Für meine Schwester.
Weil ich ohne sie niemals
so wäre, wie ich bin.
Sie ist mein Laufband..
Und ein herzliches Dankeschön
an meine allerliebste, beste Freundin Marina.
Weil sie mich unterstützt, mir stundenlang
zuhört und ihre ehrliche Meinung ausspricht.
Es herrschte fast völlige Dunkelheit. Laute Musik dröhnte aus der Anlage. Im Auto war die Luft verbraucht und stickig. Es roch nach Bier und Schweiß. Doch die Laune war ausgelassen und heiter. Für uns drei war es eine normale Samstagnacht. Olivia lag zugedröhnt auf dem Hintersitz und versuchte angestrengt wach zu bleiben. Ständig überkamen sie Kicheranfälle an diesem Abend, obwohl niemand etwas lustiges gesagt hatte. Aber das war wohl die Wirkung des Alkohols. Jason, Olivias Freund, saß am Steuer. Er lenkte nur mit einer Hand, in der Linken hielt er eine Zigarette. In letzter Zeit rauchte er ständig, viel öfter als früher, aber ich sprach ihn nicht darauf an. Schließlich ging es mich auch nichts an. Außerdem war ich in dem Moment selbst nicht bei klarem Verstand – auf der Feier hatte ich eindeutig zu viel Bier getrunken - und damit beschäftigt laut zur Musik zu kreischen. Mann, dachte ich mir, ich liebe diesen Song..
Baton Rouge, Lousiana
1, 2. Schritt, schritt. 1, 2. Schritt, schritt. Ich lief immer schneller. 1, 2, 1, 2. Schritt. Schritt. Schritt. Schritt..
Die Anzahl der gelaufenen Kilometer auf der Anzeige des Laufbands stieg ununterbrochen. Keine Wunder, denn heute lief ich als würde mein Leben davon abhängen. Ich lief und lief. Schneller und schneller. Ich vergaß völlig die Zeit. Ich lief weiter und weiter. Habe mein Ziel noch nicht erreicht. Seltsamerweise war ich kaum aus der Puste. ..Schritt. Schritt. Schritt. Schritt.. Tief im Unterbewusstsein kannte ich den Grund meines Antriebs. In den letzten Monaten war das Laufband mein Zufluchtsort geworden. Hier verbrachte ich die meiste Zeit des Tages. Langsam wurde das Laufen zu einer Art Besessenheit, eine notwendige Droge für mich. Es war das einzige, was mich davon abhielt völlig auszuflippen, einfach loszuschreien und den letzten Rest meines gesunden Verstands zu verlieren. Es war das einzige, was mir half die letzten Wochen zu überstehen. Das einzige, das mich zusammen hielt. Als mein Blick wieder zu der Anzeige huschte, kam ich mir doch wahnsinnig vor. Knappe 12 Kilometer. In nur 42 Minuten. Meine Hand klatschte geschockt auf die Stopp - Taste. Ich lehnte mich an das kalte Metall des Laufbands und versuchte meine Atmung zu beruhigen. Nein, dachte ich. Nein, du kannst nicht davor weglaufen. Die Erinnerungen lassen sich nicht einfach abschütteln..
In der Nacht hatte ich wieder diesen Traum. Auch wenn ich tagsüber versuchte vor den Bildern in meinem Kopf zu fliehen. Im Schlaf überrollten mich die Erinnerungen immer wieder. Und nichts und niemand konnte das verhindern. Niemand konnte den Schmerz des Verlusts lindern oder das Beißen des Gewissens stoppen. Ich konnte nicht einmal meiner besten Freundin Olivia von den schrecklichen Albträumen erzählen. Nein, das konnte ich nicht. Denn sie war tot..
Als ich an diesem Morgen aufwachte, versuchte ich mir einzureden, dass ich diesen Tag überstehen werde und das er ohne böse Zwischenfälle oder unangenehmen Gesprächen verlaufen würde. Dies war der Tag, an dem ich wieder zur Schule gehen würde. Der erste Schultag ohne Olivia, seit ich denken konnte. Noch nie war ich mir so einsam vorgekommen, wie in diesem Moment. Ich zählte vielleicht zu den eher beliebten Schülern der McKinley High, aber die einzige Person mit der ich tatsächlich eine enge und langjährige Freundschaft gepflegt hatte, war nicht mehr da. Ich habe alles mit Olivia gemacht: meinen ersten BH gekauft, damals waren wir noch 11 Jahre alt und haben uns wahnsinnig gefreut, endlich etwas "erwachsenes" machen zu können. Später hatten wir unseren ersten Joint geraucht, auf Mikes Party, ein Typ, der einen Jahrgang über uns war. Wir waren beide sehr aufgeregt und waren froh überhaupt dabei zu sein - mein Bruder Andrew war mit dem Gastgeber befreundet - aber die Kippe war das Highlight, des Abends für uns geworden. Obwohl wir beide nicht wirkliche Kiffer waren, haben wir danach noch die ganze Nacht darüber geredet und sind in meinem Zimmer wild herumgehüpft. Nartülich war Olivia, die jenige gewesen mit der ich zum ersten mal den Biologieunterricht bei Mrs. Grace geschwänzt habe (ich hasste Biologie und noch mehr konnte ich Mrs. Grace nicht ausstehen!) und sie war es, der ich über meinen ersten Kuss mit David aus dem Spanischkurs erzählt hatte. Mein ganzes Leben war mit dieser einen Person verknüpft und ich wusste nicht, wie ich es ohne sie weiter leben sollte. Alles, einfach alles erinnerte mich an sie! Meine Livi! Ich vermisste sie so verdammt sehr.. Doch bevor ich mich und das Leben weiter bemitleiden konnte und mich wieder mal fragte, warum Liv als einzige den Unfall nicht überlebt hatte und wie lächerlich unfair das alles war, hörte ich die Stimme meiner Mum rufen: "Sophia, Liebling! Steh endlich auf und komm runter. Du kommst noch zu spät!"
Irgendwie schaffte ich es dann doch eine halbe Stunde später, angezogen und halbwegs präsentabel gestylt in der Kuche zu sitzen und auf den leckeren Pfannkuchen meiner Mum zu warten. Vor lauter Aufregung hatte ich einen riesen Hunger und verschlang gleich drei auf einmal.
"Sophia, deine Haare sehen heute chic aus!", bemerkte meine Mutter, während sie mit weiteren Pfannkuchen am Herd beschäftigt war. "Fast wie.. früher. Das freut mich wirklich, heute wird ein neuer Anfang. Für uns alle. Und du wirst bald wieder lächeln können." Jetzt musste ich wirklich lächeln.
"Genau dieses süße Lachen, meine ich", sagte meine Mum und zeigte mit der Kelle in meine Richtung.
"Mum, ich weiß, dass ich mich ab jetzt zusammen reißen muss.", fing ich an. "Liv hätte es auch so gewollt, dass ich mein Leben weiter lebe.. Auch wenn es schwer ist.. Ohne sie, meine ich." Ich verstummte.
"Ach, Schatz", meine Mum kam zu mir an den Tisch und tätschelte meine Wange. "Natürlich kannst du nicht einfach weiter machen, als wäre nie etwas geschehen. Schließlich warst du an dem Unfall genau so beteiligt. Du brauchst Zeit um das alles zu verarbeiten und einzusehen, was für ein Glück du hattest. Du sitzt hier", sie deutete auf mich. "Und atmest und sprichst und.. LEBST. Daraus, aus diesem.. Geschenk, musst du etwas machen. Lebe dein Leben, versuch glücklich zu sein. Olivia wäre dir nicht böse. Ganz sicher" Mum küsste meine Stirn.
"Das weiß ich doch, Mum. Aber warum hat Olivia.. dieses "Geschenk" nicht verdient? Diese Frage stelle ich mir andauernd und niemand kann mir die Antwort verraten. Es ist unfair! Sie hätte es genauso verdient wie Jason und ich!" Ich versuchte die Tränen zu unterdrücken und blinzelte.
1, 2. 1, 2, sagte ich mein Mantra auf.
"Phia.." Mum nahm mich in die Arme. "Das Leben spielt manchmal unfair, das ist unvermeidbar. Leider.. Komm, Liebling, ist ja gut. Ich bin doch hier." Einige Minuten genoss ich noch die tröstende Wärme meiner Mutter, bevor ich mich aufrichtete und meine vollbepackte Schultasche über die Schulter warf.
"Danke, Mummy. Es geht schon wieder. Ich muss mich jetzt auf den Weg machen, sonst komme ich wirklich zu spät." Ich versuchte sie ermutigend anzulächeln.
"Viel Erfolg, Liebling! Du kriegst das schon gebacken, vertrau mir! Wenn du etwas brauchst oder ich dich abholen soll, ruf mich an. Und denk an deinen Termin bei Dr. Phill heute Nachmittag!", rief sie mir hinterher und warf mir ein Küsschen zu.
"Klar doch, Mum. Bis dann!". Ich lief zur Tür hinaus und wappnete mich gegen das Bevorstehende. Schritt. Schritt...
Als ich eine viertel Stunde später meinen Wagen auf den vollen Parkplatz der McKinley High lenkte, war ich aufgeregt und halb durchgeschwitzt. Zum einen fragte ich mich, wie ich mich den anderen Schülern gegenüber verhalten sollte. Schließlich war ich seit fast fünf Monaten nicht mehr in der Schule gewesen, geschweige denn hatte ich mit irgendeinem von ihnen seither gesprochen. Ich wusste, dass einige versucht hatten, mich telefonisch zu erreichen und dass ich sogar Blumen geschickt bekommen hatte. Aber ich habe mich nicht zurück gemeldet oder mich bedankt. Nicht weil ich es nicht wollte, nein, weil ich es nicht konnte. Damals konnte ich mich dem nicht stellen. Und ich wollte es nicht wahrhaben, denn wenn ich mit irgendwem von unseren Freunden und Mitschülern gesprochen hätte, müsste ich mich damit auseinandersetzen und davon erzählen. Damals war es noch zu früh, ich war nicht bereit dazu. Eigentlich wusste ich bis heute nicht, was in dieser Nacht wirklich passiert war. Meine Erinnerungen waren verschwommen und verworren. Ich hatte nachts Albträume, sodass ich nicht wusste, was sich tatsächlich abgespielt hat und was ich mir nur einbildete. Ich hoffte nur inständig, meine Freunde würden nicht böse auf mich sein. Dass sie es verstehen konnten. Nun war ich also hier, wieder in der Schule und es gab kein Zurück, keinen Fluchtweg, kein Laufband auf dem ich einfach davon laufen könnte. Gehetzt machte ich mich auf dem Weg zu meinem Kurs, ich war doch sehr spät dran, weil ich einen längeren Schulweg gewählt hatte, damit ich nicht über die Brücke fahren musste. Die Brücke, die mir meine beste Freundin genommen und mein Leben aus der Bahn geworfen hatte. Jetzt musste ich einen Sprint zu meiner ersten Stunde legen, die, wie ich nach einem kurzen Blick auf meinen Kurszettel feststellte, im Hauptgebäude Raum 219 war. Biologie bei Mrs. Grace. Na super..
Da es schon ziemlich spät war, begegnete ich nur wenigen Schülern im Flur des Gebäudes. Zu meinem Glück war es niemand, den ich gut genug kannte, um stehen bleiben zu müssen. Aber die Jugendlichen, die meinen Weg kreuzten, sahen mich kaum an. Entweder weil sie sich netterweise bemühten so zu tun als wäre nichts schlimmes geschehen, und sie dachten, dass es so leichter für mich wäre. Oder aber sie erkannten mich nicht und hatten den Unfall längst unter den Teppich gekehrt. Immerhin waren seither Monate vergangen und sie alle sind damals weiterhin zur Schule gegangen und haben mit ihrem Alltag weiter gemacht. Möglicherweise haben alle außer mir ihr Leben einfach fortgesetzt, möglicherweise bin ich die einzige gewesen, die das nicht schaffte. Wie Jason wohl damit klar kam? Schließlich bin ich nicht die einzige, die eine Freundin verloren hat. Wir haben seit dem Unfall nichts mehr voneinander gehört oder über das Geschehene gesprochen. Und ehrlich gesagt, verspürte ich nicht die geringste Lust über diese furchtbare, schreckliche Nacht zu reden. Und in meinen nächtlichen Träumen sah ich Jasons Gesicht viel öfter als mir lieb war.
Nicht dass es kein hübsches Gesicht wäre, aber.. Meine Gedanken verstummten, denn ich stand vor dem Raum Nummer 219.
Jetzt ist es soweit. 1, 2. 1, 2.
Als ich die Tür öffnete und in den Klassenraum eintrat - wie sollte es anders kommen?- hörten augenblicklich alle Gespräche der Schüler auf. Knapp dreißig Gesichter waren mir zugewandt und unzählige Augenpaare starrten mich entgeistert an.
Schritt, schritt. Ich tapste unbeholfen zu Mrs. Grace, die mich, wie die anderen angaffte als wäre Barack Obama persönlich in ihr Klassenzimmer gekommen.
„Hallo, Mrs. Grace. Ich.. ich bin wieder da. Tut mir leid für..für das Zuspätkommen.. Mein Wagen, ich meine..“, versuchte ich selbstsicher und möglichst fröhlich zu erklären.
„Ms. Pane. Ja, kein Problem. Natürlich.. Wir freuen uns, dass Sie wieder am Unterricht teilnehmen. Setzen Sie sich doch, Sophia.“ Sie deutete auf den freien Platz ganz vorne in ihrer Nähe. „Ich habe eben erst mit dem Unterricht begonnen.“
Bevor ich mich dankbar setzte, schaute ich mich im Raum um. Ich entdeckte natürlich viele bekannte Gesichter. Aber auch Madison und Chloe konnte ich ausmachen. Mit den beiden haben Olivia und ich eine Vierer-Clique gebildet, auch wenn sie niemals so enge Freundinnen für mich waren wie Liv. Sie schauten mich zögernd, abschätzend und doch freundlich lächelnd an.
Oh, gut. Sie hatten mich noch nicht vergessen. Ich lächelte zurück, vielleicht etwas zaghaft, aber doch konnte man es als kleines Lächeln bezeichnen. Dann setzte ich mich und war froh noch Zeit zu haben, um mir überlegen zu können, was ich ihnen sagen konnte, wenn die Stunde vorbei war.
Nach dem Klingeln der Schulglocke kamen meine beiden Freundinnen auf mich zu und umarmten mich. „Phia, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wir dich vermisst haben!“, sagte Chloe als wir drei uns voneinander lösten. Ich bemerkte, dass sie ihre Haare nun kürzer und noch blonder trug. Es stand ihr gut, denn sie wirkte durch den kurzen Haarschnitt erwachsener und größer mit ihren 1,54 Metern.
„Ja, wir haben versucht, dich zu erreichen. Aber..“, begann Madison, doch sie merkte, dass sie das unangenehme, aber unvermeidliche Thema ansprach. Ich lächelte sie an, um ihr zu signalisieren, dass ich verstand, was sie nicht aussprechen wollte und dass ich okay war. Sie sah hübsch aus wie immer, glatte hellbraune Haare, große graue Augen und lange Beine in trendigen, engen Jeans.
„Ich weiß, Maddie. Es war nur.. ich brauchte Zeit. Ich wollte euch sehen, aber ich habe mit niemandem gesprochen...Es..“, brachte ich über die Lippen. Chloe legte ihre kleine, blasse Hand auf meine Schulter. „Sophia, du musst dich doch nicht entschuldigen. Es war nicht einfach für uns. Aber für dich muss es.. die..die Hölle gewesen sein. Wir sind Freunde. Und wir sind füreinander da. Wenn du irgendetwas brauchst, egal was, kannst du immer zu uns kommen“. Madison nickte zur Bestätigung. „Wie geht es denn deinem Bein?“, fragte Chloe weiter. Ich schaute an mir herunter.
„Äh.. ja, gut. Vollständig geheilt.“ Wenn nur alles so schnell heilen könnte, dachte ich.
„Das ist super! Dann kannst du ja wieder mit dem Laufen anfangen. Das Team vermisst dich“, freute sich Maddie.
„Ja, das klingt toll. Seit ein paar Wochen laufe ich auch wieder auf dem Laufband“, erzählte ich und packte meine Sachen zusammen. „Welchen Kurs habt ihr jetzt?“, fragte ich. Dann gingen wir in den Flur raus und suchten den nächsten Unterricht auf. Niemand verlor ein Wort über das was spürbar fehlte: Olivia.
In der Mittagspause saßen wir drei an unserem gewohnten Tisch in der überfüllten Cafeteria. Es wunderte mich, dass sich anscheinend nichts verändert hatte, seit ich das letzte mal hier war. Es war schon fast lächerlich vertraut. Das einzige, was nicht ins übliche Bild passte, war der leere Stuhl neben mir. Nachdem wir uns erst einmal gesetzt hatten, gesellten sich sofort andere Mitschüler zu uns an den Tisch. Sie fragten mich, wie es mir ginge. Sie sprachen ihr Beileid und ihr Mitgefühl aus. Sie sagten nette Worte und lächelten mich aufmunternd an. Danach versuchten sie ein anderes, netteres Thema anzuschneiden und mich in das Gespräch einzubinden. Als wäre ich nicht ganze 5 Monate weg gewesen. Natürlich war ich ihnen dankbar dafür, aber trotzdem konnte ich mich nicht an der Situation erfreuen. Nur Dean, ein Junge aus dem selben Jahrgang freute ich mich aufrichtig zu sehen. Er war auch früher immer sehr nett und hilfsbereit gewesen. Wir hatten oft zusammen für Algebra und Physik gelernt. Und wenn ich spät in der Nacht eine Mitfahrgelegenheit gebraucht hatte, weil Olivia schon mit Jason nach Hause gefahren ist, war Dean immer zur Stelle gewesen. Er war eine Art großer Bruder für mich geworden, obwohl ich schon einen hatte. Aber Dean hat sich stets im Hintergrund aufgehalten. Wenn ich seine Gesellschaft oder seine Hilfebereitschaft gebraucht hatte, war er da, ansonsten hat er sich nie eingemischt oder auf MEINE Gesellschaft beharrt. Und ich wusste, dass auch er einer der wenigen war, der mir einen Bouquet ins Krankenhaus geschickt hatte. Nun saß er neben mir – auf der linken Seite, nicht auf Livis Platz, denn diesen Stuhl schienen alle Anwesenden zu meiden – und erzählte mir von der 'megaschweren' Chemieklausur, die er letzte Woche schreiben musste, aber trotzdem gemeistert hatte. Irgendwie wirkte sich seine Anwesenheit entspannend und beruhigend auf mich. Genau das was ich im Moment dringend brauchte.
Im Großen und Ganzen war der Tag angenehmer verlaufen, als erwartet. Jetzt konnte ich mir wenigstens vorstellen wieder in den Alltag zu finden. Manchmal musste man sich nur in den Hintern beißen und der Welt eine Chance geben. Das werde ich, ich werde für Livi weiter machen, dachte ich. Ich werde das Geschenk annehmen und für uns beide stark sein. Wenigstens das bin ich ihr schuldig.
Als ich am Nachmittag, nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte - halbwegs zufrieden und ein bisschen stolz auf mich selbst - zu meinem Auto ging, sah ich Jason. Da stand er, in voller Montur, unverschämt attraktiv wie eh und je..
Er lehnte an seinem eigenen Wagen und starrte mich unverblümt an. Aber auch ich konnte den Blick nicht abwenden. Und plötzlich änderte sich die Kulisse um mich herum. Ich war nicht mehr auf dem Schulparkplatz. Ich wurde zurück versetzt, zurück in die dunkle Nacht, die alles verändert hatte...
..Überall waren Arme und Beine. Es war unangenehm warm zwischen all den Leuten, die tanzten und lachten. Sie alle bewegten ihren Körper zur Musik, die gerade gespielt wurde. Die Party fand draußen auf irgendjemandes Terrasse statt. Ich war irgendwo in der Menschenmenge untergegangen und ließ mich vom Rhythmus treiben. Es war eine berauschende Nacht. Und ich liebte es zu tanzen, mich zu vergessen. In diesen wenigen Momenten gab es nur mich und die Musik. Alles andere verlor an Bedeutung. Es schien unwichtig, klein und weit weg zu sein. Olivia hatte ich aus den Augen verloren. Ich konnte ihren blonden Schopf in der Menge nicht ausmachen. Sie wird schon klar kommen, dachte ich, wahrscheinlich haben sie und Jason sich nur eine stille Ecke gesucht, wo sie ungestört ihre Zweisamkeit genießen konnten. Ich vergaß Zeit und Ort. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich schon so tanzte, tanzte und tanzte... Und plötzlich war es nicht mehr stickig heiß. Mein Körper brannte vor eisiger Kälte. Wasser. Überall Wasser. Die Musik war verklungen und stattdessen rauschte es in meinen Ohren. Ich verlor die Orientierung. Ich bekam keine Luft. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht.
Ich will nicht sterben! Nein, nein, nein! Bitte, nicht! Bevor ich ohnmächtig wurde, griff eine Hand nach mir.
Mein rettender Anker! Dann wurde alles schwarz...
Etwas riss mich aus meiner Erinnerung. Eine Hand. Eine echte Hand, die an meinem Arm zerrte. Ich blickte auf. Grüne Augen, grüne Augen die mich empört anschauten.
„Hey! Hey! Ist alles okay mit dir?“ Ich blinzelte, immer noch geschockt von dem, was ich eben erlebt hatte. „Äh..ich, ich war nur..“ Als meine Sicht klarer wurde, erkannte ich, wem diese grünen Augen gehörten. Kyle. Kyle Bradley. „Du hast ausgesehen als würdest du jeden Moment umkippen. Bist du dir sicher, dass du in Ordnung bist?“, fragte er.
„Ja, es geht schon wieder. Mir.. mir ist nur ein wenig schwindlig geworden.“, versicherte ich ihm. Seine Hand ruhte noch immer auf meiner Schulter.
„Wahrscheinlich war der erste Tag, wieder hier zu sein, etwas zu viel für dich“, vermutete Kyle und lächelte mich an. Er sah besser aus als ich ihn in Erinnerung hatte. Er besaß immer noch die vollen, dunklen Haare, die ihm in die Stirn fielen und die schönen grünen Augen. Aber er schien noch größer, männlicher geworden zu sein.
Er ist mit Jason befreundet, schoss mir durch den Kopf. Genau genommen ist er sein bester Freund. Ich fragte mich, warum ausgerechnet er mir zur Hilfe eilen musste, da sein Freund diese grausame Erinnerung in mir hervor gerufen hat.
„Genau, das muss es gewesen sein. Es war einfach zu aufregend heute“, sagte ich. „Danke, dass du mir helfen wolltest. Ich muss jetzt los, ich habe einen Termin. War schön dich wiederzusehen, Kyle.“ Ich wollte weg. Ich wollte nach Hause. Und ich wollte nichts mit Jason oder seinen Freunden zu tun haben, nicht wenn sie mich so durcheinander brachten. Bevor ich mich abwenden konnte, hielt Kyle mich fest.
Na, toll. Soviel zu einer schnellen, unauffälligen Flucht.. „Sophia, warte. Ich denke, es ist keine gute Idee, wenn du in diesem Zustand selbst fährst. Ich kann dich zu deinem Termin bringen, wenn du möchtest“, schlug er vor. Ich wusste zwar nicht, was 'dieser Zustand' genau war, aber ich wollte nur schnell weg hier.
„Ich weiß nicht.. Was ist denn dann mit meinem Wagen? Ich kann ihn doch nicht einfach hier stehen lassen. Und das musst du wirklich nicht tun, wie gesagt, es geht schon wieder.“, versuchte ich mich freundlich raus zureden. Leider ließ Kyle sich nicht so schnell abwimmeln.
„Nein, das mache ich gerne. Ich hätte wirklich ein schlechtes Gewissen, wenn ich dich jetzt allein lasse und etwas passiert. Deinen Wagen kannst du später abholen.“, überredete er mich weiter. Ich sah ein, dass dieser Bursche sich anscheinend nicht einfach fortschicken ließ. Außerdem hatte er recht, was mich anging. Und er schien es wirklich nett zu meinen und ein bisschen Gesellschaft würde mir ohnehin nicht schaden.
Verdammt, er hatte gute Überredungskünste. „Na, gut. Wenn du so darauf bestehst, kann ich ja schlecht nein sagen.“, kapitulierte ich.
Ein lächeln huschte über sein Gesicht. „Super, dann komm. Mein Wagen steht dort drüben.“ Er lief los und ich folgte ihm. Als Kyle und ich uns einen Weg durch den Parkplatz und zwischen all den Fahrzeugen und Schülern bannten, fuhr ein schwarzer Honda an uns vorbei.
O Mist.
Jasons Fenster war heruntergefahren und er warf mir - oder uns - einen finsteren Blick zu. Es schien ihm wohl gar nicht zu passen, dass Kyle mit mir unterwegs war. Ich verstand nicht, was das ganze sollte. Aber wahrscheinlich konnte er meinen Anblick genauso wenig ertragen wie ich seinen. Während ich zu Kyle sah, bemerkte ich, dass auch er Jasons Blick erwiderte. Sie schienen ein stummes Gespräch zu führen. Und es sah keineswegs nach einem netten aus. Als Jasons Wagen davonfuhr und seine giftigen Blicke mitnahm, griff Kyles Hand nach meinem Arm und führte mich weiter zu seinem Auto.
Kyles Gesellschaft erwies sich als überraschend angenehm und es war keineswegs verkrampft zwischen uns. Wir hatten sogar etwas worüber wir reden konnten. Auch wenn es sich hauptsächlich nur um belanglose Themen, wie Schule, das heutige Wetter und die Lieder, die gerade im Radio liefen, handelte. Und nachdem ich ihm sagte, wohin er fahren musste um mich bei Dr. Phills Praxis abzusetzen, schaute er mich nicht seltsam an oder erwiderte etwas darauf. Kyle nickte nur und fuhr los, wobei er, beabsichtigt oder nicht, einen anderen Weg als über die Old Bridge wählte. Ich war ihm wirklich sehr dankbar, auch wenn ich es nicht laut aussprach, aber ich glaubte insgeheim, dass er es irgendwie auch so wusste. Trotzdem wunderte es mich, dass er keine besondere Reaktion darauf gab, obwohl wir auf dem Weg zu einem Therapeuten waren.
Brachte er Mädchen des Öfteren zu ihren Psychotherapeuten? War dies etwas Alltägliches für ihn? Oder war das irgendein komischer Tick, den Helden spielen zu wollen? Ich beschloss mich nicht zu beklagen, denn er schien das alles wirklich lieb zu meinen und es war mir ohnehin peinlich darüber zu reden. Nun überlegte ich also angestrengt nach einem weiteren Gesprächsthema. Dann fiel mir ein, dass er Football spielte.
„Wie steht es mit unserem Football - Team? Hattet ihr in letzter Zeit gute Spiele?“, fragte ich schließlich. Kyles Blick huschte kurz von der Straße zu mir, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. Er lächelte.
„Oh, ja! Diese Saison bringt uns wieder nach oben. Wir spielen richtig gut!“, verkündete er stolz.
Typisch Mann.. Ich verdrehte die Augen, musste aber grinsen.
„Vielleicht werde ich das nächste Spiel besuchen und euch in meinem 'Panther – Maskottchen – Kostüm anfeuern.“, witzelte ich. Kyle lachte. Ein schönes Lachen. Überhaupt schien dieser Junge andauernd lächelnd, grinsend oder fröhlich lachend durch die Welt zu laufen. Und ich musste gestehen, dass es mir gefiel und gut tat. Ich hoffte, seine Gelassenheit und Sorglosigkeit würde auf mich abfärben.
„Ich muss dich leider enttäuschen, denn wir haben bereits ein Maskottchen und es macht seinen Job richtig gut. Aber du kannst uns trotzdem mit deiner Anwesenheit beehren und 'Go Panthers!' von der Tribüne aus kreischen“, konterte Kyle. Wir lachten beide. Es war so einfach mit ihm, es war wie atmen. Und in diesen wenigen Minuten war ich wieder das sorglose Mädchen von früher. Das Mädchen, das gerne lachte, tanzte und Zeit mit ihren Freunden verbrachte. Ich fragte mich, warum mir Kyles wohltuende, sympathische Art vorher nie so richtig aufgefallen war.
„Oh, ganz bestimmt mache ich das! Und wenn du Glück hast, erwähne ich dich sogar namentlich in meinen Anfeuerungsversuchen. Wie wäre es mit 'Los! Auf in die Schlacht, Bradley! Leg sie alle um!'?“, wollte ich wissen.
„Das wäre mir natürlich eine große Ehre!“, lachte er.
Danach grinsten wir noch eine Weile vor uns hin, sagten aber nichts mehr. Als Kyle nach meiner Anweisung seinen Wagen in die Straße der Praxis lenkte und schließlich parkte, wollte ich ein unangenehmes Gespräch umgehen und einen schnellen Abgang machen.
Leider Gottes hatte ich hier aber mit Kyle Bradley zu tun..
„Ich warte dann hier im Auto auf dich“, sagte er bevor ich aussteigen konnte.
Als Antwort konnte ich nur stottern. „Kyle.. ich, ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich hergefahren hast, aber ich will nicht..ich meine, es ist mir.. echt.. peinlich..“.
Kyle seufzte. „Das ist doch Unsinn, dafür.. ich meine, dass du hier bist, dafür musst du dich nicht schämen. Dir ist etwas furchtbares passiert. Es ist vollkommen normal, dass du da mit jemandem reden musst. Ich halte dich nicht für verrückt oder gestört oder sonst etwas, falls du das denkst“, sagte er. „Ich habe dich hierher gefahren, also bringe ich dich auch wieder heim. Ohne Widerrede!“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen oder davon halten sollte. „Warum? Warum tust du das? Versteh mich nicht falsch, aber ich kann mir dein Verhalten einfach nicht erklären. Wir kennen uns kaum und auf einmal bist du hier und.. und bist für mich da und hilfst mir. Warum das ganze? Warum kümmert es dich?“
Er blickte mich an. Überlegte. Wählte eine passende Erklärung. „Du weißt, dass das nicht so ganz richtig ist, Phia. Wir kennen uns, früher haben wir alle zusammen abgehangen. Jason, Olivia, die anderen.. Also natürlich kümmert es mich, wie es dir geht“, sagte er schließlich. „Dieser Unfall hat uns alle getroffen! Und du warst doch so lange weg. Ist es da so abwegig, wenn ich mich um dich kümmere?“
Mann, er hatte echt auf alles eine gute Antwort. „Nein, nein es ist nicht abwegig. Tut mir leid, ich denke, ich bin nur etwas aus der Übung mit anderen Menschen zusammen zu sein und mich einfach nur nett zu unterhalten. Ich habe nichts dagegen, wenn du auf mich wartest, also wenn es dir keine Umstände bereitet.“, gab ich nach.
„Gut, dann wäre das ja geklärt“, sagte er und lächelte. „Ich bleibe hier.“
„Danke, Kyle.“ Und ich meinte es wirklich ernst. Sogar Chloe und Madison haben nicht so viel Interesse an meinem Wohlergehen gezeigt wie er. Ich stieg aus und lief zu der Eingangstür, die zu Dr. Phills Praxis führte. Doch nicht ohne mich noch einmal zum Wagen zu drehen und zu vergewissern, dass dort jemand auf mich warten würde.
„Also, dann, Sophia. Bevor du mir von deinem 'ersten' Schultag erzählst, kann ich dir Tee oder Kekse anbieten?“, sagte Dr. Phill, nachdem ich mich auf das gemütliche, grüne Sofa gepflanzt hatte. Es war nun unsere dritte Sitzung.
„Nein, danke. Ich habe in der Schule gegessen“, sagte ich zu ihm. Dr. Phill nickte freundlich und signalisierte mir damit, dass ich anfangen kann zu erzählen. Er saß mir gegenüber in einem monströsen, schwarzen Sessel, den man womöglich als 'Klassischen-Therapeuten-Sessel' bezeichnen würde. Und auch Dr. Phill selbst sah aus, wie ein Seelenklempner aus dem Bilderbuch: freundliches, offenes Gesicht, kleine Brille, gepflegter Drei-Tage-Bart. Volles Programm..
„Also..“, fing ich schließlich an. „Es war seltsam wieder unter Leuten zu sein. Zum Teil hatte ich sogar das Gefühl, ich habe verlernt, wie man mit Menschen umgeht, mit ihnen kommuniziert.. Am Anfang dachte ich, ich würde es nicht schaffen, den ganzen Tag dort in diesem.. Gewusel auszuhalten. Aber danach wurde es irgendwie leichter. So als wäre mir wieder eine Gedichtstrophe eingefallen, die ich vergessen hatte. Auf einmal war ich mitten drin, unter den ganzen Leuten. Für einen Moment hatte es sich angefühlt, als wären die letzten Monate nie gewesen, als hätte es den Unfall nie gegeben.. Bis ich – wahrscheinlich aus Gewohnheit - mich immer wieder fragte, was Olivia über dieses Thema wohl denken und zu jenem Gespräch sagen würde. Ich konnte ihre Abwesenheit förmlich spüren.. Es waren immer wir Zwei gegen den Rest der Welt. Es gab immer nur Livi und mich. Mich und Livi..“. Ich verstummte. Dr. Phill beobachtete mich wie immer gleichmütig, mit ruhiger, neutraler, aber etwas nachdenklicher Miene.
„Auch wenn du es noch nicht erkennen kannst, sehe ich auf jeden Fall einen Fortschritt. Du bist heute morgen aufgestanden und hast dich der Welt präsentiert, das war sicherlich nicht leicht für dich“, kam es von ihm. „Und es hat viel Stärke und Ausdauer verlangt, also kannst du wirklich stolz auf dich sein.“ Er schrieb etwas in sein Notizblock.
„Ja, meine Mutter meinte es würde ein neuer Anfang für mich sein und, wenn ich darüber nachdenke, dann stimmt das auch. Es hat sich wie immer, aber auch anders angefühlt.. Ich hatte genug Zeit mich daran zu gewöhnen, dass Liv jetzt nicht mehr da ist“, versuchte ich zu erklären. „Aber zu Hause war ihre Abwesenheit nicht so auffällig, wie da draußen.. Ich sehe ja selbst ein, dass ich endlich damit abschließen muss.“
Dr. Phill strich mit den Fingern über den 'Seelenklempner – Bart'.
„Und was glaubst du, hält dich davon ab loszulassen? Denkst du es gibt etwas, dass dir dabei helfen könnte?“, fragte er dann.
Was mir dabei helfen könnte? Es war keine kleine Schürfwunde, die meine Mum einfach mit einem Pflaster zukleben konnte.
„Ich.. ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob mir überhaupt etwas dies erleichtern könnte. Außer vielleicht die Zeit. Wie heißt es so schön? 'Die Zeit heilt alle Wunden?'“, versuchte ich optimistisch zu sein. „Aber ich war seitdem kein einziges Mal an.. an ihrem.. an Livis Grab.“, brachte ich mühsam hervor. „Als ihre.. ich meine, als die Beerdigung stattfand, ging es mir noch nicht gut genug, um dabei zu sein. Und danach konnte ich einfach nicht dorthin. Mir wird übel, wenn ich nur daran denke..“. Ich verstummte. Meine Hände verkrampften sich und ich ballte sie zu Fäusten. Dr. Phill hob die Augenbrauen und nickte wieder.
„Da haben wir es ja. Du scheinst, es dir nicht eingestehen zu wollen. Du willst es nicht wahr haben und du sträubst dich dagegen zu ihrer Grabstelle zu gehen. Denn es würde bedeuten, dass du dich endgültig von ihr verabschieden müsstest.“, stellte er fest. „Ich würde dir raten, dir Zeit zu lassen. Mach weiter wie bisher. Aber irgendwann wird und muss der Zeitpunkt kommen, an dem du dich bereit dazu fühlst diesen wichtigen Schritt zu tun“. Er lächelte mich aufmunternd an. Und ich nickte und versuchte es ihm gleich zu tun.
„Also, Sophia. Erzähl mir ein bisschen von deinen Freunden. Wie haben sie in der Schule auf dich reagiert?“, fragte er dann. „Wie fühlte es sich an, sie wiederzusehen?“. Nun fing Dr. Phills übliches Frage-Antwort-Spiel an.
„Meine Freunde waren eigentlich sehr rücksichtsvoll und freundlich. Aber auch irgendwie wachsam.. Als hätten sie Angst, etwas falsches zu sagen. Was ich aber gut verstehen kann. Ich wüsste an ihrer Stelle auch nicht, wie ich mich verhalten sollte“, sagte ich. „Man könnte fast meinen, es war wie immer.. Und doch hatte es sich angefühlt, als hätte sich etwas verändert. Oder als hätte ich mich verändert“, fügte ich hinzu.
„Inwiefern 'verändert', was glaubst du, woher dieses Gefühl kam?“, erwiderte er sofort.
„Naja, ich schätze, weil ich monatelang nicht da gewesen bin. Sie haben alle ihr Leben weitergeführt. Sie haben sich alle verändert und sind reifer, erwachsener geworden. Haben neues an sich entdeckt“, war meine Antwort. „Aber für mich ist anscheinend die Zeit stehen geblieben. Ich war gefangen in diesem Albtraum. Trotzdem bin auch ich erwachsener geworden. Vielleicht auch reifer und abgehärtet..“, schnaubte ich. „Ich will aber nicht so sein. Ich meine, irgendwie.. abgestumpft..“. Erst als ich das sagte, wurde mir klar, wie Recht ich damit hatte. Aber es konnte nicht sein. Ich wollte es nicht. Ich geriet fast in Panik. „Ohh... Bitte. Sagen sie mir, dass ich normal bin. Bitte. Bitte.. Ich kann..ich will nicht verrückt sein.“
Und dann wurde mir alles klar. Ich sprang auf. Ich musste weg hier. Ich musste laufen. Weit weg. Schnell. Einfach laufen, laufen, laufen.. An der Tür hielt ich an.
Kyle. Ich konnte nicht so aufgewühlt nach draußen gehen und mich ins Auto setzen. Ich wollte nicht, dass er mich so sah. Keiner sollte mich in so einem Zustand erleben.
„Sophia, bitte warte“, kam es von Dr. Phill. Aber ich hörte ihn kaum. Es war verrückt. Das alles hier. Ich war verrückt.. verrückt, verrückt, verrückt..
„Bitte, beruhige dich.“. Ich fuhr zu ihm herum. „Bitte, Sophia. Setz dich wieder hin und rede mit mir“ Und als ich ihn nur entsetzt anstarrte, sagte er: „Ich versichere dir, dass du ganz normal bist. Du bist durcheinander, ja, verletzt und traurig. Aber du bist nicht verrückt“. Er sprach wieder mit dieser ruhigen Stimme. Ich schloss die Augen.
Und irgendetwas setzte in mir aus. Die ruhelose Energie, die mich zuvor noch ausfüllte, verschwand. Und stattdessen überkam mich eine endlose Erschöpfung und umhüllte mich wie ein schwerer Mantel. Ich schluchzte auf und unzählige Tränen liefen über meine Wangen. Das war seltsam. Ich habe seit Tagen, vielleicht sogar Wochen nicht mehr richtig geweint und jetzt konnte ich es nicht mehr zurückhalten. Irgendwann, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Dr. Phill kniete sich zu mir und erst da wurde mir bewusst, dass ich auf dem Boden saß. Ich hatte nicht vor zusammen zu brechen. Aber ich konnte nicht anders. Die ganze Aufregung, die Angst, die Verzweiflung.. all das wollte, nein, musste raus. Und irgendwie befreite es mich auch. Mein Therapeut beäugte mich, als würde er versuchen aus mir schlau zu werden oder abzuschätzen, wie schlimm mein Zustand war. Dann hielt er mir ein Taschentuch hin, in welches ich dankbar schniefte.
„Sophia, willst du dich nicht lieber noch einmal hinsetzen? Ich bin der Meinung, wir sind noch nicht fertig. Aber ich kann dich auch nicht zum Bleiben zwingen“, sagte er dann. Ich nickte, stand auf und ging wieder zum Sofa. Wo sollte ich schließlich sonst hin? Zu Kyle? Nein, das ging nicht. Zuerst musste ich mich beruhigen. Auch Dr. Phill setzte sich zurück auf seinen gewohnten Platz.
„Nun, Phia. Magst du mir erzählen, was dich eben so verschreckt hat?“, fragte er.
Ich schloss kurz die Augen und wischte mir noch einmal übers Gesicht.
„Ich habe das Gefühl den Verstand zu verlieren“. Wieder bannten sich Tränen einen Weg über meine Wangen. „Ich meine..“. Ich musste schluchzen. Reiß dich zusammen, verdammt! „Ich habe die ganze Zeit nicht gemerkt, was um mich herum geschieht. Ich bin einfach nicht mehr ich. Und ich habe Angst, mich selbst zu verlieren. Oder das, was noch von Sophia Paine übrig ist.“ Ich ließ alles raus. Es war an der Zeit. „Manchmal überkommt mich der Gedanke, dass ich womöglich auch in dieser Nacht gestorben bin. Denn die alte Phia ist weg“, stellte ich verbittert fest.
Dr. Phill sah mich nun mitleidig an.
„Aber muss die neue Sophia denn schlechter sein, als die alte?“, wollte er wissen.
„Das ist es ja, was mir Angst macht. Ich weiß nicht, wer ich nun bin. Ich bin einfach nur verwirrt.. Und nachts..“ Ich hielt inne. Bisher hatte ich niemandem von meinen Träumen erzählt.
„Was passiert nachts, Sophia? Träumst du schlecht?“.
Gott, Phia. Du musst es ihm jetzt sagen!
„Ja. Aber es sind keine gewöhnlichen Träume. Es sind eher Erinnerungen. Meine Erinnerungen aus der Nacht.. der Unfallnacht. Zumindest, glaube ich, dass es so war, wie es in meinen Träumen passiert.“
Dr. Phill guckte mich erstaunt an.
„Ich denke, dass du im Schlaf die Geschehnisse verarbeitest. Und du hattest eine schwere Gehirnerschütterung. Filmrisse sind in diesem Fall völlig normal..“, sagt er schließlich. „Aber wenn du es nicht aushälst, könntest du dir auch Schlaftabletten verschreiben lassen“.
Ich schnaubte. Normal? Ist es gewöhnlich, dass ich auf dem Schulparkplatz fast in Ohnmacht falle?
„Wenn es nur das wäre..“, ich biss mir auf die Zunge. Wie sollte ich etwas erzählen, was ich mir selbst nicht erklären konnte?
Mein Therapeut schaute mich fragend an.
„Heute, nach der Schule, da.. habe ich Jace gesehen. Jason Gear. Der Jason, der auch im Auto war..“, fing ich an.
„Was ist passiert, Sophia? Hat er dir etwas getan oder gesagt, das dich verschreckt hat?“, schoss es sofort von Dr. Phill.
„Nein! Nein, ich habe nicht einmal mit ihm gesprochen. Aber.. als ich ihn von weitem gesehen habe, da.. Plötzlich war ich wieder in dieser Nacht. Auf der Party und habe getanzt. Danach hat sich auf einmal alles verändert und ich war im Wasser gefangen. Ich schätze, so war es damals auch wirklich. Nur wurde in diesem.. Flashback die Autofahrt übersprungen. Und als ich dann ertrank, da.. da war plötzlich diese Hand an meinem Arm und hat mich weg gezogen. Ich weiß nicht, ob es sich wirklich so abgespielt hat. Aber es hat sich verdammt echt angefühlt..“ Mir wurde schlecht, als ich daran dachte. Dr. Phill sah mich zweifelnd an, aber er versuchte es zu verbergen. Wurde ich wirklich wahnsinnig? Habe ich phantasiert?
„Und das hast du alles gesehen, nachdem du diesen Jungen angeschaut hast?“
„Ja!“.
„Das heißt dann wohl, das deine Gedächtnislücken sich allmählich füllen. Und wahrscheinlich hat Jasons Anblick das in dir hervorgerufen“, vermutete Dr. Phill. Das ist nichts, was ich nicht schon selbst wusste.
„Das denke ich auch! Aber das heißt dann auch, das ich gar nicht wirklich weiß, was passiert ist. Auf jeden Fall nicht alles. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das herausfinden möchte..“. Ich hatte das alles satt. Vielleicht war es besser sich nicht an alles zu erinnern. Vielleicht war dies mein Segen. Ob Jason noch genau wusste, was damals geschehen ist? Ich musste unbedingt mit ihm sprechen.
„Das ist verständlich, aber ich denke, da kannst du nicht mehr viel herausholen. Schließlich bist du am Leben. Und wahrscheinlich warst du kurzzeitig nicht bei Bewusstsein. Ich würde mir an deiner Stelle nicht so viele Gedanken um die Vergangenheit machen, das kannst du nämlich nicht mehr ändern“, riet mir Dr. Phill. „Was jetzt wirklich wichtig für dich ist, ist dass du nach vorne schaust und versuchst deinen Alltag zu festigen. Ins Leben zurück zu kommen.“
Aber was wenn das nicht alles war? Diese Hand ließ mich nicht mehr los. Wie hatte ich es überhaupt aus dem Wagen geschafft? Ich hatte einfach noch zu viele Fragen, aber der einzige, der mir die Antworten geben konnte, war ich selbst. Oder Jace.
„Sie haben recht. Vielleicht sollte ich dankbar für die Gedächtnislücken sein“, sagte ich und stand auf. „Und ich werde mir etwas für die Nacht verschreiben lassen, wenn es schlimmer wird“. Auch Dr. Phill erhob sich von seinem Platz.
„Ich danke Ihnen. Aber ich muss jetzt los“. Jemand wartet auf mich. „Ich werde nächste Woche wiederkommen“. Er schüttelte meine Hand.
„Ich wünsche dir Alles Gute, Sophia. Bleib stark“.
Auf dem Weg nach draußen, versprach ich mir selbst, dass ich nicht aufgeben würde. Und das ich mich an alles, jede Sekunde dieser Nacht wieder erinnern möchte. Es stand mir zu die Wahrheit zu kennen, egal wie sie ausfallen würde. Denn ich hatte das beklemmende Gefühl, das etwas nicht stimmte. Und ich würde nicht ruhen bis ich Antworten hätte.
Kyle
Nachdem ich Phia nach Hause gefahren und ihr versprochen hatte, dass ich sie am nächsten Morgen zur Schule wieder abholen würde, fuhr ich zu Jason.
Den Vorschlag, sie morgen nochmals mit meinem Auto zu fahren, konnte Sophia mir vorhin nicht mehr abschlagen, auch wenn sie es vielleicht gerne getan hätte. Ihr eigener Wagen stand nämlich immer noch auf dem Parkplatz unserer Schule.
Ich konnte kaum auf den Verkehr achten, weil ich ständig an den heutigen Tag denken musste. Nun ja, viel mehr an die Person, mit der ich diesen Nachmittag verbracht hatte. Ihr schüchternes, zaghaftes Lächeln. Ihr trauriger, aber feuriger Blick. Ihre langsam schwindende Vorsicht und Skepsis mir gegenüber.
Meine Hände verkrampften sich um das Lenkrad. Es war zum verrückt werden mit Sophia Paine. Denn die Wahrheit war, dass ich seit Jahren genau das gewollt hatte. Mit ihr Zeit verbringen, mit ihr lachen, mich mit ihr verabreden. Es wäre gelogen, wenn ich es abstreiten würde. Ich habe mich schon damals in sie verguckt, in das zierliche, fröhliche Mädchen, das immer mit Olivia abgehangen hat.
Da ich mit Jason, der mit Olivia ging, befreundet war, ist mir natürlich Phia, ihre beste Freundin, sofort aufgefallen. Auch wenn sie eher schüchtern war, hatte sie eine ausgelassene, sorglose Ausstrahlung besessen. Zumindest vor ihrem Unfall. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sie auf den Partys, die am Wochenende oft stattfanden, die Nächte durchgetanzt hatte. Dort verlor sie ihre Zurückhaltung.
Als ich daran dachte, musste ich wieder lächeln. Und ich konnte einfach nicht anders, sie brachte mich immer wieder dazu. Ich sollte es mir abgewöhnen, sonst würden die Leute noch denken, ich wäre ein verblödeter Liebestrottel, der ständig vor sich hin grinste.
Und jetzt, wo ich eigentlich glücklich sein sollte, dass Phia endlich Notiz von mir nahm, konnte ich es nicht genießen. Denn so einfach war das nicht. Sie wusste nicht das, was ich wusste. Und wenn sie davon erfahren würde, die Wahrheit erfahren würde, hätte sie nicht die geringste Lust mit mir befreundet zu sein. Schlimmer noch, sie würde mich nie wieder sehen wollen. Schließlich war es kein Spiel, es war keine Kleinigkeit, es ging um ein Menschenleben.
Aber würde es noch einen Unterschied machen? Olivia war tot. Nichts würde das ändern können, sagte eine kleine Stimme in mir.
Aber ich wusste es selbst. Natürlich machte es etwas aus. Denn etwas geheim zu halten, war genauso unehrlich, wie zu lügen. Und ich wusste, sie würde es mir nie verzeihen können. Und diese Erkenntnis versetzte mich in tiefes Entsetzen.
Wie bin ich nur in all das reingeraten?
Es war schwer genug mein Wissen nicht der Welt preis zu geben, aber es vor Phia zu verheimlichen, tat mir einfach nur weh.
Doch ich wusste, wie sehr es sie verletzen würde. Ich will sie doch nur beschützen, sie davor bewahren, verdammt!
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als das sie das alles einfach hinter sich lassen könnte und ein ruhiges, glückliches Leben führen würde. Selbst wenn ich keine Rolle darin spielte. Es war immer noch besser, als ihr alles zu beichten.
Ich konnte ihr Leben nicht einfach ein zweites Mal auf den Kopf stellen. Das würde sie nicht noch einmal verkraften. Zumal ich nicht der einzige sein würde, von dem sie enttäuscht wäre.
Aber konnte ich mich so egoistisch verhalten und einfach den Mund halten? Du hast doch nur Angst, dass sie dich hinterher hasst!
Das stimmte, und ich war erleichtert, dass ich zumindest zu mir selbst ehrlich war. Ich musste sofort mit Jason reden! Ich konnte nur erahnen, wie wütend er auf mich war, wegen der Sache auf dem Parkplatz. Aber so konnte es unmöglich weitergehen.
Also gab ich Gas, denn jede Minute erschien mir wertvoll. Mit einer Hand schrieb ich ihm sogar eine kurze SMS, nur um sicher zu gehen, dass er sich auch zu Hause befand.
Jace,
müssen reden! Sofort!
Bin auf dem Weg zu dir.
-K.
Zwar bekam ich keine Antwort, aber ich war mir sicher, dass Jason meine Nachricht nicht einfach ignorieren würde. Schließlich ging es um seinen eigenen Kopf und Kragen.
Als ich meinen Wagen vor Jasons Haus parkte, sah ich ihn schon auf der Veranda stehen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und eine finstere Miene aufgesetzt. Scheiße, ich hätte ihn lieber doch überraschen sollen.
In dem Moment, als er mich bemerkte, setzte er sich sofort in Bewegung und eilte mit großen, schweren Schritten auf mich zu. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit auszusteigen, da zerrte er mich raus und drückte mich gegen das Auto. Es geschah so schnell und so heftig, dass ich gar nicht reagieren konnte.
Ich habe Jason noch nie so außer sich erlebt, so wütend, so außer Kontrolle. Seine Finger gruben sich in meine Schultern, nagelten mich fest. Sein Blick war wild.
„Na, hast du dich schön amüsiert?“, brachte er wütend hervor. „Hat es Spaß gemacht, sie um den Finger zu wickeln?“
Langsam stieg auch in mir die Wut. Musste er mich noch provozieren? Musste er sich so aufspielen, als hätte er das Recht mir auch nur irgendetwas zu verbieten. Ohne ihn hätten wir dieses Dilemma erst gar nicht.
„Spinnst du jetzt völlig?“, kam es genauso heftig von mir. Ich packte seine Handgelenke und stieß ihn von mir weg.
Für einen Moment war diese Szene einfach zu surreal. Was machen wir nur hier? Ich konnte nicht begreifen, dass Jason, der Jason mit dem ich so lange befreundet war, kurz davor war mir eigenhändig eine zu verpassen. Und ich war mir gar nicht so sicher, ob ich nicht auch zurück schlagen würde.
Jace besaß schon immer die Eigenschaft, alles und jeden kontrollieren zu wollen, aber das hier ging zu weit.
„Das was damals passiert ist, hat nichts, absolut nichts mit meinen Gefühlen für Phia zu tun!“, entgegnete ich. Jason schnaubte.
„Ach, wirklich? Dann erzähl ihr doch 'was damals passiert ist' und sag mir, ob sie auch der Meinung ist, dass es nichts 'damit' zu tun hat. Wir werden sehen, ob sie genauso verliebt in dein Auto steigen wird, wie heute“.
Sah er denn in seiner Rage nicht mehr, wen er vor sich hatte?
„Sie ist nicht verlie-“, kam es von mir, doch Jason unterbrach mich.
„Wir wissen, aber beide, dass du es gerne so hättest!“
Seine Augen funkelten.
„Das geht dich nichts an, verdammt. Du kotzt mich an!“, spukte ich aus. „Ich werde nicht für deine Fehler bezahlen!“.
Als ich seinen Blick sah, erkannte ich, dass es nicht nur Zorn war. Es war Verzweiflung. Angst.
„Kyle! Bist du blind? Hat die Kleine dir so den Kopf verdreht?“, wollte er wissen. „Du weißt, was das für mich bedeuten würde. Denkst du, es macht mir Spaß?“
Mir wurde wieder bewusst, dass ihn diese Sache wirklich quälte. Und deswegen konnte ich ihm nicht böse sein. Er hatte viel zu verlieren. Er hat viel verloren. Er hatte diesen schweren Unfall. Und ich wusste, wie viel Olivia ihm bedeutet hatte. Trotz allem hat er sie aufrichtig geliebt, trotz seiner Wut, trotz seiner verletzten Gefühle.. Denn ohne seine starken Gefühle für sie, wäre es nie so weit gekommen! Dieser Verlust, Olivias Tod, schmerzte nicht nur Phia, er schmerzte auch ihm. Mir hat diese Nacht nicht so viel genommen, denn Jason lebte und auch Phia lebte.. Mich hat es nicht so schwer erwischt. Und ich wusste genau, wie er unter den Gewissensbissen litt und sich selbst, Tag für Tag, fertig machte.. Ich hingegen musste nur die halbe Last tragen. Kein Wunder, dass er sich verhielt, wie ein Vollidiot. Und ich, als sein Freund, müsste ihm helfen, doch ich machte alles nur schlimmer für ihn.
„Ich weiß, wie es um dich steht, Jason. Und ich hänge jetzt genauso mit drin. Aber du kannst nicht verlangen, dass ich mich von ihr fern halte“, antwortete ich schließlich. Ich würde fast alles für ihn tun. Ich tat schon alles in meiner Macht Stehende für ihn. Aber um diese eine Sache konnte er mich nicht bitten. Das war zu viel.
„Mann, sei doch ehrlich zu dir selbst. Wenn Phia davon erfährt, und das wird sie, ob du willst oder nicht, dann kannst du sie gleich vergessen. Sie wird dich nicht weniger verabscheuen, als mich. Sie wird uns alle hassen“, versuchte Jason wieder mich zu überzeugen. „Willst du ihr das antun? Oder mir? Du würdest uns beide verlieren. Das willst du doch nicht wirklich..“, er geriet beinahe in Panik. „Die einzige Möglichkeit ist, dass wir es machen, wie bisher. Wir halten zusammen. Wir verlieren kein Wort über diese Nacht“, schlug er zuversichtlich vor, als wäre es für alle Beteiligten die einfachste Lösung. Nicht für mich. Ich schüttelte den Kopf.
„Du hast sie nicht gesehen. Du weißt nicht, wie sehr diese Sache sie immer noch mitnimmt. Es ist nicht richtig“, sagte ich. Hoffnungslos. Ich wusste, dass es sowieso sinnlos war. Ich durfte es ihr einfach nicht erzählen. Denn es war tatsächlich für alle am einfachsten, wenn auch nicht am ehrlichsten.
„Kyle, versprich mir, dass du sie in Ruhe lässt. Es würde nicht gut gehen, so oder so“, bat Jason mich erneut. Er legte brüderlich eine Hand auf meine Schulter. Als wäre er vorhin kein bisschen ausgeflippt. „Versprich es mir!“. Sein Blick war ein einziges Flehen.
Ich hatte keine Wahl. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, antwortete ich: „Versprochen“. Doch dieses Versprechen verlangte viel mehr von mir ab, als ich vorerst glaubte.
Der Tee in meiner Tasse war noch zu heiß zum Trinken, also stellte ich ihn wieder auf die breite Fensterbank. Ich saß in meinem Zimmer vor dem großen Fenster und hing meinen Gedanken nach.
Der Ausblick auf unseren Garten war sehr schön, wir hatten Ende März, aber die Blumen blühten jetzt schon in ihrer vollen Pracht und unzähligen verschiedenen Farben. Es war jedoch keine große Überraschung für mich, meine Mum liebte ihre Pflanzen und verbrachte immer Stunden damit, den Garten nach ihrer Vorstellung zu pflegen und herzurichten. Sie hatte einen grünen Daumen, im Gegensatz zu mir, denn ich konnte mit Blumen nicht mehr anfangen, als sie einfach anzusehen und stumm zu bewundern.
In diesem Moment machte meine Mutter bestimmt das Abendessen, denn mein Vater würde gleich von der Arbeit nach Hause kommen. Er war Bauprojektmanager und kam erst abends wieder aus seinem Büro. Doch er mochte seine Arbeit, schließlich verdiente er auch mehr als genug. Dad wollte, dass auch mein älterer Bruder Andrew in diesen Beruf einstieg, aber im Moment ging Drew auf das Remington College. Er verbrachte die meiste Zeit dort auf dem Campus und besuchte uns nur alle paar Wochenenden. Mum sagte immer, dass Drew auf eigenen Beinen stehen wollte, unabhängig leben und deswegen nicht so oft nach Hause kam, aber das war eine lächerliche Erklärung in Anbetracht dessen, dass sein College keine Viertelstunde von hier entfernt war. Selbst nach meinem Autounfall, hatte er sich nicht öfter blicken lassen. Wenn ich es mir recht überlegte, kam er seither sogar noch seltener. Das konnte ich ihm aber auch nicht vorwerfen. Er hatte ein gutes Verhältnis zu Liv gehabt.
Als Kinder hatten wir oft zusammen gespielt. Ich konnte mich daran erinnern, dass Burgenbauen unser liebstes Spiel gewesen ist, wobei Olivia meistens die süße Prinzessin war, die von mir, einer bösen, eifersüchtigen Hexe entführt wurde und am Ende von Drew, dem edlen Prinzen gerettet wurde. Sie bestand darauf immer die Prinzessin zu spielen, aber es machte mir nichts aus, denn ich mochte den Hexenhut viel lieber, als das pinke Kleid, das Olivia bei diesem Spiel getragen hatte. Außerdem hatte ich keine Lust von meinem zwei Jahre älteren Bruder auf dem Rücken davon getragen zu werden. Andrew kannte Olivia dementsprechend gut und sie waren so etwas wie Freunde gewesen. Er war es auch, der uns mit auf Partys genommen hat, als wir noch jünger waren und später sogar auf ein paar Studentenfeten, bei denen wir gar nicht erst dabei sein durften. Ich konnte also verstehen, dass er seine eigene Trauer nicht mit der Meinen vermischen wollte und mich deshalb nicht oft besuchte. Oder aber der Lernstoff war wirklich so viel, wie er mir oft erzählte.
Während ich all das Grün in unserem Garten und den langsam dunkel werdenden Himmel darüber betrachtete, dachte ich an den heutigen Tag. Es war gar nicht so schlimm gewesen, wie ich es mir vorher ausgemalt hatte. Ich hatte mich sogar mit Chloe am Wochenende zum Shoppen verabredet. Sie hatte darauf bestanden, aber ich wollte ihr auch gar nicht absagen, es wäre schön wieder etwas mit ihr zu unternehmen. Und danach hatte ich mir vorgenommen am Lauftraining teilzunehmen. Es war einfach Zeit, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen... Außer die Sache mit Jason, schien dieser Plan auch einwandfrei zu laufen. Ich hatte mir auch schon überlegt, wie ich ihn am besten dazu kriegen konnte mit mir zu sprechen, vorausgesetzt er suchte nicht selbst nach einem Gespräch mit mir, denn dann wäre das Ganze ein Kinderspiel. Ich war mir aber sicher, dass er nicht gerne darüber sprechen würde. Also müsste ich geschickt vorgehen. Und da fiel mir Kyle ein. Vielleicht konnte er mir dabei helfen. Ich musste einfach wissen, wie Jason diese Nacht empfunden hat. Denn ich wusste schließlich nicht einmal, warum der Wagen, in dem wir saßen, von dieser Brücke gestürzt ist. Irgendetwas musste dafür gesorgt haben, dass Jace die Kontrolle über sein Auto verlor. Ob er sich noch daran erinnerte? Das musste ich herauskirgen. Natürlich konnte ich auch Kyle danach fragen, er wusste bestimmt etwas, weil Jason mit ihm gesprochen haben müsste.
Andererseits wollte ich auch nicht mit Kyle darüber reden, es war so viel einfacher mit ihm über unbeschwerte Dinge zu sprechen und meine Sorgen zu vergessen. Ich wollte nicht, dass unsere 'Freundschaft' - oder wie man das auch nennen mag - damit belastet wurde...
Meine Gedanken wurden unterbrochen; ich hörte, wie mein Dad unten ins Haus kam und meine Mutter begrüßte. Ich schnappte mir meine Teetasse, aus der ich vorhin getrunken hatte und ging nach unten zum Abendessen.
Am nächsten Morgen hetzte ich die Treppe runter und zerrte meine Schultasche hinter mir her. Ausgerechnet heute musste ich verschlafen. Meine Beine taten mir weh, weil ich gestern vor dem Schlafengehen noch auf dem Laufband trainiert und mir deswegen Muskelkater eingehandelt hatte.
Wegen mir würde auch noch Kyle zu spät zur Schule kommen. Ich stürmte, so schnell ich konnte, durch die Wohnungstür, aber schnappte mir noch zwei Müsliriegel vom Küchentisch.
Kyle
Als Phia die Einfahrt runter zu meinem parkenden Wagen lief, konnte ich ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Sie sprang ins Auto und sah mich entschuldigend an.
„Es tut mir wahnsinnig leid! Ich bin zu spät aufgewacht. Denkst du wir schaffen es noch rechtzeitig?, fragte sie, während sie sich anschnallte.
Ich schaute auf die Uhr am Armaturenbrett und bemerkte erst da, dass es wirklich schon spät war.
„Äh, nein. Schon okay. Ich habe auch nicht auf die Uhrzeit geachtet“, beschwichtigte ich sie und startete den Motor.
Phia grinste mich zufrieden an und hielt zwei Riegel in die Höhe. „Gut! Aber ich habe sicherheitshalber doch ein Versöhnungsgeschenk mitgebracht...“ Sie wedelte mit den Riegeln vor meiner Nase und lachte. „Verzeihst du mir?“
„Es kommt darauf an, wie das Geschenk schmeckt.“
Während wir in die Schule fuhren, die Riegel aßen und Radio hörten, musste ich daran denken wie das Gespräch mit Jason gestern verlaufen ist. Es war gefährlich für uns alle, dass ich hier mit Phia saß. Es musste enden, bevor es angefangen hat. Aber warum war es so schwer für mich, sie einfach gehen zu lassen? Schließlich waren wir nicht mal richtige Freunde, nur weil wir einen Tag zusammen verbracht hatten. Ab heute würde ich mich auf andere Sachen konzentrieren. So schwer konnte es schließlich nicht werden. Wie hieß es nochmal?: 'Auch andere Mütter haben schöne Töchter', oder so ähnlich...
Und so ließ ich Phia einfach zum Unterricht gehen, als ich auf dem Schulparkplatz meinen Wagen hielt. Ohne zu fragen, ob sie später Zeit hatte. Ohne mich richtig von ihr zu verabschieden. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, ihr noch einmal hinterher zu schauen. Danach blieb ich im Auto sitzen und schwänzte die erste Stunde.
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2014
Alle Rechte vorbehalten