Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um Bonusmaterial zu meinem Roman Find me, keep me. Entsprechend ist der Text spoilerbelastet. Wer sich also nicht ein evtl. später kommendes Leseerlebnis verderben lassen will, sollte an dieser Stelle nicht weiterblättern. ,)
Meine Fresse, hab ich die Nase voll. Ich will einfach nur noch ins Bett, Handy aus, niemandem mehr sehen, nichts mehr hören.
Es ist einer dieser Tage, die man zerknüllen und in die Tonne feuern will.
Es ging heute Morgen zwar nicht mit einem kaputten Wecker los oder mit einem Handy, das im Klo gelandet ist, aber die verkippte Milch auf dem Tisch – und auf dem Boden und auf Bellas Schultasche – hat mir schon gereicht. Dann kam auch noch der Terror mit den angeblich komisch schmeckenden Cornflakes dazu, die fehlende Socke, die Stifte, die Draco sich von Lilly geliehen hat, ohne zu fragen, und das verlorene Formular für Bellas Wandertag, das zwingend heute abgegeben werde musste, wenn sie mit ihrem Hintern nicht daheimbleiben will. Und das alles, bevor ich auch nur zum Zähneputzen gekommen bin.
Manchmal würde ich am liebsten die Fenster aufreißen und schreien. Oder eine Tür eintreten. Das ist nicht erwachsen und bringt auch nix, aber es würde sich bestimmt gut anfühlen.
Früher hätte ich vielleicht beides gemacht. Aber inzwischen wohnen wir nun einmal nicht mehr in Siffhausen-Nord. Unsere neuen Nachbarn halten nichts von morgentlichen Schreianfällen und unser Vermieter nichts von durchgetretenen Türblättern. Eine der wenigen negativen Folgen unseres Umzugs.
Wo wir gerade von negativen Folgen sprechen: Den nächsten Zusammenstoß hatte ich dann prompt im Treppenhaus. Frau Lindemann, diese überspannte Ziege, hat mich abgefangen und mich angepfiffen, weil meine liebe Frau Mutter mal wieder die Kehrwoche versäumt hat.
Kehrwoche! Wo gibt es denn sowas noch? Und wie soll ich meiner Mutter klarmachen, dass es nicht gut kommt, wenn sie solche Sachen ignoriert? Was bringt uns eine schicke neue Wohnung, wenn wir es uns von Anfang an mit sämtlichen Nachbarn verscherzen?
Die gucken uns sowieso schon alle schief an. Von Anfang an. Alles Idioten, wenn man mich fragt. Als wäre irgendeiner im Haus was Besseres als wir. Dabei sind die genauso stinknormal wie wir.
Im zweiten Stock zum Beispiel kracht es in allen drei Parteien dermaßen regelmäßig und laut, dass keiner mehr weiß, wer da mit wem streitet. Ich habe ja inzwischen den Verdacht, dass alle drei Pärchen quervögeln und eine Art Etagenkommune bilden. Das würde jedenfalls das hysterische Geschrei bei jeder Gelegenheit erklären.
Klingt das fies? Ja, schätze schon.
Ich bin einfach müde und genervt. Dauernd. Und das verstehe ich überhaupt nicht.
Klar, ist jetzt nicht so, als wäre auf einmal alles ganz toll. Aber es ist alles besser als vorher. Und ehrlich, das habe ich nie zu hoffen gewagt. Nicht einmal vor einem Jahr, als Julian auf einmal mit dem Werkzeugkoffer vor der Tür stand und kurz darauf in der Küche, um unseren Abwasch zu machen. Und glaubt mir, das war ein Augenblick, in dem ich fast in die Knie gesackt wäre, um wie ein mutterloser Seehund zu heulen.
Jetzt mal im Ernst: Ich arbeite nicht, sondern gehe wieder zur Schule – da bin ich übrigens gerade -, um mir endlich sowas wie einen Abschluss zu besorgen. Sogar mit Unterstützung vom Amt und allem Drum und Dran. Hat sicher geholfen, dass die Groneweg sich eingemischt und ein bisschen auf die Tränendrüse gedrückt hat von wegen „Der arme Junge hat bisher allein seine Geschwister versorgt, wie sollte er da … Er konnte doch gar nicht … Wenn einer eine Chance verdient, dann …“ Bla. Mann, war mir das peinlich.
Jedenfalls ist mein einziger Job, den Haushalt irgendwie am Kacken zu halten und abends in die Schule zu gehen. Bisschen Hausaufgaben kommen natürlich auch noch dazu. Nebenbei arbeiten … Ich wollte und will immer noch. Aber ich hab eingesehen, dass das noch nicht klappt. Dafür ist Mama zu wackelig. Außerdem haben Julian und meine Großeltern sich verschworen und gemeint, es wäre für mich an der Zeit, mal ein bisschen zu leben.
Sehr witzig!
Es gibt genug Tage – aka heute -, an denen ich tausend Mal lieber wieder im Lager in Julians Firma wäre statt zu Hause. Dieses andauernde Drama bei uns!
Erstmal Mama mit ihren Launen und Stimmungsschwankungen und dem Gezitter und Gezappel zwischendurch. Versteht mich nicht falsch: Ich find’s super, dass sie das Entzugsding endlich durchzieht. Und ich verstehe auch, dass das nicht so fix erledigt ist. Aber ich weiß nie, was mich morgens bei ihr erwartet. Das kann alles von einem Wrack bis zu einer vollmotivierten Bad-Ass-Mutter sein, die schon das Klo geputzt und zwei Maschinen Wäsche gewaschen hat, bevor ich auch nur meinen ersten Kaffee runtergekippt habe. Echt, sie gibt sich Mühe, und manchmal glaube ich, die miesen Phasen werden kürzer und seltener. Aber ich trau dem Frieden noch nicht und das Hin und Her schafft mich.
Bei Lilly ist es dasselbe in Grün. Es war irgendwie leichter, als sie einfach dauernd angepisst war. Jetzt hat es was von Russisch-Roulette, mit ihr umzugehen. Manchmal kommt sie mir so erwachsen und gelassen vor, dass ich Schiss kriege – und dann hat sie wieder Aussetzer ohne Ende. Da erkenne ich sie zwar wieder, aber will sie trotzdem an die Wand tackern.
Und die beiden Kleinen … Ja. Es klingt mies – richtig mies -, aber manchmal wünsche ich mir die Zeit zurück, in der Draco stiller war und nur Bella wie ein Wasserfall geredet hat. Da hatten die beiden wenigstens einen Groove. Jetzt muss Bella damit klarkommen, dass ihr kleiner Bruder sie niederzubrüllen versucht, wenn sie ihn nicht zu Wort kommen lässt. Gefällt ihr gar nicht. Also wechselt sie in den vollen Zickenmodus.
Neulich beim Essen war sie so bitchy, dass Draco sich über den Tisch gebeugt und ihr eine geschmiert hat. Und dann hat er laut, deutlich und irgendwie würdevoll gesagt: „Bella, du gehst mir auf den Zeiger. Werd mal erwachsen.“
Wenn die Situation nicht so anstrengend und die Ohrfeige nicht so daneben gewesen wäre, wäre ich lachend vom Stuhl gekippt. Ich verstehe diese Profi-Eltern, die die coolen Sprüche ihrer Kinder alle aufschreiben. Sowas sollte man nicht vergessen.
Hinterher … Da wurde mir irgendwie anders. Rührselig oder so. Denn ich will überhaupt nicht, dass Bella so schnell erwachsen wird. Siehe Lilly. Und wahrscheinlich auch ich. Gleichzeitig war ich einfach nur superstolz auf Draco. Das bin ich immer, wenn er in ganzen Sätzen spricht und das Kinn hebt.
Der Förderunterricht ist echt Gold wert. Ich wünschte nur immer noch, er wäre erst gar nicht nötig geworden. Aber das verdränge ich meistens. Ich kann mich nicht dauernd in meinem schlechten Gewissen suhlen.
Julian sieht das auch so. Natürlich tut er das. Er hat da irgendwie eine erstaunlich klare Meinung. Nicht, dass es grundsätzlich seltsam ist, ne klare Meinung zu haben. Aber bei ihm überrascht es mich immer irgendwie. Er ist einfach so … nett zu mir. Er lässt es nicht zu, dass ich mich fertigmache – und das, obwohl er ja selbst Großmeister darin ist, sich selbst runterzuputzen.
Irgendwann frage ich ihn mal, ob das zusammenhängt. Ob er einfach nicht will, dass ich mich fertigmache, weil er weiß, wie weit das führen kann und wie schlecht man es sich wieder abgewöhnen kann. Denn gegen ihn bin ich ein Waisenknabe. Was in seinem Kopf vorgeht, verstehe ich selbst dann oft nicht, wenn er es mir zu erklären versucht. Vielleicht, weil er immer noch die Hälfte weglässt und zu kämpfen hat, wenn es ans Eingemachte geht. Oder weil seine Gedanken eben wirklich ein bisschen merkwürdig sind.
Ich kenne niemanden, der sich über so vieles den Kopf zerbricht wie Julian. Der so viel Schiss davor hat, dass andere schlecht von ihm denken könnten. Er versucht dauernd, es allen recht zu machen und alles zu berücksichtigen, aber weil das nun einmal nicht geht, verheddert er sich und dann macht es laut TILT in seinem Kopf. Oder wie heißt das noch? Das beim Roulette? Nix geht mehr.
Manchmal, wenn wir bei ihm auf dem Balkon sitzen, redet er ein bisschen darüber. Dass er sich fragt, wie dies oder das auf seine Kollegen oder den Vermieter oder von mir aus den Müllmann gewirkt haben könnte. Ich kann ihm in neunzig Prozent der Fälle null folgen, und dann guckt er immer ganz bedrückt. Er begreift dann, dass das auch wieder was ist, worüber sich ein gesunder – seine Worte, nicht meine – Mensch keine Gedanken machen würde.
Ich will ihm nicht das Gefühl geben, dass er merkwürdig ist oder so. (Im Ernst, Julian ist trotz seiner Probleme immer noch der normalere von uns zweien.) Er soll erst recht nicht glauben, dass ich seine Sorgen und Ängste – das isses nämlich, sagt die Metzgerin – nicht ernstnehme oder albern finde. Aber bei den krassen Sachen sieht man es mir wohl einfach an, dass ich nicht mehr mitkomme.
Ne Zeitlang habe ich versucht, es zu unterdrücken, dieses dicke Fragezeichen in meinem Gesicht. Aber Julian meinte, das solle ich besser lassen. Es wäre ganz gut, wenn er eine Art Spiegel in mir hätte, in dem er sieht, wann er auf dem Holzweg ist. Also bin ich sein Spiegel. Und zwar gern.
Aber was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich genervt bin, dass der Tag anstrengend und die Schule zum Kotzen war und dass ich einfach nur nach Hause will. Ich kann keine Buntstifte mehr sehen und erst recht keine Tafel, keinen Hardcore mehr hören, keinen Smoothie mehr riechen – die Dame des Hauses versucht, ihr geschrottete Leber zu besänftigen – und vor allen Dingen niemanden mehr sehen.
Klar, ich könnte mich in mein Zimmer verkriechen. Immerhin habe ich ja endlich wieder eins und ja, das ist geil. Aber ich will dort nicht sein. Denn „nach Hause“, das ist nicht unsere neue Bude, sondern Julians Dachwohnung.
Ich liebe sie. Ich liebe die Ruhe dort. Ich liebe es, ohne Geklopfe und Gebrüll vor der Tür ausgiebig duschen zu können. Ich liebe es, morgens als erstes die Vögel zu hören – und zwar irgendwelche Singvögel, nicht nur gurrende Flugratten. Ich liebe den Frieden und die Tatsache, dass Julian für mich immer Kirschjoghurt bunkert, weil er genau weiß, dass er mir bei meiner Familie grundsätzlich weggefressen wird. Und dass er immer lächelt, wenn ich komme. Selbst wenn es ihm nicht gutgeht.
Verdammt, ich liebe inzwischen sogar diese beiden schrulligen Vermieterfritzen, die mich anfangs so gar nicht toll fanden. Aber hey, wozu hat man Geschwister, die Punkte für einen sammeln können? Seitdem Bella mal mit bei Julian war, bin ich tatsächlich willkommen in ihrer Sagrotan-Welt. Okay, dass ich im Herbst Frau K. spontan geholfen habe, ihre komischen Riesenpflanzen zu retten, die ihr im Wind abzubrechen drohten, war sicher auch ein schlauer Schachzug. Ich hab selten jemanden wegen ein bisschen Unkraut so ausrasten sehen. Aber ich gebe zu: Es ist ganz hübsches Unkraut.
Julian hat wohl selbst auch noch ein bisschen nachgeholfen und in leuchtenden Farben erzählt, dass ich als strahlender Held ganz allein die Welt gerettet habe. Wenigstens die von meinen kleinen Kröten.
Seitdem schleppt Frau K. dauernd irgendwelchen Kram an, wenn sie mich sieht. Fängt bei angeblichen Kuchenresten an – es ist kein Rest, wenn es ein ganzer Blechkuchen ist -, einem Kinderfahrrad, das sie irgendwie in der Garage gefunden hat, und endet bei Kinderbüchern, die sie beim Einkaufen für nett und spannend befunden hat.
Die Krönung waren die Nikolausstiefel, die ich am 6. Dezember mit nach Hause schleifen durfte. Und wenn ich Stiefel sage, dann meine ich damit, dass sie Elbkähne gebastelt hat, die selbst Hagrid zu groß gewesen wären. Und sie waren immer noch zu klein für die Wagenladung Nüsse, Mandarine und Schnucksachen, die Frau K. darin unterzubringen versucht hat. Draco und Bella sind fast ausgerastet vor Begeisterung und Lilly hat geheult.
Tja, und nun stehe ich hier also so rum, hinter mir die Volkshochschule, in der meine Kurse stattfinden. Die anderen sind schon alle weg. Der Rucksack auf meinem Rücken ist so vollgestopft mit Büchern und Blöcken, dass er mich fast nach hinten zieht. Komme mir vor wie in der ersten Klasse, als der Tornister noch größer als ich war. Selbst schuld. Ich hab nie Bock, den Kram an den Stundenplan anzupassen. Nehme immer alles mit.
Die Bahn kommt gleich. Beide Bahnen, genauer gesagt. Die erste bringt mich zu meiner Familie, die zweite zu Julian. Normalerweise nehme ich die zweite, jedenfalls seit ein paar Monaten. Ich schlafe nur noch selten in der Wohnung. Nur dann, wenn ich tagsüber gemerkt habe, dass es bei Mama irgendwie kribbelig wird.
Aber heute steht die Sache anders. Vor drei Tagen hat Julian mir ne Nachricht geschrieben und gesagt, dass er ein bisschen Zeit für sich braucht. Okay, er hat sich anders ausgedrückt. War ein kilometerlanger Sermon, in dem er immer wieder betont hat, dass es ihm leidtut und dass es nichts mit mir zu tun hätte, sondern mit etwas, was in dieser blöden Therapie hochgekocht wäre und dass er gerade gründlich durch die Pferdewurst sei.
Wenn ich ihn inzwischen nicht so gut kennen würde, hätte ich befürchtet, dass es sehr wohl was mit mir zu tun hat. Eben weil er es so verzweifelt abstreitet. Aber es steckt was anderes hinter seinen ellenlangen Erklärungen: Julian hat tierisch Angst, mich zu enttäuschen oder mir wehzutun oder irgendwelchen anderen Schaden anzurichten. Und dass ich dann die Biege mache. Dauerhaft.
Das ist das Ding, das mich immer noch am meisten umhaut. Dass er immer glaubt, dass jeder Shit sofort zum Ende führt. Ich weiß auch nicht, ob er das je aus seinem Kopf rauskriegen wird. Ob das überhaupt möglich ist. Aber die Metzgerin meint, wenn er richtig hart an sich arbeitet, kriegen sie das hin.
Sie findet das wohl ziemlich wichtig. Hat gemeint, dass diese Kiste ziemlich fies für Beziehungen sein kann, weil irgendwann jeder versucht, Streit von vornherein zu vermeiden. Ich versteh, was sie meint. Es ist verführerisch, das Maul zu halten, wenn man merkt, was es mit dem anderen macht. Gott sei Dank bin ich darin wirklich ganz schlecht.
Ab und zu tut es weh. Diese Angst. Wenn man sich selbst voll sicher ist und auf einmal merkt, dass der andere eigentlich dauernd Schiss hat … Das ist, als würde er einem nicht richtig vertrauen. Nicht an die Beziehung glauben.
Ist mir auch schon mal rausgerutscht. Julian war danach sowas von fertig, das kann ich gar nicht in Worte fassen. Zum Glück hat er sich aufgerafft und der Metzgerin davon erzählt. Der nächste Termin war der erste und einzige, bei dem ich bisher mit war. War besser als erwartet, aber immer noch irgendwie entwürdigend und peinlich.
Sie hat ein paar Sachen in Therapeuten-Sprech erklärt und uns dann abwechselnd was sagen lassen. Hinterher ging’s Julian besser und ich hatte das Gefühl, ein bisschen zu verstehen, was in seinem Kopf so los ist. Aber ich mache mir nichts vor: Vieles werde ich nie schnallen. Hab ich der Metzgerin auch gesagt. Da hat sie dann tatsächlich mal gegrinst und gemeint, das wäre auch besser so. Man könne gewisse Dinge nicht begreifen, ohne sie selbst durchgemacht zu haben. Und der Sinn der ganzen Sache wäre ja schließlich, dass Julian fitter wird und nicht, dass ich mir seine Marotten abschaue.
Gleich kommt die erste Bahn. Ich will nicht einsteigen. Muss ich? Kann ich auf die zweite warten? Geht das schon? Was ist ein bisschen Zeit?
Auch so ein Problem von Julian. Dass er manchmal allein sein muss, ist kein Thema. Dummerweise fühlt er sich hinterher meistens so mies, dass er es dann nicht schafft, mich quasi wieder einzuladen. Er schämt sich halt ziemlich. Und am Ende kommt dann meistens raus, dass er froh gewesen wäre, wenn ich irgendwann von mir aus zu ihm gekommen wäre.
Kein Problem, mache ich gern. Nur den Zeitpunkt einzuschätzen … Das ist echt schwer. Ich glaube, ich schlage ihm demnächst in einer ruhigen Minute mal vor, ein Zeichen zu verabreden. Ne leere Nachricht auf WhatsApp oder so.
Andererseits … Brauche ich die überhaupt? Es ist bisher vier oder fünf Mal passiert, dass er allein sein wollte. Und jedes Mal war er dankbar, wenn ich schließlich von selbst aufgetaucht bin. Er hat nie gesagt, dass er mehr Zeit braucht. Und es auch nie gedacht. Er kann vieles verstecken, aber nicht, wenn er allein sein muss.
Neulich ist mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass er das selbst alles gar nicht so genau weiß. Was würde passieren, wenn er um Zeit bitten und ich es ignorieren würde? Anfangs hätte ich behauptet, dass er dann Atemnot bekommt und ausflippt. Inzwischen bin ich mir da gar nicht so sicher. Denn eines weiß ich genau: Er vermisst mich in diesen Phasen genauso sehr wie ich ihn. Er zeigt es mir hinterher, sagt es mir manchmal sogar, lässt es mich mit jeder Geste spüren.
Na, das ist ein Rätsel, das wir vielleicht in Zukunft auseinanderklamüsiert bekommen. Die erste Bahn fährt gerade wieder an. Ich nehme also die zweite.
Ein paar Minuten später rumpele ich auch schon durch die Innenstadt. Merkwürdig, dass ich schon jetzt erleichtert bin. Müde bin ich immer noch und dünnhäutig auch. Aber es ist ein Ende in Sicht.
Wow, ich bin mir ganz schön sicher, oder? Total davon überzeugt, dass mich kein verlegenes „Du, ich bin noch nicht soweit“ erwartet.
Mal ganz unter uns: Ich finde es wirklich okay, wenn Julian allein sein muss. Aber es ist schon fast abartig, wie sehr mir die Trennung von ihm irgendwann an die Substanz geht. Und das macht mir Schiss! Vor einem Jahr hätte ich noch geschworen, dass ich ein total bodenständiger Mensch bin, der prima allein klarkommt und nichts und niemanden braucht. Außer Ruhe von Zeit zu Zeit.
Und jetzt habe ich mich in diesen … wie soll ich’s sagen? In diesen … Radiergummi verwandelt. Kennt ihr die? Diese blau-roten Radiergummis? Wie eine dieser Hälften komme ich mir vor. Wurscht, ob die blaue oder die rote. Irgendwas in mir hat sich an Julian drangetackert und fühlt sich merkwürdig, wenn er nicht in Reichweite ist.
Erbärmlich, oder? Es ist ein Klischee, aber ich brauche ihn einfach. Nicht, weil er mir Sachen abnimmt, nicht, weil sein Auto das Einkaufen so verdammt viel leichter macht und auch nicht, weil er Lilly manchmal einnorden kann, wenn ich nicht mehr an sie drankomme. Das ist praktisch und toll und ich bin dafür dankbar. Aber all das ist weit weg, wenn wir allein sind. Wenn wir Blödsinn reden und rumalbern. Wenn wir miteinander ins Bett gehen und ich merke, dass ich eine Wirkung auf ihn habe, die für ihn immer noch neu, merkwürdig und toll ist.
Ich rede nicht von Sex. Klar, der Sex ist geil. Ich kann nicht genug bekommen. Aber irgendwas passiert dabei, das nichts mit Abspritzen und Knutschen zu tun hat. Julian entspannt sich. Klappt nicht immer, aber meistens. Dann habe ich das Gefühl, dass diese rostige Denkmaschine in seinem Kopf endlich mal aufhört, ihm dauernd ins Gehege zu kommen. Er wirkt dann so dankbar, dass ich ernsthaft darüber nachdenke, nie wieder das Bett zu verlassen. Weil das etwas ist, was ich ihm geben kann und darf. Und glaubt mir, Julian etwas zu geben, das ist immer noch ziemlich kompliziert.
Als er zum ersten Mal was von Beziehungskonten gesagt hat … Ich wusste nicht, ob ich ihm den Kopf abreißen oder ihn umarmen soll. Ich hasse die Leute, die ihm eingeredet haben, dass sowas existiert. Ne, anders. Es geht nicht darum, ob es die Dinger nun gibt oder nicht. Wahrscheinlich gibt es sie. Die meisten würden nur von sowas wie einem Gleichgewicht zwischen zwei Partnern reden.
Also lasst mich das korrigieren: Ich hasse die Menschen, die Julian das Gefühl gegeben haben, dass er dauernd in den Miesen hängt und sich den Arsch aufreißen muss, damit andere ihn lieben. Er verausgabt sich. Er springt, sobald man ihn ruft. Ich will nicht mal darüber nachdenken, was passieren würde, wenn er auf jemanden trifft, der das ausnutzt.
Ich will und werde dieser Jemand nicht sein. Das habe ich mich geschworen. Und wenn ich ihn aus dem Bad aussperren muss, damit ich seine – unsere! – Wäsche aus dem Trockner nehmen darf.
Früher und später ist es nämlich so weit. Noch ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Dann bin ich an Abenden wie diesen wirklich auf dem Weg nach Hause. Ganz offiziell und nicht nur gefühlt.
Ich traue mich nicht laut auszusprechen, wie sehr ich darauf warte. Wie satt ich es habe, am ausgestreckten Arm zu verhungern und immer der letzte in der Hackordnung zu sein. Nur weil etwas richtig, anständig und selbstverständlich ist – wie eben, sich um seine Familie zu kümmern -, macht es noch lange keinen Spaß.
Ich will ausziehen. Ich will frei sein. Ich will einen Kalender, in den ich ein fettes Kreuz malen kann, daneben mit schwarzem Edding das Wort Neuanfang.
Fragt mich nicht, wie genau dieser Neuanfang letztendlich aussehen wird. Erst einmal muss der Abschluss her. Was danach kommt? Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, was ich machen möchte – und noch weniger, was jemand wie ich überhaupt erreichen kann. Ich schätze, es haben nicht viele Chefs Bock auf einen Schulabbrecher, der nach ein paar Jahren Pause einen Abendschulabschluss nachgelegt hat. Und niemand wird einen Dreck darum geben, dass ich mich um die Kröten kümmern musste, weil die Sache bei uns zu Hause sonst maximal vor die Wand gegangen wäre. So weit, dass ich das erklären könnte, werde ich in den meisten Fällen erst gar nicht kommen. Die sehen meinen Lebenslauf und ich bin raus aus der Nummer.
Vielleicht ziehe ich mein eigenes Ding auf. Wenn ich nur wüsste, was genau mein Ding ist?
Vor ein paar Monaten hat mich Julian mal gefragt, wo ich mich in zehn Jahren sehe. Wir lagen gerade auf der Couch rum, ihm war nicht so gut und mir auch nicht – ihm wegen der Metzgerin, mir, weil ich mich überfressen hatte. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Ich hab versucht, nach vorn zu schauen und da war … gar nichts.
Woah, das war vielleicht scary! Irgendwann habe ich gesagt, dass ich gern meinen Lappen machen und mal nach Moskau fahren würde. Das klang total bekloppt, aber Julian hat mich nicht ausgelacht, sondern nur genickt und mich auf diese spezielle Weise umarmt. Das macht er immer, wenn er sich an meiner Stelle mies fühlt. Oder wegen mir mies fühlt?
Jedenfalls zieht er dann meinen Kopf an seinen Hals und fasst mich an, als wäre ich gleichzeitig zerbrechlich und unzerstörbar. Es fühlt sich eigenartig an, aber auch verdammt gut.
Gesagt hat er nichts. Musste er auch gar nicht. Hab ja selbst gemerkt, dass es komisch ist, so gar keine Ideen zu haben. Früher hatte ich mal welche. Sind alle abgesoffen.
Und Julian ergattert zu haben … Das fühlt sich immer noch dermaßen nach Hauptgewinn an, dass ich bumsbesoffen davon bin. Ich meine, wenn man gerade im Lotto den Jackpot abgeräumt hat, dann rennt man doch nicht am nächsten Samstag gleich wieder los, um den nächsten Schein zu kaufen, oder?
Die Bahn hält. Außer mir steigt kaum jemand aus. Klar, wer heute Abend noch unterwegs ist, fährt in die Innenstadt rein und nicht aus ihr raus. Außerdem ist diese Gegend ja sowieso etwas speziell, ruhiger, gesitterter, mehr Leute, die keine Lust auf die Öffentlichen haben.
Ich laufe an der Hauptstraße entlang Richtung Wohngebiet. Die Nächte werden schon merklich kürzer. Nicht mehr lange bis Mittsommer. Es riecht nach abgestandener Wärme und Abgasen. Kann aber auch einfach mein Rucksack sein.
Als ich das spießig-putzige Haus mit den penibel gepflegten Beeten erreiche, schaue ich sofort nach oben. Kein Licht in den Fenstern, die zur Straße zeigen. Ich wühle in meinen Hosentaschen, bis ich den Schlüssel finde. Ist schon eine Weile her, dass Julian ihn mir gegeben hat. In Situationen wie diesen benutze ich ihn trotzdem nicht gern. Auch dann nicht, wenn Julian mir schon hundert Mal gesagt hat, dass ich nicht klingeln muss und soll.
Ich schiebe meinen Widerwillen beiseite und den Schlüssel ins Schloß. Ich gebe mir keine besondere Mühe, leise zu sein. Die Kowalskis leiden inzwischen an einer Art senilen Bettflucht und sind immer wach, egal, ob ich gerade komme oder gehe, und Julian erschrecke ich höchstens, wenn ich auf Zehenspitzen herumschleiche.
Auf dem Weg nach oben mache ich kein Licht. Das sagt wahrscheinlich deutlicher, dass ich hierhin gehöre, als der Schlüssel. Ich kenne diese mörderische Treppe inzwischen wie meine Westentasche.
Oben angekommen lasse ich mich in die Wohnung ein. Immer noch Dunkelheit. Nicht einmal durch den Türspalt zum Wohnzimmer dringt Licht. Damit habe ich nicht unbedingt gerechnet. Küche, Bad und Schlafzimmer liegen zur Straße hin, das Wohnzimmer und der coole Balkon dagegen nicht. Und entweder auf dem Sofa oder auf dem Liegestuhl hatte ich erwartet, Julian sitzen zu sehen.
Ich runzele die Stirn und versuche mich zu erinnern, ob sein Wagen in der Auffahrt stand. Tat er doch, nicht wahr? Ist es schon so spät? Ich könnte auf meinem Handy nachsehen, aber etwas in mir sträubt sich dagegen, Licht ins Dunkel zu bringen. Erst recht ein so künstliches.
Vorsichtig öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. Meine Augen haben sich weit genug an die Schwärze gewöhnt, um Konturen auszumachen. Mir fällt auf, dass sich die Gartenlaternen nicht in den Fenstern spiegeln. Also sind die Jalousien unten. Die Wohnung wirkt irgendwie verrammelt.
Ich schlucke und will Julians Namen rufen. Dann fällt mir ein, dass es nur einen guten Grund für die Stille und die Finsternis geben kann. Nun bemühe ich mich wirklich, leise zu sein, und gehe zur Schlafzimmertür. Sie steht gerade weit genug offen, dass ich hindurchschlüpfen kann.
Ich höre ihn, bevor ich ihn sehe. Tiefe, langsame Atemzüge. Ich kenne sie so gut wie meine eigenen.
Auf einmal sacken meine Schultern herab. Mir war gar nicht bewusst, dass ich sie angespannt hatte. Mir liegt ein Fluch auf der Zunge – oder ein Seufzen -, aber ich verbeiße ihn mir. Ich will Julian nicht wecken.
Obwohl … Okay, wenn ich ehrlich bin, will ich ihn sehr wohl wecken. Ich halte es nur für keine gute Idee. Wenn er so früh in der Falle liegt, wird er einen Grund haben.
Ich zögere, dann schleiche ich mich an seine Seite des Betts und setze mich auf die Kante. Ich bin ein bisschen ratlos. Ist schwierig, wenn man jemanden nicht wecken will, aber es auf der anderen Seite kaum ne gute Idee ist, sich heimlich zu ihm ins Bett zu legen. Und Gott, ich will zu ihm ins Bett. Jeder Knochen in mir schreit danach.
Ich kann schon fast hören, wie sich die Matratze mit einem Flüstern unter mir senkt. Kann beinah spüren, wie Julian erst herumruckelt, seinen Atem an meine Schulter schnauft und dann zufasst. Ob er meinen Bauch oder mein Gesicht berührt, hängt davon ab, wie er drauf ist.
Manchmal – und darauf stehe ich – geht er mir direkt zwischen die Beine. Kein Gequatsche, keine Fragen, kein Herumdrucksen, einfach loslegen. Dafür muss er aber sehr entspannt sein und am besten auch noch was Heißes geträumt haben. Sonst denkt er drüber nach, bevor er mich anfasst, und dann „benimmt“ er sich. Schade. Ob ich ihm das abgewöhnen kann, wenn ich erst hier wohne?
Nä, keine Angst, ich will nicht an ihm herumerziehen. Ich glaube nur, dass das so eine Sache ist, die ihn selbst ziemlich nervt. Dieses dauernde Denken. Dieses Analysieren. Dieses Abwägen von Risiken und am Ende immer den sichersten Weg wählen.
Ich will, dass ihm klar ist, dass ich immer der sicherste Weg bin. Egal, worum es geht. Ich will, dass er sich hinter jeden einzelnen Löffel, den er hat, schreibt, dass ich immer die richtige Wahl bin. Wenn ihm schwindelig wird und er rückwärts umzufallen droht, soll er wissen, dass ich da sein werde, um ihn aufzufangen. Mag sein, dass wir dabei beide in die Knie gehen, aber Hauptsache, er schlägt nicht mit dem Kopf auf.
Ja, ja, ja, ich weiß, wie das klingt. Nach Teenagerliebe und hoffnungsloser Vernarrtheit und so weiter. Ist auch ein bisschen so.
Ich meine, stellt es euch einfach mal vor: Ihr habt gerade diesen neuen Job angenommen und zwar mit einem richtig miesen Bauchgefühl, weil ihr euch nicht sicher seid, ob nicht zu Hause jemand die Bude abbrennt, während ihr weg seid. Und gleich am ersten Tag steht ihr hinter dem Lager rum, als eine der Türen aufgeht und dieser Gott ins Freie kommt. Einer dieser Typen, die nicht nur aussehen, als stammten sie in direkter Linie von irgendeinem Pantheon-Dings ab, sondern die sich auch so bewegen. Gelassen, stark, zielstrebig, total mit sich im Groove. Das war übrigens ein Moment, in dem ich Anzüge auf einmal nur halb so ätzend fand wie sonst.
Jedenfalls: Ihr steht da also, er geht an euch vorbei, sieht euch gar nicht, aber alles in euch schreit: „Hey Mann, bleib stehen, dreh dich zu mir um, sieh man an, nimm mich wahr und jetzt lass die Hose runter. Ich bin vielleicht kein solcher Volltreffer wie du, aber ich bin dafür voll bei der Sache und werde es dir dermaßen besorgen, dass du mich nie wieder vergisst. Bitte bitte, dreh dich um.“
Jetzt ist dieser Gott meiner. Er will mich. Und was die Sache irgendwie traurig macht: Er hat keine Ahnung, dass da draußen tausende sind, die dankbar wären, an meiner Stelle zu sein. Stattdessen kämpft er verzweifelt darum, mich zu halten, obwohl ich nun wirklich nirgendwo hingehen will.
Es ist wie die Sache mit seinem Gang: Er sieht aus wie jemand, der das Leben voll auf die Hörner genommen hat. Wie jemand, der weiß, wer er ist, was er will und was er von anderen erwarten kann. Für ihn fühlt es sich an, als würde er stolpern. Sein ganzes Auftreten ist nur ein gigantischer Schild, der verbirgt, dass der verwegene Ritter dahinter splitterfasernackt ist statt eine dicke Panzerrüstung zu tragen.
Julian zum ersten Mal zusammenbrechen zu sehen, war krass. Gut, ich hab ziemlich schnell geahnt, dass er nicht die wandelnde Sexmaschine ist, für die ich ihn anfangs gehalten habe. Dafür war er zu tapsig und hat zu skurrile Dinge gesagt. Aber als ich ihn zum ersten Mal bei uns zu Hause hatte und er beinah vor Bella weggerannt wäre, wusste ich, dass er ein verflixt weiches Herz in seiner Brust herumträgt. Nicht so ein verkabeltes, verlötetes Ding wie ich, das jedes Mal einen Stromschlag verpasst bekommt, sobald es vor lauter Verzweiflung und Zukunftspanik ins Stocken gerät.
Was ich eigentlich ausdrücken will: Ich bin verrückt nach Julian und kann manchmal immer noch nicht glauben, dass er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat. Oder wir uns gegenseitig? Denn ich weiß genau, dass er genauso empfindet. Er sieht Dinge in mir, von denen ich keine Ahnung habe. Er hält mich für stark und tapfer und verantwortungsbewusst und all so Sachen. Er glaubt, dass ich es verdiene, dass jemand mich glücklich macht.
Und wie bitte sehr soll man da nicht gefühlsduselig werden und von einer gemeinsamen Zukunft träumen? Wie dämlich müsste man sein, um so etwas aus Coolness oder sowas abzulehnen, statt danach zu grabschen und es nie wieder loszulassen?
„Lasse?“
Ich erschrecke mich so sehr, dass ich fast von der Bettkante falle. Im nächsten Augenblick geht Licht an. Ich blinzele ein bisschen. Als ich wieder klar sehen kann, bemerke ich, dass Julians Lider genauso hektisch flattern wie meine. Logisch, er ist gerade erst aufgewacht.
Sein Anblick weckt zwiespältige Gefühle in mir. (Sagt man doch so, oder?) Klar, seine nackte Brust ist der Hammer. Ich würde sofort am liebsten die Zähne in eine seiner Brustwarzen schlagen. Ich mag’s, wie er dann japst. Aber da sind auch seine glasigen Augen und die roten Stellen auf seinen Wangen. Ich hab in meinem Leben ne Menge Tränen getrocknet und weiß, wie es aussieht, wenn jemand so ausdauernd geheult hat, dass man es noch Stunden danach erkennt.
Ich hasse solche Augenblicke. Zu wissen, dass Julian sich vermutlich in den Schlaf geweint hat und ich sonstwo war, macht mich fertig. Es fühlt sich an, als hätte ich es verbockt. Da kann ich mir tausend Mal sagen, dass ich das unmöglich ahnen könnte oder dass er sich gemeldet hätte, wenn er mich bei sich hätte haben wollen. (Haha, er hätte eher das Telefon ins Klo geworfen.) Es ist einfach Autsch.
„Lasse“, sagte er wieder. Ich weiß nicht, wie er klingt.
Geht mir oft so, dass ich seinen Tonfall nicht einordnen kann. Es kommt zu viel zusammen wie bei diesen Kräutermischungen, die er neulich angeschleppt hat: Da ist so viel unterschiedliches Grünzeug drin, dass man nichts mehr einzeln rausschmecken kann.
Also muss ich nachhaken. „Isses okay, dass ich hier bin?“ Klare Fragen führen zu klaren Antworten.
Ein Nicken, ein verdammt dünnes Lächeln und feuchte Augen. Bevor ich mich fragen kann, ob ich vielleicht falsch gelegen habe, setzt er sich auf und umarmt mich.
Gottverflucht noch mal! Das hat mir gefehlt. Nicht, dass er mir fast die Rippen zerquetscht, aber das nehme ich echt gern in Kauf. Ist ein kleiner Preis für sein Festklammern, für seinen Stoßseufzer, für das Zittern, das erst durch seinen ganzen Oberkörper tobt und dann urplötzlich nachlässt.
„Du hast mir gefehlt“, nuschelt er.
Nun muss ich einen Seufzer wegdrücken. Und natürlich die Frage, warum zum Teufel er mir das nicht irgendwie mitgeteilt hat. Ist jetzt nicht wichtig. Er wird es lernen, irgendwann.
Jetzt heißt es erstmal festhalten, sich Hallo sagen und … oh ja … küssen. Das ist auch eine gute Idee.
Julians Lippen schmecken salzig. Wundert mich kein Stück. Stören tut’s mich auch nicht, auch wenn ich es hasse, wenn er allein in einer Ecke vor sich hinweint. Aber jetzt bin ich da. Jetzt ist keiner von uns mehr allein.
Als wir uns voneinander trennen, muss ich gähnen. Verflixt, diese Abendschule ist ja eine nette Sache, aber sie macht mich fertig. Die Lernerei, wenn alle anderen schon in der Kneipe oder vorm Fernseher sitzen, ist nicht meins. Streichen wir also mal alle Jobs, die Nachtschichten erfordern, von meiner Zukunftsliste.
„Alles in Ordnung?“, frage ich – und er auch.
Wir grinsen uns kurz zu, heben die Schultern, lehnen die Stirn aneinander.
Erstmal sagt keiner was. Dann zieht Julian die Nase hoch und murmelt was von ein paar echt miesen Tagen, die mit ein paar richtig unangenehmen Wahrheiten zu tun haben, denen er sich bei der Metzgerin stellen musste.
Da ist es wieder, dieses Gefühl, dieser Frau dankbar zu sein – und sie verprügeln zu wollen. Ständig ist sie an seinen Wunden zugange, und man kann mir noch hundert Mal sagen, dass das richtig und wichtig für Julian ist: Es pestet mich trotzdem an.
„Willst du drüber reden?“, frage ich sicherheitshalber, obwohl ich die Antwort mit einiger Sicherheit kenne.
Julian schluckt. „Nicht jetzt. Morgens vielleicht.“
Woah, das ist schon eine Menge! Ich hatte mit einem klaren Nein gerechnet. Das bin ich immer noch gewöhnt, auch wenn er inzwischen dann doch ab und zu mal aufmacht. Nur eben meistens zwischendurch und eher aus Versehen als weil ich frage.
„Wie du magst.“ Wieder muss ich gähnen und ja, vielleicht klang das gerade ein bisschen müde. Mehr als in Ich-brauche-Schlaf-Hinsicht.
Sofort richtet Julian sich weiter auf.
Ein hässlicher Teil von mir denkt: „Oh scheiße, das hat er in den falschen Hals bekommen.“ Und: „Bitte, bitte, brich jetzt nicht zusammen, Julian, ich kann’s gerade nicht abfangen.“
Ehrlich, ich liebe ihn abgöttisch, aber ich kann mir jetzt keine Erklärungen anhören. Und keine Entschuldigungen, warum er sich nicht so öffnen kann, wie ich das ja ganz bestimmt für selbstverständlich halte. Das wäre einfach zu viel des Guten.
Innerlich bereite ich mich schon darauf vor, abzuwiegeln, als Julians Hand auf einmal auf meiner Wange liegt. Er dreht meinen Kopf, sodass ich möglichst viel Licht abbekomme. Meine Augen machen das nicht mit, aber irgendwie schaffe ich es auch nicht, sie zu schließen.
Julians Miene fasziniert mich. Er hat die Stirn so tief gerunzelt, dass er wie einer dieser Faltenhunde aussieht. Die Augen halb zugekniffen, die Nase gekräuselt, der Mund ein ganz schmaler Strich.
Bei jedem andern würde ich denken, dass er stinkig auf mich ist. Aber Julian guckt immer so, wenn er sich konzentriert – und gerade konzentriert er sich auf mich.
Bevor ich mir überlegen kann, ob ich das nun gut finde oder eher nicht, nickt er langsam und meint: „Du bist vollkommen im Arsch.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Sorry, dass ich die letzten Tage nicht für dich da sein konnte.“ Here we go again. „Ich…“ Plötzlich reckt er das Kinn. „Aber jetzt bin ich ja da. Komm ins Bett.“
Noch einmal Woah! Wenn das nicht … Also … Oh Mann!
Meine Arme wollen mir irgendwie nicht gehorchen. Sind vermutlich sind sie genauso überrascht wie ich. Also macht Julian sich stattdessen an meinen Klamotten oder vielmehr an mir zu schaffen. Er packt mich, zerrt an mir rum, bis er mich neben sich hat. Und dann bin ich auch schon nackt bis auf die Unterhose. Mit Zähneputzen wird’s heute nichts mehr, schätze ich.
Die Decke landet über mir, und dann ist er ganz nah. Arme, Beine, Torso, Gesicht. Alles an mir dran, um mich drum. Seine Hand an meinem Kopf, sanfter Druck, damit ich ihn an seine Schulter lege.
Jetzt könnte ich heulen.
„Ruh dich aus“, murmelt er mir zu. „Wenn dein Handy klingelt, geh ich dran.“
Oh Gott, dieser Mann ist unglaublich. Keine Ahnung, woher er das auf einmal nimmt. Woher die Kraft kommt und erst recht die Ruhe, die von ihm ausgeht.
Es ist eine dieser kleinen Veränderungen, die kaum auffallen, bis sie einem ins Gesicht springen. Gerade hatte ich noch Sorge, dass er die Nerven verliert, weil er mir nicht mit meinem Stress helfen konnte. Dass er sich tausend Mal entschuldigt und windet wie der letzte Wurm.
Aber jetzt … scheint er zu schnallen – wenigstens für heute -, dass es okay ist. Dass niemand immer für alle da sein kann. Dass jeder von uns seine Auszeiten braucht und dass sich am Ende alles ausgleicht, wenn man es richtig anfängt. Und er fängt es gerade total richtig an!
Ich drücke mich fester an ihn. Prompt macht er irgendwas mit seinen Armen, damit ich mein ganzes Gewicht auf ihn abgeben kann. Seine Finger sind in meinen Haaren zugange. Ich könnte schmelzen. Es fühlt sich an, als würde er eine Mauer um mich hochziehen, durch die nur das durchkommt, was er persönlich unter die Lupe genommen hat.
Er wird an mein Handy gehen. Er, nicht ich, wird sich damit auseinandersetzen, wenn meine Frau Mutter das Fieberthermometer nicht findet oder Lilly um zwei Uhr jemandem zum Ausheulen sucht, weil ihr Schwarm ihre Whatsapp nicht beantwortet hat. Ich bin offline. Nicht erreichbar. Habe Feierabend.
„Lasse?“
„Ja?“
Ein Rumpeln geht durch Julians Brustkorb. „Ich will da was loswerden…“
Seltsamerweise habe ich keine Sorge, dass es etwas Unangenehmes sein wird. Na ja, so merkwürdig ist das vielleicht gar nicht, denn Julian fühlt sich warm und entspannt an. Wenn er mir was Fiesen sagen wollte, würde er zittern.
„Hau rein“, feuere ich ihn an.
Er nickt. Ich spüre die Bewegung an meiner Kopfhaut. „Erstens: Danke für deine Geduld.“ Wieder hört er sich … ruhig an. Nicht, als würde er flehen oder das schlechte Gewissen ihn killen.
„Anytime.“ Besonders, wenn du es mir so leicht machst. „Und zweitens?“
Ein tiefes Luftholen, die Matratze senkt sich, als er die Luft wieder ausstößt. Und dann ganz, ganz leise: „Ich wünsche mir wirklich, wirklich sehr, dass du bald einziehst. Wenn’s nach mir ginge, schon morgen.“
Mir läuft es heiß und kalt über den Rücken. Jedes Haar auf meinen Armen richtet sich auf. Es fühlt sich fantastisch an. Ich muss kräftig schlucken, bevor ich antworten kann, und bin trotzdem schrecklich heiser. „Genau das habe ich vorhin auch gedacht.“
Julian dreht sich auf die Seite. Behutsam, als würde ich zerspringen, wenn er mich rüde von sich schiebt. Er sucht meine Hand, hält sie zwischen unseren Gesichtern fest. Und lächelt.
„Wird nicht immer ganz einfach sein. Ich meine, ich bin’s ja nicht gewöhnt, so auf Dauer alles zu teilen …“ Er hustet verlegen. Ich möchte ihn küssen. „Ich meine, die letzten Leute, mit denen ich zusammengelebt habe, waren meine Eltern und mein Bruder – und Mirko und ich hätten uns ein paar Mal fast die Nase gebrochen … Trotzdem … ich wünsch mir, dass wir das bald hinkriegen. Ich möchte dich um mich haben. Auch wenn ich das nächste Mal … ausklinke.“
Mein Herz macht merkwürdige Sachen, mein Magen auch. „Sobald wie möglich“, verspreche ich, weil mir einfach nichts anderes einfällt. Dabei liegt mir so viel auf der Zunge. Zu viel zum Reden.
Wir wissen beide, dass der Umzug nicht morgen sein wird. Nicht sein kann. Aber darum geht’s auch gerade nicht. Es geht überhaupt nicht ums Zusammenziehen. Es geht um den nächsten Schlüssel, den Julian mir in die Hände gelegt hat. Einen Schlüssel, der eine weitere Tür zu seinem innerlichen Turm öffnet.
„Sobald wie möglich“, wiederholt Julian. Sein Lächeln verändert sich nicht. Wirkt nicht traurig, nicht enttäuscht, nicht unaufrichtig.
Ich habe auf einmal das Gefühl, mich an seiner Hand festklammern zu müssen. Wichtiger als das: Ich habe das Gefühl, dass ich genau das kann. Julian wird immer alles geben, um mir den Rücken freizuhalten. Und auch, wenn ich keine Ahnung habe, was ich in einem Jahr machen will, weiß ich, dass er da sein wird. Jeden Abend. Jeden Morgen. Das ist nicht alles, worauf es ankommt, aber es ist mehr als genug.
Texte: Raik Thorstad
Cover: Cursed Verlag
Lektorat: Unlektoriert, unkorrigiert, wie in der guten alten Zeit ;)
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Fans von Lasse und Julian und dem Krötenhaufen.