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Vorsicht!

Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um Bonusmaterial zu meinen Romanen "Leben im Käfig" und "Nach der Hölle links. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass sie kräftig mit Spoilern belastet ist. Wer die Bücher nicht kennt, sollte daher vielleicht ein Häuschen weiterziehen, bevor er sich evtl. späteren Lesespaß verdirbt. ;) 

Heute wie morgen

„Das kann nicht richtig sein. Ich meine, schau dir das mal an! Das Ding passt höchstens einem Affen!“

Saschas Gezeter rang Andreas‘ Spiegelbild ein dünnes Lächeln ab. Er sah zu, wie seine eigene Zungenspitze über die trockene Unterlippe tanzte und wieder verschwand und wünschte, auch er könnte sich an einen warmen, dunklen Ort zurückziehen. Oder wenigstens auf die heimatliche Couch mit einer Flasche Bier in der einen und einer Tüte Lebkuchen in der anderen Hand.

Er rang nach Atem und versuchte, seine Erscheinung aus der Perspektive eines Außenstehenden zu betrachten. Ordentlich rasiert, geduscht, gewaschen und aufgeputzt wie ein Zirkuspferd. Der Kragen seines Oberhemds war viel zu eng. Aus seinem Pferdeschwanz waren schon wieder ein paar Strähnchen hervorgekrochen und tanzten ihm ums Gesicht. Vielleicht sollte er es so lassen. Immerhin lenkten die losen Haare davon ab, dass er bleich wie Milch war.

Die Badezimmertür flog auf und schlug krachend gegen die Wand.

„Ich weiß, ich habe das schon mal gefragt, aber muss ich das Ding wirklich umbinden? Wirklich, wirklich?“

Andreas verbiss sich ein Grinsen und schloss augenblicklich Frieden mit seiner Frisur. Sascha sah im Gegensatz zu ihm aus, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Daran konnten auch die braunen Highlights nichts ändern, die er sich zur Feier des Tages widerstrebend hatte färben lassen.

„Um das schwarze Einerlei ein bisschen zu brechen“, hatte die Friseurin, zu der man sie gemeinsam geschickt hatte, argumentiert.

In Wirklichkeit stand dahinter wohl eher der Versuch, Sascha massenkompatibler zu machen. Immerhin hatte man auch Andreas scheinheilig gefragt, ob er schon mal daran gedacht hätte, sich von seiner Matte zu trennen. In Erinnerung an das letzte Mal, dass er einen Kurzhaarschnitt getragen und was dahintergesteckt hatte, hatte er höflich, aber vehement abgelehnt.

„Dein Schweigen heißt vermutlich ja.“ Sascha zerrte an seiner Fliege. Sie war schief gebunden und sah aus, als hätte sie eins mit der Fliegenklatsche abbekommen. „Hemd? Okay. Sakko? Auch. Aber Smoking mit Kummerbund? Und Schleife um den Hals?“

Andreas ließ das Waschbecken los – er hatte gar nicht bemerkt, dass er es umklammerte - und ging auf Sascha zu.

„Kinn hoch“, kommandierte er, bevor er die störrische Fliege neu band. „So, das sollte besser sein.“

Sascha zog die eckigen Augenbrauen hoch und stellte sich auf die Zehenspitzen, um an Andreas vorbei einen Blick in den Spiegel zu werfen. „He, wie hast du das gemacht? Hast du heimlich geübt?“

„Ja“, gab Andreas unumwunden zu. „Ich hatte keine Lust, dass wir an der Kirche ankommen und sofort jemand anfängt, an mir herumzuzupfen. Mir reicht meine eigene Hysterie.“

Saschas sauertöpfische Miene wurde weicher. Mit einer Hand zog er Andreas an sich heran, die andere legte er ihm in den Nacken.

„Sehr nervös?“, fragte er leise.

Andreas spürte eine Welle aus Angst über sich hinwegrollen. Sie war ihm so vertraut wie ein ehemaliger Freund, den man nach langer Zeit wiedersah, obwohl man lieber darauf verzichtet hätte.

„Kommt darauf an, welchen Maßstab man anlegt“, murmelte er. „Im Gegensatz zu früher ist es eine Schlittenfahrt.“

„Aber für heutige Verhältnis eher nicht“, beendete Sascha die Bestandsaufnahme.

„Genau.“

Andreas fragte sich, warum ihn die Vergangenheit gerade heute so hartnäckig bedrängte. Doch bei genauerer Betrachtung war es gar nicht so außergewöhnlich. Ein besonderer Tag stand ihnen bevor. Ein Tag, an dem sich Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden sollten. Da war es naheliegend, dass ihm das Gestern genauso aufdringlich durch die Gedanken geisterte wie das Morgen.

Himmel, sie waren einen langen Weg gegangen, seitdem Sascha damals bei ihm geklingelt und nach dem Baseball gefragt hatte, den sein Cousin über die Hecke geschossen hatte. Andreas wusste bis heute nicht, ob ihn diese ersten Wochen und Monate ihrer Bekanntschaft im Nachhinein gruselten oder mit Dankbarkeit erfüllten.

Sascha war wie ein warmer Regen gewesen, ein Lichtblick in unendlicher Finsternis. Gleichzeitig hatte er Andreas vor Augen geführt, wie schlimm die Situation war, in die er sich über die Jahre hineinmanövriert hatte. Durch ihn hatte er begriffen, dass er nicht länger verharren und auf eine wundersame Verbesserung seiner Lage hoffen durfte. Dass er kämpfen musste. Also hatte er sich in den Krieg gestürzt, auf ein unsichtbares Schlachtfeld, das nur im eigenen Kopf existierte.

„Niemand wird es dir übelnehmen, wenn du zwischendurch verschwindest“, erinnerte Sascha ihn. „Am Ende ist es immer noch eine Familienfeier. Nicht mehr.“

Andreas schnaubte. „Schöne Familienfeier, auf der ich gefühlt neunzig Prozent der Leute nicht kenne, die dafür aber umso mehr über mich zu wissen glauben.“

„Wenn es ganz hart kommt, betrinke ich mich und springe nackt ins Taufbecken. Dann kannst du dir sicher sein, dass niemand auf dich achten wird.“

Andreas verzichtete auf den Hinweis, dass man sehr wohl auf ihn achten würde, wenn sein Partner über die Stränge schlug. Doch es kam auf den guten Willen an. Sascha hatte inzwischen viele Techniken entwickelt, ihm Sicherheit und Ruhe wiederzugeben, wenn sie ihm abhandengekommen waren. Ihn zum Lachen zu bringen und dadurch abzulenken, war nur eine davon.

Das änderte jedoch nichts daran, dass ihnen ein langwieriger Gottesdienst bevorstand, bei dem er eben doch nicht heimlich flüchten konnte. Dieses Privileg besaßen allenfalls die Gäste im Kirchenschiff; nicht aber die unter ihnen, die an der Zeremonie beteiligt waren. Aber man hatte ihn gefragt, er hatte Ja gesagt und nun musste er mit dem Schlamassel leben.

Mit einem Stoßseufzer neigte er sich nach vorn und legte die Stirn an Saschas Schulter. „Ich will nicht“, murmelte er.

„Und genau das sind die Worte, die heute mit Sicherheit niemand hören will.“

 

***

 

Man sah der kleinen Kapelle im Alten Land nicht an, dass die Feiertage kurz bevorstanden. Gott allein wusste – in diesem Fall wortwörtlich? -, wie Andreas‘ Mutter dafür gesorgt hatte, dass sämtlicher Advents- und Weihnachtsschmuck ihren eigenen Dekorationen gewichen war. Kein Gang ohne ein eigenes Gesteck mit weißen und zartrosa Rosen, dazu genug Blumengirlanden, um ein Kreuzfahrtschiff zu behängen und von den beiden turmhohen Rosenpyramiden rechts und links des Altars wollte Sascha gar nicht erst anfangen. Zugegebenermaßen hatte die pompöse Aufmachung der Kapelle den Vorteil, dass er sich auf einmal deutlich weniger overdressed fühlte.

Er sah hinab auf seine schlichten, schwarzen und auf Hochglanz polierten Lederschuhe. Was ihn betraf, hätten sie genauso gut von Deichmann stammen können, aber was sie gekostet hatten, wollte er lieber nicht wissen. Sonst würde er noch auf die Idee kommen, sie auf EBay zu verhökern. Nicht, dass es ihm an Geld mangelte – an Andreas‘ Seite war das praktisch unmöglich -, aber er könnte den Erlös an irgendeine Einrichtung spenden. Vielleicht an das Hamburger Tierheim oder an eine Organisation, die Menschen half, die unter der Wohlstandsgesellschaft in Europa litten.

Wenn er einmal dabei war, konnte er gleich den lächerlich teuren Anzug folgen lassen. Wahrscheinlich würde Andreas sich liebend gern anschließen. Er war genauso wenig begeistert gewesen, sich von einem Schneider vermessen, mit edlen Stoffen bewerfen und zu etlichen Anproben rennen zu müssen.

Und alles nur, damit die Anzüge nach ein paar Stunden in die Ecke flogen, die Schuhe gleich hinterher und die Blumen abgesehen von einer Handvoll Rosen als Erinnerung auf irgendeinem Müllhaufen landeten. Natürlich konnte man zehntausende von Euro für eine Hochzeit ausgeben. Man konnte es aber genauso gut bleiben lassen.

Sascha rutschte unruhig auf seinem Platz umher. Das Scharren der Stuhlbeine hallte im Chorraum wider und ließ ihn das Gesicht verziehen. Verdammte Akustik. Er musste unbedingt daran denken, während der Zeremonie den Mund zu halten. Bestimmt konnte man jedes Wort bis in die letzte Reihe hören und er konnte darauf verzichten, für Gelächter oder Stirnrunzeln zu sorgen. Beides würde unnötige Aufmerksamkeit erzeugen und Andreas stressen.

Vorsichtig tastete Sascha nach seiner Hosentasche, nur um sich zu erinnern, dass er den Blister mit den Tabletten in die Innenseite seines Sakkos geschoben hatte. In der eng geschnittenen Hose hatte er sich zu deutlich abgezeichnet.

Eigentlich war Andreas schon lange nicht mehr auf eine Notfallmedikation angewiesen. Das letzte Mal, als er sie  gebraucht hatte, hatten sie in der U-Bahn festgesteckt, nachdem irgendwo auf halber Strecke zwischen Jungfernstieg und Stephansplatz ein unidentifiziertes Objekt aufgetaucht war. Und ehrlich? Als die Luft in dem überfüllten Waggon immer knapper geworden war, die Leute hysterisch von einem Terroranschlag faselten und eine Gruppe Kindergartenkinder Amok lief, war Sascha sich nicht sicher gewesen, wer die Tabletten nötiger hatte: Andreas, er oder doch die anderen Fahrgäste.

Heute aber hatte er sie eingesteckt. Nur für den Notfall. Weil er wusste, wie wichtig Andreas dieser Tag war. Wie wichtig es ihm war, dieses eine Mal aufrecht zu stehen und sich keine Blöße zu geben. Man hätte meinen können, dass es um seine eigene Hochzeit ging.

Sascha widerstand dem Drang, die Beine zu verknoten oder vor sich hinzuzappeln, und sah sich zur Kanzel um. Dort stand neben dem Priester, Pastor, Pfarrer oder was auch immer er sein mochte Richard von Winterfeld im feinen Zwirn und war ebenso blass um die Nase wie sein Sohn.

Warum nur? Immerhin war dies nicht seine erste Hochzeit und darüber hinaus hatte er Erfahrungen mit großen Auftritten. Das brachte es mit sich, wenn man in einem Familienkonzern arbeitete, der weit über die europäischen Grenzen hinaus bekannt war. Es war alles eine Frage der Repräsentation, besonders, nachdem sich Andreas‘ Großvater endgültig aus der Firma zurückgezogen hatte.

Auch Gustav von Winterfeld musste irgendwo in der Kapelle sein, wenn auch wohl hoffentlich nicht, um die Braut im letzten Moment umzustimmen. Ganz sicher konnte man sich bei dem alten Magnaten nie sein.

Sascha hatte ihn in den vergangenen Jahren oft getroffen und bis heute Schwierigkeiten, ihn richtig einzuschätzen. Und das wollte etwas heißen. Immerhin galt er zumindest unter den Kollegen im Jugendamt als jemand, der einen verdammt guten Riecher für Menschen und deren Kümmernisse hatte. Aber Andreas‘ Großvater bekam er nicht zu fassen. Er wusste bis heute nicht, wie der alte Mann zu Andreas‘ und seiner Beziehung stand oder ob er Sascha mochte oder nicht. Letzteres war allerdings nicht ungewöhnlich, da niemand sicher war, ob Gustav nach mehr als zwei Jahrzehnten der Bekanntschaft auch nur seinen Schwiegersohn leiden konnte.

„Oh nein, nicht das auch noch.“ Andreas hatte so leise gesprochen, dass seine Stimme nicht richtig ins Schwingen gekommen war. Trotzdem waren seine Worte deutlich zu verstehen.

Wie ich mir schon dachte. Verdammter Chorraum, dachte Sascha und folgte Andreas‘ Blickrichtung. Anschließend musste er sich ein Auflachen verbeißen.

Hinter ihnen hatte sich die Tür zu der winzigen Sakristei geöffnet und eine wuchtige junge Frau schob schimpfend eine Konzertharfe auf den Altar zu. Sascha hörte sie etwas von Höchste Zeit und Wir hätten vorher temperieren müssen zischeln. Spontan bedauerte er die Harfenistin. Sollte ihr Instrument auch nur den Bruchteil eines Tons daneben liegen, würde die Braut sie mit dem Kerzenleuchter erschlagen und als Opfer für eine erfolgreiche Ehe darbringen.

Keine Kompromisse, keine Fehlschläge, keine Stolperfallen. Nicht heute.

Und auch das konnte Sascha irgendwie verstehen, selbst wenn er den aufgefahrenen Prunk noch so albern fand.

Wie eine dieser Promi-Hochzeiten, bei denen die Bilder länger auf Twitter und Instagram trenden als die Ehe hält.

Es war ein hässlicher Gedanke, und zwar nicht zuletzt, weil er Saschas ureigensten Befürchtungen entsprang. Befürchtungen, die nicht zu einem Tag wie diesem passten. Aber er bezweifelte, dass er mit ihnen allein war. Selbst wenn es nicht eine einzige Person in der Kirche geben sollte, die ebenso empfand, dann vergingen doch sicher nur wenige Hochzeiten, ohne dass sich jemand fragte, wann das Debakel über das Brautpaar hereinbrechen würde.

Andererseits: In diesem besonderen Fall hatten sie eigentlich schon alles hinter sich, was es an Debakel geben konnte und nicht gleich auf eine Beerdigung hinauslief.

Andreas‘ Hand strich an seiner entlang. Sascha sah zu ihm hinüber. Das leise Zucken von Andreas‘ Brauen verriet ihm mehr, als er sich als Jugendlicher je hätte vorstellen können. Damals hatte er es für undenkbar gehalten, dass man einen anderen Menschen jemals so gut kennen, so sehr mit ihm im Einklang sein könnte, dass winzigste Regungen ganze Gespräche ersetzten.

In diesem Fall standen die Berührung und Andreas‘ Mienenspiel grob für Wenn du weiter so verkrampfst in die Gegend starrst, verwelken die Blumen.

Und er hatte recht: Dies war weder der rechte Zeitpunkt noch der richtige Ort für trübe Gedanken über Ehen, die zum Scheitern verurteilt waren.

Als wäre Chronos derselben Meinung, setzte plötzlich mit unerwarteter Lautstärke die Orgel ein. Der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn-Bartholdy verwob sich in der kleinen Kapelle zu einem Klangteppich, der vorn im Chorraum Wellen zu schlagen schien. Wie ein Mann erhoben sich die Gäste von ihren Plätzen. Aus den Augenwinkeln sah Sascha Richard ein letztes Mal an seinen Manschettenknöpfen zupfen, der Geistliche hatte seinen Platz vor dem Altar eingenommen und dann öffneten sich die Flügeltüren, um die Braut in den Gang schreiten zu lassen.

Genau wie Margarete darauf verzichtet hatte, sich von Vater oder Sohn zum Altar führen zu lassen, trug sie auch kein klassisches Brautkleid mit Schleier und Schleppe. Stattdessen umspielte sie ein enganliegendes, champagnerfarbenes Abendkleid mit hohem Kragen und einer Unzahl an Perlenstickereien. Es war eigens für sie entworfen und ihr auf den Leib geschneidert worden und stand ihr entsprechend sehr gut.

Für Sascha war das Kleid jedoch weniger augenfällig als die Verwandlung, die Andreas‘ Mutter durchgemacht hatte und gerade in dieser Garderobe nicht zu übersehen war. Obwohl sie immer noch eine schlanke Frau war, die niemand guten Gewissens als füllig oder wohlgenährt bezeichnen konnte, hatte sie in den vergangenen Jahren ihre Zerbrechlichkeit abgelegt. Sascha wusste nicht, wie viel sie in Zahlen zugenommen hatte, aber aus einer kraftlosen Frau am Rande des Zusammenbruchs war eine rotwangige Kämpferin geworden, die sich dem Leben stellen konnte – und bereit war, sich ein zweites Mal auf die Ehe einzulassen.

Er bewunderte ihren Mut und lächelte ihr trotz mancher Bedenken entgegen. Dass Andreas seine Hand genommen hatte, wurde ihm erst bewusst, als dessen Finger seine drückten.

Jedes Paar beschritt seinen eigenen Weg. Und sie hatten auf ihrem einen Punkt erreicht, an dem eine Berührung so selbstverständlich war, dass ihr Fehlen eher auffiel als ihre Anwesenheit.

Noch etwas, das Sascha nie erwartet hätte, aber das ihn auf eine schlichte und leise Weise glücklich machte.

 

***

 

Behutsam stellte Andreas sein Champagnerglas auf einen Lautsprecher. Er hatte sich in eine dunklere Ecke neben der Bühne zurückgezogen, um etwas zu verschnaufen und die Feiernden aus sicherem Abstand zu beobachten. Zum wiederholten Mal an diesem Abend war ihm danach, den Kopf zu schütteln oder sich die Augen zu reiben. Wenn die Kapelle schon pompös ausstaffiert gewesen war, war das nichts gegen den Garten der Winterfeld-Villa.

Seine Mutter hatte nichts dem Zufall überlassen, als sie ihre Winterwunderland-Hochzeit geplant hatte. Für jedes Wetterereignis hatte ein Notfallplan vorgelegen. Ein warmer Dezember? Nichts, was man nicht mit etwas Kunstschnee und künstlichem Eis auf dem Pool regulieren konnte. Regen? Kein Problem, dafür hatte man die großen Festzelte mit Holzböden aufgestellt. Kälteeinbruch? Erst recht kein Thema, wo doch überall Heizpilze verteilt standen und den Garten in eine ganz eigene Klimazone schubsten.

Für Andreas‘ Geschmack war das Fest bedeutend zu amerikanisch. Zu viel Glitzer, zu abgefahrenes Essen, zu viele Lichterketten, Blumen, Eisskulpturen und anderer Schickschnack. Aber seine Eltern strahlten und hielten sich wie ein tatsächlich jungvermähltes Paar an den Händen, wenn sie nicht ohnehin miteinander tanzten. Und solange sie diese Explosion aus Perlenschnüren, Zuckerguss und Swarowski-Kristallen glücklich machte, war Andreas ebenfalls zufrieden.

Er warf einen Blick in Richtung Grillstation und Buffett. Inzwischen war die zweite Fresswelle vorüber und die angeheuerten Köche und Servicekräfte waren nicht mehr ganz so ausgelastet wie vor einer Stunde. Dennoch waren sie ständig damit beschäftigt, Straußensteaks zu grillen, Teller mit Muscheln, Tigergarnelen und Fischhappen anzurichten und allgemein für Ordnung am reichhaltigen Buffett zu sorgen. Zweifelsohne hatten sie Anweisung, selbst dem letzten hungrigen Gast eine reiche Auswahl an Desserts, Salaten, ausgefallenen Appetithappen und drei Sorten Kaviar anzubieten.

Andreas wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie viel Essen in dieser Nacht im Müll landen würde. Nicht, dass er großartig mit dem Zeigefinger wackeln durfte: Laut Sascha hatte er genug Wildlachs in sich hineingestopft, um ein ganzes Aquarium leerzufuttern. Immerhin war es die Hochzeit seiner Eltern und welcher Sohn konnte von sich behaupten, die miterlebt zu haben? Erst recht als Trauzeuge?

Eine drahtige Frau im Hosenanzug entdeckte ihn auf seinem Beobachtungsposten und zwinkerte ihm zu, unterhielt sich jedoch weiterhin mit ihren Gesprächspartnern.

Andreas zwinkerte zurück.

Er mochte Maria Bianchi, die ehrgeizige Halbitalienerin, der er vor rund zwei Jahren im Zuge eines Besuchs in der Firma zum ersten Mal begegnet war. Und selbst wenn er sie nicht gemocht hätte, hätte er dem Schicksal immer noch auf Knien gedankt, dass es sie gab.

Seitdem Maria in die Geschäftsleitung des Familienkonzerns eingetreten war, war ihm der letzte Druck von den Schultern gewichen. Sie übernahm nun die Rolle, die ihm einst zugedacht gewesen war: Sie führte an der Seite seiner Eltern die Geschicke der Firma und erlaubte Andreas damit, seine Beteiligung an der Firma so gering wie möglich zu halten.

Sicher, wenn man ihn um seine Meinung bat, sagte er etwas, falls er sich dazu in der Lage sah. Als Anteilseigner konnte er den Konzern nicht vollkommen ignorieren, aber er war nicht zu seiner Lebensaufgabe geworden und dafür war er jeden einzelnen Tag dankbar. Er war viel glücklicher, seine Zeit zwischen dem Tierheim, seinem kleinen Benefizprojekt für Hamburger Jugendliche aus einkommensschwachen Familien und seinem Privatleben aufzuteilen. Brain hatte mal aus Jux gemeint, er wäre quasi die Charity-Lady an Saschas Seite und trotz des lautstarken Gelächters war da etwas Wahres dran.

Abgesehen von der Lady natürlich.

Ein leichtes Schwindelgefühl ergriff von Andreas‘ Besitz. Sein erster Impuls war, es rigoros beiseite zu drängen. Aber dann fügte er sich. Es war nicht schlimm, allmählich müde zu werden. Langsam zu spüren, dass die vielen Menschen ihm zu schaffen machten.

Seit der letzten Party in diesem Garten war er unendlich weit gekommen. Eine Party, auf der sein Vater ihm eine Frau an die Seite gestellt hatte, damit er erwachsen werden konnte. Eine Party, die ihm schmerzlich bewusst gemacht hatte, wie weit er sich in seinen Ängsten verstrickt hatte. Es hatte zwar noch etwas gedauert, bevor er das Problem bei den Hörnern gepackt und etwas unternommen hatte, doch die damalige Feier hatte einen von mehreren Mosaiksteinchen dargestellt, die sich letztendlich zu einem düsteren Bild vereint und Taten erfordert hatten.

Und heute war er an einem Punkt angelangt, an dem er eine ausführliche Zeremonie und eine endlose Feier mit hunderten Gästen überstand, bevor er an seine Grenzen geriet. Es war einer von vielen Siegen, die er errungen hatte, und er hatte sich fest vorgenommen, nicht einen einzigen für selbstverständlich zu halten.

Andreas verabschiedete sich nicht weitschweifig, schlich aber auch nicht davon, als ob er etwas zu verbergen hätte. Das Schwindelgefühl nahm zu, als er sich durch die Gäste zum Zelteingang bewegte und auf die Terrasse zustrebte. Dort angekommen sah er sich noch einmal um, lachte leise über die künstlichen Schwäne auf dem Pool und trat dann durch die Schiebetür ins Haus.

Das Wohnzimmer, das ihm einst so steril und unfreundlich vorgekommen war, lag verlassen da. Nur die Kunststoffläufer zwischen den Türen verrieten, dass es an diesem Tag die Rennstrecke zwischen Küche, Gästebädern und Garten darstellte. Doch inzwischen hatten sich schon viele Gäste verabschiedet und auch seine Eltern würden bald aufbrechen. Zweite Flitterwochen auf Hawaii. Sascha und Andreas hatten es sich nicht nehmen lassen, ihnen heimlich ein paar leere Konservendosen ans Auto zu binden. Insofern würde er es mitbekommen, wenn sie abfuhren und ihnen innerlich eine gute Reise wünschen.

Nach oben zu gehen und sein altes Zimmer zu betreten löste eine Reihe seltsamer Gefühle in Andreas aus. Die meisten wurzelten in der Frage, was aus ihm geworden wäre, wenn Sascha nicht in sein Leben getreten wäre. Ihn nicht wachgerüttelt hätte.

Würde er dann immer noch in diesem einen Zimmer leben, sich vor der Außenwelt fürchten und jedes Mal, wenn er aus der Haustür trat, in Schweiß ausbrechen?

Die Vorstellung jagte Andreas nicht mehr ganz so viel Angst ein wie früher – dafür hatte er sich zu sehr von seinem damaligen Selbst entfernt -, aber sie war immer noch eindringlich genug, um ihn auf der Hut sein zu lassen. Er wollte nie wieder sein eigener Gefangener sein, nie wieder nachts wachliegen und sich nach einer Freiheit sehnen, die er sich selbst stahl.

Er setzte sich auf sein altes Bett. Von draußen klangen Musik und Stimmengewirr zu ihm hinauf, aber sie weckten keine Sehnsucht in ihm und auch kein Gefühl von Eigentlich sollte ich dort unten sein und mit den anderen feiern. Er war satt, hatte ein bisschen mehr Champagner getrunken, als gut für ihn war, und neben dem Pflichtprogramm auch den größten Teil der Kür mit Bravour überstanden. Was wollte er mehr?

Triton hier, beantwortete er sich die Frage selbst. Und natürlich Sascha.

Sie hatten Triton Mandys liebevoller Pflege überantwortet. Sie hätten ihm keinen Gefallen getan, ihn während der Feier in diesen Raum zu sperren, und um ihn frei im Garten herumlaufen zu lassen, waren ihm fremde Menschen zu suspekt. Da konnte er besser bei Mandy auf der Couch liegen und schnarchen, bis sie ihn morgen wieder abholten.

Und Sascha… Der sollte weiterfeiern, solange ihm danach zumute war. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis er merkte, dass Andreas verschwunden war und die Gelegenheit nutzen, ihm früher oder später zu folgen. Und das würde er. Das tat er immer.

Andreas löste seine Fliege und warf sie auf den Nachttisch, bevor er sich nach und nach die Kleidung abstreifte. Anschließend kroch er unter die Decke und grinste, als das Bett unter seinen Bewegungen auf altvertraute Weise ächzte. Er klopfte eines der Kissen zurecht und schloss mit gutem Gewissen die Augen.

Schlagartig glitt jedes Gefühl von Unbehagen oder Schwindel von ihm ab und er in einen Zustand der Erholung hinüber. Ein Zustand, in dem er weder schlief noch richtig wach war, sondern losen Gedankenenden nachhing. Manche beschäftigten sich mit dem heutigen Tag und dem zweiten Versuch seiner Eltern, eine vernünftige Ehe zu führen, andere mit Belanglosigkeiten wie der Frage, ob die Eier im Kühlschrank wohl abgelaufen waren und wann während der Feiertage der Müll abgeholt wurde.

Alltäglichkeiten, schlichte Überlegungen, Normalität, die so weich und warm war, dass man sich in ihr verlieren konnte.

Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, denn als er wieder zu sich kam, war es im Garten nahezu still und auch das Klappern und Rumoren in der Küche war verstummt. Dafür hörte er verräterische Geräusche aus dem Bad, die von einer Reihe deftiger Flüche begleitet wurden.

„Drecksding, beschissenes. Das ist jetzt schon das dritte Mal! Ich lern’s echt nicht mehr.“

Andreas grinste in sich hinein. Er brauchte keine weiteren Erklärungen. Nicht beim dritten Mal, wie Sascha ganz richtig mitgezählt hatte.

Er rieb sich kurz die Augen, gähnte herzhaft und tapste anschließend hinüber ins Bad. Wie erwartet stand Sascha schimpfend vor dem Waschbecken. Die Hose hatte er bereits ausgezogen, aber das Hemd hing ihm noch halb auf einer Schulter und drohte jeden Augenblick zu Boden rutschen.

Andreas lehnte sich in den Türrahmen. Er machte sich keine Mühe, die Belustigung aus seiner Stimme zu verbannen. „Na, Herr von Winterfeld? Ist Ihnen mal wieder der Ehering in den Ausguss gerutscht?“

Sascha warf ihm einen halb belustigten, halb genervten Blick zu. „Spar dir den Spott. Dieser Scheißring ist schlüpfriger als ein Aal, wenn Seife drankommt. Und wenn mir das auch nur noch ein einziges Mal passiert, landet er wirklich bei den Fischen!“

„Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt.“

Andreas konnte es nicht erklären, aber Saschas Kampf mit seinem Ehering versetzte ihm oft heftigeres Herzflattern als manche geflüsterte Liebeserklärung. Denn egal, wie sehr Sascha grollte und fluchte: Er tat jedes Mal alles, um den entflohenen Ring zurückzubekommen, und wäre zweifelsohne am Boden zerstört, sollte er ihn jemals dauerhaft verlieren.

Sie hatten keine große Hochzeit abgehalten. Genau genommen hatten sie nicht einmal jemanden verraten, dass sie heiraten wollten. Es war ihr Tag gewesen, leise, innig und besser als alles, was Andreas sich je erträumt hatte. Und hätte Sascha nicht seinen Namen angenommen und sich damit auf der Arbeit als verheirateter Mann outen müssen, hätten sie es vielleicht überhaupt keinem erzählt.

Andreas wäre mit einer heimlichen Ehe genauso einverstanden gewesen wie damit, ein Suhrkamp zu werden. Aber Sascha hatte ihm nur einen Vogel gezeigt, gemeint, dass sein Großvater in Ohnmacht fallen würde, wenn der gute Name von Winterfeld aus der Geschichte gestrichen würde und dass er außerdem wirklich nicht scharf darauf war, weiterhin mit den Initialen SS herumzulaufen. So toll wären die ja nun wirklich nicht.

Und damit war es geschehen. Sie beide, aneinandergebunden, zusammen. Eine Einheit.

Im Grunde hatten die Ringe nichts verändert. Sicher, sie unterlagen jetzt anderen Steuersätzen, waren abgesichert, falls einem von ihnen etwas zustoßen  sollte, und Sascha musste sich ganz offiziell genau wie Andreas nie wieder Gedanken um Geld machen. Aber sie selbst… Sie waren dieselben geblieben.

Und Andreas erwischte sich trotzdem dabei, dass er manchmal in Gedanken Saschas neuen Namen wiederholte und halb stolz, halb selbstzufrieden Meins! dachte.

Sascha, der mit der Taschenlampe seines Handys in den Ausguss geleuchtet hatte, sah auf. „Willst du nur zugucken oder organisierst du mir endlich mal eine Rohrzange?“

Aber selbst wenn Andreas sich sicher gewesen wäre, dass sich entsprechendes Werkzeug im Haus befand – seine Eltern tauschten kaum mal selbst eine kaputte Glühbirne aus, geschweige denn, dass sie etwas reparierten -, hätte er sich nicht auf die Suche danach begeben. Sein Hals war plötzlich eng, seine Lippen zu trocken und seine Brust so weit, als hätte sich ein unsichtbarer Ballon darin aufgebläht.

„Lass ihn drin. Bis morgen“, sagte er heiser.

„Im Siphon? Das ist ekelig.“

„Er ist aus Edelstahl. Da kommt schon nichts dran.“ Andreas überwand die wenigen Schritte zwischen ihnen und stellte sich hinter Sascha, damit er ihm durch den Spiegel in die Augen sehen konnte. „Komm ins Bett“, fügte er leise hinzu.

Nun, da sie sich so nah waren, kribbelten seine Lippen. Er wollte mit ihnen jeden Fleck an Saschas Körper berühren, ihn so neugierig und ausdauernd erkunden, wie sie es vor vielen Jahren schon einmal in diesen Wänden getan hatten.

Sascha legte kurz den Kopf schief. Dann lächelte er, blinzelte langsam und lehnte sich rückwärts an Andreas‘ Brust. „Überzeug mich.“

Andreas legte die Arme um ihn und das Gesicht an seinen Nacken. „Ich brauche dich“, sagte er schlicht.

Sascha drängte sich dichter an ihn. „Das ist gemogelt. Du weißt, dass ich nicht anders kann, wenn du mich brauchst. Das hat nichts mit Überzeugungsarbeit zu tun.“

„Ich weiß. Schlimm?“

„Nein, aber ich hoffe, du schämst dich.“ Saschas Hände legte sich an die Außenseite seiner Oberschenkel und fuhren sacht daran entlang.

Andreas fuhr mit der Zungenspitze über Saschas Halsansatz. „Kein Stück.“

„Und dafür bin ich stolz auf dich.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Raik Thorstad
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: Wie in alten Zeiten unlektoriert & unkorrigiert
Satz: Me, myself and I
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2019

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