prunkstück. Für einen ordentlichen Wurf war es zu unförmig und zu leicht.Der Hauptmann der Räuber schnitt mit seinem Dolch ein Kreuz in die Rinde einer besonders kräftiggewachsenen Buche. Das war das Ziel und je näher sie an die Mitte der Markierung trafen, umso besser. Die Räuber mussten jeder einmal auf den Stamm werfen. Sie hatten also alle nur eine einzige Gelegenheit ihr Können zu beweisen.Während der Hauptmann das Zeichen machte, übten seine Männer. So auch Berinhard. Sunja sah mit Entsetzten, dass sein erster Übungswurf auf einen der anderen Bäume noch nicht einmal den Stamm traf. Er warf ihr daraufhin einen entschuldigenden Blick zu und holte das Messer zurück. Sunjas Angst stieg erneut.„He du, wie heißt du eigentlich?“, rief ihm der oberste Räuber zu.„Ich? Ähm, Wanicho.“„Gut, Wanicho komm! Du als Erster.“„In Ordnung, dann will ich aber als Letzter den Stein werfen.“ Er nahm Aufstellung an der in den Waldboden gezogenen Linie.Warum hatte er einen falschen Namen genannt? Aus einer unbewussten Vorsicht heraus? Sunja war auch nicht entgangen, dass Wanicho Hoffnung bedeutete. Trotzdem schwand diese, als sie den Wurf beobachtete, den Berinhard gerade in Angriff nahm. Er fasste das Messer bei der Spitze, konzentrierte sich einen Moment und warf dann auf das Kreuz. Es blieb drei Fingerbreit neben dem eigentlichen Ziel stecken. Es hätte schlechter sein können. Darum ging nun auch ein anerkennendes Gebrummel durch die Reihen.Voll Spannung beobachtete Sunja und auch Berinhard den weiteren Verlauf des Wettkampfes.Am Ende warfen noch ganze sechs der Räuber besser als Berinhard. Somit war er an siebter Stelle. Sunja wusste, die Sache war verloren. Ihr war schlecht und Berinhard schaute sie nicht mehr an. Was würde er machen, wenn er nun nicht unter die ersten vier kam? Würde er sie dann einfach hier zurücklassen und gehen?Bis zum Ende des zweiten Wettstreits war er nur Zuschauer. Voll Grauen sah Sunja, mit welcher Kraft die Räuber den Felsbrocken warfen. Sie war sich sicher, dass Berinhard keine Chance hatte. Am weitesten kam ein besonders übel aussehender Geselle. Er war groß, hatte eine hässliche Narbe auf der Wange und blonde strohige Haare, die sie dummerweise auch noch an Ordo erinnerten. Dieser Kerl war schon beim Messerwerfen gut gewesen und er sah so aus, als könnte er im Ringkampf jeden Gegner zu Boden strecken. Er ging an Sunja vorüber und grinste sie lüstern an, wobei er den Blick auf schwarz-braune Zahnruinen freigab. Angewidert verzog Sunja die Mundwinkel und fürchtete sich schon jetzt vor diesem Mann.Berinhard kam an die Reihe und die Gefangene schloss vorsichtshalber die Augen. Dann konnte Sunja doch nicht ganz wegsehen und schaute durch die Wimpern ihres linken Auges hindurch. So verfolgte sie, wie Berinhard den Stein genauso weit warf, wie der Hüne, den sie gerade noch mit so viel Widerwillen ansehen musste. Dieser war nun unheimlich sauer auf Wanicho. Sunja stand indessen vor Staunen der Mund offen.„He, was für‘n Teufelskerl!“ Der Räuberhauptmann war begeistert. Dann stellte sich jedoch heraus, dass es nicht reichen würde, um unter die ersten Vier zu kommen. Dafür hätte er von allen am weitesten werfen müssen. Doch der oberste der Räuber forderte den blonden Hünen und Wanicho auf, noch einmal mit den Steinen die Kräfte zu messen.Er wollte dem Fremden eine erneute Möglichkeit einräumen, den Sprung zur nächsten Disziplin zu schaffen. Warum er das tat, war nicht ganz klar, aber vielleicht wollte er einfach sehen, wie der vorlaute Fremde von einem seiner Männer beim Zweikampf ordentlich verhauen wurde.Da Sunja wieder Hoffnung schöpfte, fieberte sie der neuen Entscheidung entgegen. Jetzt mit offenen Augen. Tatsächlich schaffte es Berinhard diesmal, den Räuber zu übertreffen. Um gerade eine Handbreit. Doch er hatte gewonnen und nur das zählte. Somit war er der vierte Mann.Obwohl der Platz des blonden Räubers unter den ersten vier ohnehin nie in Gefahr war, war dieser ungehalten über die Entscheidung seines Hauptmanns. Denn so musste er noch einmal gegen den Fremden antreten.Vor dieser letzten Entscheidung bekam jeder der Anwesenden etwas zu essen. Sogar Sunja schob man hin und wieder etwas in den Mund. Ihr fiel auf, dass Berinhard, im Gegensatz zu den anderen, fast gar nichts zu sich nahm.Inzwischen wurde es dunkel und das Finale würde im Licht des Lagerfeuers vonstattengehen. Wer nun gegen wen antreten musste, wurde ausgelost und dann begann der Kampf.Berinhard und ein dunkelhaariger, besonders schmutziger Räuber waren die ersten Widersacher. Sunja war voll Zuversicht, dass Berinhard diesen Mann in die Knie zwingen konnte. Der Kerl war zwar kräftig gebaut, aber nicht so groß wie der Frankensoldat. Die beiden Gegner legten die Waffen und die obere Bekleidung ab. Lediglich die Hosen behielten sie an.Sie umkreisten sich, dann stürzten sie fast gleichzeitig übereinander her. Der Kampf war kurz. Berinhard gewann schnell die Oberhand und der Räuber schrie und fluchte laut. Er schlug mit der Faust wütend auf den Waldboden. Doch all das half nichts. Er schaffte es nicht mehr, unter seinem Gegenspieler hervorzukommen. Somit wurde Berinhard zum Sieger dieses Gerangels erklärt.Den zweiten Kampf, an dem er selbst nicht beteiligt war, beobachtete der Soldat sehr genau. Der Gewinner würde sein nächster Gegner werden und als Krieger wusste er, wie wichtig es war, die Kampfweise seines Rivalen zu kennen. Doch es gab nicht viel zu sehen, denn auch dieser Kampf war schnell vorüber.Wie von Sunja mit Schaudern erwartet, gewann dieses semmelblonde Ungeheuer. Auch wenn inzwischen ihr Vertrauen in Berinhards Talente gestiegen war, glaubte sie nicht, dass er gegen den Hünen Erfolg haben könnte.Es gab eine längere Pause, damit auch der Gewinner des zweiten Kampfes sich erholen konnte, ehe das letzte und entscheidende Kräftemessen stattfand. Sie sah zu Berinhard und versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Doch seine Züge offenbarten seine Gedanken nicht. Das taten sie ohnehin selten.Der Hüne und Berinhard standen sich in bedrohlicher Haltung gegenüber. Keiner der beiden erlaubte sich eine Unaufmerksamkeit. Mit zu Schlitzen verengten Augen und tiefen Falten über der Nasenwurzel beobachteten sie einander ganz genau. Um sie herum herrschte absolute Stille. Nur das Knistern des Feuers war zu vernehmen. Jeder Räuber und auch Sunja sah gespannt auf das Geschehen.Dann kam Bewegung in die Sache. Erst nur langsam, dann holte der Blonde plötzlich aus, um Berinhard seine Faust ins Gesicht zu rammen. Dieser reagierte schnell und duckte sich unter dem Hieb. Dabei schlug er dem Gegner gegen den Oberschenkel. Das irritierte den Räuber kaum. Der Hüne hatte bereits ausgeholt und stieß Berinhard seine Faust hart in die Rippen. Das hatte dieser nicht kommen sehen und es nahm ihm fast den Atem. Sunja kniff die Augen zusammen und sog die Luft zischend durch die aufeinandergebissenen Zähne.Mit viel Mühe gelang es dem Franken stehen zu bleiben. Dann konzentrierte er alle Kräfte und es gelang ihm, einen gezielten schnellen Schlag gegen den Hals des Gegners auszuführen. Dieser taumelte und schien kurz die Orientierung verloren zu haben. Berinhard warf sich auf ihn und sie wälzten sich am Boden. Sie schenkten einander nichts und bald hatten sie beide Unmengen von Blessuren davongetragen, ohne dass der Stärkere ermittelt wurde.Immer, wenn Sunja sah, dass Berinhard wieder einen Schlag abbekam, zuckte sie zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Doch auch der Bandit musste viel einstecken. Endlich gelang es dem Aushilfsräuber, den Gegner mit einem gezielten Schlag gegen die Schläfe benommen zu machen. Dieser kam unter ihm zum Liegen und schaffte es nicht wieder nach oben. Das machte Wanicho zum Sieger.Berinhard stieg von seinem Opfer und sah nicht gerade wie ein Gewinner aus, was nichts daran änderte, dass er es war. Damit hatte er sich unter den Anwesenden nicht besonders beliebt gemacht. Denn die wollten das Mädchen lieber in ihrem eigenen Lager behalten, anstatt es mit dem Fremden gehen zu lassen. Sie kamen ihm bedrohlich nahe und hätten ihn in Stücke gerissen, wenn nicht der Räuberhauptmann dazwischen gegangen wäre, um dem Tumult ein Ende zu setzen.„Ich hab ihm mein Wort als Räuber gegeben! Er kann se haben. Se jehört ihm!“, stellte er klar und rülpste laut, was wie eine Bekräftigung des Gesagten klang. Berinhard verlor keine Zeit und holte seine Sachen, zog sie an und nahm das Messer. Er ging zu der Erle. Sunja hörte hinter sich seinen keuchenden Atem. Schnell schnitt er sie los, griff dann fest ihr Handgelenk und zerrte sie unsanft hinter sich her. Sie stolperte und das Gemurre der Räuber begleitete sie auf dem Weg aus dem Lager.Berinhard hob zum Abschied von seinen neugewonnenen fragwürdigen Kumpanen noch einmal die Hand, ohne sich dabei umzusehen.Er lief mit ihr in den dunklen Wald hinein. So weit, bis sie beide außer Sichtweite des Feuers waren. Dort blieb er abrupt stehen, fasste nach ihren Schultern und zog sie an sich. „Gott sei’s gedankt!“, murmelte er vor sich hin und atmete immer noch schwer. Sunja rührte sich nicht. Sie stand, wie zu einer Statue erstarrt.‚Er kann sie haben. Sie gehört ihm’, hatte der Hauptmann gerade eben gesagt und die Worte klangen in ihren Ohren nach. Er roch nach frischem Schweiß und Waldboden. Sie spürte seinen festen Griff um ihre Schultern. Sie hatte gerade zugesehen, wie er mit diesen Händen einen riesigen Räuber zusammengeschlagen hatte und die Erinnerung daran schürte die Angst vor ihm.Sunja hatte Furcht, sich zu bewegen und sie rührte sich nicht. Ja, sie würde ihm gehören, wenn er darauf bestand. Alles war besser, als bei den Räubern geblieben zu sein. Sie würde es in Kauf nehmen. Eine Träne lief ihr aus dem Augenwinkel und sie schluckte. Sie wollte nicht, dass er sie anfasste, doch sie würde ihn nicht daran hindern. Es war absolut dunkel um sie herum. Vielleicht war das gut so, da musste sie ihn wenigstens nicht dabei ansehen. Sie spürte die Last seiner Hände auf sich. Sie kniff die Augen zusammen, biss die Zähne fest aufeinander und wartete ab, was mit ihr geschehen würde.Obwohl er sie nicht sehen konnte, spürte er, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie hatte unter seinen Händen zu zittern begonnen und dabei war es gar nicht kalt.„Was ist?“, fragte er sie. „Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist vorbei“, stellte er fest. Doch das schien sie nicht sonderlich zu beruhigen und sie antwortete auch nicht. Berinhard war ratlos und fasste sie bei der Hand.„Na komm, lass uns gehen. Die Mondsichel ist nur sehr dünn und wir werden nicht gut sehen können. Aber mir ist es lieber, wenn wir so weit wie möglich von hier weg kommen. Dir nicht?“ „Doch“, sagte sie schwach. Ein klein wenig mehr Begeisterung ihrerseits hätte ihn schon gefreut. Immerhin hatte er sich für sie gerade verprügeln lassen. Doch Sunja schwieg. Nur langsam wich die Angst vor ihm.An einem Bachlauf beschloss Berinhard, die Nacht dort zu verbringen. Er legte sich hin.„Morgen früh muss ich mich dringend waschen“, murmelte er noch vor sich hin, dann war er auch schon eingeschlafen.Sunja hingegen lag lange wach und schaute in den Sternenhimmel über sich, den sie durch die Baumkronen sah.Er schien nicht vorzuhaben, irgendwelche Ansprüche an sie geltend zu machen. Je länger sie darüber nachdachte, desto unbegründeter und alberner erschienen ihr ihre Ängste. Erleichtert schlief sie spät ein.Sie erwachte und sah Berinhard über den Wasserlauf gebeugt, wie er sich den Dreck, mit dem er sich tags zuvor absichtlich bedeckt hatte, vom Körper wusch. Die Nacht war vorbei und Sunjas Befürchtungen hatten sich in Nichts aufgelöst.Nicht nur seine Rippen waren mit Kratzern und blauen Flecken übersät. Es tat ihr leid, dass sie es gestern nicht einmal fertiggebracht hatte, sich zu bedanken.„Guten Morgen Berinhard!“, begrüßte sie ihren Befreier. „Wie hast du mich gestern überhaupt gefunden?“Er drehte sich zu ihr und wunderte sich, dass sie sich doch noch für Einzelheiten des gestrigen Tages interessierte. Das Wasser tropfte aus seinen braunen Locken. Sunja sah, wie sich die Sonnenstrahlen in den Tröpfchen verfingen, als er nicht ohne Begeisterung zu sprechen begann.Er war am Morgen aufgebrochen und hatte die Umgebung ihres Unterstandes nach einer Beute abgesucht. Dabei war er gestern schneller fündig geworden als sonst und hatte sich bereits auf dem Rückweg befunden, als er die Räuber kommen hörte. Berinhard verschwand in einem Gebüsch und wollte ungesehen warten, bis sie vorüber waren. Dabei entdeckte er, dass sie Sunja im Schlepptau führten.Er war ihnen gefolgt und hatte Fetzen des Gespräches mitgehört. Er wusste schon ungefähr, was sie mit ihr vorhatten, als er um die Mittagszeit vom Räuberlager weg zu ihrem Unterschlupf lief. Er rannte so schnell er konnte. Er wollte seine verräterischen Frankenwaffen loswerden und hatte sie gegen das Messer Sunjas eingetauscht, und er wollte aussehen wie ein Wegelagerer. Dafür waren das schlecht gegerbte Fell und der Räubergürtel ideal. Er hatte sich extra die Hose an den Beinen eingerissen und sich so dreckig gemacht, wie er nur konnte. Zum Glück rasierte er sich, seit er hier im Wald unterwegs war, nur sporadisch.Schnell war er dann zum Lager der Räuber zurückgerannt. Dabei war er über eine große umgefallene Fichte gesprungen, hängen geblieben und hatte sich das Knie aufgeschlagen.Es war ein Glück, dass die Räuber noch nicht mit dem Wettkampf begonnen hatten, als er wieder zum Lager kam. Unbemerkt war er zu dem Baum geschlichen und hatte sich darauf versteckt. Niemand hatte ihn gesehen, er hingegen konnte alles von dort aus beobachten. Sunja war bedacht genug, das Wort „alles“ nicht weiter zu hinterfragen.„Du warst leichtsinnig! Ich habe dir gesagt, du sollst dein Messer immer mitnehmen und du hast nichts Besseres zu tun, als es beim Unterstand liegen zu lassen. Dann lässt du dich einfach so wegschnappen. Du hattest mehr Glück als Verstand. Ich hätte wirklich Lust dich wie ein ungezogenes Gör übers Knie zu legen!“„Versuch es!“, sagte Sunja drohend, die zu ihrer alten Form zurückgefunden hatte und aufgestanden war. Er stellte sich vor sie hin und schaute zu ihr herunter.„Vorsicht! Ich könnte das als Aufforderung verstehen.“ Berinhard grinste. „Doch ich habe dir dummerweise dieses blöde Versprechen gegeben. Du erinnerst dich?“ Sunja grinste nicht und senkte ihren Blick.„Ich ...“„Was ist?“„Du hast recht: Ich war leichtsinnig. Ich weiß, dass ich dadurch nicht nur mich selbst in Gefahr gebracht habe. Es tut mir leid. Schon allein deshalb ...“ Sie wies auf ein besonders großes der vielen blauen Flecken an seinem Oberkörper.„Danke!“ sagte sie leise und schaute betreten zu ihm auf.„Gern geschehen. Guck mich nicht so an!“ Er drehte sich von ihr weg, machte sich an seiner Tunika zu schaffen, um sie über den Kopf zu ziehen und sprach weiter: „Ich glaube, wir sind uns jetzt irgendwie quitt, wenn es so etwas gibt.“„Ja, vielleicht.“ Sunja war zum Bach hingegangen und trank einen Schluck. „Du hast gesagt, du hättest gestern ziemlich früh gute Beute gemacht. Was hast du erlegt?“, fragte sie ihn, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, aber auch weil sie Hunger hatte.„Gleich zwei Hasen“, freute sich Berinhard ihr mitteilen zu können.„Dann lass uns gehen, wir werden noch eine ganze Weile unterwegs sein. Wenn wir da sind, mache ich uns daraus etwas Leckeres zu essen.“Sunja ging am Nachmittag darin auf, die Hasen auszunehmen und zu würzen. Dann brieten sie einen über dem Feuer und aßen sich satt.„Das war ganz schön knapp und ein riesiges Glück“, befand Berinhard. Sunja wusste, was er damit sagen wollte. Wenn er nicht zufällig den Räubern über den Weg gelaufen wäre, dann hätte er sich schwarz suchen können nach ihr. Er hätte sie niemals gefunden. Sunja wollte über die Konsequenzen für ihr eigenes Leben gar nicht weiter nachdenken.„Es ist nicht gut, dass wir hier so alleine sind. Es ist schade, dass uns immer nur Räuber über den Weg laufen, anstelle anständiger Menschen“, meinte Berinhard.„Vielleicht gibt es hier im Haardt keine anständigen Menschen. Nur welche, die aus der zivilisierten Welt fliehen mussten, Verbrecher eben“, sagte Sunja so dahin, während sie in die Hasenkeule biss. Doch Berinhard wurde plötzlich sehr still.„Nein! Nein, ich habe dich nicht gemeint!“, versuchte sie schnell mit vollem Mund das Gesagte vergeblich zu mildern.„Sunja“, begann er gequält „Es tut mir wirklich sehr leid. Ich weiß, dass Einar kein schlechter Mensch war ...“„Berinhard, ich möchte mit dir nicht über Einar sprechen!“, warf sie schnell ein und peinliche Stille kehrte ein.Sunja rang mit sich. Ja, sie hatte gewollt, dass er litt, für das, was er getan hatte. Aber jetzt ...? War sie es ihm nicht schuldig, ihm zu sagen, was sie sich in der letzten Zeit zusammengereimt hatte?„Ich habe darüber nachgedacht“, begann sie zögerlich. „Vielleicht bist du wirklich nicht schuld an seinem Tod, also nicht direkt. Es muss jemand Einar dazu gebracht haben auf dich loszugehen.“„Dann glaubst du mir, dass ich mich nur verteidigt habe?“„Ja, muss ich wohl, denn ich denke, ich weiß, wer ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hat.“„Was? Wer war es und woher weißt du das?“ Berinhard rückte näher zu ihr heran und seine Augen hingen begierig an ihren Lippen.„Als ich Einar das letzte Mal sah, das war, ehe du und Godo zum Brombeergebüsch kamt, da hat er gemeint, er weiß, wer mich so schlecht behandelt und mir all das angetan hat. Es war Nada, die es ihm gesagt hatte. Ich habe mich gewundert, warum sie das getan hat. Aber sie war ja als Einzige dabei als Ordo mich ..., egal. Sie hat ihm scheinbar nicht die Wahrheit gesagt und ich habe zu spät Einars letzte Worte begriffen. Er sagte:‚Du keine Angst mehr haben.’ Dann gab er mir das hier und ging.“ Sunja hatte ein Stück geschnitztes Holz aus der Tasche geholt und zeigte es Berinhard.„Wenn ich ihn nur genauer gefragt hätte! Dann hätte ich ihn davon abbringen oder dich warnen können und all das wäre nie geschehen. Einar wäre noch am Leben. Es ist genauso meine Schuld wie deine.“ Sunja hielt das einzige Andenken an ihren Freund umklammert und schluckte.„Nein, das ist es nicht, es ist meine und die von Nada. Auch wenn ich nicht verstehe, warum sie es getan hat.“Sunja schaute auf. Nada wollte Berinhard zu dem Ihren machen und nachdem ihr das nicht gelungen war, wollte sie ihn vernichten. Natürlich begriff er das nicht. Ihm waren solche Überlegungen und Wesenszüge, wie Nada sie an den Tag legte, fremd. Sunja ging es da nicht anders, doch sie hatte Nada kennengelernt und hatte am eigenen Leib erfahren müssen, zu was ihr wirrer Kopf fähig war.„Sie tat es aus reiner Bosheit“, sagte Sunja tonlos, und weil er sie so fragend ansah, erklärte sie weiter: „Nada wollte sich an dir rächen. Sie hat Einar dafür benutzt, weil es einfach war und weil sie wusste, dass ich ihn mag.“„Ich kann mich gar nicht erinnern, ihr je etwas getan zu haben. Na ja, ich mochte sie nicht, weil sie eine zänkische, egoistische und in sich selbst verliebte Kuh ist. Aber das habe ich ihr doch nie gesagt.“„Ich sehe, du kanntest sie besser, als ich dachte. Da hätte ich sie dir gar nicht vorstellen brauchen.“„Nein und ganz ehrlich; ich war auch etwas irritiert, als du das versucht hast.“„Dann hast du sie mit Absicht nicht beachtet?“„Ja, ich weiß, das war nicht sehr nett von mir. Aber meinst du, dass sie mich deshalb gleich umbringen lassen wollte?“„Nicht direkt, aber fast.“ Tat er nur so oder war er tatsächlich so begriffsstutzig? „Sie war hinter dir her und du hast sie nicht beachtet. Verstehst du?!“„Sie war hinter mir her …? Ach so! Du glaubst sie ... Nein!“„Oh doch und sie hat uns gesehen, wie wir miteinander geredet haben, aber mit ihr hast du nie ein Wort gewechselt. Nur deshalb hat sie auch behauptet, dass mein Kind von dir sei.“„Die ist krank!“, stellte Berinhard mit ernster Miene fest.„Das ist sie! Aber das liegt bei ihr in der Familie“, bestätigte Sunja traurig.„Kopf hoch! Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Einars Blut klebt an meinen Händen, aber du kannst nichts dafür. Ich danke dir, dass du mir gesagt hast, was du weißt. Es entlastet mein Herz. Übrigens ist es mir auch nicht egal, ob du von mir glaubst, ich sei ein Mörder.“„Wirklich geglaubt habe ich das nie. Aber du hast das Messer geführt, das ihn getötet hat.“„Ja und das tut mir unendlich leid.“ Er blickte zu Boden.„Ich weiß.“ Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und zog sie wieder zurück.

 

7. Kapitel: Verhängnisvolle Begegnung

Einige Tage später saßen sie abends zusammen am Feuer, als Sunja aufstand um die Knochennadel aus dem Unterstand zu holen. Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie einige Fäden aus ihrem Ober- und auch Unterkleid zog.
„Mach mal weiter so, dann hast du bald nichts mehr anzuziehen“, gab Berinhard zu bedenken.
„Mir ist gerade etwas eingefallen, was ich schon längst machen wollte. In meiner Gürteltasche trage ich etwas, das mir viel bedeutet. Ich möchte es in Ordnung bringen.“ Sunja griff tief in die Tasche und beförderte drei kleine bemalte Tonperlen hervor. Sie hielt sie auf der ausgestreckten Handfläche, damit er sie sehen konnte.
„Sie haben keinen großen Wert, aber mir bedeuten sie sehr viel.“ Sunja zog sie auf einen der Wollfäden. Diesen verflocht sie mit den übrigen Fasern zu einem haltbaren Strick.
„Ich weiß, ... sie sind von deiner Großmutter“, sagte Berinhard nach einigem Zögern.
„Stimmt.“ Sunja schaute erstaunt zu ihm hinüber. Er sah zurück. Dann klärte sich ihr Blick. Natürlich, er war ja Zeuge der Auseinandersetzung mit dem Priester gewesen. Sunja schloss die Augen und vor ihrem Geiste spielte sich das Vergangene ab.
Er war dabei, als man sie verheult von ihrem Elternhaus weggeführt hatte. Auf seinem Pferd ritt er selbst mit ihr zur Feste. Er stand daneben, als sie Ordo wie eine Ware dargeboten wurde und ebenso als der Priester sie gedemütigt und beschimpft hatte. Er musste mit ihr danach in der Kirche verharren. Damals hatte sie seine Anwesenheit kaum wahrgenommen. Später war er es, der sie auf Befehl in den Kerker werfen ließ. Ihr dämmerte; er kannte entschieden zu viele von ihren schwachen Momenten.
Verlegen schaute sie ihn an. Er saß mit angezogenen Beinen vor ihr und hatte seine Unterarme quer über seine Knie gelegt. Mit den Fingern der rechten Hand drehte er einen blühenden Grashalm hin und her. Er ließ ihn achtlos fallen, stand auf und ging zum Unterstand, wo er eine Weile in einem kleinen Lederbeutel herumkramte. Dann kam er zurück zum Feuer.
Aus der Faust ließ er etwas in Sunjas Hand fallen. Zwei kleine bemalte Tonperlen, von derselben Machart, wie die, welche sie gerade auf die Fäden zog.
„Ich habe sie einige Tage später in der Kirche auf dem Boden gefunden und sie eingesteckt, weil ich dachte, du möchtest sie gern wiederhaben.“ Seine Worte klangen wie eine Entschuldigung. „Ich wollte sie dir eigentlich schon in der Feste geben.“ Sunja war sprachlos und schaute ihn mit großen Augen an. Er sah zur Seite wiegte verlegen den Kopf.
„Na gut, vielleicht wollte ich sie dir auch nicht wiedergeben - noch nicht jedenfalls. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, dann hätte ich es sicher längst getan.“ Das konnte Sunja noch weniger verstehen, bedankte sich aber trotzdem. Er setzte sich zurück in die Nähe der Flammen und sah ihr weiter zu. Sunja knotete diese beiden Perlen ebenfalls auf die Schnur.
„Wegen dieser Sache ...“, sagte er nach einer Weile und seine Stimme versagte.
„Wegen was?“
„Wegen der Sache mit Ordo ..., es tut mir leid, was geschehen ist.“
„Ich glaube nicht, dass du dich dafür entschuldigen solltest. Du kannst ja nichts dafür.“
„Vielleicht doch.“
„Wie meinst du das?“
„In der Nacht, als du mich vor deinem Mann gewarnt hast, da hast du dich beschwert, dass ich wie alle anderen gewusst habe, was Ordo für ein unberechenbarer und jähzorniger Mensch ist. Das stimmt, ich habe es gewusst. Darum habe ich immer ein Auge auf dein Leben in der Feste gehabt. Ich habe gewusst, dass Nada und Ordo dir das Leben schwer gemacht haben. Aber es sah so aus, als wenn du damit zurecht kämest.
Dann kam die Sache mit den Maiglöckchen. Anstatt dich zu warnen, habe ich dich in den Kerker werfen lassen. Ich habe ihnen mehr geglaubt als dir. Das tut mir noch immer leid. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.
Wenn ich nur eher gewusst hätte, welches unschöne Ende das alles nehmen würde. Aber ich habe geschwiegen und war nur ein Beobachter. Ich habe meinen Dienst getan, sonst nichts weiter.“
„Ich nehme dir nicht übel, dass du deine Pflicht erfüllt hast. Du warst übrigens der Einzige, der sich nach der Maiglöckchengeschichte entschuldigt hat. Weder Nada noch Ordo oder der Heiler haben ein Wort des Bedauerns geäußert. Es gab nicht viel, was du hättest tun können“, stellte Sunja fest.
„Als wir in der Kirche allein waren, hätte ich dir sagen können, dass Ordo nicht der richtige Mann für dich sein konnte.“
„Meine Heirat war bereits beschlossene Sache.“
„Ich hätte dich damals schon auf mein Pferd nehmen und mit dir davonreiten sollen!“
„Ich wäre vermutlich nicht mitgekommen.“
„Wer weiß, vielleicht ...“
„Wohl kaum.“
„Sunja, ich ... Wie soll ich es sagen?“ Seine Stimme bebte und Sunja sah, wie sich seine Haltung veränderte und er die Finger in seine Knie krallte.
Sunja legte ihre angefangene Kette beiseite. „Sag am besten gar nichts!“, beschwor sie ihn leise, aber eindringlich und sie wollte es wirklich nicht hören.
„Doch!“, bestand er. „Ich sah dich das erste Mal, als dich dein Vater aus dem Ziegenstall geholt hat. Wie es dir gelungen ist, dich dort vor mir zu verstecken, weiß ich bis heute nicht. Als ich dich zu mir mit aufs Pferd genommen habe, hast du dich nicht mal getraut, mich anzusehen. Du hast vor mir gesessen und warst so nah und doch so fern. Ich habe auf dich hinabgesehen, deine im Nacken zusammengeflochtenen Haare bewundert. Du warst so traurig und ich hätte dich am liebsten an mich gedrückt, um dich zu beschützen vor allem, von dem ich wusste, dass es noch auf dich zukommt. Ich mochte dich von Anfang an und es hat mir leidgetan, dass du mit diesem alten Mann verheiratet wurdest. Doch ich habe es, genau wie du, akzeptieren müssen.
Ich habe dir die Perlen nicht gegeben, weil sie mich an dich erinnert haben. Ich habe Dinge für dich empfunden, die mir verboten waren, und deshalb habe ich jede Gelegenheit genutzt, mit dir zu sprechen. Wenn es auch wenige dieser Gelegenheiten gab.
Ich habe mir eingebildet, ich könnte so ein Auge auf dein Geschick haben. Doch in Wahrheit habe ich dich damit in Gefahr gebracht. Nach dem, was du mir letztens über Nada erzählt hast, denke ich, sie hat mich durchschaut, wenn auch nur unbewusst. Ich bin mir sicher, deshalb hat sie dich und mich denunziert und nur deshalb hat sie Einar auf mich gehetzt. Sie hat es gewusst! Ich mache mir deshalb große Vorwürfe.
Was soll ich machen? Meine Gefühle haben sich nicht geändert. Ich durfte sie damals nicht haben und heute wohl auch nicht. Tut mir leid.“ Er senkte den Kopf.
Warum nur?! Warum hatte er ihr das sagen müssen? Es hatte ihn so viel Überwindung gekostet. Doch es machte alles noch schlimmer, als es ohnehin schon war. Sunja schwieg lange. In ihr tobte ein Sturm. Die Angst und der Schmerz über das Erlebte saßen tief - zu tief.
„Berinhard!“ Sunja griff nach seiner Hand. Sie lag schwer in der ihren. „Es tut mir leid, ich kann dir nicht sagen, was du hören möchtest. Ich kann dich nicht ... lieben“, endete sie kaum hörbar und schaute zu Boden.
„Ich verstehe!“ Er nickte und entzog ihr seine Hand. Dann stand er auf, ging in den Wald und entschwand in der Dunkelheit. Er hatte seine Seele enthüllt und ihr sein Herz gereicht. Doch sie hatte es nicht gewollt.
Sunja sah auf ihre leeren Hände. Als er ihre Hand losließ, war das, als wenn er einen Teil von ihr mit weggerissen hätte. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar allein und unvollständig.
Traurig schaute sie ihm nach.
Gar nichts verstand er! Sicher glaubte er, dass es immer noch an der Sache mit Einar lag. Doch das hatte sie ihm längst verziehen. Aber sie hatte nicht vor, ihn darüber aufzuklären.
Es dauerte lange, ehe Berinhard zum Feuer zurückkehrte. Keine Miene regte sich auf seinem Gesicht, als er zwei Hölzer in die Flammen warf und sich setzte.
„Es ist spät, wir sollten schlafen.“ Er legte sich nieder und drehte ihr den Rücken zu. Es war so einfältig gewesen, sich ihr zu offenbaren, dabei war ihre Antwort vorhersehbar! Hätte er doch einfach die Klappe gehalten und dabei hatte sie ihn noch zuvor genau darum gebeten. Er versuchte zu schlafen, doch er konnte nicht.
Trotzdem merkte er nicht, wie Sunja neben ihm lag und ihr still Tränen über das Gesicht liefen. Vergossen, wegen einer Lüge aus Feigheit.

„Ich werde auf die Jagd gehen. Etwas auf Vorrat zu haben kann nicht schaden. Warte hier oder such ein paar Pilze in der Umgebung. Wir könnten welche gebrauchen.“
„In Ordnung“, erklärte Sunja kleinlaut. Sie wusste, dass er sie nicht allein zurückließ, weil er meinte, sie würde ihn um sein Jagdglück bringen. In Wirklichkeit brauchten sie überhaupt kein Fleisch. Von der letzten Ausbeute war noch mehr als reichlich vorhanden. Doch nachdem sie ihn gestern Abend so kühl zurückgewiesen hatte, brauchte er Abstand.
Sunja beobachtete mit gemischten Gefühlen, wie er nach dem Frühstück sein Schwert, sein Messer und auch die Lanze nahm, um sich auf den Weg zu machen. Sie schaute ihm nach, bis er zwischen den Bäumen und einem Gebüsch verschwand.
Die junge Frau räumte ein wenig hin und her, ohne wirklich die Absicht zu haben, Ordnung zu schaffen. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen, und noch ehe sie sich zum Pilzsammeln aufmachte, hörte sie ein Brüllen, wie sie es noch nie gehört hatte, und dann den Schrei eines Mannes.
„Berinhard!“, stieß sie voll Panik aus und griff nach ihrem Messer. Sie lief so schnell sie konnte am Bach entlang ins Tal hinunter.
Auf halbem Weg sah sie ihn vor sich. Er war noch weit entfernt und kämpfte mit seinen Waffen gegen ein pelziges Untier. Sunja rannte um sein Leben. Sie sah, wie der Bär ihm mit seiner Pranke über die Brust riss und Blut aufspritzte, dabei hörte sie ihn erneut aufschreien.
„Nein!“, stieß sie verzweifelt aus und hastete weiter. Sie beobachtete, wie Berinhard mit letzter Kraft seine Lanze zwischen den Rippen des Ungeheuers versenkte. Der Bär schwankte, schlug unbeholfen mit der rechten Klaue nach der Waffe. Der Speer fiel ins Gras und das Tier stolperte aufrecht in den Wald. Berinhard taumelte rückwärts und stürzte zu Boden. Sunja hatte nur noch Augen für ihn und kam gerade rechtzeitig, ihn mit dem Arm aufzufangen, ehe sein Kopf auf der Erde aufschlug.
„Berinhard?!“, schrie sie mit hoher Stimme. Er verdrehte die Augen und atmete schwer. Seine Züge waren schmerzverzerrt.
Sie untersuchte die Wunde durch das kaputte Hemd hindurch und stellte fest, dass vier tiefe Einschnitte sich über die linke obere Brust zogen, bis hin zum Ansatz des Armes. Auch zwischen diesen tiefen Kerben fehlten Haut und Gewebe. Die Verletzung war großflächig, tief und blutete stark. Zu Sunjas Entsetzen gewahrte sie, dass es nicht die einzige Wunde war, die der Bär ihm zugefügt hatte. Auch sein rechtes Bein zeigte einen blutigen, langen und tiefen Einschnitt, der sich über den ganzen Oberschenkel von oben nach unten zog. Untypisch für eine Bärenpranke fand Sunja. Der Verletzte griff mit der Hand nach ihrem Arm und krallte sich an ihr fest, wie ein Ertrinkender. „Hilf mir!“ presste er durch die geschlossenen Zähne.
„Oh Berinhard! Was soll ich tun?!“, rief sie verzweifelt. „Ich habe keine Ahnung vom Heilen solcher Wunden. Du musst mir sagen, was ich machen soll!“
„Bring mich hoch zum Lager.“ Er hielt sein Schwert noch immer mit der Linken umklammert. Sie wollte es ihm abnehmen. „Nein!“, weigerte er sich es loszulassen. Sunja verstand nicht, manchmal wollten Krieger unbedingt mit dem Schwert in der Hand sterben, aber soweit war es noch nicht - oder doch? Ein scharfer Stich durchfuhr ihre Brust beim Gedanken an einen solchen Verlust. Doch sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken und umfasste ihn von hinten. Sie achtete darauf, mit ihren Händen nicht in die Wunde zu kommen und zog den Krieger mit einer Kraft, die sie sonst im normalen Leben niemals aufgebracht hätte, durch das Unterholz. Er half ihr, indem er sich mit dem gesunden linken Bein und dem rechten Ellenbogen abstützte und so seinen kaputten Körper nach oben schob. Sie beeilte sich so sehr sie konnte, denn er verlor durch die Bewegung Unmengen von Blut und dies schwächte ihn und verschlimmerte seinen Zustand zusehends.
Endlich waren sie vor dem Lager angekommen und Sunja wollte ihn ablegen.
„Nein ... nicht hier ...“, stammelte er. „Dort drüben.“
Er war der Fachmann im Behandeln von Wunden, deshalb fragte sie nicht lange, sondern zog ihn zwischen mehrere Bäume.
„Und jetzt?“, fragte sie ihn außer Atem, nachdem sie ihn niedergelegt hatte.
„Mach Feuer! Nimm gutes, trockenes dickes Holz. Mach es hier, nicht drüben bei der Feuerstelle.“ Sie lief hinüber zum Lager und holte von dort Feuerholz, was sie schon in den Tagen zuvor gesammelt hatte. Mit den Feuersteinen entzündete sie den Zunderschwamm zusammen mit trockenem Gras und legte dünnere Zweige darauf. Sie beeilte sich und ihre Hände zitterten vor Aufregung. Sunja pustete in die Flammen, um deren Ausbreitung anzutreiben. Als das Feuer hell brannte, legte sie dickere Äste nach und wand sich wieder Berinhard zu.
„Und nun?“
„Du musst die Wunden freilegen und schauen, ob irgendwelcher Dreck drin ist.“
Sie nickte und griff nach dem Schwert. Jetzt ließ er es sich bereitwillig abnehmen. Dann löste sie die Gürtelschnalle und nahm den breiten Lederriemen samt dem Wehrgehänge ab. Sie machte das Band am Hals seiner Tunika auf und fädelte es heraus, dann schob sie das Kleidungsstück, das bis zu den Knien reichte, hoch und zog es vorsichtig über den rechten Arm und seinen Kopf. Weiter streifte sie es über den in Mitleidenschaft gezogenen linken Arm nach unten. Dies verursachte ihm zusätzliche Schmerzen und die obere Wunde begann wieder stärker zu bluten. Sie warf die Tunika beiseite und machte sich daran, die Wunde am Oberschenkel freizulegen.
Diesmal nahm sie sich nicht so viel Zeit, die ganzen Schnüre des Beinlings aufzuschlingen, der über der Hose zusammengebunden war. Das hätte zu lange gedauert und die Bewegung des Beins hätte zu noch mehr Blutverlust geführt. Sie machte kurzen Prozess und schnitt sein Beinkleid mit dem Messer einfach von ganz unten bis oben auf. Sie würde es später nähen. Dasselbe machte sie mit der Hose, die ohnehin zerfranst war und kaum bis über das Knie reichte. Das alles hatte zur Folge, dass der Mann der vor ihr lag so gut wie nackt war. Nur das linke Beinkleid und die Schuhe waren noch an seinem Körper verblieben. Die helle Haut war überall mit seinem Blut bedeckt. Schwer hob und senkte sich sein Brustkorb. In dieser Nacktheit war so viel Hilflosigkeit, mehr als Sunja vertragen konnte. Sie verspürte den dringenden Wunsch, ihn zuzudecken. Aber soweit war es noch nicht.
„Spül die Wunden aus“, sagte er matt.
Sie nahm seinen Holzbecher, füllte ihn mit Wasser und goss dies über die Verletzungen. Mit einem Tuch tupfte sie es wieder ab. Die Wunden waren tief und die Ränder zerfetzt. Besonders schlimm sah die Obere aus.
„Nimm mein Schwert, lege es in die Glut.“ Sunja erschrak. Ihr war klar, was er weiter von ihr verlangen würde. Sie sollte die Wunden ausbrennen.
„Das kann ich nicht!“ Sie schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Du musst! Ich kann das schlecht selber machen.“ Er atmete schwer ein. „Wenn du es nicht tust, verblute ich. Bitte!“ Sie schaute auf ihn herab und sah ein, dass er recht hatte. Schweren Herzens nickte sie und nahm das Schwert.
Das Feuer war inzwischen gut durchgebrannt. Sie schob die Waffe mitten in die Glut, so weit rein, wie möglich.
„Gut! Geh und hole alle Gürtel, Lederriemen und Stricke, die wir haben.“
Sie ging und brachte was sie finden konnte. Sie hielt es ihm vors Gesicht. Er nickte und schloss die Augen. Sie wusste, was sie damit machen musste. Kein Mensch der Welt würde stillhalten, wenn man ihm ein glühendes Eisen auf die Brust drückte, selbst dann nicht, wenn er es sich fest vornahm. Seinen eigenen Gürtel und den des Räubers schlang sie ihm um die Handgelenke.
„Fester!“, bestand er. Sie zog so sehr sie konnte, dann band sie die Riemen mit anderen Stricken zusammen. Die Enden wand sie um zwei der Bäume und streckte so seinen Oberkörper flach auf dem Waldboden aus. Dann zog sie ihm die Schuhe von den Füßen, um Stricke um seine Knöchel zu legen.
Während sie all dies tat, kämpfte sie mit den Tränen und eine zentnerschwere Last lag auf ihr. Noch nie im Leben hatte sie einen Menschen gefesselt und er ließ es freiwillig mit sich geschehen. Es fiel ihr so unsäglich schwer. Er war bei Bewusstsein und schaute in den Himmel, während er ab und zu leise stöhnte.
„Muss ich das wirklich tun?“, fragte sie ihn vorsichtshalber noch einmal, nachdem sie den letzten Knoten angezogen hatte. „Beide Verletzungen? Das ist grausam!“
„Nach der Ersten werde ich ohnmächtig sein, das hoffe ich wenigstens.“
„Dieses Mistvieh von einem Bären!“, schimpfte sie vor sich hin, als sie zum Feuer ging.
„Warte! Das war kein Bär!“
„Was?!“ Sie wandte sich zu ihm um.
„Kein Bär ... Ich kann dir nicht sagen, was es war. Sollte ich nicht wieder zu mir kommen, dann musst du allein von hier fortgehen! Es ist hier nicht mehr sicher. Versprich es mir!“ Das Reden fiel ihm immer schwerer, doch er bestand auf ihr Versprechen und sie gab es ihm.
„Und jetzt tu es!“
Sie konnte ihm damit das Leben retten, aber sie wusste auch, dass diese Behandlung sein Ende bedeuten konnte.
„Gleich, ich will, dass du zuvor noch etwas weißt: Ich hab dich sehr gern, mehr als ich dir gestern gesagt habe und mehr als du dir vorstellen kannst. Du bist mein Licht in dieser Dunkelheit hier und ich habe dich gestern belogen, weil ich unsagbar feige bin. Ich bereue das zutiefst und ich hoffe du verzeihst mir.“ Er sah sie reglos an.
„Hast du mich verstanden?“
Berinhard nickte. „Ja, habe ich“, flüsterte er kaum hörbar, es war höchste Zeit zu handeln. Sie legte ein geschältes Stück Holz zwischen seine Zähne und zog das Schwert aus der Glut. Sie blies die Asche herunter. Die Klinge glühte schwach dunkelrot. Als Erstes würde sie sich um die größere der beiden Wunden kümmern, diese blutete am stärksten. Sie kniete sich über seine Hüfte und nahm Maß. Er biss fest auf das Holz. Sie atmete schwer und sah ihm in die Augen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie heiser mit zitternder Stimme, dann atmete sie tief ein und hielt die Luft an. Sie presste die Lippen aufeinander und drückte die breite Seite des Schwertes fest auf die Blutung. Ein knisterndes, leise zischendes Geräusch war zu hören. Er zog an den Riemen und gab unmenschlich gepresste Laute von sich. Sunja drehte das Schwert auf die andere Seite, um die zweite Hälfte der Verletzung auszubrennen. Es roch nach verbranntem Fleisch und Qualm stieg auf. Berinhard brüllte auf und die Riemen schnitten in seine Gelenke.
Verdammt! Warum wurde er nicht ohnmächtig! Sunja wischte die Klinge mit einem Tuch ab und schob sie erneut in das Feuer. Dann lief sie schnell hinüber zum Bachlauf und machte das Stück Stoff nass. Sie brachte es zu ihm zurück, flößte ihm etwas von dem Wasser aus dem Tuch in den Mund. Er war furchtbar blass und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Atem war schwer und er stöhnte vor Schmerzen. Sie wusch sein Gesicht mit dem kalten Wasser. Dann küsste sie seine Stirn und legte den feuchten Lappen darauf. Behutsam strich sie ihm über den Kopf.
Die ganze Prozedur war furchtbar und der Geruch von seinem verbrannten Fleisch lag noch immer in der Luft. Sunja war übel, sie stand auf, ging ein Stück beiseite und übergab sich ins Gras. Nachdem sie sich gesammelt hatte, kam sie zu ihm zurück. Sie musste zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. Er schaute sie aus trüben roten Augen an. Er war schwach und sie konnte seinen Blick kaum ertragen.
„Es tut mir so leid“, flüstere sie und nahm ihm das Tuch von der Stirn. Sie legte ihm das Stück Holz wieder in den Mund. „Noch einmal, dann hast du es geschafft.“ Er nickte kaum sichtbar.
Sie nahm das Schwert und kniete sich zwischen seine Beine. Diese Wunde war lang und schmal. Einmal aufdrücken mit der glühenden Klinge würde ausreichen. Nachdem sie Maß genommen hatte, brannte sie auch diese Wunde aus, wie die Erste.
Anfangs spürte sie noch, wie sein Körper sich angespannt dagegen wehrte und hörte sein Aufschreien. Sie flehte währenddessen, dass er endlich besinnungslos werden sollte. Dann erschlafften seine Muskeln plötzlich und um sie war nichts als die Stille des Waldes. Sie warf das Schwert ins Gras und sank neben ihm zu Boden. Dort lag sie eine Weile, sah weiße Wolken über den blauen Himmel ziehen und atmete schwer. Die Kleidung klebte feucht an ihrem Körper und ihr war noch immer furchtbar übel.
Sie hatte es getan! Aber war er dadurch gerettet? Vielleicht waren all seine Qualen umsonst gewesen? Nein, das durfte nicht sein! Sie raffte sich auf und begann, die Fesseln zu lösen. Obwohl er ohnmächtig war und nichts spürte, tat sie es ganz vorsichtig, als wenn sie dadurch irgendetwas wieder gutmachen konnte, was sie ihm eben angetan hatte.
Nachdem sie damit fertig war, wusch sie das ganze viele Blut von ihm. Endlich konnte sie locker eine Decke über ihn legen und damit seine hilflose Blöße bedecken.
Nein, sie würde ihn nicht hinüber in das Lager ziehen. Die Gefahr, dass dadurch die Wunden wieder aufbrachen, war zu groß. Sie musste sich hier um ihn kümmern. Sie sah durch die Baumkronen nach oben. Es sah nicht so aus, als wenn es bald regnen würde.
Wo war eigentlich Godo, wenn man ihn brauchte? Da fiel ihr ein, dass er am Morgen mit Berinhard gegangen war. Aber seit sie sich um den Verletzten gekümmert hatte, war der Hund nicht wieder aufgetaucht. Sie befürchtete, dass er ebenfalls dem angriffslustigen Tier zum Opfer gefallen war.
Sie musste noch einmal zu der Unglückstelle zurückkehren, um Berinhards Lanze und sein Messer zu holen. Es kostete sie viel Überwindung, den Verletzten allein zurückzulassen. Das war überhaupt der Grund, warum sie an den Hund gedacht hatte. Doch sie wollte nicht warten, bis es dunkel wurde und Berinhard war sowieso gerade bewusstlos. Wenn er erwachte, musste sie bei ihm sein. Eilends lief und sprang sie den Berg hinunter.
Die Lanze fand sie gleich, das Messer musste sie erst im hohen Gras suchen. Schnell machte sie sich auf den Rückweg, um den Verletzten nicht länger sich selbst zu überlassen. Als sie oben ankam, wartete dort noch jemand anderes auf sie. Godo hatte sich zurückgefunden und er war gänzlich unverletzt.
„Du blöder Köter! Hast dich einfach aus dem Staub gemacht, anstatt deinem Herrn zu helfen!“, schimpfte sie mit dem Hund. Godo zog den Schwanz ein, schaute schuldbewusst und ging ebenso wie Sunja zu Berinhard hinüber.
Sie schürte das Feuer, legte einige Äste nach und sammelte im Halbdunkel die Stricke, Gürtel und Lederriemen ein, die noch immer um den Verletzten verstreut lagen. Sie wickelte alles zusammen und brachte es in den Unterstand. Dann reinigte sie das Schwert im Bach und trocknete es gut ab, ehe sie es in die lederumwickelte Holzscheide steckte und neben das Feuer legte. Das Messer reinigte sie ebenfalls, sie würde es noch brauchen.
Sunja ging zum eigentlichen Lager hinüber und holte ihr Bündel hervor. Daraus nahm sie ein helles, frisch gewaschenes Kleid, das Einzige, was sie außer dem durchgeschwitzten an ihrem Leib noch besaß. Sie brachte es zum Feuer und schnitt es in dessen Schein in handbreite Streifen. Besorgt schaute sie dabei immer wieder zu dem Verletzten hin. Er war schon ziemlich lange ohne Bewusstsein. Sie wusste nicht zu sagen, ob das gefährlich war.
Als sie genug Stoffstreifen hatte, begann sie ihn zu verbinden. Zuerst die Wunde am Oberschenkel. Sie legte locker den Stoff darum und verknotete die Enden. Das war einfach, aber wie sollte sie seinen Oberkörper umwickeln, wenn er ihr nicht dabei helfen konnte? Sie drehte ihn etwas unbeholfen, aber vorsichtig auf die Seite. Dabei schob sie ihm gleich ihre Decke unter. Dann begann sie das Verbandszeug um die Schulter und quer über seine Brust zu wickeln. Besonders schön sah das nicht aus, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Behutsam ließ sie ihn zurück auf die Decke gleiten und hörte ihn leise aufstöhnen. Er war wach und schaute sie an.
„Schön, dass du wieder da bist. Ich habe dir einen Verband gemacht“, begrüßte sie ihn erleichtert. Berinhard wollte nicken, doch das tat jetzt mehr weh wie sprechen und er sagte leise „Danke“.
Sunja holte das Tuch, tauchte es in den Bach und ließ ihm Wasser in den Mund tropfen. Sie wusch sein Gesicht und legte den feuchten Stoff auf seine Stirn.
„Ich habe dein Messer und deinen Speer geholt.“
„Gut“, lobte er matt. „Wir können ... nicht ... bleiben!“ Sunja nickte traurig. Er war so schwach, dass er nicht weiter mit ihr sprechen konnte und sie wusste nicht, wie sie ihn in diesem Zustand transportieren sollte.
Er litt unter großen Schmerzen und in der Nacht begann er zu zittern weil er fror.
Nachdem sie noch einmal etwas auf das Feuer getan und sein Schwert gezogen in Reichweite gelegt hatte, breitete sie zusätzlich ihren Mantel über ihn. Hilflos sah sie auf ihn hinab und verspürte den Drang, ihn wie ein kleines Kind an sich zu drücken und schützend ihre Arme um ihn zu legen. Dafür war er jedoch eindeutig zu groß. Deshalb kroch sie auf seiner rechten Seite unter die Decke, um ihn zu wärmen. Obwohl sie ansonsten körperliche Nähe als bedrohlich empfand, kuschelte sie sich an seinen gesunden Arm. Er roch, obwohl sie ihn gewaschen hatte, noch immer nach frischem Schweiß und Blut. Sie sog den süßlich-metallischen Geruch durch die Nase und empfand ihn als nicht unangenehm.
Sunja legte ihren Kopf in seine Halsbeuge mit dem Gesicht in Berinhards große braune Locken und machte sich Vorwürfe. Nein, es war sicher nicht ihre Schuld, dass der Bär oder was auch immer es war, ihn angegriffen hatte. Aber wäre er überhaupt gegangen, wenn sie gestern etwas mutiger gewesen wäre?
Erst als Berinhard aufgehört hatte zu zittern, schlief auch sie ein. Das Feuer und Godo bewachten die beiden Schlafenden.

Am Morgen darauf brachte sie ihrer beider Gewandung in Ordnung. Sie wusch ihr Kleid, besserte seine Tunika aus und nähte die zerschnittenen Beinkleider wieder zusammen, um danach auch diese zu waschen. Zwischendurch schaute sie immer wieder nach Berinhard. Er schlief viel, und wenn er wach war, dann hatte er noch immer Schmerzen. Reden war für ihn sehr anstrengend. Deshalb war eine Unterhaltung mit ihm einseitig. Sunja war dazu übergegangen Lieder zu singen, in der Hoffnung, ihn von seiner misslichen Lage abzulenken. Doch er blieb unruhig, was nichts mit der Qualität von Sunjas Sangeskünsten zu tun hatte. Er war sich sicher, dass sie sich in Gefahr befanden. Sunja glaubte das weniger. Sie musste für einen Aufbruch erst alles in Ordnung bringen und auch aus einem anderen Grund versuchte sie die Weiterreise zu verzögern. Sie befürchtete, dass Berinhard das Sitzen auf einem Pferd nicht gut bekommen würde.
Als er erneut erwachte, winkte er Sunja an seine Seite und redete leise stockend aber sehr eindringlich auf sie ein:
„Nimm das Wehrgehänge ... tu es um ... daran trägst du meine Waffen!“
„Ich befürchte, dass ich ebenso wenig mit deinen Waffen ausrichten kann, wie du gerade. Dein Schwert kann ich kaum mit zwei Händen halten.“
„Egal, ... trotzdem! Es ist gefährlich hier. Wir müssen aufbrechen ... - bald!“
„Wie soll das gehen und wo willst du hin?“
„Es muss ... kümmere dich ... morgen! Egal wohin ... nur weg von hier!“
„Warum hast du es so eilig, hier zu verschwinden? Wegen des Tieres was dich angegriffen hat? Es ist schwer verletzt, glaubst du wirklich es kommt zurück?“
Berinhard brachte alle seine Kraft auf, um nach ihrem Arm zu greifen. Er zog sich etwas an ihr hoch und schaute sie mit durchdringendem Blick und rot unterlaufenen Augen an. Sunja wurde angst und bange, als sie ihn so sah.
„Das war kein Tier!“
„Was? Aber es hatte überall Fell und es hat furchtbar gebrüllt ...“
„Nein, kein Tier ... hatte keine Krallen!“
Sunja sah ungläubig auf den Verband um seine Brust.
„Wenn es keine Krallen hatte, wie konnte es dich dann so zurichten?“
„... Eisenhaken an rechter Pfote. Links ... langes Messer. Sah auch nicht aus wie Bär, ... eher wie Wolf! War aber keiner.“ Er ließ sich nach hinten fallen, das Sprechen hatte ihn angestrengt und er war erschöpft. Nicht lange danach schlief er wieder ein. Sunja befühlte seine Stirn. Hatte er bereits Wahnvorstellungen? Was er ihr eben erzählt hatte konnte nicht stimmen.
Am Abend hätte sie so gern eine dünne Suppe für ihn gekocht, da sie jedoch keinen Topf hatten, musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. Sie schnitt die harte Kruste von dem gebratenen Fleisch ab und den Rest zerteilte sie mit dem Messer in kleine Stücke. Diese legte sie in die Holzschüssel, die zu Berinhards Heerausrüstung gehörte. Sie goss alles mit Wasser auf und ließ es stehen. Später drückte sie die Masse aus und versuchte, ihm die Brühe einzuflößen. Mit mäßigem Erfolg. Besonders schlimm war, dass er sich mehrfach verschluckte und der Husten ihm unsägliche Qualen bereitete. Nachdem sie endlich etwas von der Brühe in ihm drin hatte, war er von oben bis unten durchgeschwitzt. Sie wusch ihn und schaute nach dem Verband. Währenddessen schlief er ihr einfach unter den Händen ein.
Sunja blickte auf ihn hinab und ihr war klar, dass sie von ihm keinerlei Mithilfe mehr erwarten konnte. Sie musste für sie beide denken und handeln. Doch was war die richtige Entscheidung? Bald würde der Herbst beginnen, Vorboten gab es schon. In dieser Jahreszeit würde es immer schwieriger werden, hier im Bergwald zu überleben und für einen Verletzten war es fast unmöglich.
Am Abend legte sie sich wieder neben ihn und grübelte, bis der Schlaf seinen Mantel über sie breitete. Irgendwann mitten in der Nacht erwachte sie durch das Aufflattern eines Vogels. Erst war sie noch etwas benommen, dann richtete sie sich auf und in weiter Ferne sah sie das Licht von mehreren kleinen Feuern, die sich durch den Wald bewegten. Fackeln!
Vielleicht suchte dort jemand nach ihnen. Sie warf sofort Erde auf das noch glimmende Feuer und griff nach dem Schwert, was neben ihr lag. Sie verharrte voller Angst und wendete ihren Blick nicht von den Lichtpunkten. Plötzlich waren sie verschwunden, wie von der Nacht geschluckt. Hatte man sie gelöscht? Schlichen sie sich jetzt im Dunkel an? Sunja horchte in die Finsternis. Jedes kleinste Geräusch ließ sie zusammenzucken, doch es geschah nichts Ungewöhnliches um sie herum. Trotzdem blieb sie die ganze Nacht in der Dunkelheit neben Berinhard sitzen. Ihre Finger umspannten den Schwertgriff. Obwohl die Lichter schon vor langer Zeit verschwunden waren, konnte sie nicht wieder einschlafen.
Er hatte doch recht gehabt. Je länger sie darüber nachdachte, umso wahrscheinlicher erschien es ihr. Er sprach von einem messerähnlichen Gegenstand, den das Untier auf der linken Seite gehabt habe, und die Wunde an seinem Bein passte gut zu einer solchen Waffe. Sie mussten hier weg! Deshalb tat sie, was er ihr gesagt hatte.
In aller Frühe begann sie, ihm und sich selbst die inzwischen getrockneten Kleider anzuziehen. Dann packte sie alles zusammen was sie besaßen, dazu gehörte das bisschen Kleidung, was sie nicht auf dem Leib trugen, seine Kampfausrüstung; Essgeschirr, Helm, Schild, Speer und noch einige andere Kleinigkeiten.
Später legte sie über ihrem Kleid Berinhards Gürtel zusammen mit dem Schulterriemen an. Daran befestigte sie die mit Leder überzogene Holzscheide des Schwertes und die Lederscheide mit dem Sax. Ihr eigenes Messer verstaute sie im Gepäck. Er hatte recht, was sollte er mit den Waffen anfangen? Sunja glaubte zwar auch nicht, dass sie diese richtig benutzen könnte, aber wenn ihnen Gefahr drohte war es ihre Aufgabe, sie abzuwenden. Entschlossen schob sie das Schwert in die Scheide. Berinhard legte sie so lange den Gürtel des Räubers um.
In Nordhusen wäre sie für das Tragen von Waffen bestraft worden. Der König hatte ein Gesetz erlassen, welches dies nur Soldaten zugestand. Aber was kümmerte sie im Moment der König? Sie legte dem Pferd das Zaumzeug an und tat die Decke auf dessen Rücken. Dann kam das Schwierigste an der ganzen Sache. Sie musste Berinhard auf die Stute bekommen.
Als er einen seiner nur noch seltenen wachen Momente hatte, redete sie auf ihn ein, damit er bei Bewusstsein blieb. Sie versuchte ihn, an einen Baum gelehnt, aufzurichten. Dort hatte sie das Pferd angebunden. Mit aller Kraft und ganzem Körpereinsatz hievte sie ihn auf das Reittier. Doch wenn sie ihn dabei nicht ständig angebrüllt hätte, dass er ihr helfen solle und bei Bewusstsein bleiben müsse, wäre ihr das wohl kaum gelungen. Eins war klar, sie würde ihn nicht wieder runter holen, bis sie gefunden hatte was sie suchte. Noch einmal würde ihnen dieses Kunststück nicht gelingen.
Sie schwang sich hinter ihm auf das Tier und band ihn mit Stricken auf der Stute fest. Alsdann glitt sie nach unten, holte das Hirschfell und löste das Pferd vom Baum. Sie stieg wieder hinter Berinhard auf das Tier. Das Fell, welches sie mehr schlecht als recht gegerbt hatte und welches ihnen schon einmal gute Dienste geleistet hatte, stank furchtbar, aber um Berinhard warmzuhalten würde es ausreichen. Sie legte es ihm über und nahm die Zügel in die Hand. Berinhard war in sich zusammengerutscht und taumelte vor ihr auf dem Pferd hin und her. Sie umfasste seinen Körper mit der linken Hand, zog ihn mit dem Rücken gegen sich und mit der Rechten lenkte sie Aschari.
Noch nie zuvor war sie selbst geritten. Doch sie hatte gesehen, wie er es machte und immerhin gehorchte ihr das Tier. Es konnte also nicht ganz falsch sein was sie tat. Sunja schaute noch einmal zurück, wie in der Ferne der Unterstand allein und verlassen zurückblieb, dann richtete sie ihren Blick nach vorn.
Jetzt lag alles bei ihr. Er hatte gewollt, dass sie diese Gegend hier verließen, das taten sie gerade, aber das allein half ihnen nicht, den Winter zu überstehen. Es gab nur eine Möglichkeit, um doch noch alles zum Guten zu wenden: Sie musste eine Siedlung finden. Selbst wenn ihr das gelänge, war es fraglich, ob man dort zwei weitere Esser aufnehmen würde, von denen auch noch einer krank war. Sie würde alles tun, jede Arbeit, egal welche, und wenn es sein musste, würde sie auch auf Knien darum betteln. Doch wohin sollte sie sich wenden? Wo waren die Aussichten auf Erfolg am größten? Um sie waren Wald, Felsen und noch mal Wald. Eine grüne Hölle mit Irrgarten. Dort lag irgendwo ihre Zukunft, wie auch immer die aussehen mochte.
Sie ritten den Bachlauf nach unten, an der Stelle vorüber, wo das Scheusal Berinhard angegriffen hatte, bis der Wasserlauf in den anderen hineinfloss. Diesem folgte sie dann entgegen der Fließrichtung. Dabei kam sie in die Nähe der Stelle, wo sie von den Räubern überfallen wurden. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie gefährlich es war, mit einem kranken Mann durch den Haardt zu reiten. Das Pferd mit dem Gepäck forderte Räuber geradezu auf, sie zu überfallen und auszurauben. Sunja glaubte, überall im Gebüsch wären Augenpaare, die sie anstarrten und ihnen auflauerten, um im richtigen Moment hervorzuschnellen. Unweigerlich trieb sie Aschari an, um endlich diese Stelle hinter sich zu bringen. Geschafft, niemand hatte sie behelligt. Aber die Gegend, in die sie jetzt kam, war fremd. Dort konnte alles auf sie warten: die Erfüllung aller ihrer Wünsche oder der Tod.
Es ging weiter leicht bergauf. Als sie an der Quelle des Baches ankam, war es bereits Abend. Sunja hielt das Pferd an und band es an einem Baumstamm fest.
Sie nahm das Tuch, ging zum Wasser und tränkte es darin, dann stieg sie wieder auf Aschari und versuchte, Berinhard etwas Flüssigkeit einzuflößen. Er schluckte und Sunja war froh darüber. Sie lockerte einige der Stricke die ihn aufrecht hielten und er konnte sich nach vorn gebeugt auf dem Hals des Pferdes ausruhen. Sunja legte eine Decke über ihn. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Damit Berinhard nicht nass wurde, zog sie das Fell ganz über ihn. Die Stellung, in der er die Nacht verbringen musste, war alles andere als bequem. Doch sie durfte sich nicht erweichen lassen und ihn von dem Pferd holen. Sie würde es nicht schaffen, ihn wieder nach oben zu bekommen. Das war ihr schon am Morgen klar gewesen. Jetzt jedoch, wo sie sich das Elend ansehen musste, war es wieder etwas anderes.
Sie selbst wickelte sich in ihren Mantel und schlief auf dem Waldboden neben Godo. Am Morgen band sie Berinhard wieder fester auf das Pferd und brach früh auf. Nach kurzer Zeit wurde das Gelände so unwegsam, dass sie Aschari am Zügel führen musste.

Sechs Tage war es her, seit dieses Etwas Berinhard angefallen hatte, und es schien keine Besserung zu geben.
Er hatte kaum noch lichte Momente. Eigentlich kein Wunder. Er gehörte nicht auf ein Pferd gebunden und das Tag und Nacht. Er sollte auf einem Krankenlager ruhen. Dort wäre es auch einfacher ihn zu pflegen, als hoch zu Ross.
Trotz ihrer Versuche, es zu verhindern, hatte sich die Wunde über der Brust entzündet und nässte. Sunja befürchtete, dass sich bald Eiter bilden würde. Dazu kam, dass sein Körper vom Fieber glühte. Sunja war verzweifelt. Was konnte sie nur tun, um ihn zu retten? Sie fand einfach keine Siedlung. Mehrere Tage irrte sie schon umher. Immerzu die Flüsse entlang, manchmal hatte sie diese auch verlassen, aber nirgendwo eine Menschenseele.
Sie saß hinter ihm auf Aschari und hörte ihn zwischendurch immer wieder stöhnen. Er war schon längere Zeit bei Bewusstsein und litt Qualen. Außerdem erkannte er sicher auch die unwürdige Lage, in der er sich befand. Krank seit Tagen auf ein Pferd gebunden.
„Berinhard, hörst du mich?!“ Er nickte kaum sichtbar. „Sag mir, was ich machen kann, damit es dir besser geht?“
„Wenn es einem meiner beiden Tiere so schlecht ginge wie mir, würde ich ihm den Gnadenstoß geben“, sagte er gequält langsam und fügte leise hinzu: „Nimm das Messer und lass mich in deinen Armen sterben.“
„Nein!“ Sie strich mit der Hand über seinen Kopf und flüsterte ihm von hinten zu. „Du kannst alles von mir haben. Ich werde alles tun was du willst, aber nicht das. Ich bin selbstsüchtig und will, dass du bei mir bleibst.“
Er atmete schwer ein und aus. „Ich werd’s versuchen“, versprach er heiser.
„Du wirst es schaffen. Bestimmt wird es bald besser werden.“ Sie zog ihn noch etwas mehr zu sich heran und hielt seine Hand. Er war unruhig und atmete schwer, bis er endlich wieder in die Dunkelheit hinüberglitt.
Nein, sie glaubte selbst nicht, dass es ihm bald besser gehen würde. Im Gegenteil, aber das konnte sie ihm doch nicht sagen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
In den kommenden Tagen mehrten sich die Regenschauer und die Luft wurde immer kälter. Das würde sich in der nächsten Zeit nicht ändern. Als sie den Reichshof verlassen hatten war es Ende August. Inzwischen musste wenigstes Oktober sein. Die Blätter der Bäume verfärbten sich zusehends. Die Buchen hüllten ihre Kronen in ein sattes Rotbraun, was im Kontrast zu den gelben Blättern der Erlen stand. Dazwischen standen völlig unbeeindruckt die immergrünen Fichten. Das Unterholz war gelb, rot, braun und grün durchmischt. Sunja kam es vor, wie ein kraftraubendes Aufbäumen der Natur vor dem winterlichen Verfall.
Es war Herbst und sicher würde es nicht mehr lange dauern, bis die Blätter fielen. Kein Wunder, dass sich Nebel mit Regen und Stürmen abwechselte. Obwohl sie Respekt vor dieser Witterung hatte, bereitete Sunja die darauffolgende Jahreszeit noch mehr Kopfzerbrechen. Sie wusste, er würde kommen, der Winter mit seiner lebensfeindlichen Kälte, und er würde töten, was sich nicht gegen den Frost zu schützen vermochte. Sie zog die Decken fester um sich und Berinhard. Sie fühlte sich machtlos gegen die Naturgewalten, aber auch gegen sein Dahinsiechen. Er brauchte Hilfe. Heiler gab es nur in Siedlungen und Sunja glaubte nicht mehr, dass es hier im Bergwald so etwas gab.
Die Last vorweggenommener Trauer legte sich auf ihr Gemüt. All’ ihre Hoffnungen hatten sich in Nichts aufgelöst. Sie ritt nur weiter, damit sie in Bewegung blieb. Das monotone Geschaukel auf dem Pferd hatte etwas Beruhigendes, was sich hoffentlich auch auf den Kranken übertrug. Sie würde immer weiterreiten, jeden Morgen aufs Neue, bis das Pferd nicht mehr konnte oder Berinhard im Sterben lag. Vorher würde sie nicht damit aufhören.
Sie kamen an eine Stelle im Wald, wo sich die Bäume lichteten. Der Regen prasselte monoton auf die Blätter, dort sammelte er sich in großen Tropfen und fiel schwer zum Waldboden. Ein Bachlauf floss von oben herab. Es war gleich wohin sie ritt. Der Bergeinschnitt mit dem Bach hatte Ähnlichkeit mit der Gegend, wo sie ihren Verschlag gebaut hatten, deshalb folgte sie ihm.
Es begann dunkel zu werden. Bald würde sie wieder die Stricke lockern, um es ihm etwas bequemer für die Nacht zu machen. Der Regen hatte alles durchnässt. Sie spürte wie Berinhard vor ihr zitterte, aber er bekam davon selbst nichts mehr mit. Sie schaute sich nach einem geeigneten Platz für die Nacht um, da tauchte aus der Dämmerung etwas vor ihnen auf. Es hob sich vom düsteren Himmel noch dunkler ab. Sicher ein Felsen, wie es sie hier zu Hunderten gab. Oder? Sie sah genauer hin und es erschien ihr wie ein Wunder. Vor ihr stand eine kleine windschiefe Hütte.
Schwer zu sagen ob sie bewohnt war und wenn, konnte man nicht wissen, ob der Besitzer der Wohnstatt ihnen helfen würde oder ob er ihnen feindlich gesonnen war. Sunja war bereit, es darauf ankommen zu lassen und Genaueres selbst herauszufinden.
Sie lenkte das Pferd an eine Stelle, die man von der Hütte aus nicht einsehen konnte. Bedächtig strich sie über Berinhards Rücken. Er war bewusstlos und das war für ihn wohl auch das Beste.
Sunja rutschte hinter dem Verletzten von dem Tier, band die Zügel am unteren Ast eines Baumes fest und ging zu der Unterkunft. Diese war grob aus Baumstämmen zusammengezimmert. Die Fugen hatte man mit Lehm verschmiert der schon bröckelte und das Dach war mit altem Stroh gedeckt. Es gab keine weiteren Öffnungen außer der Tür. An diese klopfte Sunja an. Einen Moment horchte sie in die Dämmerung, dabei umklammerte sie den Griff des Sax, der an ihrer Hüfte steckte. Doch es rührte sich nichts. Sie zögerte, dann legte sie ihre Handfläche auf die Bretter und drückte dagegen. Die Tür bewegte sich. Sie war von innen nicht verriegelt. Außerdem sah sie durch den Spalt auch kein Feuer.
„Ist hier jemand? Gebt euch zu erkennen, wir sind in friedlicher Absicht hier.“ Wieder nichts als Stille. War das eine Falle?
Egal, sie musste dort hinein! Wenn sie an den Verletzten auf dem Pferd dachte, hatte sie gar keine andere Wahl. Jetzt zog sie das Schwert aus der Scheide und umfasste es mit beiden Händen. Mit der Schulter drückte sie die Tür vollends auf und sprang, die Waffe vor sich haltend, in das Innere. Ihr Herz schlug so laut, dass sie meinte, man könnte es in der Stille hören.
In der Hütte war tatsächlich niemand. Sie ließ das Schwert sinken und schaute sich um, ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Es gab eine Ecke, in der lag Stroh. Es war alt, aber trocken. An der gegenüberliegenden Wand war ein Brett angebracht. Irgendwelches Geschirr stand darauf. Sunja strich mit der Hand über die Töpferware und stellte zu ihrer großen Zufriedenheit fest, dass dort fingerdicker Staub lag. Ein sicheres Zeichen, dass diese schon lange nicht mehr benutzt wurde und ein Hinweis, dass die Hütte tatsächlich unbewohnt war.
Sie untersuchte die Unterkunft nicht weiter, es war sowieso zu düster darin.
Ihr erster Gedanke galt Berinhard. Sie musste den Soldaten endlich von dem Pferd holen. Sunja schob die Klinge wieder in die Holzscheide am Gürtel und ging schnellen Schrittes zu Aschari. Bald würde es vollends dunkel sein, bis dahin wollte sie den Kranken auf dem Stroh liegen haben.
Sunja nahm das Pferd am Zügel und führte es zu der Hütte. Dort entdeckte sie einen abgestorbenen Baumstumpf, an dem sie es festbinden konnte.
Sie redete beruhigend auf das Tier ein, während sie versuchte, den Bewusstlosen von der Stute herunterzuholen. Das ging fast über ihre Kräfte. Er war um einiges größer und auch schwerer als sie selbst. Außerdem musste sie ihn so vorsichtig wie möglich herunterlassen, damit er sich nicht noch mehr verletzte. Als er endlich am Boden lag, zog sie ihn schnell vom Pferd weg, damit Aschari ihn nicht mit den Hufen treffen konnte. Schweiß lief ihr von den Schläfen, obwohl die Luft empfindlich kalt war.
Ehe sie ihn auf das Stroh bettete, schichtete sie es neu auf und legte ihre Decke darüber. Dann wuchtete sie den erschlafften Körper darauf. Nun musste sie sich noch um das restliche Gepäck kümmern. Es sollte zumindest erst einmal vom Pferd. Das war schnell getan. Sie tätschelte Aschari den Hals als Dankeschön für ihre treuen Dienste und ließ sie dort angebunden wo sie stand. Sie wollte schnell zurück zu Berinhard.
In der Hütte gab es eine mit Steinen und Lehm befestigte Feuerstelle und zu ihrer Freude lag in einer der Ecken sogar ein wenig trockenes Holz. Schnell hatte sie es hervorgeholt und angefacht. Das wärmte und erleuchtete das Innere des Raumes. Sunja schaute sich um. Außer dem Geschirr gab es auch noch einen eisernen Kessel mittlerer Größe, den man mit einem dreibeinigen Eisengestell und einer Kette über das Feuer hängen konnte. Sunja war davon sehr angetan, bessere Möglichkeiten zum Suppenkochen gab es nicht. Dummerweise hatten sie kein Fleisch mehr, das der Hirschkuh war längst gegessen oder verdorben. Doch im Wald gab es sicher irgendwo Pilze und wenn nicht, dann musste sie nach essbaren Wurzeln Ausschau halten. Das war jetzt aber nebensächlich, etwas anderes musste dringend getan werden.
Sie nahm den Kessel, holte aus dem nicht weit entfernt liegenden Bachlauf Wasser und hängte unter Zuhilfenahme des Dreibeins und der Kette das Gefäß über das Feuer.
Während das Wasser warm wurde, zog sie Berinhard das Hemd aus und nahm die Binden um die Brust ab. Was darunter zum Vorschein kam, war kein schöner Anblick. Durch die ständige Bewegung, der er auf dem Pferd ausgesetzt war, konnte die obere Verletzung nicht heilen. Sie nässte und begann unangenehm zu riechen, ein sicheres Zeichen für Eiterbildung. Die Haut um den aufgerissenen Schorf war besorgniserregend gerötet.
Sie wusch ihn und sah dabei nach der Verletzung am Bein, die bedeutend besser aussah als die über seiner Brust. Die Stoffstreifen wässerte sie im heißen Wasser, um sie danach sauber zu waschen und zum Trocknen aufzuhängen. Nachdem sie das Waschwasser weggegossen hatte, legte sie die zweite Decke locker über Berinhard. In der Hütte war es inzwischen wohlig warm und sie brauchte deshalb die Decke nur bis über seinen Bauch zu ziehen, damit sie die Wunde nicht berührte.
Sie legte ihre Hand auf seine Stirn und stellte fest, dass das Fieber noch immer seinen Körper zum Kochen brachte. Da bedauerte Sunja, dass sie niemanden in der Hütte angetroffen hatten. Denn sie selbst hatte vom Heilen wenig Ahnung.
Andererseits war es hier trocken und warm. Sie musste zufrieden sein mit dem was sie hatten und wenn sie niemand vertrieb, konnten sie den ganzen Winter bleiben.
Später ließ Sunja sich neben Berinhard auf dem Lager nieder und wickelte sich in ihren Mantel. Godo kam zu ihnen, kringelte sich vor dem Stroh zusammen und legte sich zum Schlafen.

 

8. Kapitel: Der Fremde

Am nächsten Tag weckte Sunja ein schmaler Lichtstrahl, der durch die geschlossene Tür fiel. Sie riss die Pforte auf und schaute sich um. Es hatte aufgehört zu regnen.
Das Pferd war noch immer an den Baumstumpf gebunden und wieherte vorwurfsvoll, wobei es seine braune Mähne schüttelte.
„Aschari, meine Beste“, sagte Sunja und klopfte ihr liebevoll über die Flanke. “Du hast uns so brav bis hier hergebracht. Ich sollte mich wirklich besser um dich kümmern.“ Sie löste das Seil und führte die Stute zum Ufer des Baches. Dort ließ sie diese trinken und grasen.
Ohne lange zu überlegen wusch sie gleich darauf ihre gesamte Wäsche, entstaubte alles was in der Hütte war und fand noch etliche brauchbare Dinge, wie Werkzeuge, Seile und Ähnliches. Zwischendurch schaute sie immer wieder nach Berinhard. Ihre Enttäuschung war jedes Mal groß, wenn sie feststellen musste, dass er noch immer ohne Bewusstsein war. Sie wollte ihm so gerne sagen, dass sich ihre Situation verbessert hatte.
Seine Wunde nässte noch immer, doch der verwesungsähnliche Gestank wurde nach und nach weniger, endlich bekam die Verletzung eine trockene Schorfschicht und der rote Hof darum verblasste allmählich. Nach drei Tagen öffnete Berinhard endlich die Augen.
Sie zog ihn, ohne darüber nachzudenken, an ihre Brust und strich über seine braunen Locken.
„Au!“, protestierte der Kranke schwach.
„Oh, entschuldige!“ Vorsichtig ließ sie ihn zurück in das Stroh sinken. Sie lächelte ihn an und Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen.
„Sunja!“ Berinhard hob den Arm, was ihm sichtlich schwerfiel, und strich mit der Hand über ihre Wange. „Wo sind wir?“
Sie erzählte es ihm. Er konnte sich zum Glück kaum daran erinnern, dass er so viele Tage in unwürdiger Lage auf dem Pferd zugebracht hatte. Auch über seine außergewöhnliche Bitte währenddessen verlor er kein Wort. Nicht lange, und er schlief wieder ein. Sunja war jetzt ganz sicher, dass er wieder gesund werden würde. Am nächsten Tag kochte sie aus Wurzeln und Kräutern des Waldes eine Suppe und fütterte ihn damit. Er aß wenig und langsam. Aber egal - er aß!
In der Nacht darauf fiel der erste Schnee. Er taute gleich als er die Erde berührte. Doch er war Vorbote der kommenden schwierigen Jahreszeit. Sunja ging schnell wieder nach drinnen und drückte hinter sich die Tür zu.
Im Innern der Hütte war es schön warm und sie war mit dem Menschen zusammen, der ihr am meisten bedeutete. Alles andere würde sich finden. Sie küsste behutsam die Stirn des Schlafenden und legte sich neben ihn.
Jeden Tag konnte man erkennen, dass sich der Zustand des Kranken besserte. Dann kam der Moment, an dem er nichts anderes wollte als aufzustehen. Sunja stützte ihn mit all ihrer Kraft. Sie schafften es bis zur Tür. Berinhard lehnte sich an einen Balken.
„Mach auf! Ich will sehen, wo wir sind“, bat er sie und Sunja öffnete die Tür. Er tat noch einen Schritt, sog die kühle Luft durch die Nasenflügel und schaute sich kurz um. „Schön hier“, befand er und drehte sich wieder um, wobei er sich mit den Händen am Türrahmen abstützte. Auf dem Weg zurück zum Lager schwankte er bedrohlich und Sunja hatte Mühe, ihn zu halten. Auf dem Lager ließ er sich auf alle viere fallen und grinste sie an. „Wie ein Kleinkind, was?“
„Kommt drauf an, was du meinst. Auf Gewicht und Größe trifft es jedenfalls nicht zu“, keuchte Sunja noch ganz außer Atem.
Sie übten nun täglich. Die Strecke, die er gehen konnte, wurde immer länger. Langsam kehrte die Kraft zurück. Doch die meiste Zeit verbrachte er noch auf dem Stroh.
„Ich habe dein Schwert die ganze Zeit mit mir herumgetragen, du solltest es wieder an dich nehmen. Selbst in deinem derzeitigen Zustand wärst du ein besserer Kämpfer, als ich jemals sein könnte.“
„Du willst es doch nur loswerden, weil es schwer ist.“
„Könnte sein. Sag mal, ich habe gehört, dass Schwerter manchmal Namen haben. Hat deins auch einen?“
„Nein, mein Pferd und mein Hund haben Namen, das muss reichen. Aber, wenn du willst, kannst du deinem Küchenmesser ja einen heldenhaften Namen verleihen.“
„Ach nö, lieber nicht. Wie soll ich ihm dann erklären, wenn ich mit ihm Gemüse schneiden muss.“
„Schwerter brauchen keine Namen. Sie sind lebenswichtig für Soldaten, aber sie sind und bleiben Werkzeuge zum Töten und nicht mehr.“
„Möchtest du darüber reden?“
„Nein. Das willst du nicht hören.“
„Wie du meinst.“
„Die Hütte hier ist eigentlich fast zu schön, um wahr zu sein“, lenkte er vom Thema ab. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir die Einzigen sind, die sie kennen. Irgendwer muss sie schließlich gebaut haben“, gab Berinhard zu bedenken.
„Dieser Irgendwer ist wahrscheinlich tot oder woanders hin übergesiedelt. Mal nicht immer alles schwarz! Freu dich einfach, dass wir hier zusammen sein können.“
„Oh, das tue ich! Ich freue mich sogar sehr. Übrigens, das Letzte, an was ich mich noch klar erinnern kann waren Worte wie ‚Ich liebe dich’. Danach weiß ich nur noch, dass es furchtbar wehgetan hat.“
Sunja lächelte verlegen.
„Na ja, ich schätze, du hast das Recht auf eine Erklärung und auf eine Entschuldigung wohl auch.“ Sie machte eine Pause und rang nach den richtigen Worten.
„Du warst von Anfang an nett zu mir und ich mochte dich. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich so wie du gefühlt hätte. Dafür war ich zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr mit mir selbst und meiner Zukunft beschäftigt. Dann war ich verheiratet und habe mir redlich Mühe gegeben, nichts an dir zu finden. Wie du weißt, habe ich sogar versucht, dir Nada vorzustellen.
Dann wollte ich dieses Kind von Ordo. Aus verschiedenen Gründen. Ich wollte es unbedingt. In meiner blauäugigen Einfalt dachte ich, es wäre die Lösung für alle meine Probleme. Heute weiß ich, dass es das niemals gewesen wäre. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich unbeschreiblich glücklich war, als ich wusste, dass ich es bekommen würde. Aber alles, was er dann tat, machte es mir unmöglich, weiter unter ihm zu leiden. Darum bin ich ja auch weggelaufen.“
„Das weiß ich alles. Wir hätten niemals zusammen sein können in der Feste. Später warst du böse wegen Einar ...“
„Ja, als du mir davon erzählt hast, war ich das, und ich habe durch deine Tat nicht nur seine Freundschaft verloren, sondern auch die deine. Das war bitter. Nur nach und nach habe ich festgestellt, dass ich dir trotzdem vertrauen kann.“
„Aber so weit her war es mit dem Vertauen dann doch nicht, warum sonst warst du später im Wald so ...?“
„... so abweisend?“
„Ja, und warum hast du gesagt, du liebst mich nicht, wenn es nicht gestimmt hat. Hat es doch nicht ...?“, fragte er unsicher.
„Als ich sagte, ich könnte dich nicht lieben, war das gelogen. Ich konnte nicht nur, ich habe es auch. Als ich das mit Schrecken feststellte, habe ich alles versucht, um es zu ändern. Es hat mir Angst gemacht. Als ich dann gemerkt habe, dass ich dir auch nicht egal bin, habe ich noch mehr Angst bekommen und ich wollte auch nicht, dass du es mir sagst.“
„Aber warum nicht?“
„Zu viel Nähe! Ich wollte nie wieder Jemandem vertrauen, mich nie wieder so weit öffnen, dass man mich verletzen könnte, und das ist nicht alles. Ich glaube nicht, dass du es verstehen wirst und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.“
„Versuch es! Du kannst mir alles sagen.“ Er griff nach ihrer Hand, aber sie entzog sie ihm.
„Nein, du hast gesagt, es war sein Recht!“
Berinhard musste nicht lange überlegen, um zu wissen, wovon sie sprach.
„Ich bin ein Idiot!“, rief er aus. „Ich habe das doch nur gesagt, weil ich wollte, dass du in die Feste zurückkommst.“
„Damals war ich sehr beleidigt als du das gesagt hast. Heute denke ich anders darüber: Er hatte dieses Recht wohl tatsächlich. Als Eheweib war ich grottenschlecht. Ich glaube ich habe alles falsch gemacht. Aber ich hätte auch nicht bei ihm bleiben können. Er hätte mich totgeschlagen oder mir die Kehle durchgeschnitten.“ Sunja kauerte am Boden, drückte die Fäuste vor ihr Gesicht und schniefte. „Allein wenn ich an ihn denke, zittern mir die Knie. Was hätte ich denn machen sollen? Hätte ich wirklich mit dir zurückgehen sollen?“
„Nein, mach dir darüber keine Gedanken. Als ich gesagt habe, es wäre sein Recht, alles mit dir machen zu können was er will weil du seine Frau bist, das hat mich selbst Überwindung gekostet. Ich habe es gesagt weil ich dachte, dich zur Umkehr zu bewegen. Sunja, bitte wirf mir das nicht vor, es tut mir leid.
Ich bin damals überhaupt nur zu dir gekommen, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Die Sache mit dem Gerede der Leute habe ich vorgeschoben, um mich nicht offenbaren zu müssen. Was die Leute erzählt haben, hat mich zu keiner Zeit interessiert. Es tut mir leid, was ich gesagt habe, das war wirklich blöd von mir.
Hör auf dir Vorwürfe zu machen. Natürlich hatte er kein Recht, dir grundlos Gewalt anzutun. Im Gegenteil, es wäre seine Pflicht als Ehemann gewesen, dich genau davor zu bewahren. Nicht du, er hat versagt.“
„Du sagst, er hatte also kein Recht mir grundlos Gewalt anzutun, aber in seinen Augen hatte er einen Grund.“
„Höre auf, jedes meiner Worte mit Gold aufzuwiegen! Deine Ehe mit Ordo gehört der Vergangenheit an. Du bist hier mit mir und nicht mit ihm.“
„Ich weiß, und trotzdem habe ich Angst.“
„Angst vor mir?“ Sunja antworte nicht.
„Du hast Angst vor mir, seit ich dich bei dem Brombeergebüsch besucht habe, nur weil ich das zu dir gesagt habe?“
„Nein, ich habe Angst vor dir, weil du ein Mann bist.“
„Daran kann ich nun wirklich nichts ändern.“ Sunja nickte und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Das sollst du auch nicht, aber wenn ich dir sage, dass ich dich liebe, heißt das nicht, dass ich dir gehöre. Ich will nie wieder das Eigentum eines anderen sein müssen. Verstehst du? Ich will nicht, dass du mich auf dieselbe demütigende Weise berührst wie er. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich dann immer noch lieben könnte wie jetzt.“
„Du willst nicht, dass ich dir zu nahe komme, weil du glaubst, ich könnte Ähnliches tun wie Ordo? Sunja, was ich dir am ersten Tag im Wald versprochen habe, gilt noch immer. Du brauchst keine Angst zu haben und schon gar nicht vor mir. Oder glaubst du wirklich, dass ich so sein könnte wie er?“
„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, was ich glauben soll.“
„Komm!“ Er hielt ihr vom Lager aus die Hand entgegen. Sunja haderte.
„Dein Vertrauen in meine Kraft und Fähigkeiten ehrt dich, aber darf ich dich daran erinnern, dass ich kaum auf zwei Beinen stehen kann. Was glaubst du, zu was ich in meinem Zustand in der Lage bin? Ich möchte dich doch nur in den Arm nehmen.“ Sie legte sich zögerlich an seine rechte Seite. Sie war froh, dass sie mit ihm gesprochen hatte und dass er nun schwieg. Er hielt sie einfach in seinem Arm und das gab ihr Geborgenheit, wie sie sie noch nie zuvor in ihrem Leben erfahren hatte. Es war eine Berührung die nichts forderte. Das heilte Wunden die tiefer lagen als das man sie verbinden konnte.

Sunja machte sich täglich auf die Suche nach Essbarem und auch Godo erfüllte endlich seinen Teil und brachte einen Hasen. Sie hatte Mühe, ihm die Beute zu entwinden. Auf seinen Herrn hörte er besser, dem hätte er sie vermutlich vor die Füße gelegt. Aus dem, was sie im Wald gefunden hatte, und Godos Fang kochte sie eine Suppe, die wenigstes drei Tage reichen würde.
Berinhard kam weiter zu Kräften, und obwohl er die meiste Zeit des Tages noch auf dem Lager verbrachte, half er ihr bei leichteren Arbeiten. Am Abend des Tages, als Godo das Häschen gerissen hatte, ging Sunja noch einmal nach draußen, um die Knochenreste des Tieres zu vergraben. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Berinhard komm, sieh dir das an!“ Dieser erhob sich mühsam, kämpfte sich ohne Hilfe zur Tür und schaute über ihre Schulter nach draußen.
„Was ist das?“ Überall auf den Bergkuppen um sie herum brannten Feuer. Durch die klare kalte Nacht konnte man weit schauen und mindestens sieben Feuer waren zu erkennen. Alle weit weg, aber sehr groß.
„Die Herbstfeuer! Der Tag meiner Geburt“, sagte Sunja leise. „Sie begrüßen die kalte Jahreszeit und verabschieden die wärmere Jahreshälfte. Die Göttin des Mondes übernimmt die Vorherrschaft bis zum Frühjahr. An einem Tag wie diesem ist der Vorhang zur Schattenwelt etwas dünner als sonst, sagt man.“
„Woher weist du das alles?“
„Von meiner Großmutter.“ Sunja griff nach der Kette mit den fünf Perlen, die sie um den Hals trug. „Sie nannte mich ‚Schattenkind’.“
„Ist das nicht Heidenkram?“
„Vermutlich schon. Hängst du sehr dem neuen Glauben an?“
„Ich war Soldat von Karl, da stellt sich diese Frage wohl kaum.“
„Stimmt, dieser ist wohl der größte Christ von allen und als guter Untergebener glaubt man, was der König befiehlt. Hast du für ihn auch im Namen Gottes getötet?“
Berinhard antwortete nicht. Er hatte seine Hand auf Sunjas Schulter gelegt und stand hinter ihr. Sie wusste, ihre letzte Frage war nicht fair, und legte wie zur Versöhnung ihre Hand auf seine.
Zu zweit schauten sie noch eine Weile schweigend nach den Feuern. Dann kroch die Kälte in ihre Glieder und Berinhard ging zurück in die Hütte. Sunja verscharrte noch schnell die Knochen des Hasen hinter dem Haus und wusch sich im Bach die Hände. Als sie zurückkehrte, sah sie Berinhard auf dem Stroh liegen. Sunja tat noch etwas Holz auf das Feuer und setzte sich neben ihn auf das Lager.
Sie sah zu ihm, er lag auf dem Rücken, seine Augen hatte er geschlossen, doch sein Atem verriet, dass er nicht schlief. Die Decke hatte er bis unterhalb der Brust gezogen und die Hände obenauf über den Bauch gelegt.
Sunja betrachtete die Wunde, die gut verheilte. Dann ließ sie ihren Blick über seinen Hals zu seinem sonnengegerbten Gesicht schweifen. Sie verinnerlichte jede Erhebung, die geschlossenen Augen mit den langen dunklen Wimpern, die leicht zu lang geratene Nase und die geschwungenen Konturen seiner Lippen. Sie widerstand dem Drang, seine Gesichtszüge mit dem Finger nachzuzeichnen.
Dann glitt ihr Blick weiter über seine Schulter. Dort sah sie unter der hellen Haut eine Ader schimmern und ihr Blick streifte weiter zu seinem Unterarm. Auf der Oberseite war dieser mit braunen Haaren besetzt, die alle in eine Richtung wiesen. Seine Hände lagen breit auf der Decke und sie sprachen, wie auch die Arme, von der Kraft, die ihnen innewohnte.
Sie zog ihr Überkleid aus, kroch neben ihn unter die Decke und schmiegte sich an ihn. Sie lagen still nebeneinander und Sunja sog den Geruch seines Körpers ein, eine Mischung aus Moos, Heu und etwas, das Sunja nur schwer erklären konnte. Es erinnerte sie an den Duft, wenn nach langer Sommerdürre ein Gewitter niederging und die Luft danach warm schwer und feucht über dem Land lag.
Sunja nahm eine seiner braunen Haarsträhnen zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie hin und her. Er regte sich nicht und sie schaute ihn von der Seite an. Der Schein des Feuers fiel gelb und warm auf ihn und warf Schatten. Obwohl sie ihn schon so lange kannte, seinen kranken Körper gepflegt hatte und ihn liebte, war ihr nie zuvor aufgefallen, wie wundervoll er doch aussah.
Er schlief nicht und sie hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu berühren. Sie wollte nicht nur wissen, dass er da war, sie wollte ihn nicht nur ansehen und riechen, sie wollte ihn fühlen. Sie strich mit der Hand über seine Wange nach unten zu der weichen empfindlichen Haut seines Halses. Sie verharrte einen Moment in seiner Halsbeuge und strich über seine Schulter. Sie ließ ihre Hand weiter wandern über die gesunde Seite seiner Brust bis zum Beginn seines Bauches. Ihre Finger registrierten jede Erhebung. Seine Haut war weich und warm. Sie beobachtete ihn; er bewegte sich nicht, aber sein Atem war tief und schneller als sonst. Sie beugte sich über ihn, streichelte erneut sein dürftig rasiertes Gesicht und küsste seinen Mund. Er erwiderte den Kuss, tat sonst gar nichts und ließ sie gewähren. Später öffnete er sein rechtes Auge und blinzelte sie an.
„Du musst das nicht tun“, flüsterte er. „Wir könnten das verschieben, wenn du willst. Ich bin sowieso noch nicht ganz gesund.“
„Keine Sorge, ich bin ganz vorsichtig“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen und küsste ihn erneut. Im Schein des Feuers berauschte sie sich immer wieder am Anblick seines Körpers. Diesmal lag in dieser Nacktheit nicht Schutzlosigkeit, sondern Kraft und Schönheit. Mit der Hand strich sie über ihn, während er seine Augen ganz öffnete und ihren Konturen mit seiner Rechten folgte. Es störte sie wider Erwarten gar nicht, dass er sie berührte, im Gegenteil.
Sunja zog ihr Unterkleid aus, sie wollte seine Haut auf der ihren spüren. Er betrachte ihre Blöße und berührte sie vorsichtig mit den Fingerspitzen. Erst ganz sacht, als würde er einen zerbrechlichen Kunstgegenstand anfassen. Dann ließ er seine Handfläche an ihrem Rücken hinuntergleiten. Später umfassten seine Finger ihre Schulter und strichen über ihren Hals hinunter zu ihrer Brust. Sunja machte die Augen zu und konzentrierte sich auf seine Hand. Seine Berührung war voll zärtlicher Hingabe und Verlangen.
Sie streichelte währenddessen nach oben über sein Bein und umfasste seinen Hüftknochen. Später kniete sie sich langsam über ihn, während sie seinen Hals küsste.
Sie wollte so sehr, was ihr zuvor so zuwider war, und sie tat es diesmal selbst! Als Sunja sich über seinem Schoß herabließ, schloss er die Augen und stöhnte unter ihr auf. Er füllte sie ganz aus und Sunja schien am ganzen Körper zu erbeben. Ein nie da gewesenes Körpergefühl bemächtigte sich ihrer. Ihre Bauchdecke spannte sich und ein Glücksempfinden füllte ihre Brust.
„Wahnsinn, mach weiter!“, beschwor er sie schwer atmend.
Ihr Verlangen nach ihm war so immens. Sie wollte nichts so sehr, wie ihn spüren mit ihrem ganzen Sein. Sie fanden ihren gemeinsamen Rhythmus, die Spannung stieg in ihr an bis zur Erlösung ihres tiefsten Inneren. Fast zur selben Zeit entlud sich auch sein Körper unter ihr.
Danach lag sie zufrieden und glücklich in seinem Arm und sie schliefen im Schein des ausgehenden Feuers ein.
Seit dieser Nacht schien alles einfacher geworden zu sein. Kein Versteckspiel mehr, keine Gefühle die unterdrückt und beherrscht werden mussten, da war nichts mehr zwischen ihnen. Sunja hatte begriffen, dass sie keine Angst vor ihm haben musste. Sie vertraue ihm ganz - endlich!

So wunderbar ihre Liebe und die Gefühle waren, die sie einander entgegenbrachten, davon wurden sie nicht satt. Seit einer Woche lag zweihandbreit Schnee über dem Bergwald. Der Boden war gefroren und Nahrungsbeschaffung fast unmöglich, wenn man nicht auf Jagd ging.
Sunja hatte sich von Berinhard zeigen lassen, wie man Kleintierfallen auslegt. Doch diese blieben leer und auch Godo war wenig erfolgreich. Sunja machte sich zwar immer wieder mit ihm auf und lief durch den Wald, in der Hoffnung er würde irgendein Tier reißen, aber die kleinen Leckerbissen hatten sich alle in ihre Löcher verkrochen und an die großen traute Godo sich nicht heran. Dieser Hund war eben ein Feigling, da war nichts zu machen.
Sunja brauchte nicht erst versuchen, ein Tier zu erjagen. Sie konnte mit keiner der Kriegerwaffen umgehen.
Berinhard saß mit knurrendem Magen auf dem Lager und er sprach mehr zu sich selbst als zu ihr:
„Ich werde gehen, vielleicht habe ich Glück.“ Er wusste, wenn einer von ihnen etwas erlegen konnte, dann er. Aber er wusste auch, dass er noch zu schwach für die Jagd war. Sunja hätte gern widersprochen, doch sie sagte nichts. Ihr war klar, dass er es tun musste, wenn sie überleben wollten.
Sie half ihm beim Anziehen und später musste sie ihm sogar aufs Pferd helfen, auch das klappte nicht gut allein. Doch eine weite Strecke zu Fuß laufen konnte er auch nicht, somit war er auf Aschari angewiesen. Das schwere Schwert und die Axt ließ er zurück. Nur den Speer und das Messer nahm er mit.
Im Halbdunkel des Morgens ritt er zwischen den kahlen Baumstämmen des verschneiten Waldes hindurch und Sunja schaute ihm mit Sorgenfalten auf der Stirn nach.
Um die Mittagszeit begann es wieder zu schneien. Bis in den Abend hinein legte sich Flocke über Flocke und Berinhard war noch immer nicht zurück. Sunja konnte sich nicht vorstellen, dass er es so lange auf dem Pferd aushielt. Aber möglicherweise war er gezwungen, im Wald zu übernachten.
In dieser Nacht saß sie vor dem Feuer und tat kein Auge zu, aus Sorge und in der Hoffnung er würde noch kommen.
Früh, es war noch fast dunkel, hörte sie das Wiehern eines Pferdes. ‚Na endlich’ dachte sie und riss die Tür auf. Aber zu ihrem Entsetzen war Aschari ohne ihren Herrn zurückgekehrt.
„Wo ist er?! Was ist passiert?!“ Das Pferd gab keine klärende Antwort. Sie schimpfte laut, während sie nach drinnen ging, um sich warm anzuziehen. Dann nahm sie sein Schwert mit dem Wehrgehänge, schnallte es um und schwang sich auf die Stute.
Sie verwünschte den Neuschnee, der sich über seine Spuren gelegt hatte. Nur die Fährte des zurückkehrenden Pferdes war zu sehen und dieser folgte sie. Aschari schien nichts dagegen zu haben, sie brauchte sie kaum zu führen. Das verschaffte ihr mehr Gelegenheit zum Nachdenken, als ihr lieb war. Die Ängste der letzten bang durchwachten Nacht brachen wieder hervor und das Bild eines nackten Körpers im Schnee, blutüberströmt, mit verdrehten Gliedern und mit starrem Blick, gewann die Oberhand. Sie versuchte, es zu verdrängen und redete sich ein, es wird so schlimm schon nicht sein, doch es blitzte immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Wilde Tiere, Räuber und was nicht noch alles konnten ihm aufgelauert haben. Sie verfluchte die Felsen, den Wald und den Schnee mit kräftigen Worten, um sich selbst davon abzulenken, dass sie es nicht aushalten würde, allein hier zurückzubleiben.
Das Pferd weigerte sich plötzlich weiterzugehen. Das riss Sunja aus ihren trüben Gedanken. Es waren Wölfe vor ihnen aufgetaucht und diese sahen in einem am Boden liegenden Mann eine willkommene Mahlzeit.
„Berinhard!“, stieß sie aus, ein Ruf gemischt aus Freude und Entsetzen. Er sah kurz zu ihr auf. Es war höchste Zeit, dass Hilfe kam, drei der wilden Tiere waren ihm gefährlich nah gekommen. Sunjas Blick fiel auf den Speer, der lag zu weit weg von ihm und war für Berinhard nicht erreichbar. Er verteidigte sich nur mit dem Messer. Sunja schleuderte die Arme in die Luft und rannte auf ihn zu. Sie brüllte aus Leibeskräften, um die Tiere von ihrem Opfer abzulenken. Entgegen ihrer Befürchtung funktionierte diese List; die Wölfe wichen kurz zurück, um dann jedoch den Krieger erneut anzugreifen.
Sunja war nicht weit von ihm entfernt, als sie sich bückte und im Vorbeilaufen den Speer packte. Sie schleuderte ihn nach einem der Wölfe. Dieser heulte auf und trollte, mit der Waffe in der Seite, davon. Berinhard gelang es, mit seinem Messer einen zweiten zu verletzen und auch dieser floh in den Wald. Sunja zog das schwere und für sie unhandliche Schwert mit beiden Händen aus der Scheide. Sie hieb ungelenk auf einen weiteren Wolf ein. Dabei brüllte sie ihn an und belegte ihn mit Flüchen. Das Tier verabschiedete sich, ebenso wie der Rest des Rudels, bei ihrem bloßen Anblick.
„Ich kann sie verstehen, du müsstest dich sehen.“ Berinhard ließ sich matt nach hinten in den Schnee sinken und lächelte erleichtert, obwohl er kreidebleich war und seine blauen Lippen zitterten. Sunja kniete neben ihm nieder und verschaffte sich hastig einen Überblick über seinen Zustand. Offene Wunden fand sie keine.
„Bist du von den Wölfen verletzt worden?“
„Nein, zum Glück nicht. Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machen musst.“ Sunja wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite.
„Was ist geschehen? Warum kam das Pferd ohne dich zurück?“
„Ich wollte vom Pferd aus eine junge Hirschkuh erlegen. Es sah alles vielversprechend aus, aber ich war zu ungeschickt mich auf Aschari festzuhalten und bin beim Schleudern des Speers heruntergerutscht. Ich habe es wirklich versucht, konnte aber alleine nicht wieder auf das Pferd kommen. Besonders stolz bin ich darauf nicht.
Es begann zu schneien und die Kälte hat mir immer mehr zugesetzt. Ich habe Aschari fortgejagt und wie ich sehe, ist sie zu dir gelaufen. Sie ist ein gutes und kluges Tier. Ich bin trotzdem kurz davor zu erfrieren. Es tut mir sehr leid, dass ich meine Beute nicht erjagen konnte. Vor allem, weil wir nun Wolf essen müssen.“ Sunja zog ihre linke Braue verwundert nach oben. Er wies mit der Hand in den Wald. Da lag tatsächlich der Wolf, den sie mit dem Speer getroffen hatte, und war verendet.
„Danke übrigens, dass du mir schon wieder aus der Patsche geholfen hast. Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit.“
„Das hoffe ich auch, langsam wird es anstrengend. Komm, ich helfe dir aufzustehen und bringe dich zum Pferd.“ Sie zog ihn hoch und rieb ihn mit Schnee ab. Berinhard rief Aschari und Sunja half ihm mit einiger Anstrengung hoch. Sie beobachtete, wie er vor Kälte und Kraftanstrengung zitterte. Es war ein Fehler, zu glauben, er könnte auf Jagd gehen. Sein Zustand war noch längst nicht der alte.
Sie führte das Pferd dort hin, wo der tote Wolf lag und nahm ihn gleich an Ort und Stelle aus. Mit Schnee wusch sie das Blut vom Fleisch und wuchtete das große Tier hinauf zu Berinhard auf das Pferd. Dieses führte sie dann am Zügel zurück zur Hütte. Wie ein altersschwacher Greis wankte Berinhard hinkend nach drinnen. Dort ließ er sich mit einem lauten Seufzen auf dem Stroh nieder. Sunja entfachte das Feuer und rieb ihm die Glieder warm. Er entledigte sich seiner Beinkleider, um sich in die Decke zu wickeln. Sunja erschrak, als ihr Blick auf seinen rechten Oberschenkel fiel. Unter der Tunika hervor waren die Ausläufer eines riesigen Blutergusses zu erkennen. Sie hob den Stoff etwas an, um einen genaueren Blick zu riskieren.
„Finger weg!“ Er klopfte ihr auf die Hand.
„Das sieht nicht gut aus. Bis zur Hüfte ist alles blutunterlaufen.“
„Das weiß ich selber, vergiss es einfach“, brummte er ärgerlich.
Sunja war nahe dran, etwas Unfreundliches zu erwidern. Bei genauerem Nachdenken erkannte sie jedoch, dass er sich nicht über sie, sondern über sich selbst ärgerte, denn die Verletzung erinnerte ihn an sein Unvermögen. Er hatte sie nicht im Kampf erworben, sondern durch Schwäche und Ungeschicklichkeit und somit war sie nicht förderlich für seine Ehre. Sunja wusste, wenn es bei Männern um die Ehre ging waren sie empfindlich und sie beschloss, dieses große rot-blaue Gebilde an seinem Körper zu ignorieren und bis in alle Ewigkeit nie wieder darüber zu sprechen.
Das Fleisch des Wolfes war so zäh, dass sie den größten Teil nicht essen konnten. Sunja kochte wenigstens eine Brühe daraus, die sie tranken. Doch sehr lange reichte der Kadaver nicht. Die Knochen fraß Godo und bald war nichts mehr davon übrig.

Sunja hatte sich, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, auf das Stroh gelegt und schaute Berinhard zu, wie er Holz und Steine in den leeren Kessel schichtete.
„Selbst wenn ich verhungere, das kannst du alleine essen.“
„Ich habe nicht vor, es zu kochen“, brummte er mürrisch und griff nach der Kette. Er schlang sie sich um die rechte Hand und versuchte den Kessel zu heben.
„Mann so’n Dreck!“, fluchte er vor sich hin, da es ihm nicht gelang.
Mit Berinhard war es im Moment etwas schwierig auszuhalten. Nach der Sache mit den Wölfen war er dauernd schlecht gelaunt, weil ihm die Verletzung mehr Kraft gekostet hatte, als er sich eingestehen wollte. Er nahm ein paar Steine wieder aus dem Kessel und versuchte es noch mal. Diesmal gelang es ihm gerade so. Mit solchen und ähnlichen Aktionen versuchte er, seine alte Form zurückzuzwingen. Doch mit leerem Magen war das schwierig.
„Berinhard hab Geduld und spar deine Kräfte! Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal satt essen können.“
„Du hast gut reden! Ich habe keine Lust mich noch einmal so zu blamieren. Vom Pferd fallen ist ärgerlich, aber nicht wieder hochkommen ist ausgesprochen peinlich!“
„Ich sag’s keinem weiter“, versprach Sunja trocken, angesichts dessen, dass es hier sowieso nur sie beide gab.
„Oh, da bin ich dir aber dankbar“, sagte er ironisch und stellte den Kessel ab. „Wir werden verhungern, irgendwas muss ich doch tun!“ Niedergeschlagen setzte er sich neben sie. Sunja strich ihm beschwichtigend über den Rücken.
„Ich gehe nachher noch mal nach den Fallen schauen“, versuchte sie ihn aufzumuntern.

Die Fallen blieben tagelang leer und sie konnten vor Elend kaum noch gehen.
„Wir leiden Hunger und draußen vor der Tür geht es dem Pferd auch schlecht. Ich wüsste, wie wir beides ändern können“, sagte er leise, während er neben ihr auf dem Stroh saß, die Stirn in seine Handflächen gelegt.
Sunja wurde klar, dass er darüber schon länger nachgedacht hatte, und dass es ihm schwergefallen sein musste, es auszusprechen. Aschari hatte ihn in den Kampf getragen. Vor ein paar Tagen noch hatte es Sunja zu ihm gebracht und so verhindert, dass er erfror oder Opfer der Wölfe wurde. Sie nahm Berinhard in den Arm und strich mit der Hand über seine Locken.
„Nein, es muss eine andere Lösung geben. Wenigstens sollten wir noch warten, bis wir so etwas Furchtbares tun.“
„Ob wir damit warten oder nicht, es ist unausweichlich. Aschari muss sterben, damit wir leben können. Morgen früh werde ich es tun.“ Sunja schwieg. Was sollte sie sagen? Sie wusste, dass er recht hatte, sie hätte es ihm trotzdem gern erspart.
Beide schliefen nicht gut in dieser Nacht und am Morgen sprachen sie nicht miteinander, bis Berinhard sagte:
„Gib mir mein Messer. Das eignet sich wohl am besten.“
Sunja kramte es aus seinen Sachen hervor.
„Hier!“ Traurig schaute sie zu ihm auf. „Es tut mir so leid.“
„Ich weiß.“ Er nickte.
„Du bleibst hier. Ich sag dir Bescheid, wenn du kommen kannst, um mir zu helfen.“ Er trat nach draußen und die Tür schloss sich hinter ihm. Sunja blieb allein zurück. Es würde sicher schnell gehen und dann war es vorbei. Doch sie wartete lange. Wahrscheinlich brauchte er die Zeit, sich von seiner treuen Weggefährtin zu verabschieden.
Sunja schrak auf, als die Tür mit einem Ruck aufgestoßen wurde und Berinhard eintrat. Er warf wutentbrannt das Messer in die Ecke.
„Sie ist weg!“, sagte er verärgert.
„Was? Wieso?“
„Woher soll ich das wissen. Sie hat sich sicher losgerissen. Jedenfalls sieht es jetzt schlecht aus für uns.“
„Fast so, als wenn Aschari wusste, was du vorhattest.“ Sunja war sich nicht sicher, ob sie froh oder traurig sein sollte. Doch sie begriff, dass damit ihr Überleben auf Messers Schneide stand.
Berinhard grübelte, während Sunja auf einem Stück Rinde kaute, um ihren Magen zu überlisten.
Am Nachmittag schoss Berinhard hoch und warf sich eine Decke über. Er griff nach seinem Speer und ging nach draußen. Sunja lief ihm hinterher, um ihn aufzuhalten.
„Nein, geh nicht, du bist noch zu schwach!“
Beleidigt schaute er sie an. Ohne darauf zu antworten, setzte er seinen Weg fort, obwohl er genau wusste, dass sie recht hatte. Sie stürzte hinter ihm her und zog ihn am Arm.
„Es wird bald dunkel, verschiebe es auf morgen. Bitte!“
„Nein, ich versuche vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein.“
„Lass mich lieber gehen. Den Wolf habe ich schließlich auch getroffen. Du kannst nicht so weit laufen, jetzt, wo wir kein Pferd ... Warte! Was ist das?“
Berinhard blieb stehen und drehte sich um.
Sunja deutete auf etwas, das neben der Hüttentür lag und dort nicht hingehörte. Sie gingen zurück und untersuchten es genauer.
Es erschien ihnen wie ein Wunder. In einem Beutel aus Leder war jede Menge Brot und etliche Stücke geräuchertes Fleisch.
„Jemand weiß wohl, dass wir hier wohnen. Sie scheinen uns gut gesonnen, warum sonst sollten sie uns Essen geben?“ Sunja drehte ein Stück Brot zwischen ihren Fingern hin und her, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
„Ja, wir sind doch nicht ganz so allein, wie wir bisher angenommen haben. Ich wüsste gern mehr über unseren Gönner.“
„Da fällt mir ein, Dankrun hat mir mal erzählt, dass an besonders entlegenen Stellen im Haardt sich die Seelen der Toten aufhalten. Aber eigentlich glaube ich nicht, dass die sich mit so normalen Dingen wie Nahrung beschäftigen.
„Das ist doch Blödsinn. Ich habe Hunger“, sagte Berinhard.
„Dann sollten wir essen.“ Sunja schob sich das Stück aus ihrer Hand in den Mund und kaute vorsichtig. Kurz darauf nickte sie zufrieden. Berinhard nahm den Beutel und sie gingen nach drinnen.
Es war schon komisch, es zu essen und nicht zu wissen, woher es kam. Aber sie wurden satt dabei, und wenn sie es gut einteilten, würde es eine Woche reichen.
Berinhard wollte sich nicht darauf verlassen, dass ihnen noch einmal eine so unverhoffte Gabe zuteil wurde. Er trainierte weiter, indem er Steine in den Kessel legte und ihn hochhob. Außerdem machte er zusammen mit Sunja täglich Spaziergänge in unmittelbarer Umgebung der Hütte. Vorsichtshalber nahmen sie immer den Speer mit. Einmal erlegte Berinhard sogar einen Hasen, der jedoch recht langsam unterwegs war, weil er sich verletzt hatte. Aber das war egal, er würde schmecken wie jeder andere Hase auch. Drei Tage machte er sie satt.
Nach ungefähr fünfzehn Tagen fanden sie erneut in der Nähe der Tür etwas zu essen. In unregelmäßigen Abständen brachte ihnen immer wieder irgendwer Nahrung. Meist Brot und getrocknetes Fleisch, einmal sogar ein paar verschrumpelte Rüben.
Sunja und vor allem Berinhard waren wirklich sehr neugierig, wer das sein mochte. Sie suchten nach Spuren, doch in der Umgebung der Hütte hatten sie selbst schon alles niedergetreten. Sie gingen deshalb eine große Runde um die Behausung, um im unberührten Schnee nach Fußspuren zu suchen. Tief im Wald fanden sie spät abends tatsächlich welche. Aber sie konnten ihnen nicht folgen, weil die Dunkelheit hereinbrach, und in der Nacht gab es Neuschnee. Somit war der Verlauf der Spur überdeckt und nicht mehr ausfindig zu machen.
Vergeblich warteten sie diesmal lange auf ihren Gönner. Durch das Training mit dem Kessel, die Spaziergänge und weil die Wunden einfach ganz zugeheilt waren, fühlte sich Berinhard inzwischen jedoch soweit zu Kräften gekommen, dass er wieder selbst auf Jagd ging. Sunja begleitete ihn hin und wieder. Sie ließ sich das nicht nehmen, denn sie hatte Angst um ihn. Er war davon nicht angetan, denn wenn er allein unterwegs war, war sein Jagdglück größer.
„Da!“, flüsterte Berinhard aufgeregt, zeigte mit der einen Hand auf eine Lichtung, die vor ihnen lag, und mit der andern griff er Sunjas Oberarm und schob sie etwas unsanft hinter ein Gebüsch. Sunja sah ihn auch und war genauso fasziniert wie er. Endlich, der langersehnte Hirsch, ein Dreiender.
„Rühr dich nicht vom Fleck!“ Seine geflüsterten Worte klangen fast wie eine Drohung. Sie verstand seine Aufregung nur zu gut. Dort stand Essen für Wochen, aber noch hatten sie es nicht.
Sunja verfolgte durch das kahle Geäst des Busches jede Bewegung von Jäger und Beute. Sie hielt es vor Anspannung kaum aus. Berinhard machte einen Bogen um das Tier. Er musste so nah wie möglich an sein Opfer kommen, ohne entdeckt zu werden, nur so würde er einen sicheren Wurf haben. Dabei musste er leise sein und gegen den Wind stehen, damit das Tier nicht nervös wurde und floh.
Jetzt, gleich war es soweit! Berinhard hob den Arm mit dem Speer in die Höhe und holte aus. Sunja hielt die Luft an. Einen Augenblick später machte der Hirsch noch einige Sprünge, doch sein Schicksal war besiegelt.
„Ja!“, rief Sunja voll Begeisterung über Berinhards Jagderfolg. Das Tier stürzte und rollte sich auf der Erde. Der Krieger war ihm hinterhergeeilt, und als Sunja hinzutrat, hatte er dem Hirsch bereits die Kehle durchtrennt. Er murmelte ein paar Dankesworte und bat um Vergebung für das genommene Leben und das vergossene Blut, wie es bei der Jagd überall üblich war. Als er begann ihn auszuweiden nahm auch Sunja ihr Messer und half ihm. Die beiden gingen mehrmals, um die zerlegte Beute zur Hütte zu bringen.
Später bearbeitete Sunja das Fell, wie sie es schon mit dem letzten gemacht hatte.
Nun würden sie lange keinen Hunger leiden und sie lernten den einzigen Vorteil des Winters zu schätzen: Fleisch hielt in der Kälte länger.

Obwohl sie erst mal ausgesorgt hatten, fanden sie hin und wieder Päckchen mit Essbarem in der Nähe der Tür. Es beschäftigte ihre Gedanken noch immer sehr, wie diese dorthin kamen. Aber sie konnten sich nicht Tag und Nacht im Wald verstecken, um zu sehen, wer sie ihnen brachte und weil die Hütte keine Fenster hatte, sahen sie es auch nicht von drinnen.
Endlich zeigten sich die ersten Frühblüher im Schnee und kündigten das baldige Ende des Winters an. Vom Hirsch war nicht mehr viel übrig und sie waren bereits wieder mehrere Tage auf der Suche nach einer neuen Beute.
Der Zufall wollte es, dass sie beim Heimkehren nach einem erfolglosen Jagdtag im Halbdunkel eine Gestalt zur Hütte huschen sahen. War das der edle Spender? Ja, die Gestalt legte etwas ab, und gerade als sie auf den Weg zum Wald war, stellte sich Berinhard ihr in den Weg.
„Wir danken euch, dass ihr uns so selbstlos geholfen habt, über den Winter zu kommen. Macht uns die Freude und stellt euch vor. Wir möchten unseren Helfer kennenlernen.“
Der Fremde erstarrte erst vor Schreck und ließ dann die Kapuze seines Umhangs langsam nach hinten gleiten. Darunter kam ein älterer Mann zum Vorschein mit einem, wie Sunja fand, freundlichen Gesicht. Seine Haare waren ergraut und mit einem Lederband im Nacken zusammengebunden. Er lächelte unsicher.
„Mein Name ist Dagalo.“
„Gut Dagalo, das ist Sunja.“ Berinhard wies mit der Hand auf sie „und ich bin Berinhard. Würdest du uns die Ehre erweisen und die Nacht bei uns bleiben. Wo immer du jetzt noch hin musst, du wirst im Wald übernachten müssen. Wir würden gern mehr über dich erfahren und vielleicht können wir uns erkenntlich zeigen.“
Der Alte nickte.
„Ich nehme euer Angebot dankend an, Berinhard.“
Sunja hielt die Tür auf und ließ den beiden Männern den Vortritt. Dann entfachten sie das Feuer und machten es schön warm im Innern der Hütte. Außerdem spendete das Feuer ein gutes Licht, um sich zu unterhalten. Sie zogen ihre Decken und Mäntel von den Schultern. Der Alte trug darunter ein langes Schwert an der Seite. Damit hätten sie nicht gerechnet. Berinhard betrachtete es mit Kennerblick, und er glaubte sich daran zu erinnern, wie der Alte bei ihrem Aufeinandertreffen seine Hand dorthin geschoben hatte. Dagalo nahm die Waffe ab und legte sie neben sich, weil es unbequem war, damit zu sitzen.
Während Sunja auf die drei Teller, die sie besaßen, etwas zu essen legte, fragte Berinhard den Fremden, von wo er kam und warum er ihnen geholfen hatte.
„Also eigentlich habt ihr die Hilfe nicht mir zu verdanken, sondern einer guten Freundin. Sie hat euch beobachtet und meistens hat sie euch etwas gebracht. Ich bin nur hin und wieder eingesprungen, wenn sie etwas anderes zu tun hatte.“
„Aber warum habt ihr euch nie zu erkennen gegeben?“
„Wir wollten nicht, dass ihr verhungert, aber mehr wollten wir nicht in euer Schicksal eingreifen. Da ihr mich nun entdeckt habt, sollte es wohl so sein, dass wir uns doch kennen lernen.“
„Wo kommt ihr her?“, wollte Sunja wissen. „Wir waren so oft in der Gegend unterwegs, um zu jagen, aber wir haben nie Zeichen von Menschen gesehen.“
„Der Weg in mein Dorf ist in der Tat recht weit. Es liegt in einem kleinen Tal und man muss über mehrere Bergkämme hinweg steigen, um es zu erreichen.“
Es gab sie also, die Siedlungen im Haardt und sie hatten offensichtlich auch den einen oder anderen netten Einwohner. Nicht nur Räuber, Ungeheuer und Geächtete.
„Dürfen wir euch morgen dorthin begleiten?“, fragte Berinhard.
„Nun ja ...“, er wiegte den Kopf hin und her. „Ich würde sagen, ihr dürft.“
„Danke, dann werden wir eure Freundin dort kennenlernen?“
„Ich glaube nicht, dass sie inzwischen wieder da ist. Als ich aufbrach, war sie gerade selbst unterwegs. Sie ist die Heilerin und Priesterin unserer Siedlung. Ihr Name ist Abila.“
„Abila“, wiederholte Sunja und sprach es aus, als würde sie von einem Engel reden. Später überließ sie das Lager den beiden Männern. Sie selbst wickelte sich in ihren Mantel und schlief auf dem Lehmboden. Er war zwar ein wenig hart, aber das machte ihr nichts aus. Außerdem kam später Godo zu ihr und legte sich dazu.

 

9. Kapitel: Die Siedlung

 In der Frühe zogen sie sich warm an. Berinhard rasierte sich die Bartstoppeln mit seinem Messer. Sunja nahm etwas Verpflegung mit und dann machten sie sich zu dritt auf den Weg.
Sie durchschritten den Wald. Die Luft war klar und schneidend. Richtig hell wollte es jedoch nicht werden. Am Himmel hatte sich eine graue Wolkendecke gebildet, die überall um sie herum bis zum Horizont reichte. Sie schritten durch harten Schnee, der unter ihren Füßen knirschte.
Dagalo ging voraus, da nur er den Weg kannte. Nachmittags stiegen sie zum wiederholten Male auf die Kuppe eines Berges. Dagalo wartete, bis die beiden neben ihm zum Stehen kamen.
„Seht ihr, das dort ist meine Siedlung.“
Sunja und Berinhard sahen direkt unter sich eine Rodung, in deren Mitte sich mehrere Häuser aus Holz und Stroh befanden. So, als hätte Gott gewürfelt und diese Würfel wären zu Häusern geworden.
Es gab ungefähr zehn längliche Behausungen unterschiedlicher Größe. Außen um diese herum waren Felder angelegt, die im Moment mit Schnee bedeckt waren. Quer durch die ganze Anlage schlängelte sich ein größerer Bachlauf. Sie sahen nicht nur die Siedlung vor sich liegen, sie hörten auch die typischen Geräusche. Ziegen meckerten, ein Kind weinte. Aus der Schmiede hörten sie das Geräusch, wenn Eisen auf Eisen trifft und noch einiges mehr.
„Kommt, wir wollen nach unten gehen“, sagte Dagalo und setzte sich als Erster in Bewegung. Sunja und Berinhard sahen einander vielsagend an. Vor ihnen lag, was sie die ganze Zeit seit ihrer Flucht aus der Feste gesucht hatten.
Sie folgten dem Alten hinunter in die Senke. Draußen hielt sich niemand auf, dafür war es in dieser Jahreszeit zu kalt. Nur die Tür der Schmiede stand offen. Das Holzkohlefeuer war zu heiß für die kleine Hütte. Sie gingen daran vorüber. Der Schmied schaute kurz auf und wandte sich wieder seinem Werkstück zu. Berinhard versuchte herauszufinden was er gerade herstellte. Aber es sah nur aus wie ein unförmiges Stück Eisen. Dagalo klopfte an die Tür einer Hütte, die fast in der Mitte der Siedlung stand.
Ein kleiner Junge öffnete und freute sich, den Alten zu sehen. Doch als sein Blick auf den mit Waffen gut ausgestatteten Berinhard fiel, verstummte er und starrte diesen mit weitaufgerissenen Augen an.
„Nun Arman, lässt du uns herein?“, fragte Dagalo den Knaben. Dieser machte einen Schritt zur Seite. Sie betraten einen großen Raum, der die Hälfte des Hauses einnahm. Das war der Bereich, den die Familie bewohnte. Der Rest des Hauses war Stall, vermutete Sunja, die ähnliche Hausaufteilungen aus Awanleiba kannte. Die Wand, welche Stall und Wohnraum trennte, bestand auch nur aus Weidengeflecht, das nicht mal bis zum Dach hochreichte. Dies hatte den Vorteil, dass die Wärme, welche die Tiere abgaben, die Menschen jetzt im Winter für sich nutzen konnten. Trotzdem brannte in der Mitte des Wohnraums ein Feuer, das Licht und Wärme spendete. Unter der Decke hingen Räucherwaren.
Ein Mann mit schulterlangen blonden Haaren und grauen Augen kam auf sie zu. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er der Vater des Jungen war, der ihnen geöffnet hatte.
„Dagalo, schön dich zu sehen. Wen hast du da mitgebracht? Doch nicht etwa Abilas Schützlinge?“
„Doch doch, sie haben mich gesehen und wollten uns kennenlernen. Da kann ich doch nicht ‚nein’ sagen.“
„’Nein sagen’ kannst du wirklich nicht gut, das stimmt“, bestätigte ihr Gegenüber mit einem leicht vorwurfsvollen Ton in der Stimme. Der Alte ließ sich davon nicht beeindrucken und sprach weiter:
„Ihre Namen sind Sunja und Berinhard. Sie kommen aus einer der Reichsfesten, die um den Bergwald überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Dort konnten sie nicht mehr bleiben.“ An seine beiden Begleiter gewand sagte er:
„Darf ich euch Hardo vorstellen. Er ist Bauer und außerdem noch Tischler in unserer Siedlung und seine Frau Widira, meine Tochter.“ Diese saß auf einem Hocker und beendete gerade das Stillen eines Säuglings. Sie legte das eingeschlafene Kind auf Stroh und gab dem Besuch die Hand. Widira hatte dasselbe gutmütige Gesicht wie ihr Vater und sie trug die braunen glatten Haare zu einem Zopf gebunden. Die Frau war ungefähr so alt wie Berinhard und Hardo war wohl nicht viel älter.
„Du siehst gefährlich aus Fremder!“ sagte Hardo. „Kein Wunder, dass Arman sich vor dir erschrocken hat.“
„Das tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken, ich trage diese Waffen immer mit mir und dabei habe ich meine Axt noch nicht einmal mitgenommen.“
„Du gehörst zu der Armee der Franken. Die verirren sich sonst nicht hierher zu uns.“
„Ich gehöre nicht mehr zu diesem Heer. Es ist schon etliche Monate her, seit ich es verlassen habe.“
„Warum? Niemand von euch kommt freiwillig und ohne Grund zu uns in den Haardt.“
„Ich habe einen Mann getötet, der mich angegriffen hat, und musste fliehen.“
„Du gibst also zu, dass du ein Verbrechen begangen hast? Deine Ehrlichkeit ist beängstigend.“
„Ich habe kein Verbrechen begangen. Es war Notwehr. Meine Gefährtin kann das bestätigen.“
„Deine Gefährtin würde sicher alles bestätigen, was du sagst. Was ist mit ihr? Ist sie aus Gesellschaft mit dir gekommen?“
„Nein, sie ist vor ihrem rabiaten Ehemann geflohen.“
„Was hat er gemacht?“, wollte Hardo wissen.
„Das werde ich dir nicht sagen. Wenn wir uns besser kennen, dann wird sie euch diese Frage vielleicht selbst beantworten.“
„Du bist sehr seltsam. Über deine Sache, die mir viel schwerwiegender erscheint, redest du, während du die Auskunft über sie verweigerst.“
„Mir fällt das Beantworten deiner Fragen nicht leicht, vor allem weil die Erinnerung an diesen Tag mich traurig macht. Der Mann, den ich töten musste, um mein eigenes Leben zu bewahren, war nicht einmal mein Feind. Es war nur ein Missverständnis und das macht es für mich nicht einfacher. Aber besser ich erzähle dir eine weniger schöne Wahrheit, als eine nette Lüge, die du mir doch nicht glauben würdest. Was meine Gefährtin angeht, steht es mir nicht zu, Einzelheiten auszusprechen.“
„Ich habe noch nie einen so ehrlichen und anständigen Geächteten gesehen wie dich“, stellte der Tischler amüsiert fest und klopfte Berinhard auf die Schulter.
„Wir sollten uns setzten.“ Er wies ihnen zwei Schemel zu und zu fünft saßen sie um das Feuer der Familie herum.
Sunja hatte nun Gelegenheit mit Widira zu sprechen. Darauf hatte sie schon die ganze Zeit gewartet. In der Ecke des Hauses hatte Sunja im Schein des Feuers einen sehr großen Webstuhl entdeckt. Das erinnerte sie an Dankrun und sie wollte von Widira gern mehr darüber wissen. Sie selbst konnte ja nur Bänder weben. Die junge Mutter wiederum freute sich über das Interesse der Fremden und so erfuhr Sunja, dass zwar jeder Haushalt im Dorf einen gewöhnlichen und einfachen Webstuhl besaß, aber Widira, ähnlich wie Dankrun, die größeren und schwierigen Stoffe für das Dorf anfertigte.
Die Männer sprachen über den kalten Winter und darüber, was sie alles machen wollten, wenn der Frühling endlich käme. Sunja merkte, wie Hardo seine anfänglichen Bedenken ihnen gegenüber immer mehr von sich schob.
Später begann das Baby zu weinen und wollte erneut die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Auch Arman wurde quengelig. Er langweilte sich, weil niemand sich um ihn kümmerte.
„He, kleiner Mann, kommst du zu mir?“ Arman betrachtete Sunja abwägend. Sie lächelte einladend und winkte ihn zu sich. Der Junge machte zwei übermütige Sprünge und kam vor Sunja zum Stehen. Diese klopfte auffordernd auf ihren Schoß und Arman machte es sich darauf bequem.
„Du bist ja leicht wie eine Feder Kleiner!“ Arman schob beleidigt die Unterlippe vor.
„Ich bin gar nicht mehr klein! Ich bin schon sechs Winter alt.“
„Oh, schon sechs Jahre?“
„Ja, und bald werde ich genauso tolle Holzsachen machen wie Papa. Ich helfe ihm immer ganz viel. Ehrlich!“
„Ja, bestimmt wirst du ein prima Tischler“, sagte Sunja und wippte den Buben auf ihren Knien.
„Aber eigentlich will ich machen was Abila macht, die darf immer andere Dörfer besuchen und weiß alles.“
„Alles?“ Sunjas Interesse, diese Frau kennenzulernen, stieg.
„Ja wirklich! Abila ist ganz schlau. Sie weiß immer, was das Beste für alle ist. Stimmt‘s Mama?!“
Widira legte gerade das eingeschlafene Baby auf das Stroh.
„Ja mein Schatz, das stimmt.
Schau mal Arman, das Holzpferdchen, was der Papa dir gemacht hat, ist ganz allein, willst du nicht mal nach ihm sehen?“
„Ja, das Pferdchen!“ Arman rutschte von Sunjas Schoß und holte aus einer Kiste in der Ecke des Wohnraums sein neues Spielzeug. Er begann aus dem Stroh, das auf dem Boden lag, eine Landschaft aufzuschichten, durch die er dann sein Holztier galoppieren ließ. Er war so sehr in das Spiel vertieft, dass er die Erwachsenen und ihre Gespräche nicht mehr wahrnahm.
„Euer Arman ist ein netter Junge.“
„Na ja nicht immer, aber meistens schon. Erzählst du uns von der Feste und der Welt außerhalb des Bergwaldes?“
„Das sollte besser Berinhard tun, der hat von dieser Welt mehr gesehen, als ich je sehen werde.“
Berinhard sprach über vieles und endete mit einer Beschreibung der Feste. Sunja berichtete über das Leben dort und dann mündete das Gespräch mehr zufällig in den persönlichen Bereich der beiden Gäste. Berinhard und Sunja erzählten Dagalo, Hardo und Widira einen Teil der Umstände, die sie in den Haardt getrieben hatten.
„Dieser Mann, der Berinhard angegriffen hat, war mein Freund. Er wusste nicht, was er tat und Berinhard musste sich wehren. Ich habe ihm verziehen weil ich weiß, dass er nur sein Leben verteidigt hat“, bezeugte Sunja.
„Nun ja, ich glaube nicht, dass man sich solche Geschichten ausdenken kann. Warum auch?“ Hardo stand auf und holte aus der hintersten Ecke des Raumes ein verschlossenes Tongefäss.
„Wisst ihr, was das ist?“ fragte er und grinste. Berinhard und Sunja schüttelten den Kopf.
„Met - selbstgemacht! Ich habe einige Bienenkörbe im Wald aufgestellt.“ Der Stolz über diesen Besitz war ihm anzusehen und sicher hätte er diesen wertvollen Schatz nicht hervorgeholt, wenn Berinhard und Sunja ihm unsympathisch gewesen wären. In große Holzbecher goss er ordentlich ein. Sunja hatte in ihrem ganzen Leben noch nie Alkohol getrunken. Doch aus Höflichkeit lehnte sie nicht ab. So hatte sie dann auch Schwierigkeiten, das Zeug herunterzubekommen. Es war nicht süß, wie sie gedacht hätte, sondern reichlich herb. Aber sie beteuerte, es sei wirklich ganz hervorragend. Was zur Folge hatte, dass Hardo ihr gleich nachgoss. Sunja nickte dankend und lächelte, obwohl sie nicht glaubte, dass sie dieses Zeug noch einmal herunter bekam.
„He Soldat, es ist spät geworden, ein Zeichen guter Unterhaltung“, sagte Hardo, nicht mehr ganz nüchtern. „Wenn ihr heute noch wegbrech..., äh ich meine aufbrechen wollt, wird euch die Nacht hig ... einholen, ehe ihr bei eurer Hütte ankommt. Ich bitte euch, bei uns zu hig... zu übernachten. Allerdings hätte ich eine Bedingung.“
„Und die wäre?“, fragte Berinhard, dem man ebenfalls ansah, dass der Alkohol ihm zugesetzt hatte.
„Du schläfst in dieser Ecke meines Hauses.“ Er wies auf einen der beiden Winkel an der Rückwand. „und deine Waffen schlafen in der an’eren.“
Berinhard stand leicht schwankend auf und hielt mit der Rechten den Holzbecher umklammert.
„Harod, Bauer und Tischler dieser wunerschööönen Siedlung im Ha…ardt. Du bist der Hausherr und der Vater von zwei Kindern und der Mann dieser … tüchtigen Frau. Ich verstehe dein Mi...misstrauen mir gegenüber, deshalb ist mir deine Bedingung nur recht. Aber ich lege meine ... ääh Dings … Waffen ab, weil ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.“ Er reichte seinem Gastgeber die Hand. Dieser drückte sie ihm.
Sunja schaute Berinhard an. Sie war es nicht gewohnt, dass er solche geschwollenen Reden hielt und eine so undeutliche Aussprache an den Tag legte.
Die Familie teilte mit ihren Gästen das Nachtmahl und schnell war ein Lager aus Stroh zusammengetragen. Es war längst dunkel geworden, als sie sich niederlegten.
Am Morgen hieß es Abschied nehmen, ehe sie aufbrachen.
„Sagt, dürfen wir euch wieder einmal besuchen? Berinhard und ich würden auch gern Abila kennenlernen. Wir haben ihr viel zu verdanken.“
„Es würde uns freuen, wenn ihr wiederkommt. Am besten in vier Tagen. Dann ist die Heilerin sicher wieder da“, sagte Dagalo.
„Wir danken euch und freuen uns auf das Wiedersehen“, verabschiedete sich Sunja von Widira, Hardo und Arman. Berinhard, inzwischen wieder in voller Montur, reichte ihnen ebenfalls die Hand, verabschiedete sich und dankte ihnen genauso, wie Sunja zuvor.
„Ehe ihr geht, kommt noch kurz mit mir. Ich will euch etwas zeigen.“ Dagalo ging voraus. Er brachte sie zu der anderen Seite des Hauses. Dort öffnete er den Stall und ließ Berinhard als Ersten eintreten.
„Aschari!“, rief dieser aus und eilte auf das Tier zu. Das Pferd wieherte aufgeregt zur Begrüßung und drückte seine Nüstern gegen Berinhards Hand. Er streichelte ihm über die Blesse. Sunja stand daneben und ein breites Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Auch sie entzückte Ascharis Anblick, doch noch mehr Freude empfand sie, wenn sie in Berinhards strahlende Augen sah.
„Abila hat es mitgenommen, nachdem sie euch das erste Mal Lebensmittel brachte. Sie sah, dass es dem Tier nicht gut ging. Ebenso wie ihr, litt es Hunger.“
„Ihr habt nicht nur uns gerettet, sondern auch mein Pferd. Nicht nur, weil ihr es gefüttert habt. Eigentlich stand es schon auf unserem Speiseplan. Dieses Tier ist mein wertvollster Besitz. Wir stehen tief in eurer Schuld.“
„Nehmt es heute noch nicht mit, es würde kein Gras finden. Lasst es bei uns, bis der Schnee getaut ist.“ Berinhard und Sunja willigten gern ein und brachen auf, über die Hügel zu ihrem dürftigen Zuhause.
Als sie zurück durch den Wald gingen, waren sie gut gelaunt, trotz der Kopfschmerzen, die Berinhard schon seit dem Erwachen plagten. Wenn man die Räuber nicht mitrechnete, waren sie seit vielen Monaten allein im Bergwald, ohne mit anderen Menschen zusammengekommen zu sein. Es hatte so gut getan, mit diesen Leuten zu reden.
Es wurde bereits dunkel, als sie bei der Hütte ankamen. Drinnen war es ungemütlich kühl. Ein Feuer zu entfachen, hatten sie so spät am Abend keine Lust mehr. Um der Kälte zu trotzen, legten sie sich unter die Decken und schmiegten sich eng aneinander.
„Brrr, ich friere immer noch!“, beschwerte sich Sunja und zog die Decke ein Stück höher über das Kinn. Er rieb mit den Händen ihre Oberarme. Sie legte ihre Finger in seinen Nacken, zog seinen Kopf zu sich und suchte in der Finsternis mit ihrem Mund den seinen. Er streichelte sie und sie liebten einander hingebungsvoll.
Als ihre Körper sich voneinander lösten, war keinem von beiden mehr kalt. Sie lagen mit dem Gefühl tiefen inneren Friedens nebeneinander und schauten in die Dunkelheit, die sie wie ein schützender Mantel umgab.
„Bist du während der Jahre, als du Soldat warst, noch einmal bei der Familie gewesen, bei der du aufgewachsen bist?“
„Nein, es fanden sich immer andere Möglichkeiten, über die Winter zu kommen. Meist verbrachte ich diese Jahreszeit, in der nicht gekämpft wird, bei fremden Bauern. In den Wintermonaten hatten diese viel zu reparieren. Das konnte ich ganz gut und sie verköstigten mich deshalb gern.“
„Hatten diese Bauern schöne Töchter?“, wollte Sunja wissen und grinste in die Dunkelheit.
„Nein, sie waren allesamt furchtbar hässlich.“
„Du lügst!“, sagte sie und knuffte ihn in die Seite.
„He! Lass das!“, beschwerte er sich. „Aber du hast recht, der Letzte, der hatte eine Tochter, die war wunderschön. Ein wirklich nettes Mädchen. Sie kam oft zu mir. Wir haben uns unterhalten und später habe ich sie gern auf meinen Schoß genommen.“
„Und der Bauer hatte nichts dagegen?“, fragte Sunja verwundert.
„Nein warum?“
„Ja, aber ...“, ihr fehlten die Worte. Berinhard hätte etwas dafür gegeben, wenn er ihr Gesicht hätte sehen können und lachte.
„Sie war fünf Jahre alt.“
„Na, wenn das mal stimmt“, stichelte Sunja. Berinhard griff nach ihrer Hand und sprach:
„Du wirst mir vermutlich nicht glauben, aber ich habe vor dir noch mit keiner Frau das Lager geteilt.“

Am nächsten Tag ging Berinhard schon in aller Frühe auf die Jagd. Sunja hatte genug zu tun und auch ohne ihn wurde ihr nicht langweilig. Als sie am Nachmittag vor dem Feuer saß und ihre Kleidung ausbesserte, stieß Berinhard die Tür auf, dass die Kälte hereinstob. Schnell drückte er sie mit der Schulter wieder zu und warf auf den Boden ein großes Stück Fleisch. Das Jagdglück hatte ihm eine Wildsau vor die Nase getrieben.
Sunja sprang auf.
„Das ist toll ... du bist der Beste!“
Berinhard lachte laut auf.
„Oh danke, aber ehe ich vor Verlegenheit rot werde, will ich mal lieber das Ding zerlegen.“ Er kniete sich auf den Boden, zog den Sax und begann, das Fleisch in kleine Stücke zu schneiden. Sunja nahm zwei Stöcke aus der Ecke mit dem Brennholz. Sie spitzte sie mit ihrem Dolch an und steckte die Portionen die ihr Berinhard gab darauf. Dann hielten sie es in die Glut des Feuers. Zufrieden und einvernehmlich saßen sie nebeneinander. Sie sahen zu, wie das Fett nach unten tropfte und auf dem roten Holz zischte. Ein unwiderstehlicher Geruch breitete sich in der Hütte aus und sehnlich wünschten sie den Augenblick herbei, in dem sie ihre Zähne in das Fleisch treiben würden.
„Ich bin ganz sicher nicht der Beste, aber es war nett von dir, das zu behaupten.“
„Ach, wenn du so schöne Sachen mitbringst, muss ich dich doch loben.“ Sunja strich ihm anerkennend über die Wange. Berinhard grinste.
„Danke. Wenn nichts dazwischen kommt, kann ich uns ernähren, aber was ist, wenn wieder einer von uns verletzt wird, so wie ich vor Einbruch des Winters.“ Er zog die Schultern hoch und Sunja wusste, dass er den Anblick des Monstrums vor Augen hatte, welches ihn niedergestreckt hatte.
“Sunja, ich hoffe, du verstehst mich nicht fasch, es ist schön mit dir hier zu sein. Doch wir waren nur ein halbes Jahr auf uns allein gestellt und hätten es am Ende ohne fremde Hilfe nicht geschafft zu überleben.“
„Ich weiß, was du meinst. Es wäre sicherer und schöner, wenn wir in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen leben könnten. Wir sollten versuchen in dem Dorf unterzukommen.“
Berinhards Augen waren auf etwas in weiter Ferne gerichtet und ein Lächeln breitete sich über seine Züge.
„Ja, ich glaube, dass ich mit deiner Hilfe ein Haus bauen könnte. Vielleicht geben sie uns ein Stück Land, was wir urbar machen werden. Das wäre zu schön“, schwärmte er und biss endlich in das saftige Stück Wildschwein in seiner Hand.
„Wenn wir ihnen unsere Situation erklären, so wie wir es bei Hardos Familie getan haben, und ihnen klar machen, dass wir zwar geächtet, aber keine schlechten Menschen sind, dann werden sie uns sicher aufnehmen“, versuchte Sunja sich und ihm einzureden. Berinhard nickte. Er wollte gern glauben, dass es so einfach war.
„In wenigen Tagen werden wir diese Abila besuchen. Sie scheint nichts gegen uns zu haben, immerhin hat sie uns über den Winter gerettet, und ihr Wort hat Gewicht in der Siedlung. Sie wird uns helfen.“
Drei Tage später hatte Berinhard sich besonders gründlich rasiert und Sunja hatte ihre Haare mit viel Sorgfalt geflochten. Sogar Godo hatten sie am Tag zuvor mit kaltem Bachwasser gewaschen, was diesem sehr missfiel. So gefällig hergerichtet brachen sie in aller Frühe zu der Siedlung auf.
Voller Hoffnung gingen sie über die Hügel. Berinhard hatte zwei große gefrorene Stücke Fleisch vom Rücken des Wildschweins geschnitten und trug diese über der Schulter. Sie waren als Gastgeschenk gedacht. Eins für Dagalo und seine Familie und das andere für Abila als Dankeschön für ihre Hilfe.
Im Dorf angekommen, gingen sie erst zu denen, die sie schon kannten.
Dagalo und Widira freuten sich sehr über das Mitbringsel. Zu Berinhards Bedauern fehlte Hardo. Er war zusammen mit seinem Sohn Arman und einem der Ochsen in den Wald gegangen, um einen Baum zu fällen.
„Ist Abila inzwischen da?“, wollte Sunja von Dagalo wissen.
„Das ist sie, soll ich euch zu ihr bringen?“ Berinhard und Sunja nahmen dankend an.
Abilas Hütte war klein, sie lag abseits vom Bachlauf und gleich dahinter erhob sich eine große steilaufragende Felswand. Die Heilerin besaß außer ein paar Hühnern, die innerhalb einer Umzäunung vor der Hütte auf und ab liefen, vermutlich keinerlei andere Tiere. Auch von einem größeren Stück bebautem Land war nichts zu sehen. Nur ein kleiner Kräuter- oder Gemüsegarten war links des Gebäudes angelegt. Was für Pflanzen tatsächlich dort wuchsen, konnte man zu dieser Jahreszeit nicht erkennen. Neben der rechten Seite des Hauses, etwas weiter hinten, stand ein Apfelbaum. Er war groß und sehr alt. Seine Äste waren schützend über die Hälfte der Hütte ausgebreitet. Vorn aus dem Strohdach stieg Rauch auf. Ein untrügliches Zeichen, dass jemand zu Hause war.
Dagalo klopfte an. Sunja konnte es kaum erwarten, die Person zu sehen, der sie ihr Leben verdankten. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und da stand sie: Abila. Sunja hatte sie sich älter vorgestellt. Aber bei genauer Betrachtung stellte sie fest, dass sich das wahre Alter dieser Frau gar nicht schätzen ließ. Ihre offenen Haare waren überwiegend schwarz und mit vielen feinen Silberfäden durchzogen. Sie war in ein ausgewaschenes blaues Gewand gekleidet, welches um die Hüfte mit einem breiten reich verzierten Gürtel gehalten wurde. An diesem trug sie mehrere Gegenstände. Sunja sah ein Messer, einen Beutel und auch Schmuckstücke aus Metall. Federn und Perlen waren ebenfalls daran befestigt. Die Frau verzog keine Miene, als sie den Besuch vor der Tür stehen sah. Mit ihren hellen blauen Augen warf sie nur einen kurzen Blick auf die beiden Fremden.
„Danke Dagalo, dass du sie zu mir gebracht hast. Bitte lass uns allein!“ Der Alte schaute verwundert, weil er weggeschickt wurde. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch er widersprach nicht, nickte und wandte sich zum Gehen.
„Mein Name ist Abila. Ich bin die Priesterin und Heilerin des Dorfes, in dem ihr euch befindet“, sagte sie zu dem Besuch aus dem Wald und Stolz schwang in ihrer Stimme. Sunja versuchte, vom Aussehen der Frau auf ihr Wesen zu schließen. Doch das war genauso schwierig, wie verlässlich ihr Alter zu sagen.
„Mein Name ist Sunja und das ist Berinhard. Wir sind hier, um uns bei euch zu bedanken. Ihr habt uns über den Winter geholfen, ohne euch wären wir sicher nicht mehr am Leben.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer kann das wissen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht, ob es nicht ein Fehler war euch zu helfen“, sagte sie mit einer Stimme so kalt und schneidend, wie eine Messerklinge.
Sunjas Augen weiteten sich und die Worte kamen nur stockend über die Lippen.
„Was ... wollt ihr damit sagen?“
„Als ich zu der Hütte auf dem Berg kam, sah ich ein Pferd davor und Rauch stieg aus dem Dach auf. Ich wollte wissen, wer sich darin aufhielt. Ich kannte den Vorbesitzer. Es war ein alter weiser Mann, der das Leben in der Abgeschiedenheit suchte. Wir haben uns um ihn gekümmert, bis er vor drei Jahren starb.
Ich sah nach einer Weile, dass du ...“, sie schaute Sunja an „... aus der Tür tratest. Du hattest Wasser aus dem Bach geholt. Einige Tage später wartete ich erneut in der Nähe. Ich sah wieder nur dich. Dem Pferd ging es nicht gut und du sahst hungrig aus. Ich habe also beim nächsten Mal das Pferd los gebunden und dir etwas zu Essen dagelassen. Dann habe ich mich mit Dagalo abgewechselt. Erst sehr spät erkannte ich, dass du nicht allein warst.“ Sie sah verächtlich zu Berinhard. Dieser hielt ihrem Blick stand und schaute mit finsterer Mine zurück.
„Dagalo hat euch trotzdem weiter Essen gebracht. Ich habe es gebilligt, aber ich hatte ihn ermahnt, sich ja nicht von euch erwischen zu lassen und euch unter keinen Umständen in das Dorf zu bringen. Aber dieser Mann kann äußerst dickköpfig sein und außerdem ist er viel zu gutmütig.“
„Wirklich schade, dass euch mein Anblick so missfällt“, sagte Berinhard „Aber ihr habt uns trotzdem einen großen Dienst erwiesen. Wir möchten euch hiermit dafür danken.“ Er hielt ihr das Stück Fleisch entgegen. Sie nahm es und bedankte sich knapp.
Sunja ahnte die Antwort schon im voraus, doch sie musste es wenigstens probieren:
„Wir hatten gedacht ... Wir wollten euch fragen, ob wir bei euch im Dorf wohnen könnten.“
„Nein! Es tut mir leid. Das kann ich nicht erlauben. Ihr seid Geächtete. Ich weiß nicht, warum man hinter euch her ist und es interessiert mich auch nicht. Ihr könnt mir viel erzählen. Vor allem dein Begleiter ist ein zu großes Risiko für den Frieden in unserem Dorf. Immerhin war er ein Frankenkrieger.“
„Bitte weise uns nicht voreilig ab“, bat Sunja mit bebender Stimme.
„Das ist mein letztes Wort! Ich möchte außerdem nicht, dass ihr uns weiterhin besucht. Die Hütte sei euch überlassen.“
„Bitte lasst uns erklären ...“
„Sunja, komm, lass uns gehen!“, Berinhard griff nach ihrer Hand. Sie nickte und schlug die Lider nieder. Er hatte recht, hier war alles Bitten vergeblich.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, stolze Frau, würde ich mein Pferd gerne mitnehmen. Ich wünsche noch einen schönen Tag. Lebt wohl“, sagte Berinhard mit eben so kühler Stimme, wie die Heilerin vor ihm und schaute sie dabei grimmig an. Sie nickte erhaben zum Abschied und er wandte sich mit Sunja von ihr ab. Sie gingen nebeneinander durch das Dorf. Er hatte seinen Arm tröstend um ihre Schultern gelegt.
„Sei nicht traurig, wir schaffen es auch allein.“ Sie nickte trotz hängenden Kopfes.
Eine alte Frau kam ihnen entgegen, sie ging langsam und stützte sich auf einen Stock. Erst hatten sie sie kaum beachtet. Doch als die beiden an ihr vorbeigehen wollten, stellte sie sich ihnen in den Weg. Erwartungsvoll schauten sie die Alte an, aber sie sprach nicht. Berinhard ergriff das Wort:
„Was wollt ihr, können wir euch helfen?“
Die Alte machte ein grunzendes Geräusch und spuckte ihnen vor die Füße. Dann murmelte sie etwas vor sich hin, in dem das Wort „Dreck“ vorkam, und setzte ihren Weg fort.
Sunja und Berinhard schauten ihr nach.
„Ich glaube nicht, dass sie uns einen ‚Guten Tag’ wünschen wollte“, sagte Sunja. Berinhard schüttelte den Kopf. „Wohl kaum.“

Als sie beim Haus von Hardo ankamen, wartete dort Dagalo auf sie.
„Und, was sagt sie?“
Berinhard antwortete: „Sie will uns nicht hier haben und wir sollen auch nicht wiederkommen. Aber sie ist nicht die Einzige hier, die uns nicht mag. Eben ist uns eine merkwürdige alte Frau über den Weg gelaufen, die uns ausdrücklich zu verstehen gab, dass sie etwas gegen uns hat.“
„Das war sicher Gisa. Nehmt euch das nicht zu Herzen.
Schade, es tut mir leid, dass Abila sich so entschieden hat. Ich hatte es mir schon gedacht. Eigentlich ist sie gar nicht so, aber wenn es um die Sicherheit des Dorfes geht, dann übertreibt sie immer maßlos“, entschuldigte sich der Alte für seine Dorfpriesterin.
„Schon gut, Dagalo. Wir werden irgendwie zurechtkommen. Ich wollte mir nur mein Pferd bei euch holen. Schade, dass wir uns nicht mehr sehen werden und vielen Dank noch mal für alles.“
Dagalo gab ihnen Aschari, wünschte ihnen Glück und sie verabschiedeten sich voneinander.
Berinhard nahm das Pferd am Zaumzeug und Sunja lief neben ihm her. Hand in Hand stiegen sie den Hang hinauf und ließen die Siedlung hinter sich. Die Geräusche des Dorflebens wurden leiser, nur eine Axt erklang irgendwo im Wald. Sehen konnten sie niemanden. ‚Sicher Hardo’, dachte Berinhard bei sich. Plötzlich krachte es laut. Sie schauten in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Tatsächlich sahen sie weit weg eine Baumkrone fallen. Dann drangen das laute Aufschreien eines Kindes und Hilferufe des Vaters an ihre Ohren.
„Oh nein, Arman!“, stieß Sunja erschrocken aus und sie rannten beide zu dem gefällten Baum.
Sie mussten eine größere Strecke überbrücken und liefen so schnell sie konnten. Berinhard war weit vor Sunja am Ort des Geschehens. Hardo war außer sich und keine Hilfe. Berinhard sah sofort, was dem Jungen widerfahren war. Er lag unter dem Stamm des Baumes begraben und jammerte laut. Berinhard wertete das Schreien des Jungen als Hoffnungsschimmer. Wer noch so laut schrie, der war vermutlich nicht lebensgefährlich verletzt. Er umfasste Hardos Schultern und schüttelte ihn heftig, um ihn zur Vernunft zu bringen.
Sunja war inzwischen, ganz außer Atem, am Unglücksort angelangt. Bestürzt wechselte ihr Blick zwischen dem verletzten Jungen und den beiden Männern. Berinhard redete noch immer eindringlich auf Hardo ein:
„Hardo beruhige dich! Komm, lass uns den Baum anheben, damit Sunja Arman darunter hervorziehen kann. Hast du mich verstanden?!“ Der Tischler brachte sich unter Kontrolle und nickte.
„Gut komm!“ Die beiden Männer fassten weiter oben zwischen die Äste der Baumkrone. Berinhard und auch Hardo traten die Adern am Hals hervor und sie zitterten vor Anstrengung. Mit aller Kraft, die ihnen zur Verfügung stand, schafften sie es, den Baum ein kleines Stück anzuheben. Sunja hatte schon zuvor dem jammernden Kleinen unter die Arme gegriffen und zog ihn so schnell wie möglich unter dem Stamm hervor.
Er weinte und schrie. Sunja redete beruhigend auf den Jungen ein. Sie hatte ihn gerade unter dem Holz weggezogen, als die beiden Männer den Baum fallen ließen. Hardo stürzte zu seinem Kind und auch Berinhard kam sofort zu Arman und Sunja. Das Bein des Kleinen war gebrochen. Das war leicht zu erkennen; es stand in unnatürlichem Winkel ab. Berinhard drückte auf Armans Bauch und befühlte ihn von oben bis unten.
„Es scheint wirklich nur das Bein zu sein. Das ist nicht so schlimm Hardo.“ Er klopfte dem Vater aufmunternd auf die Schulter.
„Sunja, zieh ihm die Beinkleider aus. Ich bin gleich wieder da.“ Sie tat ganz vorsichtig, was er gesagt hatte und war bemüht dem Jungen nicht noch mehr wehzutun. Nach kurzer Zeit kam Berinhard mit einem geraden Stück Ast in der Hand zurück.
„Knie dich hinter ihn und schlinge deine Arme um seinen Oberkörper. Halte ihn gut fest, damit er nicht um sich schlägt.“ Sunja tat es und ehe Arman noch Hardo wussten was geschah, hatte Berinhard den Oberschenkelknochen gerichtet. Der Junge schrie noch mehr als vorher. Sunja streichelte ihm über den Kopf und sprach weiter mit ihm. Berinhard legte den Ast neben das Bein und schiente es, indem er die Hose des Jungen um Ast und Gliedmaße gleichmäßig fest herumwickelte und dann verknotete. Nun strich auch er über das Gesicht des Kleinen und redete ihm Mut zu.
„Du wirst wieder ganz gesund. Du musst nur etwas Geduld haben kleiner Mann. Du warst wirklich sehr tapfer.“ Während er mit ihm sprach, griff er unter ihn und hob ihn hoch. Hardo konnte er den Jungen nicht in die Arme legen, der sah etwas blass um die Nase aus und man musste befürchten, dass er ihn nicht bis zum Dorf tragen konnte. Berinhard hätte es gern vermieden noch einmal zu der Siedlung zurückzugehen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er wandte sich dem Ort zu und zu seinem Erstaunen standen hinter ihm etliche Dorfbewohner, die das Schreien Armans und Hardos wohl auch gehört hatten. Mitten unter ihnen gewahrte er Abila.
„Ah, die Heilerin!“, sagte er und bittere Ironie schwang in seiner Stimme, aber so, dass nur sie es verstehen konnte. Er ging mit Arman auf sie zu und legte ihr den Jungen in den Arm.
„Bringt ihn seiner Mutter. Sagt ihr, es wird ihm in ein paar Tagen besser gehen. Aber das brauche ich euch sicher nicht zu sagen. Das werdet ihr wohl selbst am besten wissen. Lebt wohl!“ Ohne eine Reaktion ihrerseits abzuwarten, wandte er sich ab. Er klopfte Hardo noch einmal aufmunternd auf die Schulter und dann pfiff er nach Aschari. Die Stute kam herangelaufen und er nahm ihre Zügel. Sunja war aufgestanden und sie traten den Weg zu ihrer Hütte erneut an.
„Das war’s also“, sagte Sunja, nachdem sie eine Weile unterwegs waren.
„Ja, das war es. Vielleicht hätten wir noch eine Chance gehabt, wenn ich sie eben noch einmal vor all den andern Dorfbewohnern gefragt hätte. Aber ich konnte einfach nicht. Mein Stolz war mir im Weg. Es tut mir leid.“
„Das muss es nicht. Ich hätte an deiner Stelle nichts anderes gemacht. Sie hat nicht gerade nett über dich gesprochen.“
Berinhard schaute an sich herunter.
„Nun ja, vielleicht sehe ich wirklich nicht besonders vertrauenerweckend aus.“
„Für mich schon“, entgegnete Sunja.
Er legte seinen Arm um sie.
„Sei nicht traurig. Der Winter wird bald vorüber sein und dann wird es wieder etwas einfacher. Im Moment haben wir noch jede Menge Wildschwein, das wird uns satt machen, und wenn mich mein Jagdglück nicht verlässt, werden wir nicht hungern müssen.“
„Wir waren so lange allein im Haardt. Ein bisschen Gesellschaft hätte uns gut getan. Schade, dass sie uns gar nicht im Dorf sehen will, sonst hätten wir das eine oder andere Tauschgeschäft machen können. Ich bin mir sicher, dass wir mit unseren Kleidern nicht mehr lange hinkommen werden. Der Gedanke, uns in schlecht gegerbte, stinkende Felle hüllen zu müssen, macht mich nicht gerade froh.“
„Mich auch nicht. Aber davon sollten wir uns nicht die Laune verderben lassen und selbst, wenn es so wäre, noch ist es nicht soweit.“
„Stimmt, und wir haben die Hütte noch“, sagte Sunja.
„Die hätte sie uns auch nicht nehmen können. Schließlich gehört sie ihr nicht. Sie ist nach dem, was sie gesagt hat, herrenlos.“
„Nein, jetzt nicht mehr. Jetzt gehört sie zu uns.“
Als sie an der windschiefen Behausung ankamen, ging es ihnen besser. Sie gewöhnten sich langsam an den Gedanken, allein zu bleiben. Es war dunkel geworden und sie entfachten das Feuer, um Fleisch zu braten und sich zu wärmen.
Der Frühling ließ noch einige Zeit auf sich warten, doch dann, von einem zum anderen Tag, taute fast der gesamte Schnee. Im Bergwald stiegen die Flüsse und das Wasser trat über die Ufer. Selbst der kleine Bach, der nicht weit von ihrer Hütte floss, wurde breiter. Das blieb viele Tage so, dann ebbte er langsam wieder ab.
Berinhard war mit Aschari unterwegs, auf der Suche nach Wild. Das Tauen des Schnees hatte für ihn Vor- und Nachteile. Die Tiere kamen langsam wieder aus ihren Löchern gekrochen, doch in einem weißen Umfeld waren sie besser zu sehen gewesen.
Sunja machte es Spaß, durch den Wald zu streifen und essbare Wurzeln zu suchen. Es war noch kalt, trotz der Sonne die auf sie herunter schien. Sie erspähte kleine Frühblüher, welche die Spitzen ihrer Blüten und Blätter durch den Waldboden schoben. Im Moos konnte man sie besonders gut erkennen.
Ein nahes Geräusch unterbrach ihre Gedanken und ließ sie vor Schreck zusammenzucken. Es klang wie ein trockener Zweig, der zerbrach, wenn jemand darauf trat. Ein gefährliches Tier oder ein Räuber?
Sie schaute auf, und weil der Wald noch ohne Blätter war, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass es weder das eine noch das andere war. Aus der Richtung, in der das Dorf lag, sah sie Hardo auf sich zukommen.
Mehr als vier Wochen war es inzwischen her, dass sie und Berinhard die Siedlung verlassen hatten. Was konnte er von ihr wollen? Sunja glaubte nicht, dass von Hardo eine Gefahr ausging, trotzdem wünschte sie sich, dass Berinhard schon von der Jagd zurück wäre.
„Einen schönen Tag, Sunja“, grüßte der Besuch.
„Das wünsche ich dir auch Hardo. Was führt dich zu uns? Gibt es einen Grund für deinen Besuch?“
„Oh ja. Ist Berinhard da?“
„Leider nicht. Aber ich glaube, lange müssen wir auf seine Rückkehr nicht warten. Lass uns in die Hütte gehen. Sicher ist dir kalt und du möchtest dich ausruhen nach dem langen Weg.“ Hardo willigte ein und Sunja ging voraus.
Er nahm den Umhang von den Schultern und wärmte sich am frischentfachten Feuer die Hände.
„Wie geht es deinem Sohn?“, wollte Sunja wissen.
„Danke der Nachfrage. Arman geht es ausgezeichnet. Deshalb bin ich hier. Ich will mich bei dir und natürlich bei Berinhard bedanken. Ich habe lange überlegt, was ich euch mitbringen kann und doch bin ich mit leeren Händen gekommen. Ich dachte, es wird etliches geben was ihr braucht und ich wollte euch fragen, was am nötigsten ist.“
„Weiß Abila, dass du zu uns gekommen bist.“
„Nein, die Götter mögen mich vor ihrem Zorn bewahren! Sie darf das auch nicht erfahren. Sie will noch nicht einmal eure Namen hören. Denn diese kamen ihr in letzter Zeit öfter zu Ohren als ihr lieb war. Ihre Entscheidung, euch nicht im Dorf aufzunehmen, ist umstritten. Vor allem, nachdem ihr mir und meinem Sohn geholfen hattet, waren viele der Leute in der Siedlung nicht mehr ihrer Meinung.“
„Es wäre gelogen, wenn ich sage, dass sie mir deshalb leid tut. Andererseits kann ich sie auch verstehen, immerhin hat sie uns weggeschickt, weil sie sich Sorgen um euer Dorf macht.“
„Ja, das mag sein. Aber sie kennt euch kaum und ich glaube nicht, dass ihre Entscheidung besonders gut durchdacht war. Jemanden, der kämpfen kann wie Berinhard, könnte auch ein Vorteil für uns sein. Außerdem ist er jung und kräftig und so jemand ist immer für irgendwas zu gebrauchen und er kann ...“
„Was kann ich noch?“, Berinhard hatte die Tür geöffnet und trat in die Hütte. Er legte zwei Hasen an die Seite.
„Schön dich zu sehen Hardo und fast noch schöner war es, dich zu hören. Was machst du hier?“
„Ich will mich bedanken und möchte euch sagen, dass mir die Entscheidung Abilas leid tut.“ Berinhard nickte und legte seine Hand auf Hardos Schulter.
„Lass uns etwas zusammen essen. Du solltest die Nacht bei uns bleiben und erst morgen zurückgehen. So können wir uns länger unterhalten und du musst heute nicht noch einmal in die Kälte.“ Hardo antwortete nicht gleich. Er hatte Bedenken, dass Abila Verdacht schöpfen könnte. Aber was ging es sie an, wo er seine Nächte verbrachte.
„Jawohl Berinhard, genauso machen wir`s!“
Sie redeten lange miteinander. Sunja und Berinhard erfuhren, dass Arman schon fast wieder so munter war, wie vor dem Unfall. Sie sprachen weiter darüber, was sie dringend brauchten und baten Hardo um Stoff und Garn.
Sunja wollte etwas zum Anziehen für sie beide nähen. Sie selbst hatte nur noch das Kleid, was sie am Leibe trug und bei Berinhard sah das nicht viel besser aus. All ihre Sachen hatte sie schon unzählige Male geflickt und Sunja befürchtete; lange würden sie nicht mehr halten. Hardos Frau webte für etliche der Dorfbewohner Stoff, da würde es Hardo nicht schwerfallen, welchen zu besorgen. Sunja und Berinhard bestanden darauf, dass sie den Stoff nicht geschenkt haben wollten. Ein Stück Tuch herstellen machte schließlich viel Arbeit und dauerte seine Zeit.
Berinhard hatte sich als guter Jäger entpuppt und es gab Grund zu hoffen, dass er im nächsten Sommer mehr erbeuten würde, als sie brauchten. Die Drei machten eine Stelle unweit des Dorfes aus, wo er hin und wieder ein erjagtes Tier ablegen würde, um so ihre Schuld zu begleichen. Sunja hoffte, auf diese Art später noch andere Dinge zu tauschen, wie Geschirr oder Messer.
Am nächsten Morgen brach Hardo in aller Frühe zum Dorf auf. Sicher wartete Widira schon voll Sorge auf ihn.
Einige Tage später trug Hardo einen Ballen ungefärbten Stoff zur Hütte. Sunja war entzückt beim Anblick des Gewebes. Es war mehr, als sie erwartet hatte.
Der Tischler war noch nicht richtig gegangen, als sie sich auf die Arbeit stürzte. In den darauffolgenden Tagen war Sunja kaum ansprechbar. Sie war einzig und allein damit beschäftigt, Berinhard eine neue Tunika, sich ein neues Kleid und ihm eine neue Hose zu nähen. Besonders das letzte Kleidungsstück war mehr als überfällig. Die alte Hose hatte sich Berinhard eingerissen, als er einen Räuber mimte. Auch wenn Sunja sie danach wieder geflickt hatte, war sie ein besserer Putzlappen geblieben.
Berinhard freute sich sehr über das Ergebnis von Sunjas Arbeit. Er weigerte sich jedoch standhaft, die alte Hose ganz herzugeben.
Auch mit den Stoffresten wusste Sunja etwas anzufangen. Sie umsäumte diese und in der kälteren Zeit würden sie fabelhafte Fußlappen abgeben. Der nächste Winter kam gewiss, wenn es auch noch eine Weile dauerte.
Berinhard blieb in den nächsten Wochen meist lange weg, wenn er auf Jagd ging. Sunja nahm das gern in Kauf, denn nur so gelang es ihm, ihre Schulden bei Hardo und Widira zu tilgen. Immer, wenn er etwas für Hardos Familie hatte, brachte er es in das Versteck unweit der Siedlung. Damit nicht wilde Tiere vor Hardo die Beute wegschleppten, legte er große Steine darauf. So bekam der Tischler sein Fleisch immer unversehrt.

 

10. Kapitel: Trauer

 

Berinhard saß auf Ascharis Rücken und die Stute trottete ziellos durch den Wald. Vor drei Tagen war ihnen das Fleisch ausgegangen, aber das war nicht weiter schlimm. Überall gab es jetzt frisches Grün und Wurzeln die sie essen konnten. Trotzdem hoffte er auf gute Beute. Überall um ihn zwitscherten munter Vögel, die sich samt auf Partnersuche befanden, um für trällernden Nachwuchs zu sorgen. Auch Berinhards Gedanken wanderten gerade zu seiner Liebsten, als plötzlich vor ihm ein Hirsch durch das Dickicht trat. Er sah den Jäger und sein Pferd auf sich zukommen und setzte zur Flucht an.
„Komm, den holen wir uns! Lauf Aschari!“ Berinhard trieb die Stute an und von einem zum anderen Moment wurden er und das Tier eins, wie früher in den Schlachten. Das Pferd reagierte auf jede seiner Bewegungen und gehorchte ohne Worte. Es wurde immer schneller. Sie flogen über den Waldboden und jedes Hindernis. In der Linken hielt Berinhard nur locker die Zügel und in der Rechten hob er den Speer in die Höhe.
Er machte sich bereit, die Waffe hinter dem Wild herzuschleudern. Gleich würde er Beute machen. Da strauchelte das Pferd. Es knickte ihm im unwegsamen Gelände der rechte Vorderhuf weg und es stürzte vornüber zu Boden. Mit einem furchtbar lauten Wiehern kam es ruckartig zum Stillstand. Berinhard wurde von Aschari geschleudert. Er prallte mit der Schulter gegen den Stamm eines Baumes und holte sich eine große Beule am Hinterkopf. Am rechten Ellenbogen zeigten sich ein paar ordentlich tiefe Schürfwunden. Doch für Berinhard war das alles nebensächlich. Sogleich rappelte er sich hoch und hastete zurück zu Aschari. Die Stute prustete durch die Nüstern. Sie lag halb auf der Seite. Berinhard musste sie nicht lange untersuchen um festzustellen, dass ein spitzer Ast beim Sturz ihre Bauchdecke durchbohrt hatte. Er steckte in ihren Gedärmen fest und ihr rechter Knöchel war gebrochen.
„Aschari!“ Berinhard fiel neben dem Kopf des Pferdes auf die Knie. Er strich von dessen Augen zu den Nüstern hinunter und drückte seine Stirn gegen die Wange des Tieres. „Wir haben so viel miteinander durchgestanden“, flüsterte er heiser. „Du hast mich so oft aus der Gefahr gebracht. Was hätte ich die Jahre ohne dich gemacht? Du bist das schnellste Pferd, das ich je gekannt habe.“
Die Stute atmete schwer und wieherte verhalten. Berinhard legte den Speer, den er noch immer in der Hand gehalten hatte, zur Seite und zog den Sax. „Gutes altes Mädchen!“ Seine Hände zitterten als er die Waffe umfasste und sie an den Hals des Pferdes setzte. Mit einem lauten Schrei, der durch den großen Wald hallte, durchstach er Aschari die Kehle.
Das Pferd hatte aufgehört zu keuchen. Die Waffe fiel aus seiner Hand und er legte sich auf den noch warmen Körper des Tieres. Dort verharrte er lange.
Gemach stand er auf und nahm das Zaumzeug von dem Kadaver und auch die Decke. Er schnürte alles zu einem handlichen Päckchen. Den Sax wischte er an einem Mooskissen ab und steckte ihn zurück in die Lederscheide. Dann nahm er das Bündel unter den linken Arm und mit der Rechten hob er den Speer vom Waldboden auf. So stand er nun und schaute noch einmal auf seine tote Stute hinab.
„Danke für alles.“ Er wandte sich ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Hütte.
Schlurfenden Schrittes betrat er die Behausung, ließ das Zaumzeug und die Decke in eine der Ecken fallen und streifte mit einem kurzen Blick über Sunja, die auf dem Lager saß und Wurzeln schälte.
„Berinhard, was ist los mit dir?“
„Sie ist tot!“, knirschte er.
„Was? Wer?“
„Aschari natürlich!“, rief er erregt.
„Wieso, was ist geschehen?“ Verwirrt stand Sunja auf und sah ihn mit fragenden Augen an.
Mit kurzen Worten erzählte er, was vorgefallen war. Die dazugehörigen Bilder, die sich vor seinem inneren Auge abspielten, ließen ihn stocken.
Sunja hob ihre Hand und strich ihm tröstend über die Wange.
„Das ist furchtbar und es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du an dem Tier gehangen hast.“
Berinhard umfasste ihr Handgelenk mit festem Griff und schob sie von sich weg.
„Nein, das kannst du nicht wissen. Du hast ja keine Ahnung!“
Er drehte sich von ihr weg und ging nach draußen. Sunja sah traurig, wie die Tür hinter ihm zufiel.
Am liebsten wäre sie ihm hinterhergestürzt, hätte ihre Arme um ihn geschlungen und ihn an sich gedrückt. Sie wünschte sich, sie könnte auf ihn einreden, so lange bis er all seinen Schmerz vergessen hätte und wieder gut mit ihr wäre. Aber sie war alt genug zu wissen, dass es so einfach nicht werden würde. Was er brauchte war Zeit und die musste sie ihm geben. Sie zwang sich, die Wurzel und das Messer zu nehmen und ihre Arbeit fortzusetzen.
Die Suppe hing schon viel zu lange über dem Feuer. Draußen streckte die Dunkelheit ihre langen Finger nach dem Bergwald aus und Sunja ging wieder und wieder vor die Tür, um nach Berinhard Ausschau zu halten, aber den hatte der Wald geschluckt.
Endlich, draußen war es so dunkel, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte, tauchte er wieder auf. Er betrat die Hütte ohne Sunja eines Blickes zu würdigen, legte sich auf das Lager und drehte ihr den Rücken zu. Auch wenn sie das ärgerte, sagte sie kein Wort. Sie aß allein etwas von der so mühsam gekochten Suppe, ließ das Feuer ausgehen und legte sich zum Schlafen.
Am nächsten Morgen unternahm sie einen weiteren Versuch, mit ihm über seinen Verlust zu sprechen. Doch Berinhard wollte davon nichts wissen. Auch in den folgenden Tagen gab er sich reichlich wortkarg. Sunja hatte bald das Gefühl, dass sie an Ascharis Tod schuld war, obwohl es dafür keinen vernünftigen Grund gab.
Sunja hoffte immer noch, dass die Zeit für sie arbeitete, aber sie war sich nicht mehr so sicher.
Berinhard ging nicht mehr auf Jagd. Er saß entweder vor oder in der Hütte, schnitzte mit seinem Messer an Holzstücken herum und sprach kein Wort. Auf diese Art und Weise hatte er schon mehrere Schüsseln und Unmengen von Holzlöffeln gefertigt. Wenn er so weiter machte, konnten sie bald Hardos ganzes Dorf zum Suppenessen einladen - vorausgesetzt, Abila würde es erlauben.
Der Anblick des am Boden sitzenden, schweigenden und vor sich hinschnitzenden Mannes brachte Sunjas Blut zum Kochen. Sie stand auf und machte sich auf den Weg nach draußen.
„Ich gehe Wurzeln suchen. Fleisch wird es in nächster Zeit wohl nicht mehr geben, es sei denn ich gehe selber jagen.“ Als sie bereits die Tür ein Stück weit geöffnet hatte, ging sie noch einmal zurück. Sie stellte sich vor ihn und stemmte die Hände in die Hüften. Berinhard hob nicht mal den Kopf.
„Mir tut es auch leid, dass du dein Pferd verloren hast, ich mochte es. Aber es ist tot! Ich lebe noch! Verstehst du?!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich zur Tür und verließ die Hütte. Sie blieb länger weg als nötig, und als sie zurückkam war er nicht mehr da. In der Mitte des Raumes lagen verlassen Späne und ein halbfertiger Löffel. Traurig lehnte sie sich an den Türpfosten. Sie fuhr sich verzweifelt mit der Hand über das Gesicht und stellte erst danach verärgert fest, dass sie sich besser nach dem Wurzelgraben die Finger gewaschen hätte.
Als Sunja sich weiter umsah, erkannte sie, dass alle Waffen fehlten. Selbst das Beil hatte er mitgenommen. Obwohl er, wie die meisten der Frankenkrieger, ein Meister im Wurf dieser Axt war, hatte er sie auf der Jagd bisher nicht benutzt.
Godo kam mit eingezogenem Schwanz aus dem Wald zur Hütte gelaufen. Berinhard musste ihn von sich weggejagt haben. Noch nicht einmal den Hund wollte er um sich haben.

Konnte dieses Frauenzimmer ihn nicht einfach in Ruhe lassen?! Warum schwänzelte sie ständig um ihn herum und stichelte. Sie verstand nicht, was in ihm vorging. Wie auch, woher sollte sie wissen, wie es ist in einer Schlacht zu kämpfen und sein Leben einem Tier anzuvertrauen. Einem Tier, das einen nach vorn, aber auch blitzschnell aus der Gefahr trägt. Aschari war so ein Tier und es war seine Aschari. Sein Pferd - schneller als alle Pferde die er kannte. Ein Pferd was ihm treu gedient hatte, bis zu seinem Tod. Er schluckte.
Sunja will Fleisch - soll sie es bekommen! Auch mit der Jagd konnte man sich gut ablenken und er war nicht ständig ihren vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt.
Berinhard ging nun jeden Tag vor der Morgendämmerung aus dem Haus. Sunja schlief meist noch und er kam erst beim Dunkelwerden zurück. Dann vermied er es, mit ihr zu sprechen und legte sich bald auf das Lager.
Nach einigen Tagen kam er heim und Sunja schlief bereits. Er runzelte die Stirn. So war es bisher noch nie gewesen. Er legte sich daneben und nickte ebenfalls schnell ein. Erst am nächsten Morgen fielen ihm ihre glasigen Augen auf.
Er erinnerte sich, dass sie schon die letzten Tage sehr ruhig und blass gewesen war, aber vor lauter Selbstmitleid hatte er sich nichts dabei gedacht. Warum nur hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie sich nicht fühlte? Nun, so wie er ihr aus dem Weg gegangen war, war das kein Wunder. Er war ja kaum mehr da und besonders freundlich war er mit ihr auch nicht gewesen.
Er befühlte ihre Stirn und stellte fest, dass sie glühte.
„Du bist krank.“
„Ach, interessiert dich das?“ Sunja drehte sich zur Seite, um weiterzuschlafen. Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. Er schaute auf ihre Kehrseite. Sie hatte sich zusammengerollt, wie sie das oft tat wenn sie schlief, und ihm den Rücken zugedreht. Wenn sie so eingekringelt lag, erinnerte ihn das immer an eine Katze.
Berinhard blieb den ganzen Tag bei ihr und erkannte bald, dass es nicht gut um sie stand. Sie war nur selten wach und am nächsten Tag ging es ihr noch schlechter.
„Du musst etwas essen“, sagte er und strich mit dem Finger über ihre glühende Wange.
„Ich will nicht“, protestierte Sunja mit schwacher Stimme.
„Aber trinken musst du unbedingt.“
„Lass mich endlich in Ruhe. Das konntest du doch in letzter Zeit so gut.“
So ein stures Weib! „Nein! Du trinkst jetzt etwas und dann werde ich dich vielleicht in Ruhe lassen.“
„Versprich es mir, dann trinke ich.“
Er nickte, half ihr, sich aufzusetzen und drückte ihr den Becher in die Hand. Doch sie verschüttete die Hälfte des Wassers. Er sah ihr an, wie unangenehm es ihr war als er ihr das Gefäß aus der Hand nahm, um ihr zu helfen. Doch er hielt Wort, nachdem sie etwas getrunken hatte, ließ er sie in Ruhe weiterschlafen - fürs Erste jedenfalls. Am Abend bestand er erneut darauf, dass sie etwas trank, und musste ihr dabei helfen.
Leider ging es ihr auch in den Tagen danach immer erbärmlicher. Sie aß gar nicht mehr und Berinhard bekam auch mit Drohungen nichts mehr zu trinken in sie hinein.
Er nahm sie in den Arm und strich ihr über die Stirn.
„Sunja, liebste Sunja werde wieder gesund! Ich weiß, ich war nicht nett zu dir und es tut mir leid.“
Sunja nickte und schlief gleich wieder ein. Er schaute auf ihr schmales kalkweißes Gesicht und erinnerte sich an ihre Worte. Ja, sein Pferd war tot und sie am Leben. Doch langsam stieg die Angst in ihm, ob das noch lange so blieb. Es war alles seine Schuld, er hatte ihre Nähe gemieden und nur an sich selbst gedacht. Deshalb hatte er nicht auf sie aufgepasst.
„Oh man, was bin ich für ein Narr!“, schimpfte er mit sich selbst. „Es war doch nur ein Pferd. Nur ein Pferd ...“
Als Sunja am nächsten Tag gar nicht mehr aufwachte, überlegte er nicht lange. Er zog sie warm an und wickelte sie in eine Decke. Dann legte er sich selbst seine Decke über die Schultern und befestigte diese mit der Fibel. Seine Waffen ließ er bewusst in der Hütte zurück. Nur Sunjas Messer steckte er ein. Dann hob er sie hoch. Er legte sie über seine rechte Schulter und machte sich auf den Weg.
Das Wetter war für solche Unternehmungen denkbar schlecht. Der Regen prasselte auf sie nieder, es dauerte nicht lange und sie waren beide durchgeweicht bis auf die Knochen.
Die Blätter des letzten Herbstes bildeten eine glitschige Schicht und er konnte nicht gut sehen wohin er trat. Mehrere Male wäre er beinahe mit ihr im Arm gefallen. Zum Glück gelang es ihm immer wieder, sich abzufangen. Längst war es schon nach Mittag und es wollte nicht aufhören zu regnen. Seine Armmuskeln schmerzten. Er musste sich zwingen, weiter zu gehen. Sunja war gar nicht mehr ansprechbar. Er hatte größte Mühe, sie so lange und so weit zu tragen. Warum nur fiel es ihm so schwer? Er war groß und kräftig und sie wog viel weniger als er, trotzdem zitterten ihm die Knie und er war ganz außer Atem, als er endlich die Siedlung unter sich in dem kleinen Tal liegen sah.
Berinhard stolperte den Hügel hinab. Er rutschte erneut mit seiner Bürde, landete auf dem Hintern und stand unter Mühen wieder auf. Als er Sunja zwischen den Häusern hindurchschleppte begegnete ihm keine Menschenseele.
Er beförderte sich und die geliebte Last bis zu Abilas Hütte. Dort blieb er einige Meter vor dem Häuschen stehen und rief laut mit heiserer Stimme mehrmals nach dessen Bewohnerin.
Seine Rufe schallten durch die Ansiedlung. Aus den umliegenden Häusern traten die Bewohner in den Regen um zu sehen, wer da zu der Heilerin wollte.
„Abila! Komm raus. Bitte!“, rief er erneut und fiel auf die Knie in den Schlamm, weil er nicht mehr stehen konnte. Trotzdem umklammerte er Sunja mit seinen beiden Händen und drückte sie an sich. Ihr Körper glühte vom Fieber und sie lag erschreckend kraftlos in seinen Armen.
Die Heilerin trat nach draußen. Sie hatte sich schnell eine Decke über Kopf und Schultern geworfen, um nicht nass zu werden. Sie blickte hinab auf die beiden unangemeldeten Besucher. Wasser triefte aus deren Haaren und Kleidern. Sie beugte sich über sie.
„Was ist mit ihr? Ist das Mädchen verletzt?“ Abila strich Sunja die Haare zur Seite, die auf ihrem Gesicht klebten.
„Nein, sie ist krank. Sie hat Fieber und sie redet nicht mehr mit mir“, sagte Berinhard und seine Stimme verriet seine Verzweiflung vor allem über die letzte seiner Aussagen. „Ich kann wunderbar gebrochene Glieder richten. Ich weiß, wie man äußere Wunden behandelt. Aber ich habe sonst keine Ahnung von der Kunst des Heilens. Ich kenne nicht eine einzige Heilpflanze. Doch ihr kennt sicher ein Kraut gegen Fieber.“ Berinhard war sich bewusst, dass Sunjas Leben davon abhing, wie er sich Abila gegenüber verhielt. „Bitte helft ihr! Ich mache, was ihr wollt. Ich weiß, dass meine Anwesenheit euch nicht gefällt. Ich werde gehen und nie wieder kommen. Aber bitte tu etwas, dass sie wieder gesund wird! Kümmere dich um Sunja! Ich lege ihr Leben in deine Hände.“
Abila richtete sich auf und legte ihre Hand nun auf Berinhards Stirn.
„Ich glaube nicht, dass es ihr helfen würde, wenn ich dich fortschicke. Außerdem siehst du im Moment alles andere als gefährlich aus und das wird sich in den nächsten Tagen nicht ändern, weil nämlich auch du krank bist. Du hast dich bei ihr angesteckt. So darf ich dich nicht wegschicken. Damit würde ich meinem Ruf als Heilerin schaden. Solange ihr beide krank seid, bleibt ihr hier! Aber mach dir keine Hoffnung, wenn ihr gesund seid, geht ihr dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.“
„Was immer ihr wollt.“
Abila richtete das Wort an die neugierigen Zuschauer, welche dem Gespräch beigewohnt hatten.
„Bringt mir Stroh und Decken!“, forderte sie jene auf die weiter hinten standen und zwei Männer, die näher herangekommen waren, instruierte sie ebenfalls:
„Tilo, nimm ihm das Mädchen ab und bring sie in meine Hütte. Kuno, du hilfst ihm Aufstehen und führst ihn ebenfalls zu mir hinein.“ Berinhard ließ Sunja ungern los. Nur langsam lösten sich seine kalten verkrampften Hände von ihrem Leib. Dann brachte man sie beide nach drinnen.
Bald kamen die Dorfbewohner, die das Stroh und die Decken brachten. Schnell hatten sie ein Lager hergerichtet und gern wären sie aus Neugier noch geblieben. Doch Abila dankte ihnen und schickte sie zurück in ihre Häuser.
Die beiden anderen bekamen noch einen besonderen Auftrag von ihr. Godo war mit ins Dorf gelaufen, er war seinem Herrn gefolgt, ohne dass Berinhard sich um ihn gekümmert hätte.
„Bringt den Hund zu Hardo und sagt Dagalo, er soll zu mir kommen.“ Dann fiel die Tür hinter ihnen zu.
„Ich danke dir“, sagte Berinhard leise und erschöpft von seinem Lager aus und griff nach Abilas Hand. Nach dem ersten Anflug von Erleichterung grub sich wieder eine Sorgenfalte in seine Stirn. „Sie bedeutet mir alles. Mach etwas, dass sie gesund wird.“
„Du solltest jetzt besser schlafen. Ich werde mich um sie kümmern. Ein Sud aus getrockneter Weidenrinde wird das Fieber senken. Später solltest auch du etwas davon trinken.“ Berinhard nickte und schlief bald vor Erschöpfung ein. So bekam er auch nicht mit, wie Dagalo kurz drauf die Hütte betrat.

Sunja lag am Boden auf kaltem Stein. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht mal den kleinen Finger, und sie sah alles um sich herum in einem gleißenden Licht. Neben sich erblickte sie Berinhard mit freiem Oberkörper am Boden knien. Die Wunde über seiner linken Brust war frisch und offen. Blut strömte aus ihr heraus und lief an seinem Körper herunter. Doch er schien keinen Schmerz zu spüren. Er hatte gerade aus einem verzierten Bronzebecher getrunken und sein Blick war entrückt. Sunja sah ihn sorgenvoll an, doch er erwiderte ihren Blick nicht. Plötzlich sah sie Ordo hinter ihm. Der Müller hatte ein Messer in der Hand und hob dies jetzt hinter dem Rücken ihres Geliebten in die Höhe. Sunja wollte schreien, um Berinhard zu warnen, doch sie bekam keinen Ton über ihre Lippen. Sie wollte aufspringen oder wenigstens den Arm zu ihm hin bewegen, doch sie war wie angenagelt, zu keiner Bewegung fähig. Schiere Panik bemächtigte sich ihrer. Dann sah sie, wie Berinhard zu Boden fiel, ohne dass Ordo ihn angefasst hätte, der Becher glitt ihm aus der Hand und rollte über den Steinfußboden. Plötzlich tauchte hinter dem verwundert dreinschauenden Ordo eine andere Gestalt auf. Es war Nada, sie lächelte. Doch ihr Blick war trotz allem kalt, als sie auf Berinhard und Sunja hinabschaute. Sie trug das Kleid ihrer Mutter. In ihren Händen, die sie vor der Brust ineinandergefaltet hatte, hielt sie einen kleinen Strauß Maiglöckchen.
Jemand schüttelte Sunja an der Schulter und dann war alles, was sie zuvor gesehen hatte, plötzlich verschwunden. Nur das besorgte Gesicht einer Frau erschien über ihr. Sie hatte schwarze Haare mit silbernen Fäden darin und dieses Gesicht hatte sie schon einmal irgendwo gesehen.
„Du hast schlecht geträumt“, sagte die Frau. Sunja nickte, noch immer benommen. Ja, so muss es wohl sein, denn was ihr da eben widerfahren war, ergab keinen Sinn. Sie schüttelte sich, um die Erinnerung abzuwerfen, und doch sah sie die beiden Gesichter von Ordo und Nada genau vor sich. Auch die Sorge um Berinhard hatte sie aus dem Traum in die reale Welt mit hinübergenommen. Wo war er und wo war sie selbst?
Sie stützte den Ellenbogen auf das Lager und versuchte nach oben zu kommen, um den kleinen in Feuerschein getauchten Raum zu überblicken. Die Frau half ihr. Sunja erinnerte sich dabei, wer ihre Helferin war und bei wem sie sich aufhielt.
„Abila? Wie komme ich hierher?“ Die Heilerin antwortete nicht, sondern wies mit einem Blick und einer Kopfbewegung auf die andere Seite des Raumes. Sunja verstand. Dort lag Berinhard auf Stroh und im Gegensatz zu ihrem Traum war er nicht verletzt. Er schlief, doch man konnte nicht behaupten, dass er wie das blühende Leben aussah. Seine Haut hatte eine ungesunde graue Farbe.
„Ist er krank?“ Sunja sah mit großen Augen zu Abila auf, diese nickte.
„Er hat sich bei dir angesteckt und muss es auskurieren wie du auch. Da du nun wach bist, mache ich mir keine Sorgen mehr, dass ihr es beide schaffen werdet.“
„Ich danke dir für alles.“ Sunja legte sich erschöpft wieder zurück.
„Ich darf Kranke nicht abweisen“, antwortete Abila trocken und wandte sich ab. Sunja beobachtete, wie sie im Schein eines Kienspans Kräuter mischte und mit Fett versetzte. Sie arbeitete konzentriert und Sunja hatte das Gefühl, dass sie absichtlich nicht zu ihr herunter sah. Während Sunja noch darüber nachdachte, kam der Schlaf wie ein weiches schwarzes Tuch über sie und hüllte sie ein.
Nach drei Tagen fühlte Sunja sich kräftig genug, für eine Weile ihr Lager zu verlassen.
„Abila, ich würde mich gern um Berinhard kümmern. Wenn du mir etwas hilfst, kann ich das bestimmt.“
Abila sah sie abwägend an.
„Also gut. Er hat noch immer hohes Fieber. Ich werde dir zeigen wie man Wickel macht, um es zu senken. Dafür muss ich Wasser holen.“ Die Tür fiel hinter der Heilerin zu und Sunja wartete geduldig. Ihr Blick wanderte über das glänzende Gesicht des schlafenden Kranken. Sie strich vorsichtig mit dem Finger über seine linke Augenbraue. Er rührte sich nicht.
„Berinhard, kannst du mich hören?“ Sie beugte sich über ihn und küsste seine Stirn. Er brummelte etwas vor sich hin und öffnete die Augen. Um ganz zu sich zu kommen, brauchte er einen Moment.
„Sunja!“, flüsterte er heiser, „Es geht dir besser.“
„Ja, aber jetzt bist du krank. Du musst schnell wieder gesund werden.“
„Das werde ich.“ Matt schloss er die Augen, während ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht lag.
Abila kam mit dem schweren wassergefüllten Kessel zurück. Sunja schloss die Tür hinter ihr. Die Heilerin hängte das Wasser über das Feuer.
„Warum müssen wir das Wasser warm machen? Ich denke, es soll das Fieber senken.“
„Es darf nicht zu kalt sein. Handwarm, dann ist es richtig. Hol mal den Stapel Stoffstreifen, hinter dir aus dem Regal.“
Sunja drehte sich suchend um, fand was Abila meinte und gab es ihr. Die Heilerin nahm den Kessel von der Kette und kniete sich damit neben den Kranken.
„Ich zeige dir, wie es geht, dann machst du es selbst.“
Sunja nickte und schaute gespannt was Abila tat. Diese tauchte einen der vier kleineren Stoffstreifen in den Kessel und wrang ihn aus. Sie wickelte ihn nicht zu fest um den rechten Unterarm Berinhards. Dieser stand der Sache gleichgültig gegenüber, er öffnete kurz die Augen und glitt zurück in seinen Dämmerzustand. Abila griff inzwischen zu einem größeren trockenen Streifen und schlang ihn über den nassen Wickel.
Sunja versuchte sich an seinem linken Arm und den Waden. Abila sah zu, doch mit ihren Gedanken war sie nicht bei der Sache.
„Ist das gut so?“, fragte Sunja.
„Was? Ach ja … ist gut. Sag, würdest du mir erzählen, wie ihr beide hierher in den Bergwald gekommen seid?“
„Warum nicht, aber hat euch Hardo gar nichts gesagt von dem was Berinhard ihm erzählt hat?“
„Doch, natürlich hat er, aber ich würde es gern von dir hören.“
Sunja blickte auf das nasse Tuch um Berinhards linke Wade und überlegte, wie viel sie Abila anvertrauen konnte von ihrem persönlichen Schicksal.
Etwas stockend begann sie zu reden und dann sprudelte es aus ihr heraus. Die Heilerin war im Grunde eine Fremde und vielleicht war es gerade deshalb so einfach, ihr unbefangen über ihre gekaufte Ehe mit Ordo zu berichten und welche ungewollt unheilvolle Rolle Berinhard dabei gespielt hatte. Abila unterbrach sie nicht und erfuhr so, warum ihre beiden Patienten letztendlich bei ihr gelandet waren.
„... als wir zu dir wollten, warst du leider nicht da. Aber du wolltest uns ja sowieso nicht haben. Trotzdem weiß ich nicht, wie wir den Winter überlebt hätten, wenn du uns nicht geholfen hättest“, schloss Sunja ihren Bericht.
„Schon gut“, wiegelte Abila ab.
Nachdem Sunja so viel von sich preisgegeben hatte, wollte sie auch etwas von der Heilerin erfahren.
„Dagalo hat mir erzählt, dass du öfter die Siedlung verlässt. Was tust du, wenn du unterwegs bist?“
„Ich versuche, das Band zwischen den anderen Niederlassungen und unserer zu stärken. Es geht immer darum, Erfahrungen auszutauschen. Aber nebenbei versuche ich Tauschgeschäfte auszuhandeln. Zum Beispiel über den Handel mit Roheisen aus anderen Gebieten des Haardts, wo Erz abgebaut und ausgeschmolzen wird. Unser Schmied ist ein Meister seines Faches. Er schmiedet daraus gute Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge und Waffen. Mit einem Teil davon bezahlen wir das Roheisen. Da bleiben noch genug für uns übrig.“
„Klingt gut.“ Sunja gähnte.
„Du hast viel geredet und zugehört. Ich denke, du solltest dich hinlegen.“ Sunja widersprach nicht, begab sich auf ihr Lager, rollte sich zusammen und schlief schnell ein.
Am nächsten Morgen, Sunja trieb noch in ihren Träumen, klopfte jemand energisch an die Tür. Erschrocken riss sie die Augen auf. Das war kein normales Klopfen, da schlug jemand mit voller Kraft etwas Hölzernes an die Bretter.
Um Schaden an ihrer Hütte zu vermeiden, hastete Abila zur Tür und öffnete.
Eine sehr alte Frau kam hereingestürzt. Sunja erkannt sofort die Alte, die sich ihnen das letzte Mal in den Weg gestellt hatte. Dafür, dass sie so alt war, war sie recht schnell unterwegs. Mit rotem Kopf und sich überschlagender Stimme redete die Alte auf die Heilerin ein: „Abila! Warum sind diese Leute immer noch hier!? Sie gehören nicht zu uns! Sie werden uns nichts als Ärger bringen. Schick sie weg!“ Sie stampfte das Ende ihres Stockes fordernd vor der Heilerin auf den Boden.
„Guten Tag Gisa, ich freue mich auch, dich zu sehen.“
Die Alte holte Luft und stockte, fing sie sich wieder und fuhr fort.
„Du kannst sie nicht aufnehmen! Sie bringen Unglück!“
„Wie kommst du darauf?“
„Das ist doch ganz klar! Schau sie dir an!“ Sie deutete mit dem Holz auf Sunja und es schien ihr egal zu sein, dass diese inzwischen durchaus hellwach war und ihr entgegenblickte. „Und erst dieser Kerl, der ein Krieger ist. Sicher strotzt er geradezu vor Gewalttätigkeit und Mordlust. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat. Wer weiß, warum er ein Geächteter ist?!“
„Ich weiß es. Sie hat es mir erzählt.“
„Egal, was sie dir erzählt hat, du kannst ihnen nicht trauen!“
„Gisa, ich verstehe dich und deine Bedenken. Aber bitte lass es meine Sorge sein was ich glaube und was nicht! Du solltest gehen und dich beruhigen.“ Abila versuchte, die Alte hinauszukomplimentieren, diese war jedoch nicht bereit, sich einfach so vor die Tür setzen zu lassen.
„Sie werden uns alle ins Unglück stürzen, sie sind gefährlich!“, schrie sie noch einmal voll Wut und riss ihren Stock in die Höhe, während Abila sie allmählich in Richtung Tür schob.
„Ja ja, bitte gehe jetzt Gisa! Wir werden später darüber sprechen.“ Endlich hatte sie die Tür hinter der Alten geschlossen.
Sie schaute zu Sunja hinunter. „Tut mir sehr leid.“ Die junge Frau nickte.
In den nächsten drei Tagen versorgte Sunja Berinhard allein. Abila hatte ihr alles gezeigt, selbst wie sie die Rindenstücke und Kräuter aufbrühen musste, deren Sud sie ihm gegen das Fieber einflößte. Die Heilerin beobachtete Sunja und war zufrieden. Am dritten Tag ging es Berinhard besser. Er konnte sich aufsetzen und Sunja half ihm, eine Mehlsuppe zu essen. Später kostete es Berinhard einige Anstrengung Sunja verständlich zu machen, dass er nun wirklich satt war.
Abila setzte sich zu ihnen und nachdem Sunja die Schüssel beiseitegestellt hatte, begann die Heilerin zu sprechen:
„Ich habe vorschnell über euch geurteilt. Eigentlich wusste ich dies schon, als Berinhard mir Arman in den Arm gelegt hatte. Aber da konnte ich meine Entscheidung nicht einfach so zurücknehmen.
Bevor ihr damals zu mir kamt, habe ich mit Hardo und Dagalo über euch gesprochen.
Du hast in der Feste Jemanden umgebracht, haben sie gesagt und dass es Notwehr gewesen sein soll. Die beiden wollten euch das gerne glauben, doch ich hatte Zweifel, obwohl mir Hardos Argumente klar erschienen.
Inzwischen denke ich, dass ihr für unsere Siedlung ein Gewinn wärt. Die anderen werden nichts dagegen haben, wenn ich euch erlaube, ein Haus bei uns zu bauen. Natürlich nur, wenn ihr das noch wollt.“
„Was ist mit der Alten, die vor einigen Tagen hier war und wollte, dass du uns auf der Stelle hinauswirfst?“, fragte Sunja.
„Das war Gisa. Sie ist alt und durcheinander. Ihre Meinung ist nicht die der anderen Dorfbewohner.“
Sunja und Berinhard hielten sich bei den Händen und lächelten einander an.
„Wir danken dir für dein Angebot und werden es gerne annehmen“, fand Berinhard als Erster die richtigen Worte. „Aber eins würde ich doch gern noch wissen, was für Argumente hatte Hardo?“
„Er sagte, wenn du hättest lügen wollen, dann hättest du uns auch etwas Harmloseres erzählen können, als dass du Jemanden umgebracht hast - egal, ob Notwehr oder nicht.“
Berinhards Mundwinkel zuckten zu einem kurzen Lächeln beim Gedanken an den Tischler.
„Ihr beiden solltet so bald wie möglich zu ihm gehen. Er ist der richtige Ansprechpartner, wenn es um Hausbau geht.“

Als Berinhard wenige Tage später sich so weit erholt hatte, dass er aufstehen konnte und sich kräftig genug zum Gehen fühlte, führte sein erster Weg zu Hardo und dessen Familie. Sunja begleitete ihn. Überschwänglich gut gelaunt ergriff sie seinen linken Arm und hakte sich bei ihm unter.
„Ist es nicht wunderbar?!“
„Ja das ist es“, sagte er und lächelte sie an. „Ich will für immer hier mit dir zusammen sein.“
Während sie auf halbem Weg waren, sahen sie einen Schatten hinter einer der Hauswände verschwinden. Berinhard beachtete ihn nicht, doch Sunja wusste gleich, wer das war. Jetzt sah Sunja sie hinter der Mauer hervorschauen; die Alte, die so über ihr Hiersein geschimpft hatte. Aus ihren Augen funkelten Hass und Verachtung. Sunja hielt ihrem Blick nicht stand, wandte sich ab von der Greisin und eine Gänsehaut überzog ihre Arme und Beine. Plötzlich hatte ihr Traum ein Loch und das Glücksgefühl in ihr wich einer unguten Ahnung. Sie schaute zu Berinhard. Dieser war in Gedanken sicher schon beim Hausbau und machte nach wie vor ein fröhliches Gesicht.
Bald kamen sie bei Hardo und dessen Familie an und als sie mit ihren neuen Freunden über ihre Absichten sprachen, rückte der Gedanke an die Alte in den Hintergrund.
„Abila hat es sich also anders überlegt. Das sind wirklich gute Nachrichten“, freute sich Hardo und Widira drückte Sunja die Hände und hieß sie und Berinhard in der Siedlung willkommen.
„Wir sollten auf die Suche nach einem geeigneten Platz gehen“, schlug Hardo vor und warf sich seine Manteldecke über die Schultern. Draußen schien zwar die Sonne, doch es war kühl.
Sie streiften durch das kleine Tal. Die besten Plätze waren längst belegt. Es durfte nicht zu weit vom Wasser entfernt sein, aber auch nicht zu nah, damit die Behausung zur Schneeschmelze nicht überschwemmt wurde. Am Rand des Dorfes fanden sie einen schönen Platz, nicht weit von Abilas Hütte. Diesen beschlossen Sunja und Berinhard zu nehmen. Für ein kleines Feld und einen Garten war Platz. Das Feld würde nicht sehr groß werden und es würde sie wahrscheinlich nicht ganz über den Winter bringen, aber Berinhard würde jagen und sich etwas Korn von den anderen Siedlungsbewohnern dazuverdienen.
Berinhard musste zugeben, dass das Bauen von Hütten nicht gerade seine Stärke war. Gut, für den Unterstand hatte es gereicht, aber viel mehr war nicht drin. Deshalb staunte er, wie schnell Hardo einen groben Plan auf den Waldboden zeichnete.
„Am besten ist es, wenn du hier, hier und hier einen festen Balken nimmst, auf der anderen Seite noch mal dasselbe. Dann musst du ein Grundgerüst bauen, darauf befestigst du Balken und Bretter für das Dach. So ... verstehst du?“ Schnell hatte er noch eine Seitenansicht des Fachwerks in die Erde geritzt.
„Hm ... ungefähr ...“ Berinhard hatte Mühe ihm zu folgen. Er schaute eine Weile auf die Zeichnung. Dann nickte er. „Ja, ich weiß, was du meinst. So, wie bei diesem dort.“ Berinhard wies mit der Hand zu einem der anderen Häuser.
„Genau, sag ich doch. Was meinst du?“
„Es ist perfekt! Hauptsache, ich kann so was auch bauen.“
„Oh das ist kein Problem. Ich werde es dir erklären, und wenn ich Zeit habe, helfe ich dir.“
„Danke, für dein Angebot, ich werde wohl davon Gebrauch machen müssen, wenn wir vor dem nächsten Wintereinbruch fertig werden wollen.“
„Du schaffst das schon. Los komm, wir gehen zu meinem Holzlager, dort habe ich zum Glück noch einige gute Balken.“
„Aber warum soll ich deine Balken nehmen, der ganze Wald steht voller Bäume? Das ist mehr Holz, als ich in meinem Leben verbauen kann.“
„Wenn sich deine ganze Hütte verziehen soll und wenn du Risse in den Balken schön findest, dann kannst du dieses Holz nehmen.“
„Nein, natürlich nicht!“ Berinhard schaute verwirrt.
„Dachte ich mir und deshalb nehmen wir das Holz von mir. Es liegt schon drei Jahre zum Trocknen und so wie du es verarbeitest wird es auch bleiben. Bei frischem Holz hast du nur Probleme. Also spring über deinen Schatten und nimm es!“
„Ich werde es wieder gut machen.“
„Ja, ja, ich weiß schon.“
Obwohl es für Berinhard noch sehr anstrengend war, ließ er es sich nicht nehmen, mit Hardo zusammen einige der schweren Balken zum Bauplatz zu tragen.
„Schön, dass Hardo euch so tatkräftig unterstützt“, sagte Abila am Abend. „Er scheint euch zu mögen und das nicht nur wegen seines Sohnes. Er hat schon vorher gut über euch gesprochen.“
„Ja, er ist ein wirklicher Freund“, bestätigte Berinhard.
„Das gibt es nicht oft“, gab die Heilerin zu bedenken.
„Ich wie?, ich hatte mal einen.“ Berinhard schwieg danach auffallend, bis sie sich niederlegten. Abila war schon eingeschlafen, als Sunja leise fragte.
„Was ist aus deinem Freund geworden?“
„Er starb direkt neben mir, als eine Sachsenklinge ihn niederstreckte.“
„Das tut mir leid.“
„Ich habe ihn gerächt“, klang es grimmig in die Dunkelheit.

Sunja und Berinhard begannen am nächsten Tag damit, die Hütte zu zimmern. Bei Fragen stand ihnen Hardo gern zur Seite, und wenn er Zeit hatte, half er wie versprochen.
Nachdem die Holzbalken standen, flochten sie Matten aus dünnen jungen Ästen. Diese setzten sie zwischen das Gebälk der Wände und verstrichen die Gebinde mit Lehm.
Nun fehlte nur noch das Dach. Ein direkter Nachbar mit Namen Kuno hatte ihnen angeboten, Roggenstroh vorzustrecken. Berinhard würde es von seiner ersten Ernte zurückgeben. Sunja holte es aus Kunos Scheune und Berinhard schichtete es mit Hardo zusammen auf das Dachgebälk. Während die beiden in die Arbeit vertieft waren, schlenderte ein junger Mann an der Baustelle vorbei. Er blieb stehen und sah nach oben.
„He Krieger! Nette Hütte.“
„Danke“
„Aber ohne Hardo hättest du das nicht geschafft.“
„Nein, mit Sicherheit nicht.“
„Wusst’ ich’s doch, dass du so was nicht kannst. Bin mal gespannt, wie du ein Feld bestellen willst, wo du bis jetzt nichts anderes gemacht hast, als ein Schwert zu schwingen.“ Der junge Mann warte nicht auf Berinhards Antwort und schlenderte weiter. Berinhard hätte ihm sagen können, dass er schon vor seinem Dienst bei Karl auf dem Feld gearbeitet hatte, hielt es aber nicht für nötig, statt dessen zog er die Stirn kraus und wunderte sich über diese Begegnung:
„Wer war das denn?“
„Och, ärger’ dich bloß nicht über den. Das war der schöne Tilo?“
„So schön war der gar nicht.“
„Ne, die das zu ihm sagen, meinen es auch nicht ernst. Aber er hält sich selbst für einen ganz tollen Kerl, zumindest tut er so. Er versucht, dem Dorf weiß zumachen, er wäre der größte Bärenjäger des Bergwaldes.
Leider hat keiner von uns je einen Beweis dafür gesehen. Einmal hat er erzählt, er wäre von Fremden überfallen worden und die hätten ihm die Beute abgenommen, dann hat er mal verbreitet, er wäre zu weit weg gewesen von der Siedlung und das Fleisch war schlecht geworden. Einmal hat er sogar ein paar Zähne mitgebracht, aber wenn du mich fragst, sahen die so aus, als hätte er sie einem toten verwesten Bären herausgebrochen.“
„Er scheint mich nicht zu mögen, oder?“, fragte Berinhard. Hardo hob die Schultern.
„Ich glaube, er hat einfach Angst, dass die Leute dich interessanter finden könnten, als ihn.“ Während Hardo die nächste Garbe auf dem Dach verteilte, redete er weiter:
„Als Abila euch nicht bei uns aufnehmen wollte, hat er am lautesten dagegen geredet. Jetzt, wo Abila es euch erlaubt hat, ändert er seine Meinung. Das war klar. Es ist eine Sache zwischen ihm und der Heilerin. Dazu musst du wissen, dass Tilo der Sohn des starken Timo ist.“
„Sagen das die Leute auch nur so oder ist der wirklich stark?“
„Oh, er war wirklich stark und ein weiser Anführer. Leider starb er vor einigen Jahren. Für Tilo war immer klar, dass er seine Nachfolge antreten würde. Doch die Anderen sprachen sich für Abila aus. Für Tilo war das schwer zu verkraften. Er kann sich bis heute nicht damit abfinden.“
„Armer Kerl!“
„Eh du zu viel Mitleid mit ihm hast, muss ich dir noch sagen, dass er all sein Denken und seine ganze Kraft in diese Streitereien steckt. Abila ist anerkannt, er kann sich nicht direkt gegen sie wenden, das würden ihm die anderen nicht verzeihen, aber er glaubt, wenn er seine Stärke beweist, kann er die Dorfbewohner für sich gewinnen. Deshalb auch diese Bärengeschichten. Er hat Frau und Kind, doch anstatt dafür zu sorgen, dass es ihnen im Winter an nichts fehlt, läuft er in der Gegend herum und wartet, dass er doch noch einen richtigen Bären erlegt. Das Feld bestellt seine Frau allein. Dank hat sie dafür nicht zu erwarten, eher lässt er seine Misserfolge an ihr aus, indem er sie beschimpft. Die arme Ratlind.“
„Solche Leute kenn‘ ich zur Genüge!“ Berinhard warf Hardo ein Bündel Stroh zu. „Die ganze Welt ist an ihrem Unglück schuld, nur sie selbst können nichts dafür.“
Wenige Tage später legten sie in der Mitte des Hauses eine Feuerstelle aus Steinen an und an der Giebelseite hatten sie ein Loch gelassen, durch das der Qualm abziehen konnte. Hardo nannte es „Windauge“. Der Tischler zimmerte ihnen noch eine anständige Tür und das Haus war fertig. Der ganze Bau hatte ungefähr sechs Wochen gedauert.
Ihre Hütte war größer als Abilas, aber nicht so groß wie Hardos, der unter seinem Dach mehr Leute und noch einige Tiere beherbergte. Sie selbst hatten nur Godo.
Dagalo war im Vorfeld so freundlich gewesen, sich um den Besitz der Beiden zu kümmern. Er hatte Hardos Ziegen genommen, jede Menge Stricke und sich auf zu der verlassenen Hütte gemacht. Da sie nicht viel ihr Eigen nannten, reichte ein einziger Gang. Am schwersten war Berinhards Schwert und der Kessel. Doch die Ziegen brachten alles unter Dagalos Führung unbeschadet in die Siedlung und so konnten Sunja und Berinhard gleich ihren Besitz im neuen Heim unterbringen.
„Fertig!“ Sunja stemmte die Hände in die Hüfte und schaute sich zufrieden um. Berinhard stellte sein Schild an die Wand, trat zurück, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und nickte.
„Sieht besser aus, als ich gedacht hätte.“
„Ich werde Abila holen, sie soll es sich als Erste ansehen.“
„Du magst sie sehr, nicht war?“
„Ja“, sagte Sunja und dachte kurz darüber nach. „Schon eigenartig, wenn man bedenkt, dass sie uns nicht hier haben wollte.“
„Aber auch zu verstehen. Genau kann man das nicht sagen, aber sie hat uns vielleicht schon zweimal das Leben gerettet.“
„So ist es!“ Sunja gab Berinhard schnell einen Kuss und ging mit großen Schritten zu der Heilerin.
„Sehr schön. Das habt ihr wirklich gut gemacht.“
„Wir und Hardo“, erklärte Berinhard.
Abila nickte anerkennend und wandte sich an Sunja: „Jetzt, wo ihr fertig seid, möchte ich dich etwas fragen. Ich brauche jemanden, der mir bei meiner Arbeit hilft. Ich habe beobachtet, wie du dich um Berinhard gekümmert hast als er krank war. Dagalo ist ein guter Mensch, aber seine Kräfte lassen nach und ich muss darüber nachdenken, wer später seine Aufgaben übernehmen wird. Ich möchte dich anlernen. Ich werde dir zeigen, wie man Knochenbrüche und Wunden heilt. Ich möchte dir die Heilkräfte der Pflanzen, Tiere und Steine erklären und noch vieles mehr. Was meinst du dazu?“
„Warum ich und nicht Berinhard? Er hat mehr Ahnung vom Heilen.“
„Ja, das hat er. Ich kann ihn mir aber nicht vorstellen, wie er tagelang am Lager eines ihm fremden Kranken zubringt und sich kümmert. Das gehört auch dazu.“
Berinhard nickte. „Ich kann nicht leugnen, dass mir das schwerfallen würde.“
„Und das ist nicht der einzige Grund warum ich ihn nicht unbedingt anlernen möchte. Er ist größer und kräftiger als die meisten anderen Männer im Dorf. Diese Kraft werden wir brauchen.“ Sunja sah zu ihm hin. Berinhard war tatsächlich recht groß, schon in der Feste war ihr das aufgefallen, aber das Haardtvolk schien allgemein noch kleiner zu sein als die Menschen, die um den Bergwald wohnten. Abila war kleiner als sie selbst. Auch Dankrun, von der Sunja wusste, dass ihr Vater aus dem Bergwald kam, war nicht sehr groß gewesen.
„Was ist, möchtest du etwas von mir lernen?“, fragte Abila und riss Sunja aus ihren gedanklichen Vergleichen.
„Ja natürlich, sehr gerne! Ich danke dir für dein Vertrauen und hoffe, dass ich dich nicht enttäuschen werde.“
„Keine Sorge, das wirst du nicht.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Frank, den ich liebe und der seit vielen Jahren das klappern meiner Tastatur erträgt.

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